Urteil des Gerichtshofes vom 14. Dezember 1995. - Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen gegen Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Hoge Raad - Niederlande. - Qualifizierung eines Berufsrentenfonds als Unternehmen - Zwangsmitgliedschaft in einem Berufsrentensystem - Vereinbarkeit mit den Wettbewerbsregeln - Möglichkeit, erstmals in der Kassationsinstanz einen gemeinschaftsrechtlichen Gesichtspunkt geltend zu machen, der eine Änderung des Streitgegenstands und eine Sachverhaltsprüfung mit sich bringt. - Verbundene Rechtssachen C-430/93 und C-431/93.
Sammlung der Rechtsprechung 1995 Seite I-04705
Leitsätze
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor
++++
Gemeinschaftsrecht ° Unmittelbare Wirkung ° Individualrechte ° Schutz durch die nationalen Gerichte ° Gerichtliche Rechtsbehelfe ° Nationale Verfahrensvorschriften ° Voraussetzungen für die Anwendung ° Prüfung der Frage eines Verstosses gegen das Gemeinschaftsrecht von Amts wegen ° Grenzen ° Grundsatz der Parteiherrschaft im Zivilverfahren
(EWG-Vertrag, Artikel 3 Buchstabe f, 5, 85, 86, 90 und 177)
Ein nationales Gericht hat in einem Rechtsstreit, der der freien Verfügung der Parteien unterliegende zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen betrifft, zwingende gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen wie die Artikel 3 Buchstabe f, 85, 86 und 90 EWG-Vertrag, sofern das nationale Recht eine derartige Anwendung gestattet, auch dann anzuwenden, wenn sich die Prozesspartei, die ein Interesse an der Anwendung hat, nicht auf sie berufen hat.
Denn die nationalen Gerichte haben aufgrund ihrer Mitwirkungspflicht aus Artikel 5 des Vertrages den Rechtsschutz zu gewährleisten, der sich für die einzelnen aus der unmittelbaren Wirkung von Vorschriften des Gemeinschaftsrechts ergibt.
Das Gemeinschaftsrecht gebietet es den nationalen Gerichten jedoch nicht, von Amts wegen die Frage eines Verstosses gegen gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen zu prüfen, wenn sie durch die Prüfung dieser Frage die ihnen grundsätzlich gebotene Passivität aufgeben müssten, indem sie die Grenzen des Rechtsstreits zwischen den Parteien überschreiten und sich auf andere Tatsachen und Umstände stützen, als sie die Prozesspartei, die ein Interesse an der Anwendung hat, ihrem Begehren zugrunde gelegt hat.
Denn die Bestimmung der zuständigen Gerichte und die Ausgestaltung von Verfahren, die den Schutz der dem Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, sind mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung auf diesem Gebiet Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten. Jedoch dürfen diese Verfahren nicht ungünstiger gestaltet werden als bei entsprechenden Klagen, die nur innerstaatliches Recht betreffen, und sie dürfen die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermässig erschweren. Eine Vorschrift des nationalen Rechts, die der Durchführung des in Artikel 177 des Vertrages vorgesehenen Verfahrens entgegensteht, muß insoweit unangewendet bleiben.
Jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Gemeinschaftsrechts unmöglich macht oder übermässig erschwert, ist unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemässe Ablauf des Verfahrens.
In diesem Zusammenhang ist der Grundsatz des nationalen Rechts, daß die Initiative in einem Zivilprozeß den Parteien zusteht und das Gericht nur in Ausnahmefällen, in denen das öffentliche Interesse sein Eingreifen erfordert, von Amts wegen tätig werden darf, Ausdruck der von den meisten Mitgliedstaaten geteilten Auffassungen vom Verhältnis zwischen Staat und Individuum; er schützt die Verteidigungsrechte und gewährleistet den ordnungsgemässen Ablauf des Verfahrens, insbesondere indem er dieses vor den mit der Prüfung neuen Vorbringens verbundenen Verzögerungen bewahrt.
1 Der Hoge Raad der Nederlanden hat mit Urteilen vom 22. Oktober 1993, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Oktober 1993, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag sechs Fragen nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts hinsichtlich der Befugnis der nationalen Gerichte, von Amts wegen die Vereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift mit den Artikeln 3 Buchstabe f, 5, 85, 86 und/oder 90 EWG-Vertrag zu prüfen, sowie nach deren Auslegung zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Fragen stellen sich in zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen Herrn van Schijndel (C-430/93) und Herrn van Veen (C-431/93) auf der einen und der Stichting Pensiönfonds voor Fysiotherapeuten (Rentenfonds für Physiotherapeuten, im folgenden: Fonds) auf der anderen Seite.
