61994J0206

Urteil des Gerichtshofes vom 2. Mai 1996. - Brennet AG gegen Vittorio Paletta. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Bundesarbeitsgericht - Deutschland. - Soziale Sicherheit - Anerkennung einer Arbeitsunfähigkeit. - Rechtssache C-206/94.

Sammlung der Rechtsprechung 1996 Seite I-02357


Leitsätze
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor

Schlüsselwörter


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1. Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer ° Krankenversicherung ° Arbeitnehmer, der sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Staat aufhält ° Anspruch auf die Leistungen, die der Zustand des Kranken erfordert ° Tragweite ° Geldleistungen, die zum Ausgleich des Verdienstausfalls des kranken Arbeitnehmers bestimmt sind ° Einbeziehung ° Lohnzahlung nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit ° Unerheblichkeit

(Verordnung Nr. 1408/71 des Rates, Artikel 22 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii)

2. Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer ° Krankenversicherung ° Arbeitnehmer, der sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Staat aufhält ° Arbeitsunfähigkeit ° Anerkennungspflicht ° Grenzen ° Erbringung von Nachweisen durch den Arbeitgeber, anhand deren sich feststellen lässt, daß der Arbeitnehmer mißbräuchlich oder betrügerisch gehandelt hat ° Zulässigkeit ° Erfordernis zusätzlichen Beweises seitens des Arbeitnehmers ° Unzulässigkeit

(Verordnung Nr. 574/72 des Rates, Artikel 18 Absätze 1 bis 5)

Leitsätze


1. Artikel 22 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71 gilt für eine nationale Regelung, nach der ein Arbeitnehmer bei Arbeitsunfähigkeit für eine bestimmte Zeit Anspruch auf Lohnfortzahlung hat, auch dann, wenn die Vergütung erst eine bestimmte Zeit nach dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zu zahlen ist.

Indem diese Bestimmung voraussetzt, daß der Zustand des Kranken unverzueglich Leistungen erfordert , verlangt sie nämlich zum einen die Feststellung, daß medizinisch gesehen eine unverzuegliche Leistung erforderlich ist. Zum anderen gilt sie insofern nicht nur für unverzueglich erforderliche Sachleistungen , sondern bedeutet darüber hinaus, daß die betroffene Person in einem solchen Notfall auch entsprechende Geldleistungen beanspruchen kann, die im wesentlichen dazu bestimmt sind, den Verdienstausfall des kranken Arbeitnehmers auszugleichen und damit seinen Lebensunterhalt zu sichern, der sonst gefährdet sein könnte.

2. Die Auslegung von Artikel 18 Absätze 1 bis 5 der Verordnung Nr. 574/72, die der Gerichtshof im Urteil vom 3. Juni 1992 in der Rechtssache C-45/90 (Paletta) vorgenommen hat und wonach der zuständige Träger, auch wenn es sich dabei um den Arbeitgeber und nicht um einen Träger der sozialen Sicherheit handelt, in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht an die vom Träger des Wohn- oder Aufenthaltsorts getroffenen ärztlichen Feststellungen über den Eintritt und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit gebunden ist, sofern er die betroffene Person nicht durch einen Arzt seiner Wahl untersuchen lässt, wozu ihn Artikel 18 Absatz 5 ermächtigt, verwehrt es dem Arbeitgeber nicht, Nachweise zu erbringen, anhand deren das nationale Gericht gegebenenfalls feststellen kann, daß der Arbeitnehmer mißbräuchlich oder betrügerisch eine gemäß Artikel 18 festgestellte Arbeitsunfähigkeit gemeldet hat, ohne krank gewesen zu sein. Die mißbräuchliche oder betrügerische Geltendmachung von Gemeinschaftsrecht ist nämlich nicht gestattet.

Wenn der Arbeitgeber Umstände darlegt und beweist, die zu ernsthaften Zweifeln an einer Arbeitsunfähigkeit Anlaß geben, ist es aber nicht mit den Zielen des Artikels 18 der Verordnung Nr. 574/72 vereinbar, vom Arbeitnehmer zusätzlichen Beweis für die durch ärztliche Bescheinigung belegte Arbeitsunfähigkeit zu verlangen. Dies hätte nämlich für den Arbeitnehmer, der in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat arbeitsunfähig geworden ist, Beweisschwierigkeiten zur Folge, die die Gemeinschaftsregelung gerade vermeiden soll.

