20.10.2020 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 349/1 |
Bekanntmachung der Kommission
Leitlinien für die Durchsetzung der Verpflichtungen im Rahmen der Verordnung der EU über das Recycling von Schiffen hinsichtlich des Gefahrstoffinventars von Schiffen, die in europäischen Gewässern eingesetzt werden
(2020/C 349/01)
Einleitung
Ab dem 31. Dezember 2020 müssen nach der EU-Verordnung über das Recycling von Schiffen (1) alle Schiffe unter der Flagge eines EU-Mitgliedstaats und alle Schiffe unter der Flagge eines Drittlands, die einen Hafen oder einen Ankerplatz eines EU-Mitgliedstaats anlaufen, ein Gefahrstoffinventar mit einer Bescheinigung oder einer Übereinstimmungsbescheinigung mit sich führen.
Die Kommission hat Berichte von Branchenvertretern erhalten, wonach die Einschränkungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie die Besichtigung der Schiffe und die Ausstellung bescheinigter Gefahrstoffinventare erheblich erschwert haben. Die zur Eindämmung der Pandemie verhängten Ausgangsbeschränkungen und die weitreichenden Reisebeschränkungen haben den Berichten zufolge viele Schiffseigner (oder deren Agenten) daran gehindert, die Gefahrstoffinventare überhaupt zu erstellen, aber auch die Besichtiger und die anerkannten Organisationen davon abgehalten, die Gefahrstoffinventare zu überprüfen und zu bescheinigen.
Daher dürften nach Einschätzung der Branchenvertreter mehrere Tausend Schiffe nicht in der Lage sein, die Verpflichtungen im Zusammenhang mit den Gefahrstoffinventaren einzuhalten, und innerhalb der Frist bis zum 31. Dezember 2020 über die vorgeschriebene Zertifizierung zu verfügen.
Deshalb ist es angesichts der durch die COVID-19-Pandemie verursachten Störungen angezeigt, einige gemeinsame Leitlinien zu erstellen, um bei der Durchsetzung durch die EU-Hafenbehörden bei den Schiffsüberprüfungen ab dem 1. Januar 2021 für einen harmonisierten Ansatz zu sorgen.
Allgemeine Leitprinzipien
Grundsätzlich liegt die Hauptverantwortung für die Einhaltung der Verpflichtungen bezüglich der Gefahrstoffinventare beim Schiffseigner und die Zuständigkeit für die Überwachung der Einhaltung dieser rechtlichen Verpflichtungen bei den Behörden der EU-Hafenstaaten.
Es könnte jedoch erforderlich sein, bei der Durchsetzung dieser Verpflichtungen durch die Mitgliedstaaten die außergewöhnlichen Umstände im Zusammenhang mit der COVID-19-Krise zu berücksichtigen, wenn diese Umstände dazu führen, dass die Einhaltung dieser Verpflichtungen zeitweise nicht möglich oder übermäßig schwierig ist.
Da höhere Gewalt an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gekoppelt ist (2), kann sie als allgemeiner Grundsatz des EU-Rechts angesehen werden, der selbst bei Fehlen einer ausdrücklichen Klausel angeführt werden kann (3). Der Inhalt des Begriffs „höhere Gewalt“ wird in der Rechtsprechung des Gerichtshofs wie folgt definiert:
„Nach einer auf verschiedenen Gebieten des Unionsrechts entwickelten ständigen Rechtsprechung sind unter „höherer Gewalt“ ungewöhnliche und unvorhersehbare Ereignisse zu verstehen, auf die derjenige, der sich darauf beruft, keinen Einfluss hat und deren Folgen trotz Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können.“ (4)
Im besonderen Fall der Durchsetzung der Verpflichtungen aus der EU-Verordnung über das Recycling von Schiffen kann der Begriff der höheren Gewalt jedoch nicht automatisch geltend gemacht werden.
In diesem Zusammenhang werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, bei jedem Schiffseigner die besonderen Umstände und den Umfang, in dem diese Rechtsprechung zur Anwendung kommen könnte, sorgfältig zu prüfen.