3 Mit Beschluß vom 2. Dezember 1993 sind die beiden Rechtssachen zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
4 Gemäß Artikel 2 Absatz 1 der Wet betreffende verplichte deelneming in een beröpspensiönregeling (niederländisches Gesetz über die Zwangsmitgliedschaft in einem Berufsrentensystem, im folgenden: WVD) ist der Minister für Soziale Fragen befugt, auf Antrag eines oder mehrerer nach seiner Auffassung hinreichend repräsentativer berufsständischer Verbände die Mitgliedschaft in einem von den Angehörigen des Berufsstands festgelegten Berufsrentensystem für alle oder für eine oder mehrere bestimmte Gruppen von Angehörigen des Berufsstands vorzuschreiben. Nach Artikel 2 Absatz 4 WVD bringt die Mitgliedschaft in dem System für die betroffenen Personen die Verpflichtung mit sich, die in der Satzung und den Regelungen des Rentenfonds enthaltenen oder auf ihrer Grundlage erlassenen Bestimmungen, die sie betreffen, zu beachten.
5 1978 gründeten die Physiotherapeuten den Fonds. Gemäß Artikel 2 Absatz 1 der von diesem erlassenen Rentenregelung ist angeschlossen "jeder Physiotherapeut, der in den Niederlanden als solcher tätig ist und das Rentenalter noch nicht erreicht hat". Bestimmte Gruppen von Physiotherapeuten sind von der Regelung ausgeschlossen. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die "ausschließlich in einem Arbeitsverhältnis tätig sind, aufgrund dessen die in der Algemene Burgerlijke Pensiönwet (Gesetz über die allgemeinen bürgerlichen Renten) enthaltene Regelung oder eine andere Altersversorgungsregelung, die dieser Rentenregelung zumindest gleichwertig ist, anzuwenden ist, sofern die Betroffenen dies ° unter Beachtung der einschlägigen Verwaltungsvorschriften des Artikels 25 Absatz 3 ° bei [dem Fonds] schriftlich beantragen" (Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a).
6 Mit Erlaß vom 31. März 1978 schrieb der Staatssekretär für soziale Fragen gemäß Artikel 2 Absatz 1 WVD die Mitgliedschaft in dem Fonds für die Physiotherapeuten, die als solche in den Niederlanden tätig sind, vor. Wie die Regelung des Fonds nimmt der Erlaß vom 31. März 1978 von dieser Verpflichtung die Physiotherapeuten aus, die "ausschließlich in einem Arbeitsverhältnis tätig sind, aufgrund dessen die in der Algemene Burgerlijke Pensiönwet enthaltene Regelung oder eine andere Altersversorgungsregelung, die der oben genannten Berufsrentenregelung zumindest gleichwertig ist, anzuwenden ist, sofern die Betroffenen dies ° unter Beachtung der in der genannten Rentenregelung enthaltenen einschlägigen Verwaltungsvorschriften ° bei [dem Fonds] schriftlich beantragen".
7 Nach den vom Fonds erlassenen "Vorschriften gemäß Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a der Rentenregelung" ist die Mitgliedschaft in dem Fonds vorgeschrieben, es sei denn, daß die von einem Physiotherapeuten, der seinen Beruf in einem Arbeitsverhältnis ausübt, getroffene Altersversorgungsregelung für "alle im Dienst der Gesellschaft mit beschränkter Haftung tätigen Angehörigen des Berufsstands" gilt.
8 Gemäß den oben wiedergegebenen Vorschriften beantragten die Kläger, die in den Niederlanden als Arbeitnehmer den Beruf des Physiotherapeuten ausüben, die Befreiung von der Zwangsmitgliedschaft im Berufsrentensystem der Physiotherapeuten. Der Fonds lehnte ihren Antrag mit der Begründung ab, daß die von den Klägern durch Vertrag mit der Versicherungsgesellschaft Delta Lloyd getroffene Altersversorgungsregelung nicht für alle von dem betreffenden Arbeitgeber beschäftigten Angehörigen des Berufsstands gelte (im folgenden: Kollektivitätserfordernis). Er erließ daher gegen die Kläger einen Leistungsbescheid über die nach der Rentenregelung geschuldeten Beiträge. Die Kläger wehrten sich dagegen vor dem Kantongerecht Breda und dem Kantongerecht Tilburg mit der Begründung, daß das Kollektivitätserfordernis weder in der Rentenregelung des Fonds noch in der WVD eine Grundlage finde.
