61990J0097

URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 11. JULI 1991. - HANSGEORG LENNARTZ GEGEN FINANZAMT MUENCHEN III. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: FINANZGERICHT MUENCHEN - DEUTSCHLAND. - MEHRWERTSTEUER - ABZUG DER FUER EIN INVESTITIONSGUT GEZAHLTEN VORSTEUER. - RECHTSSACHE C-97/90.

Sammlung der Rechtsprechung 1991 Seite I-03795
Schwedische Sonderausgabe Seite I-00299
Finnische Sonderausgabe Seite I-00311


Leitsätze
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor

Schlüsselwörter


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Steuerrecht - Harmonisierung - Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem - Vorsteuerabzug - Investitionsgüter - Berichtigung des ursprünglichen Vorsteuerabzugs - Voraussetzungen für die Anwendung von Artikel 20 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie - Erwerb der Güter durch einen Steuerpflichtigen für Zwecke seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten - Beurteilungskriterien - Steuerpflichtiger, der diese Voraussetzungen erfuellt - Recht auf Vorsteuerabzug - Einschränkende nationale Maßnahme - Anwendbarkeit der für Abweichungen geltenden Vorschriften

(Richtlinie 77/388 des Rates, Artikel 4, 17, 20 Absatz 2 und 27 Absätze 1 und 5)

Leitsätze


Artikel 20 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie (77/388) betreffend die Berichtigung des für Investitionsgüter vorgenommenen ursprünglichen Vorsteuerabzugs beschränkt sich darauf, das Verfahren für die Berechnung der Berichtigung des Vorsteuerabzugs festzulegen. Er kann daher kein Recht auf Vorsteuerabzug entstehen lassen oder die von einem Steuerpflichtigen im Zusammenhang mit seinen nicht besteuerten Umsätzen entrichtete Steuer in eine abzugsfähige Steuer im Sinne von Artikel 17 verwandeln. Seine Anwendung setzt voraus, daß eine Person als Steuerpflichtiger Investitionsgüter erwirbt und sie Zwecken ihrer wirtschaftlichen Tätigkeiten im Sinne von Artikel 4 der Richtlinie zuordnet. In diesem Fall ist aber die sofortige Verwendung der Gegenstände für besteuerte oder steuerfreie Umsätze für sich gesehen keine Voraussetzung für die Anwendung von Artikel 20 Absatz 2.

Die Frage, ob ein Steuerpflichtiger im Einzelfall Gegenstände für Zwecke seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten erworben hat, ist eine Tatfrage, die unter Berücksichtigung aller Gegebenheiten des Sachverhalts, zu denen die Art der betreffenden Gegenstände und der zwischen dem Erwerb der Gegenstände und ihrer Verwendung für Zwecke der wirtschaftlichen Tätigkeiten des Steuerpflichtigen liegende Zeitraum gehören, zu beurteilen ist.

Ein Steuerpflichtiger, der Gegenstände für Zwecke einer wirtschaftlichen Tätigkeit verwendet, hat zum Zeitpunkt des Erwerbs dieser Gegenstände das Recht, die gezahlte Vorsteuer gemäß den Vorschriften des Artikels 17 abzuziehen, wie gering auch immer der Anteil der Verwendung für unternehmerische Zwecke sein mag. Eine Vorschrift oder eine Verwaltungspraxis, die das Recht auf Vorsteuerabzug im Falle einer begrenzten, gleichwohl aber tatsächlichen unternehmerischen Verwendung allgemein einschränkt, stellt eine Abweichung von Artikel 17 dar und ist nur gültig, wenn sie den Anforderungen des Artikels 27 Absatz 1 oder des Artikels 27 Absatz 5 der Richtlinie genügt.

Entscheidungsgründe


1 Das Finanzgericht München hat mit auf die mündliche Verhandlung vom 24. Januar 1990 ergangenem Beschluß, beim Gerichtshof eingegangen am 10. April 1990, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag mehrere Fragen nach der Auslegung der Sechsten Richtlinie des Rates (77/388/EWG) vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; im folgenden: Sechste Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit, in dem der Kläger, Steuerberater in München, gegen das Finanzamt München III wegen dessen Weigerung klagt, ihm eine nachträgliche Berichtigung seiner Umsatzsteuererklärung 1985 zu gewähren.