Entscheidungsgründe


1 Das Bundesarbeitsgericht hat mit Beschluß vom 27. April 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Juli 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung von Artikel 22 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6; nachstehend: Verordnung Nr. 1408/71), und der Auslegung und Gültigkeit von Artikel 18 Absätze 1 bis 5 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (ABl. L 74, S. 1) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Vittorio Paletta (Kläger), einem italienischen Staatsangehörigen, und seinem Arbeitgeber, der in Deutschland ansässigen Brennet AG (Beklagte), über deren Weigerung, das Arbeitsentgelt des Klägers gemäß dem Lohnfortzahlungsgesetz vom 27. Juli 1969 (BGBl. I S. 946; LFZG) fortzuzahlen.

3 Nach dem LFZG hat der Arbeitgeber einem Arbeitnehmer, der nach Beginn der Beschäftigung durch Arbeitsunfähigkeit an seiner Arbeitsleistung gehindert wird, ohne daß ihn ein Verschulden trifft, das Arbeitsentgelt bis zu einer Dauer von 6 Wochen fortzuzahlen.

4 Aus den Akten ergibt sich, daß sich der Kläger, seine Ehefrau und seine beiden Kinder während des ihnen von der Beklagten bewilligten Urlaubs für die Zeit vom 17. Juli bis zum 12. August 1989 krank meldeten, und daß die Beklagte sich weigerte, ihnen während der ersten sechs Wochen nach Eintritt der Krankheit das Arbeitsentgelt fortzuzahlen, weil sie der Auffassung war, die im Ausland getroffenen ärztlichen Feststellungen, gegen deren Richtigkeit nach ihrer Ansicht ernstliche Bedenken bestanden, seien für sie nicht bindend.

5 Das mit dem Rechtsstreit befasste Arbeitsgericht Lörrach hatte dem Gerichtshof mehrere Fragen nach der Auslegung von Artikel 18 der Verordnung Nr. 574/72 zur Vorabentscheidung vorgelegt.

6 Mit Urteil vom 3. Juni 1992 in der Rechtssache C-45/90 (Paletta, Slg. 1992, I-3423) hat der Gerichtshof für Recht erkannt, daß Artikel 18 Absätze 1 bis 4 der Verordnung dahin auszulegen ist, daß der zuständige Träger, auch wenn es sich dabei um den Arbeitgeber und nicht um einen Träger der sozialen Sicherheit handelt, in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht an die vom Träger des Wohn- oder Aufenthaltsorts getroffenen ärztlichen Feststellungen über den Eintritt und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit gebunden ist, sofern er die betroffene Person nicht durch einen Arzt seiner Wahl untersuchen lässt, wozu ihn Artikel 18 Absatz 5 ermächtigt.

7 Angesichts dieser Antwort gab das Arbeitsgericht der Klage des Klägers und seiner Familienangehörigen statt. Diese Entscheidung wurde vom Landesarbeitsgericht in der Berufungsinstanz bestätigt.

8 Die Beklagte legte dagegen Revision zum Bundesarbeitsgericht ein, nach dessen Ansicht Inhalt und Tragweite des Urteils Paletta zu Zweifeln Anlaß geben.

9 Erstens fragt sich das vorlegende Gericht, ob sich der Kläger auf Artikel 22 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 berufen könne, um für die gesamte Zeit der umstrittenen Arbeitsunfähigkeit oder für einen Teil davon die Zahlung der Vergütung verlangen zu können. Diese Bestimmung gewähre nämlich nur dann einen Anspruch auf Geldleistungen, zu denen die Lohnfortzahlung im Sinne des LFZG gehöre, wenn der Zustand des Arbeitnehmers eine unverzuegliche Leistungsgewährung erfordere. Da nach deutschem Recht das Arbeitsentgelt jeweils erst am Monatsende gezahlt werde, scheide eine unverzuegliche Gewährung der streitigen Leistungen offenbar aus.