9 Das Kantongerecht Breda wies die Klage des Herrn van Veen ab, während das Kantongerecht Tilburg der Klage des Herrn van Schijndel stattgab. In der Berufungsinstanz machte sich die Rechtbank Breda die vom Fonds vertretene Auffassung zu eigen und wies beide Klagen ab.
10 Herr van Veen und Herr van Schijndel legten gegen diese Entscheidungen Kassationsbeschwerde ein, wobei sie erstmals in diesem Verfahren u. a. geltend machten, daß die Rechtbank Breda "erforderlichenfalls von Amts wegen" die Vereinbarkeit der streitigen Zwangsmitgliedschaft in dem Fonds mit den höherrangigen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, insbesondere mit den Artikeln 3 Buchstabe f, 5 Absatz 2, 85 und 86 sowie 90 wie auch den Artikeln 52 bis 58 und 59 bis 66 EWG-Vertrag, hätte prüfen müssen. Die streitige Zwangsmitgliedschaft könne den für die Rentenversicherungsträger und die einzelnen Angehörigen des Berufsstands geltenden Wettbewerbsregeln ihre praktische Wirksamkeit nehmen, da sie den Abschluß von in Widerspruch zu den gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln stehenden Vereinbarungen vorschreibe oder begünstige oder deren Auswirkungen verstärke. Ausserdem könne der Fonds die Nachfrage des Marktes, zumindest die nach gleichwertigen Altersversorgungsregelungen zu attraktiveren Konditionen, nicht befriedigen.
11 Der Hoge Raad stellt hierzu fest, daß sich die Kläger zur Stützung ihres Kassationsgrundes auf zahlreiche Tatsachen und Umstände berufen hätten, die weder von der Rechtbank Breda festgestellt noch vor den Instanzgerichten zur Begründung der Klagen vorgebracht worden seien. Nach niederländischem Recht folge aber aus der Natur der Kassationsbeschwerde, daß neues Vorbringen nur dann zulässig sei, wenn es rein rechtlicher Art sei, d. h. keine Prüfung der Tatsachen erfordere. Ausserdem schreibe Artikel 48 der niederländischen Zivilprozessordnung dem Gericht zwar vor, soweit erforderlich, von Amts wegen die rechtliche Begründung zu ergänzen; doch folge aus dem Grundsatz der Passivität des Gerichts in Rechtsstreitigkeiten über der freien Verfügung der Parteien unterliegende zivilrechtliche Rechte und Pflichten, daß das Gericht dabei nicht die Grenzen des Rechtsstreits zwischen den Parteien überschreiten und sich auch nicht auf andere Tatsachen und Umstände als diejenigen stützen dürfe, mit denen das Begehren begründet worden sei.
12 In Anbetracht von alledem hat der Hoge Raad das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1) Hat ein nationales Zivilgericht in einem Rechtsstreit, der der freien Verfügung der Parteien unterliegende zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen betrifft, die Artikel 3 Buchstabe f, 5, 85, 86 und/oder 90 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auch dann anzuwenden, wenn sich die Prozesspartei, die ein Interesse an der Anwendung hat, nicht auf sie berufen hat?
2) Falls die Frage 1 grundsätzlich zu bejahen ist, gilt diese Antwort auch dann, wenn das Gericht dadurch die ihm grundsätzlich gebotene Passivität aufgeben müsste, indem es a) die Grenzen des Rechtsstreits zwischen den Parteien überschreiten und/oder b) sich auf andere Tatsachen und Umstände stützen müsste, als sie die Prozesspartei, die ein Interesse an der Anwendung hat, ihrem Begehren zugrunde gelegt hat?
3) Falls auch die Frage 2 zu bejahen ist, können dann die in Frage 1 genannten Vertragsbestimmungen erstmals vor einem nationalen Kassationsgericht geltend gemacht werden, wenn a) nach dem für dieses geltenden Verfahrensrecht neues Vorbringen im Kassationsverfahren nur zulässig ist, falls es rein rechtlicher Art ist ° d. h. keine Prüfung tatsächlicher Art erfordert und unter allen Umständen gilt °, und wenn b) diese Geltendmachung auch eine Prüfung tatsächlicher Art erfordert?