3 1985 und 1986 arbeitete der Kläger teils als Angestellter, teils als selbständiger Steuerberater. Für diesen Zeitraum gab er jährliche Umsatzsteuererklärungen für seine selbständige Tätigkeit ab. 1985 erwarb er ein Kraftfahrzeug für 20 206,15 DM zuzueglich Mehrwertsteuer von 2 826,86 DM. 1985 nutzte er dieses Fahrzeug überwiegend privat und nur zu einem geringen Teil, nämlich zu etwa 8 %, für unternehmerische Zwecke. Bei der Eröffnung seiner eigenen Steuerberaterpraxis legte er das Fahrzeug in den Betrieb ein. In seiner Umsatzsteuererklärung 1986 machte er aufgrund des § 15a Umsatzsteuergesetz 1980 (UStG), der die Durchführungsbestimmungen zu Artikel 20 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie enthält, nachträglich abziehbare Vorsteuer aus der Anschaffung des Fahrzeugs in Höhe von 282,98 DM geltend, die er mit 6/60 der gesamten von ihm gezahlten Umsatzsteuer für das Fahrzeug berechnete.

4 Das Finanzamt München III entschied, daß die Anschaffung des Fahrzeugs durch den Kläger als ausschließlich für private Zwecke erfolgt anzusehen sei und daß der Kläger daher keinen Anspruch auf Berichtigung nach Artikel 15a UStG habe, wenn das Fahrzeug später für unternehmerische Zwecke genutzt werde. Für seine Auffassung, daß das Fahrzeug ursprünglich nur privat genutzt worden sei, stützte sich das Finanzamt auf eine Verwaltungspraxis der deutschen Steuerbehörden, wonach im allgemeinen eine unternehmerische Verwendung von Wirtschaftsgütern nicht berücksichtigt wird, wenn sie weniger als 10 % der gesamten Verwendung ausmacht. Das Finanzamt München III lehnte es daher ab, dem Kläger eine nachträgliche Berichtigung seiner Umsatzsteuererklärung 1985 zu gewähren.

5 Nach Ansicht des Finanzgerichts München begegnet die Auslegung von Artikel 15a UStG, nach der ein Wirtschaftsgut, das ein Steuerpflichtiger zunächst privat und erst in den Folgejahren im Unternehmen nutzt, vom Vorsteuerabzug völlig ausgeschlossen sei, Zweifeln im Hinblick auf die Sechste Richtlinie, die den Vorsteuerabzug nicht ausschließe. Das Gericht hat deshalb das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1) Ist Artikel 20 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie auf alle Investitionsgüter anwendbar, die

a) an einen Steuerpflichtigen von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden und die vom Empfänger der Lieferung innerhalb des Zeitraums von fünf Jahren, einschließlich des Jahres, in dem die Güter erworben wurden, irgendwann für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden,

oder ist darüber hinaus erforderlich, daß das betreffende Investitionsgut

b) vom Zeitpunkt des Erwerbs an für Zwecke der besteuerten oder steuerfreien Umsätze (unternehmerische Zwecke) des Steuerpflichtigen verwendet oder

c) im Zeitpunkt des Erwerbs dem Unternehmen des Steuerpflichtigen zugeordnet

wurden?

2) Bei Bejahung der Alternative 1 b:

Hängt die Anwendung des Artikels 20 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie bei Investitionsgütern, die vom Steuerpflichtigen sowohl für unternehmerische Zwecke als auch für andere, insbesondere private Zwecke verwendet werden (gemischte Verwendung), davon ab, daß das Investitionsgut in dem Jahr, in dem es erworben wurde, in einem bestimmten Mindestumfang für unternehmerische Zwecke verwendet wurde, und wie ist ggf. dieses Mindestmaß zu definieren?

