61987J0344

URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 31. MAI 1989. - I. BETTRAY GEGEN STAATSSECRETARIS VAN JUSTITIE. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG, VORGELEGT VOM RAAD VAN STATE. - BEGRIFF DES ARBEITNEHMERS - GEMEINSCHAFTSBUERGER, DER EINER TAETIGKEIT IM RAHMEN EINER SOZIALBESCHAEFTIGUNG NACHGEHT. - RECHTSSACHE 344/87.

Sammlung der Rechtsprechung 1989 Seite 01621


Leitsätze
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor

Schlüsselwörter


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1 . Freizuegigkeit - Arbeitnehmer - Begriff - Bestehen eines Arbeitsverhältnisses - Ausübung tatsächlicher und echter Tätigkeiten - Unbeachtlichkeit anderer Erwägungen

( EWG-Vertrag, Artikel 48 )

2 . Freizuegigkeit - Arbeitnehmer - Begriff - Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der in einem anderen Mitgliedstaat eine abhängige Erwerbstätigkeit ausübt, die der Rehabilitation oder der Wiedereingliederung dient - Ausschluß

( EWG-Vertrag, Artikel 48 )

Leitsätze


1 . Der Begriff des Arbeitnehmers im Sinne des Artikels 48 EWG-Vertrag hat eine gemeinschaftsrechtliche Bedeutung . Er ist anhand objektiver Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der betroffenen Personen kennzeichnen; das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, daß jemand wärend einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält . Sofern es sich um die Ausübung tatsächlicher und echter Tätigkeiten handelt, spielt es für die Frage, ob jemand als Arbeitnehmer anzusehen ist, keine Rolle, wie hoch seine Produktivität ist, woher die Mittel für seine Entlohnung stammen, oder welcher Art das Rechtsverhältnis zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber ist .

2 . Die Tätigkeiten, die im Rahmen einer nationalen Regelung über die Arbeitsbeschaffung zur Erhaltung, Wiederherstellung oder Förderung der Arbeitsfähigkeit von Personen ausgeuebt werden, die infolge von Umständen, die in ihrer Person begründet liegen, für längere Zeit nicht in der Lage sind, eine Tätigkeit unter normalen Umständen auszuüben, können nicht als tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeiten angesehen werden, wenn sie nur ein Mittel der Rehabilitation und der Wiedereingliederung der Arbeitnehmer in das Arbeitsleben darstellen . Deshalb kann ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der in einem anderen Mitgliedstaat im Rahmen einer solchen Regelung beschäftigt ist, nicht allein deswegen als Arbeitnehmer im Sinne des Artikels 48 Absatz 1 EWG-Vertrag anerkannt werden .

Entscheidungsgründe


1 Der niederländische Raad van State hat mit Beschluß vom 20 . Oktober 1987, beim Gerichtshof eingegangen am 6 . November 1987, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 48 EWG-Vertrag und des Artikels 1 Absatz 1 der Verordnung Nr . 1612/68 des Rates vom 15 . Oktober 1968 über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft ( ABl . L 257, S . 2 ) zur Vorabentscheidung vorgelegt .

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Bettray ( Kläger ) und dem niederländischen Staat wegen der Weigerung der niederländischen Behörden, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen .

3 Der Kläger, deutscher Staatsangehöriger, reiste am 15 . Juli 1980 in die Niederlande ein . Er beantragte zweimal eine Aufenthaltserlaubnis für die Niederlande, wobei er als Zweck seines Aufenthalts "Aufenthalt bei der Verlobten und spätere Heirat" und beim zweiten Mal zusätzlich "Aufenthalt in einer therapeutischen Gemeinschaft für Drogenabhängige" angab . Diese Anträge wurden von den niederländischen Behörden abgelehnt .

4 Aufgrund seiner Drogenabhängigkeit wurde der Kläger am 18 . April 1983 im Rahmen der Regelung der "Wet Sociale Werkvoorziening" ( Gesetz über die soziale Arbeitsbeschaffung, im folgenden : WSW ) von den Ergonbedrijven, Eindhoven, für einen unbefristeten Zeitraum eingestellt .