Außerdem werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, bei dieser Prüfung den Zeitraum zwischen dem Inkrafttreten der Verordnung über das Recycling von Schiffen und dem Geltungsbeginn des Gefahrstoffinventars zu berücksichtigen und zu prüfen, ob und in welchem Umfang dieser Zeitraum von dem betreffenden Schiffseigner genutzt wurde, um sich auf die Einhaltung dieser Verpflichtungen vorzubereiten.
Es sei daran erinnert, dass die Europäische Agentur für die Sicherheit des Schiffsverkehrs (EMSA) im Oktober 2019 Leitlinien für Kontrollen in EU-Hafenstaaten zur Durchsetzung der Bestimmungen der Verordnung über das Recycling von Schiffen veröffentlicht hat. (5) Ziel dieser Leitlinien der EMSA ist es, die Mitgliedstaaten und ihre bestellten Besichtiger bei ihren Bemühungen zur Erfüllung der Anforderungen der Verordnung über das Recycling von Schiffen und der Richtlinie über die Hafenstaatkontrolle (6) bei den Besichtigungen im Hinblick auf die jeweiligen Anforderungen dieser beiden Instrumente zu unterstützen. Es handelt sich um ein nicht verbindliches Referenzdokument, das sowohl technische Informationen als auch verfahrenstechnische Hinweise enthält und damit zur harmonisierten Umsetzung und Durchsetzung der Bestimmungen der Verordnung über das Recycling von Schiffen und der Richtlinie über die Hafenstaatkontrolle beiträgt. Deshalb wird generell empfohlen, diese EMSA-Leitlinien bei den Kontrollen durch die EU-Hafenstaaten zu beachten.
In diesem Zusammenhang wird insbesondere auf die allgemeinen Erwägungen (in Abschnitt 6.3.2) der EMSA-Leitlinien bezüglich der Durchsetzungsmaßnahmen im Falle der Nichteinhaltung hingewiesen. Darin heißt es sinngemäß: Werden in Bezug auf das Recycling von Schiffen Verstöße festgestellt, so sollte der Besichtiger geeignete Maßnahmen beschließen. Der Besichtiger sollte die Gewissheit haben, dass alle bei der Überprüfung bestätigten oder festgestellten Verstöße in Bezug auf das Recycling von Schiffen im Einklang mit der Verordnung über das Recycling von Schiffen behoben werden. Außerdem wird in den EMSA-Leitlinien darauf hingewiesen, dass der Besichtiger bei der Entscheidung über die geeignete(n) Maßnahme(n) aufgrund der festgestellten Verstöße im Zusammenhang mit dem Recycling von Schiffen pflichtgemäßes Ermessen ausüben sollte. Diese allgemeinen Leitprinzipien sollten auch im Zusammenhang mit festgestellten Verstößen gegen die Verpflichtungen im Rahmen des Gefahrstoffinventars, die durch die COVID-19-Krise verursacht worden sein könnten, beachtet werden.
Spezifische Szenarien aufgrund von COVID-19
Bei der Durchsetzung der Verordnung über das Recycling von Schiffen dürften die Behörden der EU-Hafenstaaten mit zwei konkreten COVID-19-bezogenen Szenarien konfrontiert werden, die bei den Überprüfungen einen stärker harmonisierten Ansatz auf Basis der oben genannten allgemeinen Leitlinien erfordern. Es wird vorgeschlagen, diesen harmonisierten Ansatz vorübergehend während eines begrenzten Zeitraums von sechs Monaten nach Inkrafttreten der mit dem Gefahrstoffinventar zusammenhängenden Verpflichtungen (d. h. bis zum 30. Juni 2021) für vorhandene Schiffe anzuwenden, die unter der Flagge eines Mitgliedstaats oder eines Drittlands fahren und die einen Hafen in der EU anlaufen.
1) Schiffe ohne gültiges Gefahrstoffinventar und/oder beiliegende Bescheinigung
In diesem Fall kann ein Schiff einen Hafen in der EU nach dem 31. Dezember 2020 anlaufen, ohne ein gültiges Gefahrstoffinventar und/oder eine gültige beiliegende Bescheinigung an Bord mitzuführen (Inventarbescheinigung oder Recyclingfähigkeitsbescheinigung für ein Schiff unter der Flagge eines Mitgliedstaats oder Übereinstimmungsbescheinigung für ein Schiff unter der Flagge eines Drittlands), und der Schiffseigner/Kapitän erklärt, dass dieser Verstoß auf die COVID-19-Krise zurückzuführen ist.