3) Bei Bejahung der Alternative 1 c:

Steht die Zuordnung des Investitionsguts zum Unternehmen im Belieben des Steuerpflichtigen oder setzt sie voraus, daß der Steuerpflichtige das Investitionsgut

a) in der Absicht erwirbt, es für unternehmerische Zwecke zu verwenden, und muß ggf. diese Verwendung

- sofort ab dem Zeitpunkt des Erwerbs oder

- ab einem Zeitpunkt innerhalb des Jahres des Erwerbs oder

- ab einem Zeitpunkt vor Ablauf von fünf Jahren, einschließlich des Jahres des Erwerbs,

geplant sein

und/oder

b) tatsächlich für unternehmerische Zwecke verwendet, und kommt es ggf. darauf an, ob diese Verwendung

- ab dem Zeitpunkt des Erwerbs oder

- innerhalb des Jahres, in dem das Investitionsgut erworben wurde, oder

- innerhalb des Zeitraums von fünf Jahren, einschließlich des Jahres, in dem das Gut erworben wurde,

stattfindet?

Zu a und b:

Muß die geplante und/oder tatsächliche Verwendung für unternehmerische Zwecke bei einer gemischten Verwendung des Investitionsguts ein bestimmtes Mindestmaß erreichen, und wie ist dieses Mindestmaß ggf. zu definieren?

6 Wegen weiterer Einzelheiten des rechtlichen Rahmens und des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens sowie des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur wiedergegeben, soweit es die Begründung des Urteils erfordert.

Zur Tragweite von Artikel 20 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie (Frage 1)

7 In ihrem ersten Teil geht diese Frage im Kern dahin, ob die in Artikel 20 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie festgelegten Regeln für die Berichtigung der gezahlten Vorsteuer Anwendung finden, wenn der Steuerpflichtige die Gegenstände ursprünglich für ausschließlich private Zwecke erwirbt, sie aber später innerhalb des Berichtigungszeitraums von fünf Jahren für unternehmerische Zwecke verwendet. In ihrem zweiten Teil geht die Frage dahin, ob es für die Anwendung von Artikel 20 Absatz 2 ausreicht, daß eine Person die Gegenstände als Steuerpflichtiger erwirbt, oder ob eine unmittelbare Verwendung der Gegenstände für Zwecke wirtschaftlicher Tätigkeiten im Sinne von Artikel 4 der Sechsten Richtlinie vorliegen muß.

Zum ersten Teil der ersten Frage

8 Nach Artikel 17 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie, der mit "Entstehung und Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug" überschrieben ist, entsteht das Recht auf Vorsteuerabzug, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht. Folglich hängt das Bestehen eines Rechts auf Vorsteuerabzug allein davon ab, in welcher Eigenschaft eine Person zu diesem Zeitpunkt handelt. Wie sich aus Artikel 17 Absatz 2 ergibt, ist der Steuerpflichtige, soweit er als solcher die Gegenstände für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet, befugt, die geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für diese Gegenstände abzuziehen.

9 Dagegen entsteht kein Recht auf Vorsteuerabzug, wenn der Steuerpflichtige die Gegenstände nicht für Zwecke seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten im Sinne von Artikel 4, sondern für seinen privaten Verbrauch verwendet.

10 Ferner erfuellt ein Steuerpflichtiger, der Gegenstände für private Zwecke erwirbt, nicht die in den Artikeln 18 und 22 der Sechsten Richtlinie aufgestellten Verwaltungs- und Buchführungserfordernisse für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug.

11 Diese Auslegung wird bereits durch den Wortlaut des Absatzes 2 von Artikel 20, der mit "Berichtigung der Vorsteuerabzuege" überschrieben ist, bestätigt. Dieser Artikel enthält keine Bestimmung über die Entstehung eines Rechts auf Vorsteuerabzug. Aus dem Umstand, daß er nur die Berichtigungen der für Investitionsgüter vorgesehenen Vorsteuerabzuege erwähnt, ist zu schließen, daß die Entstehung des Rechts auf eine solche Berichtigung in anderen Bestimmungen der Sechsten Richtlinie behandelt wird.