10 Zweitens führt das vorlegende Gericht aus, daß Atteste, die eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigten, in der Praxis nicht immer richtig seien, insbesondere wenn sie mißbräuchlich erstellt oder erlangt worden seien. Aufgrund dieser Erkenntnis gehe die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts dahin, daß der Arbeitgeber die Richtigkeit einer ärztlichen Bescheinigung in Mißbrauchsfällen bestreiten könne. Hierzu müsse er Umstände darlegen und beweisen, die zu ernsthaften Zweifeln an einer Arbeitsunfähigkeit Anlaß gäben. Es sei dann Sache des Arbeitnehmers, zusätzlichen Beweis für die behauptete Arbeitsunfähigkeit zu erbringen.

11 Dem Urteil Paletta lasse sich nicht mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, ob und inwieweit ein nationales Gericht bei der Anwendung von Artikel 18 der Verordnung Nr. 574/72 einen Mißbrauch seitens des Betroffenen berücksichtigen dürfe.

12 Es sei insoweit mit den Zielen der einschlägigen Verordnungen nicht unvereinbar, wenn der Arbeitgeber den Beweis dafür führen dürfe, daß ein Mißbrauchstatbestand vorliege, aus dem mit Sicherheit oder hinreichender Wahrscheinlichkeit zu schließen sei, daß Arbeitsunfähigkeit nicht vorgelegen habe. Würde der Mißbrauchseinwand dagegen abgeschnitten, so würde dies zu einer Besserstellung des im Ausland erkrankten Arbeitnehmers gegenüber dem in Deutschland erkrankten führen, was deshalb rechtlich bedenklich erschiene, weil die Verordnung Nr. 1408/71 nach ihren Begründungserwägungen sicherstellen solle, daß alle Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten gleich behandelt würden und die Arbeitnehmer und ihre anspruchsberechtigten Angehörigen unabhängig von ihrem Arbeits- oder Wohnort in den Genuß der Leistungen der sozialen Sicherheit kämen.

13 Drittens fragt sich das Bundesarbeitsgericht, ob Artikel 18 der Verordnung Nr. 574/72, falls er dahin auszulegen wäre, daß vor dem nationalen Gericht der Nachweis eines Mißbrauchs nicht geführt werden dürfe, nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit verstosse. Der mit Artikel 18 erstrebte Zweck erfordere nämlich nicht, daß dem Arbeitgeber jeglicher Gegenbeweis in bezug auf einen Mißbrauch abgeschnitten werde; der Beweis eines Mißbrauchstatbestands schränke nicht die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer ein, sondern nur die Möglichkeit, durch betrügerische Handlungen unrechtmässige Leistungen zu erlangen.

14 Aufgrund dieser Zweifel hat das Bundesarbeitsgericht das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Entfällt die Anwendbarkeit der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 für die Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber gemäß Artikel 22 Absatz 1 im Hinblick auf das Erfordernis der Unverzueglichkeit der Leistungsgewährung dann, wenn die Leistung nach dem anzuwendenden deutschen Recht erst längere Zeit (3 Wochen) nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit fällig ist?

2. Bedeutet die vom Gerichtshof in der Rechtssache C-45/90 im Urteil vom 3. Juni 1992 vorgenommene Auslegung von Artikel 18 Absätze 1 bis 4 und 5 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972, daß es dem Arbeitgeber verwehrt ist, einen Mißbrauchstatbestand zu beweisen, aus dem mit Sicherheit oder hinreichender Wahrscheinlichkeit zu schließen ist, daß Arbeitsunfähigkeit nicht vorgelegen hat?

3. Falls die Frage zu 2 bejaht wird, verstösst Artikel 18 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 dann gegen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit (Artikel 3b Absatz 3 EG-Vertrag)?

Zur ersten Vorabentscheidungsfrage

15 Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 22 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71 für eine nationale Regelung, nach der ein Arbeitnehmer bei Arbeitsunfähigkeit für eine bestimmte Zeit Anspruch auf Lohnfortzahlung hat, auch dann gilt, wenn die Vergütung erst eine bestimmte Zeit nach dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zu zahlen ist.

16 Gemäß Artikel 22 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 hat ein Arbeitnehmer, der die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für den Anspruch auf Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft erforderlichen Voraussetzungen erfuellt und

a) dessen Zustand während eines Aufenthalts im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats unverzueglich Leistungen erfordert

... Anspruch auf:

i) Sachleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers vom Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften, als ob er bei diesem versichert wäre; die Dauer der Leistungsgewährung richtet sich jedoch nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates;

ii) Geldleistungen vom zuständigen Träger nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften. Im Einvernehmen zwischen dem zuständigen Träger und dem Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts können diese Leistungen jedoch vom Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für Rechnung des zuständigen Trägers gewährt werden .