4) Ist vor dem Hintergrund des vorstehend unter 3.1 A v skizzierten Zweckes der WVD ein Berufsrentenfonds, dem aufgrund und gemäß der WVD alle oder eine oder mehrere bestimmte Gruppen von Angehörigen des Berufsstands mit den nach diesem Gesetz daran geknüpften, oben unter 3.1 A kurz dargestellten Rechtsfolgen angehören müssen, als Unternehmen im Sinne der Artikel 85, 86 oder 90 des Vertrages anzusehen?
5) Falls ja, ist dann die Anordnung der Mitgliedschaft in dem in 3.1 B genannten Berufsrentensystem für Physiotherapeuten eine von einem Mitgliedstaat getroffene Maßnahme, die die praktische Wirksamkeit der für Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln beseitigt, oder ist dies nur unter bestimmten Umständen der Fall, und wenn ja, unter welchen?
6) Falls die letzte Frage zu bejahen ist, können dann sonstige Umstände dazu führen, daß die Anordnung mit Artikel 90 des Vertrages unvereinbar ist, und wenn ja, welche?
Zur ersten Frage
13 Die vom vorlegenden Gericht erwähnten Wettbewerbsregeln sind zwingende, in der nationalen Rechtsordnung unmittelbar anwendbare Vorschriften. Soweit die Gerichte nach dem nationalen Recht die rechtlichen Gesichtspunkte, die sich aus einer von den Parteien nicht geltend gemachten innerstaatlichen Vorschrift zwingenden Charakters ergeben, von Amts wegen prüfen müssen, besteht eine solche Verpflichtung auch dann, wenn es sich um zwingende Gemeinschaftsvorschriften handelt (siehe insbesondere Urteil vom 16. Dezember 1976 in der Rechtssache 33/76, Rewe, Slg. 1976, 1989, Randnr. 5).
14 Das gleiche gilt, wenn das Gericht nach dem nationalen Recht befugt ist, eine zwingende Rechtsvorschrift von Amts wegen anzuwenden. Denn die nationalen Gerichte haben aufgrund ihrer Mitwirkungspflicht aus Artikel 5 des Vertrages den Rechtsschutz zu gewährleisten, der sich für die einzelnen aus der unmittelbaren Wirkung von Vorschriften des Gemeinschaftsrechts ergibt (siehe insbesondere Urteil vom 19. Juni 1990 in der Rechtssache C-213/89, Factortame u. a., Slg. 1990, I-2433, Randr. 19).
15 Daher ist auf die erste Frage zu antworten, daß ein nationales Gericht in einem Rechtsstreit, der der freien Verfügung der Parteien unterliegende zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen betrifft, die Artikel 3 Buchstabe f, 85, 86 und 90 des Vertrages, sofern das nationale Recht eine derartige Anwendung gestattet, auch dann anzuwenden hat, wenn sich die Prozesspartei, die ein Interesse an der Anwendung hat, nicht auf sie berufen hat.
Zur zweiten Frage
16 Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine solche Verpflichtung auch dann besteht, wenn das Gericht, um die genannten Gemeinschaftsvorschriften von Amts wegen anzuwenden, die ihm grundsätzlich gebotene Passivität aufgeben müsste, indem es die Grenzen des Rechtsstreits zwischen den Parteien überschreitet und/oder sich auf andere Tatsachen und Umstände stützt, als sie die Prozesspartei, die ein Interesse an der Anwendung hat, ihrem Begehren zugrunde gelegt hat.
17 Insoweit ist daran zu erinnern, daß die Bestimmung der zuständigen Gerichte und die Ausgestaltung von Verfahren, die den Schutz der dem Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung auf diesem Gebiet Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten sind. Jedoch dürfen diese Verfahren nicht ungünstiger gestaltet werden als bei entsprechenden Klagen, die nur innerstaatliches Recht betreffen, und sie dürfen die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermässig erschweren (siehe u. a. Urteil Rewe, a. a. O., Randnr. 5, sowie die Urteile vom 16. Dezember 1976 in der Rechtssache 45/76, Comet, Slg. 1976, 2043, Randnrn. 12 bis 16, vom 27. Februar 1980 in der Rechtssache 68/79, Just, Slg. 1980, 501, Randnr. 25, vom 9. November 1983 in der Rechtssache 199/82, San Giorgio, Slg. 1983, 3595, Randnr. 14, vom 25. Februar 1988 in den Rechtssachen 331/85, 376/85 und 378/85, Bianco und Girard, Slg. 1988, 1099, Randnr. 12, vom 24. März 1988 in der Rechtssache 104/86, Kommission/Italien, Slg. 1988, 1799, Randnr. 7, vom 14. Juli 1988 in den Rechtssachen 123/87 und 330/87, Jeunehomme und EGI, Slg. 1988, 4517, Randnr. 17, vom 9. Juni 1992 in der Rechtssache C-96/91, Kommission/Spanien, Slg. 1992, I-3789, Randnr. 12, und vom 19. November 1991 in den Rechtssachen C-6/90 und C-9/90, Francovich u. a., Slg. 1991, I-5357, Randnr. 43).