12 Aus dem System der Sechsten Richtlinie und aus dem Wortlaut von Artikel 20 Absatz 2 selbst ergibt sich, daß sich diese Bestimmung darauf beschränkt, das Verfahren für die Berechnung der Berichtigung des Vorsteuererstabzugs festzulegen. Sie kann daher kein Recht auf Vorsteuerabzug entstehen lassen oder die von einem Steuerpflichtigen im Zusammenhang mit seinen nicht besteuerten Umsätzen entrichtete Steuer in eine abzugsfähige Steuer im Sinne von Artikel 17 verwandeln.

Zum zweiten Teil der ersten Frage

13 Zur Beantwortung des zweiten Teils der ersten Frage ist darauf hinzuweisen, daß nach dem Urteil des Gerichtshofes vom 14. Februar 1985 in der Rechtssache 268/83 (Rompelman, Slg. 1985, 655, Randnr. 22) die wirtschaftlichen Tätigkeiten im Sinne von Artikel 4 Absatz 1, wie sich schon aus dem Wortlaut von Artikel 4 Absatz 2 ergibt, mehrere aufeinanderfolgende Handlungen umfassen können. Die zu diesen gehörenden vorbereitenden Tätigkeiten, wie der Erwerb der für eine Nutzung erforderlichen Mittel, sind bereits den wirtschaftlichen Tätigkeiten im Sinne dieses Artikels zuzurechnen.

14 Aus diesem Urteil ergibt sich, daß eine Person, die Gegenstände für Zwecke einer wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne von Artikel 4 erwirbt, dies auch dann als Steuerpflichtiger tut, wenn die Gegenstände nicht sofort für diese wirtschaftliche Tätigkeit verwendet werden.

15 Folglich hängt die Anwendung des Systems der Mehrwertsteuer und damit des Berichtigungsmechanismus vom Kauf der Gegenstände durch einen als solchen handelnden Steuerpflichtigen ab. Die tatsächliche oder beabsichtigte Verwendung der Waren bestimmt nur den Umfang des Vorsteuererstabzugs, zu dem der Steuerpflichtige nach Artikel 17 befugt ist, und den Umfang etwaiger Berichtigungen während der darauffolgenden Zeiträume.

16 Demnach ist die sofortige Verwendung der Gegenstände für besteuerte oder steuerfreie Umsätze für sich gesehen keine Voraussetzung für die Anwendung von Artikel 20 Absatz 2.

17 Auf die gesamte erste Frage ist daher zu antworten, daß Artikel 20 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie Anwendung findet, wenn eine Person als Steuerpflichtiger Investitionsgüter erwirbt und sie Zwecken ihrer wirtschaftlichen Tätigkeiten im Sinne von Artikel 4 der Sechsten Richtlinie zuordnet.

Zur Frage eines Mindestumfangs der Verwendung eines Investitionsguts (Frage 2)

18 In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu prüfen.

Zu den Kriterien, nach denen sich bestimmt, ob eine Person Gegenstände als Steuerpflichtiger erwirbt (Frage 3 a und b)

19 Mit den ersten beiden Teilen der dritten Frage ersucht das vorlegende Gericht im Kern um Aufschluß über die Kriterien, nach denen sich bestimmt, ob eine Person Gegenstände als Steuerpflichtiger erwirbt, wenn sie sie nicht sofort ihren wirtschaftlichen Tätigkeiten zuordnet.

20 Die Beantwortung dieser Frage hängt von der Würdigung aller insoweit erheblichen Umstände ab, unter anderem von der Art der betreffenden Gegenstände und dem Zeitraum, der zwischen dem Erwerb der Gegenstände und ihrer Verwendung für die wirtschaftlichen Tätigkeiten des Steuerpflichtigen liegt. Die in Artikel 20 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Berichtigungszeiträume haben jedoch als solche nichts mit der Frage zu tun, ob die Gegenstände für Zwecke dieser wirtschaftlichen Tätigkeiten erworben wurden.