17 Nach Auffassung der Beklagten kann Artikel 18 der Verordnung Nr. 574/72, der bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit in einem anderen als dem gemäß Artikel 24 der Verordnung Nr. 574/72 zuständigen Mitgliedstaat gilt, nur geltend gemacht werden, wenn die Voraussetzungen des Artikels 22 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71 vorliegen. Andernfalls sei für die Leistungsgewährung allein das Recht des zuständigen Mitgliedstaats maßgeblich, hier das deutsche Recht.

18 Der Gemeinschaftsgesetzgeber habe durch Einfügung der Worte unverzueglich erforderlich in Artikel 22 die Anwendung der darin vorgesehenen Regelung auf Notfälle beschränken wollen. Nach deutschem Recht werde jedoch der Lohnfortzahlungsanspruch nicht bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit, sondern im Zeitpunkt der Fälligkeit des Lohnanspruchs im Arbeitsverhältnis, d. h. jeweils zum Monatsende, fällig. Folglich habe der Kläger keinen sofortigen Bedarf an Geldleistungen gehabt, da er seinen Lohn erst zum 31. August 1989, d. h. 24 Tage nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit habe beanspruchen können.

19 Dieser Auslegung von Artikel 22 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71 ist nicht zu folgen.

20 Wie die Kommission zu Recht ausgeführt hat, verlangt diese Bestimmung, indem sie voraussetzt, daß der Zustand des Kranken unverzueglich Leistungen erfordert , die Feststellung, daß medizinisch gesehen eine unverzuegliche Leistung erforderlich ist. Diese Voraussetzung gilt unbestreitbar für unverzueglich erforderliche Sachleistungen ; doch bedeutet sie darüber hinaus, daß die betroffene Person in einem solchen Notfall auch entsprechende Geldleistungen beanspruchen kann, die, wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes (Urteil vom 30. Juni 1966 in der Rechtssache 61/65, Vaassen-Göbbels, Slg. 1966, 584) ergibt, im wesentlichen dazu bestimmt sind, den Verdienstausfall des kranken Arbeitnehmers auszugleichen und damit seinen Lebensunterhalt zu sichern, der sonst gefährdet sein könnte.

21 Ausserdem hätte die von der Beklagten vertretene Auffassung zur Folge, daß die Regelung des Artikels 22 nur dem Arbeitnehmer zugute kommen könnte, der kurz vor Fälligkeit des Lohnanspruchs erkrankt. Eine solche Auslegung, die die Bedürfnisse des Kranken ausser Acht lässt, ist mit den Zielen der fraglichen Bestimmung unvereinbar.

22 Daher ist auf die erste Frage zu antworten, daß Artikel 22 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71 für eine nationale Regelung, nach der ein Arbeitnehmer bei Arbeitsunfähigkeit für eine bestimmte Zeit Anspruch auf Lohnfortzahlung hat, auch dann gilt, wenn die Vergütung erst eine bestimmte Zeit nach dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zu zahlen ist.

Zur zweiten Vorabentscheidungsfrage

23 Im Urteil Paletta hat der Gerichtshof Artikel 18 Absätze 1 bis 4 der Verordnung Nr. 574/72 ausgelegt, ohne besonders auf den Fall einer mißbräuchlichen oder betrügerischen Anwendung dieser Vorschrift abzustellen.

24 Bei der Frage, ob das nationale Gericht bei mißbräuchlichem Verhalten des Betroffenen an die gemäß Artikel 18 der Verordnung Nr. 574/72 getroffenen Feststellungen über die Arbeitsunfähigkeit gebunden ist, ist zu berücksichtigen, daß nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes die mißbräuchliche oder betrügerische Geltendmachung von Gemeinschaftsrecht nicht gestattet ist (vgl. insbesondere auf dem Gebiet der Dienstleistungsfreiheit die Urteile vom 3. Dezember 1974 in der Rechtssache 33/74, Van Binsbergen, Slg. 1974, 1299, Randnr. 13, und vom 5. Oktober 1994 in der Rechtssache C-23/93, TV10, Slg. 1994, I-4795, Randnr. 21; auf dem Gebiet des freien Warenverkehrs das Urteil vom 10. Januar 1985 in der Rechtssache 229/83, Leclerc u. a., Slg. 1985, 1, Randnr. 27; auf dem Gebiet der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer das Urteil vom 21. Juni 1988 in der Rechtssache 39/86, Lair, Slg. 1988, 3161, Randnr. 43; auf dem Gebiet der gemeinsamen Agrarpolitik das Urteil vom 3. März 1993 in der Rechtssache C-8/92, General Milk Products, Slg. 1993, I-779, Randnr. 21).