In allen diesen Fällen, die das Versäumnis betreffen, ein gültiges Gefahrstoffinventar und/oder die erforderliche Bescheinigung mitzuführen, liegt die Beweislast beim Schiffseigner/Kapitän, der den Nachweis erbringen muss, dass alle möglichen Maßnahmen getroffen wurden, um die Arbeiten durchzuführen und die erforderliche Zertifizierung zu erhalten. Ein solcher Nachweis könnte z. B. einen Dienstleistungsvertrag über eine Probenahme oder eine Besichtigung umfassen. Außerdem könnte er die Begründung umfassen, warum es nicht möglich war, ein teilweise erstelltes Gefahrstoffinventar mit beiliegender Bescheinigung gemäß Abschnitt 2 zu erhalten, einschließlich des Nachweises der Unmöglichkeit, andere Voraussetzungen für die Zertifizierung als die Überprüfung an Bord einzuhalten. Dann ist es Sache des Besichtigers, unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des betreffenden Schiffs und unter Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens auf Einzelfallbasis zu entscheiden, ob dies akzeptiert werden kann.
Beschließt der Besichtiger, den vom Schiffseigner/Kapitän erbrachten Nachweis anzuerkennen, dann sollte er in Bezug auf die Inventarbescheinigung oder die Übereinstimmungsbescheinigung darauf hinweisen, dass die Unterlagen innerhalb von vier Monaten nach der Überprüfung vervollständigt und genehmigt werden sollten. Außerdem sollte das Schiff verwarnt werden, und das Ergebnis der Überprüfung sowie die Verwarnung sollten im Schiffsrecyclingmodul des Systems THETIS-EU vermerkt werden.
Falls diese Pläne nach der Überprüfung aufgrund fortdauernder Reise- oder Zugangsbeschränkungen weiter geändert werden müssen, muss der Schiffseigner/Kapitän ausreichende schriftliche Nachweise der Gefahrstoffinventar-Besichtiger erbringen, dass es nicht möglich war, die ursprünglichen Pläne einzuhalten. Dann ist es Sache des Besichtigers, der die nächste Überprüfung vornimmt, unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des betreffenden Schiffs und unter Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens auf Einzelfallbasis zu entscheiden, ob dieser Nachweis akzeptiert werden kann.
Für die Recyclingfähigkeitsbescheinigung akzeptiert der Besichtiger den Nachweis nach einer Bewertung auf Einzelfallbasis; der Eigner/Kapitän des Schiffs sollte eine Verwarnung erhalten, wonach die Recyclingfähigkeitsbescheinigung vor der Ablieferung in der Abwrackeinrichtung einzuholen ist. Da die Recyclingfähigkeitsbescheinigung nur drei Monate gültig ist, sollte sie bei der frühestmöglichen Gelegenheit vervollständigt und genehmigt werden, bevor das Schiff seine letzte Reise antritt. Außerdem sollten das Ergebnis der Kontrolle sowie die Verwarnung im Schiffsrecyclingmodul des Systems THETIS-EU vermerkt werden.
2) Schiffe mit einem teilweise erstellten Gefahrstoffinventar mit beiliegender Inventarbescheinigung oder Recyclingfähigkeitsbescheinigung (für Schiffe unter der Flagge eines Mitgliedstaats) oder der Übereinstimmungsbescheinigung (für Schiffe unter der Flagge von Drittländern) ohne (gezielte oder Zufalls-) Probenahme an Bord.
In diesem Fall kann das Schiff nach dem 31. Dezember 2020 einen Hafen oder Ankerplatz mit einem Gefahrstoffinventar und beiliegender Bescheinigung anlaufen, wobei das Gefahrstoffinventar jedoch aus der Ferne und ohne Probenahme an Bord erstellt wurde. Dieser Fall kann eintreten, wenn die Besichtigungen an Bord, die als Nachweis für das Gefahrstoffinventar hätten vorgenommen werden sollen, wegen der Beschränkungen für die Überprüfung eines Schiffs während der COVID-19-Pandemie nicht stattfinden konnten.