21 Daher ist auf die ersten beiden Teile der dritten Frage zu antworten, daß die Frage, ob ein Steuerpflichtiger im Einzelfall Gegenstände für Zwecke seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten im Sinne von Artikel 4 der Sechsten Richtlinie erworben hat, eine Tatfrage ist, die unter Berücksichtigung aller Gegebenheiten des Sachverhalts, zu denen die Art der betreffenden Gegenstände und der zwischen dem Erwerb der Gegenstände und ihrer Verwendung für Zwecke der wirtschaftlichen Tätigkeiten des Steuerpflichtigen liegende Zeitraum gehören, zu beurteilen ist.

Zur Gültigkeit einer Vorschrift, die das Recht auf Vorsteuerabzug einschränkt (Frage 3, letzter Teil)

22 Im letzten Teil der dritten Frage fragt das vorlegende Gericht im Kern, ob nach der Sechsten Richtlinie eine Person, die Gegenstände als Steuerpflichtiger erwirbt und zum Abzug der für diese Gegenstände geschuldeten Vorsteuer berechtigt ist, die Vorsteuer auch dann abziehen kann, wenn die Gegenstände anfangs und während eines bestimmten Zeitraums in verhältnismässig geringem Umfang für Zwecke einer wirtschaftlichen Tätigkeit verwendet werden.

23 In der mündlichen Verhandlung hat die Bundesregierung ausgeführt, daß sich der Rechtsstreit vor dem vorlegenden Gericht auf die Frage beschränke, ob der Kläger Berichtigungen nach Artikel 20 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie vornehmen könne. Da er für 1985 keinen Vorsteuererstabzug nach Artikel 17 Absatz 2 verlangt habe, sei die für dieses Jahr vorgenommene Qualifizierung endgültig. Folglich müsse bei der Beantwortung der Vorlagefragen von dem Grundsatz ausgegangen werden, daß der Kläger wegen des Erwerbs des Fahrzeugs nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt gewesen sei.

24 Der Vorlagebeschluß scheint dieses Vorbringen der Bundesregierung zu bestätigen. Ferner ist letztere zu Recht der Auffassung, daß die Beschränkung für das Recht des Klägers auf einen Vorsteuererstabzug für 1985 nach Artikel 17 Absatz 2 gilt. Folglich käme eine etwaige Ungültigkeit der in Rede stehenden Vorschrift dem Käger nur zugute, wenn es ihm möglich wäre, gemäß den nach Artikel 18 Absatz 3 der Sechsten Richtlinie erlassenen deutschen Rechtsvorschriften den Vorsteuererstabzug nach Artikel 17 Absatz 2 rückwirkend zu beantragen.

25 Da jedoch das vorlegende Gericht ausdrücklich die Frage aufwirft, ob ein Mindestanteil unternehmerischer Verwendung vorgeschrieben werden darf, ist zu prüfen, ob die in Rede stehende Maßnahme in dem Fall zur Verweigerung des Rechts auf Vorsteuerabzug führen darf, daß Investitionsgüter tatsächlich, jedoch in begrenztem Umfang für Zwecke der wirtschaftlichen Tätigkeiten eines Steuerpflichtigen verwendet werden.

26 Zur Beantwortung der vom vorlegenden Gericht gestellten Frage ist zunächst darauf hinzuweisen, daß nach Artikel 6 der Sechsten Richtlinie die Verwendung eines dem Unternehmen zugeordneten Gegenstands für den privaten Bedarf des Steuerpflichtigen oder für unternehmensfremde Zwecke einer Dienstleistung gegen Entgelt gleichgestellt ist, wenn dieser Gegenstand zum vollen oder teilweisen Abzug der Mehrwertsteuer berechtigt hat. Aus Artikel 6 Absatz 2 Buchstabe a in Verbindung mit Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe c ergibt sich, daß ein Steuerpflichtiger, der einen Gegenstand erwirbt, den er teilweise für private Zwecke verwendet, als Erbringer einer entgeltlichen, auf der Grundlage des Betrags der Ausgaben für die Erbringung der Dienstleistung besteuerten Dienstleistung anzusehen ist. Folglich wird bei einer Person, die einen Gegenstand teilweise für Zwecke ihrer besteuerten Umsätze und teilweise für private Zwecke verwendet und die zum Zeitpunkt des Erwerbs des Gegenstands die gezahlte Vorsteuer ganz oder zum Teil zurückerhalten hat, angenommen, daß sie den Gegenstand in vollem Umfang für Zwecke ihrer besteuerten Umsätze im Sinne von Artikel 17 Absatz 2 verwendet. Demgemäß hat diese Person grundsätzlich ein Recht auf vollständigen und sofortigen Abzug der beim Erwerb der Gegenstände geschuldeten Vorsteuer.