18 Ausserdem ist daran zu erinnern, daß der Gerichtshof bereits entschieden hat, daß eine Vorschrift des nationalen Rechts, die der Durchführung des in Artikel 177 des Vertrages vorgesehenen Verfahrens entgegensteht, unangewendet bleiben muß (Urteil vom 16. Januar 1974 in der Rechtssache 166/73, Rheinmühlen, Slg. 1974, 33, Randnrn. 2 und 3).
19 Für die Anwendung dieser Grundsätze ist jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Gemeinschaftsrechts unmöglich macht oder übermässig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemässe Ablauf des Verfahrens.
20 Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, daß der Grundsatz des nationalen Rechts, daß das Gericht in einem Zivilverfahren von Amts wegen bestimmte Gesichtspunkte prüfen muß oder kann, dadurch begrenzt ist, daß sich das Gericht an den Streitgegenstand halten und seine Entscheidung auf die ihm vorgetragenen Tatsachen stützen muß.
21 Diese Begrenzung beruht auf dem Prinzip, daß die Initiative in einem Prozeß den Parteien zusteht und das Gericht nur in Ausnahmefällen von Amts wegen tätig werden darf, in denen das öffentliche Interesse sein Eingreifen erfordert. Dieses Prinzip ist Ausdruck der von den meisten Mitgliedstaaten geteilten Auffassungen vom Verhältnis zwischen Staat und Individuum, es schützt die Verteidigungsrechte und gewährleistet den ordnungsgemässen Ablauf des Verfahrens, insbesondere indem es dieses vor den mit der Prüfung neuen Vorbringens verbundenen Verzögerungen bewahrt.
22 Unter diesen Umständen ist auf die zweite Frage zu antworten, daß das Gemeinschaftsrecht es den nationalen Gerichten nicht gebietet, von Amts wegen die Frage eines Verstosses gegen Gemeinschaftsvorschriften aufzugreifen, wenn sie durch die Prüfung dieser Frage die ihnen grundsätzlich gebotene Passivität aufgeben müssten, indem sie die Grenzen des Rechtsstreits zwischen den Parteien überschreiten und sich auf andere Tatsachen und Umstände stützen, als sie die Prozesspartei, die ein Interesse an der Anwendung hat, ihrem Begehren zugrunde gelegt hat.
Zu den übrigen Fragen
23 In Anbetracht der Antworten auf die ersten beiden Fragen braucht die dritte Frage nicht beantwortet zu werden. Die weiteren Fragen, die nur für den Fall gestellt worden sind, daß der Hoge Raad einen Gesichtspunkt, wie er von den Parteien der Ausgangsverfahren geltend gemacht wurde, zu prüfen hat, brauchen ebenfalls nicht beantwortet zu werden.
Kosten
24 Die Auslagen der niederländischen, der deutschen, der griechischen, der spanischen, der französischen und der irischen Regierung sowie des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Hoge Raad der Nederlanden mit Urteilen vom 22. Oktober 1993 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
1) Ein nationales Gericht hat in einem Rechtsstreit, der der freien Verfügung der Parteien unterliegende zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen betrifft, die Artikel 3 Buchstabe f, 85, 86 und 90 EWG-Vertrag, sofern das nationale Recht eine derartige Anwendung gestattet, auch dann anzuwenden, wenn sich die Prozesspartei, die ein Interesse an der Anwendung hat, nicht auf sie berufen hat.
2) Das Gemeinschaftsrecht gebietet es den nationalen Gerichten nicht, von Amts wegen die Frage eines Verstosses gegen gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen zu prüfen, wenn sie durch die Prüfung dieser Frage die ihnen grundsätzlich gebotene Passivität aufgeben müssten, indem sie die Grenzen des Rechtsstreits zwischen den Parteien überschreiten und sich auf andere Tatsachen und Umstände stützen, als sie die Prozesspartei, die ein Interesse an der Anwendung hat, ihrem Begehren zugrunde gelegt hat.