5 Aus dem Vorlagebeschluß ergibt sich, daß die WSW eine Regelung über die Arbeitsbeschaffung zur Erhaltung, Wiederherstellung oder Förderung der Arbeitsfähigkeit von Personen ist, die infolge von Umständen, die in ihrer Person begründet liegen, für längere Zeit nicht in der Lage sind, eine Tätigkeit unter normalen Umständen auszuüben . Dazu gründen niederländische Gemeinden mit finanzieller Unterstützung des Staates Unternehmen oder Arbeitsorganisationen mit dem alleinigen Zweck, den betreffenden Personen Gelegenheit zu geben, eine entgeltliche Tätigkeit unter Bedingungen auszuüben, die soweit wie möglich auf das abgestimmt sind, was für die Ausübung entgeltlicher Arbeit unter normalen Bedingungen von Rechts wegen gilt oder üblich ist, es sei denn, daß die körperliche oder geistige Verfassung des Arbeitnehmers eine Abweichung davon rechtfertigt .

6 Am 4 . November 1983 stellte der Kläger einen neuen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und gab als Zweck seines Aufenthalts "Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit" an . Die Aufenthaltserlaubnis wurde ihm durch eine Entscheidung des Leiters der örtlichen Polizeibehörde versagt . Der Betroffene legte dagegen beim Staatssecretaris van Justitie Widerspruch ein, der ebenfalls zurückgewiesen wurde . Er erhob daraufhin Klage beim niederländischen Raad van State und berief sich dabei auf seine Eigenschaft als Arbeitnehmer im Sinne des EWG-Vertrags .

7 Der niederländische Raad van State ist der Auffassung, daß es für den Erlaß seines Urteils erforderlich ist, dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen :

"Ist Artikel 1 Absatz 1 der Verordnung ( EWG ) Nr . 1612/68 vom 15 . Oktober 1968 - wonach ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats berechtigt ist, ungeachtet seines Wohnorts eine Tätigkeit im Lohn - oder Gehaltsverhältnis im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufzunehmen und auszuüben - so zu verstehen, daß dieses Recht auch dann für den Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats gilt, der im Hoheitsgebiet der Niederlande im Rahmen der Wet Sociale Werkvoorziening eine Tätigkeit ausübt, wenn

a ) er davor, ausser im Rahmen einer solchen Anstellung, nicht als Arbeitnehmer im Sinne von Artikel 48 Absatz 1 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft anzusehen war und

b ) er auch nicht zu dem in Titel III der Verordnung ( EWG ) Nr . 1612/68 vom 15 . Oktober 1968 genannten Personenkreis gehört?"

8 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen . Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert .

9 Die Frage des vorlegenden Gerichts geht im wesentlichen dahin, ob Artikel 48 Absatz 1 EWG-Vertrag dahin auszulegen ist, daß ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der in einem anderen Mitgliedstaat im Rahmen einer Regelung wie der WSW beschäftigt ist, allein deswegen als Arbeitnehmer im Sinne des Gemeinschaftsrechts anerkannt werden kann .

10 Die Kommission und der Kläger des Ausgangsverfahrens sind der Meinung, daß diese Frage aufgrund der Rechtsprechung des Gerichtshofes zum Begriff des Arbeitnehmers zu bejahen sei, während die niederländische Regierung die Auffassung vertritt, daß wegen der Besonderheiten der Regelung der WSW die im Rahmen dieser Regelung beschäftigten Personen nicht als Arbeitnehmer im Sinne des Gemeinschaftsrechts anzusehen seien . Dazu weist sie insbesondere darauf hin, daß das Beschäftigungsverhältnis im Rahmen der WSW ein Rechtsverhältnis "sui generis" sei, daß die Produktivität der beschäftigten Personen, deren Entlohnung weitgehend aus öffentlichen Mitteln finanziert werde, sehr gering sei und daß die betreffende Regelung einen ausgesprochen sozialen und keinen wirtschaftlichen Charakter habe .

11 Zunächst ist festzustellen, daß nach inzwischen gesicherter Rechtsprechung der Begriff des Arbeitnehmers im Sinne des Artikels 48 EWG-Vertrag eine gemeinschaftsrechtliche Bedeutung hat und, da er den Anwendungsbereich einer der Grundfreiheiten der Gemeinschaft festlegt, weit auszulegen ist ( siehe insbesondere Urteil vom 3 . Juli 1986 in der Rechtssache 66/85, Lawrie-Blum, Slg . 1986, 2121 ).

12 Wie sich aus dem genannten Urteil ergibt, ist dieser Begriff anhand objektiver Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der betroffenen Personen kennzeichnen . Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, daß jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält .

13 Weiter ist festzustellen, daß aus dem Grundsatz der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer sowie aus der Stellung der insoweit geltenden Bestimmungen innerhalb des Systems des Vertrages folgt, daß diese Bestimmungen nur die Freizuegigkeit von Personen gewährleisten, die im Wirtschaftsleben tätig sind oder sein wollen, und daher nur für die Ausübung tatsächlicher und echter Tätigkeiten gelten ( vgl . Urteil vom 23 . März 1982 in der Rechtssache 53/81, Levin, Slg . 1982, 1035 ).