27 Die Vorschriften des Artikels 17 Absatz 5 über den anteiligen Vorsteuerabzug betreffen nur die Berichtigung nach dem Erstabzug. Wie der Gerichtshof im Urteil vom 21. September 1988 in der Rechtssache 50/87 (Kommission/Frankreich, Slg. 1988, 4797, Randnrn. 16 und 17) ausgeführt hat, folgt aus dem System der Sechsten Richtlinie und insbesondere den Artikeln 4 und 17, daß es den Steuerpflichtigen möglich sein muß, das Recht auf Abzug der gesamten Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort auszuüben, sofern es keine Vorschrift gibt, die den Mitgliedstaaten eine Einschränkung dieses Rechts gestattet. Da derartige Einschränkungen in allen Mitgliedstaaten in gleicher Weise gelten müssen, sind Ausnahmen nur in den in der Richtlinie ausdrücklich vorgesehenen Fällen zulässig.

28 Da es keine Vorschrift gibt, die das Recht auf Vorsteuerabzug ausschließt, wenn die Verwendung der Gegenstände für Zwecke wirtschaftlicher Tätigkeiten ein bestimmtes Mindestmaß nicht erreicht, und angesichts der ausdrücklichen Bestimmungen des Artikels 17 Absatz 5 Buchstabe e und des Artikels 18 Absatz 4 der Sechsten Richtlinie lässt sich Artikel 17 nicht dahin gehend auslegen, daß er stillschweigend eine solche Vorschrift enthält.

29 Folglich sind die Mitgliedstaaten auch dann nicht befugt, das Recht auf Vorsteuerabzug einzuschränken, wenn die Gegenstände nur in sehr begrenztem Umfang für Zwecke wirtschaftlicher Tätigkeiten verwendet werden, es sei denn, sie können sich auf eine der in der Sechsten Richtlinie vorgesehenen abweichenden Regelungen stützen.

30 Artikel 27 Absätze 1 und 5 der Sechsten Richtlinie, der im Abschnitt XV ("Vereinfachungsmaßnahmen") steht, sieht zwei Verfahren zur Genehmigung von der Richtlinie abweichender Maßnahmen vor; beide sind grundsätzlich auf die beanstandeten staatlichen Rechtsvorschriften anwendbar.

31 Was die Anwendung von Artikel 27 Absatz 5 angeht, hat die Kommission im Anhang 1 ihres gemäß Artikel 34 der Sechsten Richtlinie vorgelegten Ersten Berichts vom 14. September 1983 über das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems [KOM(83) 426 endg.] eine Liste der Maßnahmen veröffentlicht, die ihr nach dieser Bestimmung mitgeteilt worden sind. Da die in Rede stehende Maßnahme nicht in dieser Liste aufgeführt ist, scheint sie nicht nach Artikel 27 Absatz 5 mitgeteilt worden zu sein.

32 Was Artikel 27 Absatz 1 angeht, hat die Bundesregierung auf eine schriftliche Frage des Gerichtshofes geantwortet, sie habe nicht um eine Ermächtigung auf der Grundlage dieser Bestimmung nachgesucht, weil die beanstandeten Rechtsvorschriften nicht von der Richtlinie abwichen. Dieses Vorbringen wird durch die vorstehend schon gegebenen Antworten entkräftet.