25 Die nationalen Gerichte können also das mißbräuchliche oder betrügerische Verhalten des Betroffenen auf der Grundlage objektiver Kriterien zwar in Rechnung stellen, um ihm gegebenenfalls die Berufung auf das einschlägige Gemeinschaftsrecht zu verwehren, haben jedoch bei der Würdigung eines solchen Verhaltens die Ziele der fraglichen Bestimmungen zu beachten.

26 Die Anwendung der Grundsätze, die in der vom vorlegenden Gericht angeführten Rechtsprechung entwickelt wurden, nach denen der Arbeitnehmer zusätzlichen Beweis für die durch ärztliche Bescheinigung belegte Arbeitsunfähigkeit erbringen muß, wenn der Arbeitgeber Umstände darlegt und beweist, die zu ernsthaften Zweifeln an einer Arbeitsunfähigkeit Anlaß geben, ist nicht mit den Zielen des Artikels 18 der Verordnung Nr. 574/72 vereinbar. Dies hätte nämlich für den Arbeitnehmer, der in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat arbeitsunfähig geworden ist, Beweisschwierigkeiten zur Folge, die die Gemeinschaftsregelung gerade vermeiden soll.

27 Diese Bestimmung verwehrt es hingegen dem Arbeitgeber nicht, Nachweise zu erbringen, anhand deren das nationale Gericht gegebenenfalls feststellen kann, daß der Arbeitnehmer mißbräuchlich oder betrügerisch eine gemäß Artikel 18 der Verordnung Nr. 574/72 festgestellte Arbeitsunfähigkeit gemeldet hat, ohne krank gewesen zu sein.

28 Daher ist auf die zweite Frage zu antworten, daß die Auslegung von Artikel 18 Absätze 1 bis 5 der Verordnung Nr. 574/72, die der Gerichtshof im Urteil Paletta (a. a. O.) vorgenommen hat, es dem Arbeitgeber nicht verwehrt, Nachweise zu erbringen, anhand deren das nationale Gericht gegebenenfalls feststellen kann, daß der Arbeitnehmer mißbräuchlich oder betrügerisch eine gemäß Artikel 18 der Verordnung Nr. 574/72 festgestellte Arbeitsunfähigkeit gemeldet hat, ohne krank gewesen zu sein.

29 In Anbetracht dieser Antwort auf die zweite Vorabentscheidungsfrage braucht die dritte Frage nicht beantwortet zu werden.

Kostenentscheidung


Kosten

30 Die Auslagen der deutschen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor


Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Bundesarbeitsgericht mit Beschluß vom 27. April 1994 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1. Artikel 22 Absatz 1 Buchstabe a Ziffer ii der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 gilt für eine nationale Regelung, nach der ein Arbeitnehmer bei Arbeitsunfähigkeit für eine bestimmte Zeit Anspruch auf Lohnfortzahlung hat, auch dann, wenn die Vergütung erst eine bestimmte Zeit nach dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zu zahlen ist.

2. Die Auslegung von Artikel 18 Absätze 1 bis 5 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71, die der Gerichtshof im Urteil vom 3. Juni 1992 in der Rechtssache C-45/90 (Paletta, Slg. 1992, I-3423) vorgenommen hat, verwehrt es dem Arbeitgeber nicht, Nachweise zu erbringen, anhand deren das nationale Gericht gegebenenfalls feststellen kann, daß der Arbeitnehmer mißbräuchlich oder betrügerisch eine gemäß Artikel 18 der Verordnung Nr. 574/72 festgestellte Arbeitsunfähigkeit gemeldet hat, ohne krank gewesen zu sein.