14 Aus dem Vorlagebeschluß ergibt sich, daß die aufgrund der WSW beschäftigten Personen im Rahmen eines Abhängigkeitsverhältnisses Leistungen erbringen, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhalten . Das wesentliche Merkmal eines Arbeitsverhältnisses ist somit gegeben .

15 Daran ändert auch der Umstand nichts, daß die Produktivität der aufgrund dieser Regelung beschäftigten Personen gering ist und ihre Entlohnung deshalb weitgehend aus öffentlichen Mitteln bestritten wird . Denn für die Frage, ob jemand als Arbeitnehmer anzusehen ist, spielt es keine Rolle, wie hoch seine Produktivität ist oder woher die Mittel für seine Entlohnung stammen .

16 Die Anerkennung als Arbeitnehmer kann auch nicht daran scheitern, daß ein Arbeitsverhältnis im Rahmen der WSW nach nationalem Recht ein Rechtsverhältnis "sui generis" ist . Wie sich nämlich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt ( siehe erstmals das Urteil vom 12 . Februar 1974 in der Rechtssache 152/73, Sotgiu, Slg . 1974, 153 ), ist die Art des Rechtsverhältnisses zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber für die Anwendung des Artikels 48 EWG-Vertrag unerheblich .

17 Dagegen ist festzustellen, daß die im Rahmen der WSW ausgeuebten Tätigkeiten nicht als tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeiten angesehen werden können, da sie nur ein Mittel der Rehabilitation oder der Wiedereingliederung der Arbeitnehmer in das Arbeitsleben darstellen und die entgeltliche Arbeit, die auf die körperlichen und geistigen Möglichkeiten des einzelnen zugeschnitten ist, den Betroffenen früher oder später wieder in die Lage versetzen soll, einer gewöhnlichen Beschäftigung nachzugehen oder eine Lebensweise zu finden, die so normal wie möglich ist .

18 Aus dem Vorlagebeschluß ergibt sich nämlich, daß die betreffenden Beschäftigungen Personen vorbehalten sind, die infolge von Umständen, die in ihrer Person begründet liegen, nicht in der Lage sind, einer Beschäftigung unter normalen Bedingungen nachzugehen, und die Beschäftigung im Rahmen der sozialen Arbeitsbeschaffung endet, wenn das Arbeitsamt der Gemeinde mitteilt, daß der Betroffene kurzfristig wieder einen normalen Arbeitsplatz finden kann .

19 Weiter ergibt sich aus dem Vorlagebeschluß, daß die im Rahmen der WSW beschäftigten Personen nicht nach ihrer Befähigung zur Ausübung einer bestimmten Tätigkeit ausgesucht werden, sondern daß umgekehrt die Tätigkeiten auf die Fähigkeiten der Betroffenen zugeschnitten werden, die diese Tätigkeiten verrichten sollen, um ihre Arbeitsfähigkeit zu erhalten, wiederherzustellen oder zu fördern . Schließlich werden die betreffenden Tätigkeiten im Rahmen von Unternehmen oder Arbeitsorganisationen ausgeuebt, die die Gemeinden ausschließlich zu diesem Zweck gegründet haben .

20 Somit ist auf die Frage des vorlegenden Gerichts zu antworten, daß Artikel 48 Absatz 1 EWG-Vertrag dahin auszulegen ist, daß ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der in einem anderen Mitgliedstaat im Rahmen einer Regelung wie der WSW, wonach die ausgeuebten Tätigkeiten nur der Rehabilitation oder der Wiedereingliederung der Betroffenen in das Arbeitsleben dienen, beschäftigt ist, nicht allein deswegen als Arbeitnehmer im Sinne des Gemeinschaftsrechts anerkannt werden kann .

Kostenentscheidung


Kosten

21 Die Auslagen der niederländischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig . Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts .

Tenor


Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom niederländischen Raad van State mit Beschluß vom 20 . Oktober 1987 vorgelegte Frage für Recht erkannt :

Artikel 48 Absatz 1 EWG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats, der in einem anderen Mitgliedstaat im Rahmen einer Regelung wie der WSW, wonach die ausgeuebten Tätigkeiten nur der Rehabilitation oder Wiedereingliederung der Betroffenen in das Arbeitsleben dienen, beschäftigt ist, nicht allein deswegen als Arbeitnehmer im Sinne des Gemeinschaftsrechts anerkannt werden kann .