33 Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, sind die Mitgliedstaaten kraft der in Artikel 189 Absatz 3 EWG-Vertrag verankerten allgemeinen Verpflichtung gehalten, allen Vorschriften der Sechsten Richtlinie nachzukommen. Soweit keine abweichende Regelung gemäß Artikel 27, der den Mitgliedstaaten eine Mitteilungspflicht auferlegt, geschaffen worden ist, können die staatlichen Steuerbehörden einem Steuerpflichtigen keine von der Sechsten Richtlinie abweichende Vorschrift entgegenhalten (siehe Urteil vom 13. Februar 1985 in der Rechtssache 5/84, Direkt Cosmetics, Slg. 1985, 617, Randnr. 37).

34 Da die in Rede stehende Maßnahme weder nach Artikel 27 Absatz 5 der Kommission mitgeteilt noch gemäß Artikel 27 Absatz 1 durch einen Beschluß des Rates genehmigt worden ist, kann sich die Bundesregierung nicht zum Nachteil von Steuerpflichtigen auf sie berufen.

35 Dem vorlegenden Gericht ist daher zu antworten, daß ein Steuerpflichtiger, der Gegenstände für Zwecke einer wirtschaftlichen Tätigkeit verwendet, zum Zeitpunkt des Erwerbs dieser Gegenstände das Recht hat, die gezahlte Vorsteuer gemäß den Vorschriften des Artikels 17 abzuziehen, wie gering auch immer der Anteil der Verwendung für unternehmerische Zwecke sein mag. Eine Vorschrift oder eine Verwaltungspraxis, die das Recht auf Vorsteuerabzug im Falle einer begrenzten, gleichwohl aber tatsächlichen unternehmerischen Verwendung allgemein einschränkt, stellt eine Abweichung von Artikel 17 der Sechsten Richtlinie dar und ist nur gültig, wenn sie den Anforderungen des Artikels 27 Absatz 1 oder des Artikels 27 Absatz 5 der Sechsten Richtlinie genügt.

Kostenentscheidung


Kosten

36 Die Auslagen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung der Französischen Republik, des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor


Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

auf die ihm vom Finanzgericht München mit auf die mündliche Verhandlung vom 24. Januar 1990 ergangenen Beschluß vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Artikel 20 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie des Rates (77/388/EWG) vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage findet Anwendung, wenn eine Person als Steuerpflichtiger Investitionsgüter erwirbt und sie Zwecken ihrer wirtschaftlichen Tätigkeiten im Sinne von Artikel 4 der Sechsten Richtlinie zuordnet.

2) Die Frage, ob ein Steuerpflichtiger im Einzelfall Gegenstände für Zwecke seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten im Sinne von Artikel 4 der Sechsten Richtlinie erworben hat, ist eine Tatfrage, die unter Berücksichtigung aller Gegebenheiten des Sachverhalts, zu denen die Art der betreffenden Gegenstände und der zwischen dem Erwerb der Gegenstände und ihrer Verwendung für Zwecke der wirtschaftlichen Tätigkeiten des Steuerpflichtigen liegende Zeitraum gehören, zu beurteilen ist.

3) Ein Steuerpflichtiger, der Gegenstände für Zwecke einer wirtschaftlichen Tätigkeit verwendet, hat zum Zeitpunkt des Erwerbs dieser Gegenstände das Recht, die gezahlte Vorsteuer gemäß den Vorschriften des Artikels 17 abzuziehen, wie gering auch immer der Anteil der Verwendung für unternehmerische Zwecke sein mag. Eine Vorschrift oder eine Verwaltungspraxis, die das Recht auf Vorsteuerabzug im Falle einer begrenzten, gleichwohl aber tatsächlichen unternehmerischen Verwendung allgemein einschränkt, stellt eine Abweichung von Artikel 17 der Sechsten Richtlinie dar und ist nur gültig, wenn sie den Anforderungen des Artikels 27 Absatz 1 oder des Artikels 27 Absatz 5 der Sechsten Richtlinie genügt.