In allen Fällen, in denen eine Bescheinigung auf Basis eines Gefahrstoffinventars ohne Probenahme an Bord ausgestellt wurde, sollte das Gefahrstoffinventar eigentlich nicht akzeptiert werden können, da es nicht vollständig ist. (7) Da die Besichtiger jedoch seit März 2020 kaum oder überhaupt keine Gelegenheit hatten, Schiffe zu betreten und diese Besichtigungen durchzuführen, sollte eine solche Besichtigung/Probenahme aus der Ferne ausnahmsweise akzeptiert werden, wenn ein Nachweis vorliegt, dass der Flaggenstaat hierzu seine Zustimmung erteilt hat. (8) Außerdem sollten in diesem Fall an Bord des Schiffs auch dokumentierte Pläne und Vereinbarungen aufbewahrt werden, in denen angegeben ist, wann qualifizierte Probenehmer das Gefahrstoffinventar in Bezug auf die Einschränkungen aufgrund der COVID-19-Pandemie vervollständigen können. Dann ist es Sache des Besichtigers, unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des betreffenden Schiffs und unter Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens auf Einzelfallbasis zu entscheiden, ob dieser Nachweis akzeptiert werden kann.
Akzeptiert der Besichtiger den vom Schiffseigner/Kapitän erbrachten Nachweis, dann sollte er in Bezug auf die Inventarbescheinigung oder die Übereinstimmungsbescheinigung darauf hinweisen, dass die Unterlagen innerhalb von vier Monaten nach der Kontrolle vervollständigt und genehmigt werden sollten. Außerdem sollte das Schiff verwarnt werden, und das Ergebnis der Kontrolle sowie die Verwarnung sollten im Schiffsrecyclingmodul des Systems THETIS-EU vermerkt werden.
Falls diese Pläne nach der Kontrolle aufgrund fortdauernder Reise- oder Zugangsbeschränkungen weiter geändert werden müssen, muss der Schiffseigner/Kapitän ausreichende schriftliche Nachweise der Gefahrstoffinventar-Besichtiger erbringen, dass es nicht möglich war, die ursprünglichen Pläne einzuhalten. Dann ist es Sache des Besichtigers, der die nächste Überprüfung vornimmt, unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des betreffenden Schiffs und unter Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens auf Einzelfallbasis zu entscheiden, ob dieser Nachweis akzeptiert werden kann.
Für die Recyclingfähigkeitsbescheinigung akzeptiert der Besichtiger diesen Nachweis nach einer Bewertung auf Einzelfallbasis; der Eigner/Kapitän des Schiffs sollte eine Verwarnung erhalten, wonach vor der Ablieferung in der Abwrackeinrichtung das Gefahrstoffinventar zu vervollständigen und eine aktualisierte Recyclingfähigkeitsbescheinigung einzuholen ist. Außerdem sollten das Ergebnis der Kontrolle sowie die Verwarnung im Schiffsrecyclingmodul von THETIS-EU vermerkt werden.
(1) Verordnung (EU) Nr. 1257/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. November 2013 über das Recycling von Schiffen und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1013/2006 und der Richtlinie 2009/16/EG (ABl. L 330 vom 10.12.2013, S. 1).
(2) Vgl. hierzu die Bekanntmachung der Kommission aus dem Jahr 1988 zu höherer Gewalt in den europäischen Rechtsvorschriften im Landwirtschaftsbereich, C(88) 1696 (ABl. C 259 vom 6.10.1988, S. 10).
(3) Vgl. die Rechtssachen 71/87, Inter-Kom, EU:C1988:186, Randnummern 10-17 und C-12/92, Edmond Huygen und andere, EU:C:1993:914, Randnummer 31, vom Gerichtshof mehrmals angeführt, insbesondere in der Rechtssache T-220/04, Königreich Spanien gegen Kommission, EU:T:2007:97, Randnummern 165 bis 172. Vgl. auch Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak in der Rechtssache C-101/08, Audiolux u.a., EU:C:2009:410, Randnummer 71.
(4) Rechtssache C-640/15, Tomas Vilkas, EU:C:2017:39, Randnummer 53.
(5) http://www.emsa.europa.eu/news-a-press-centre/external-news/item/3721-guidance-on-inspections-of-shipsby-the-port-states-in-accordance-with-regulation-eu-1257-2013-on-ship-recycling.html
(6) Richtlinie 2009/16/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über die Hafenstaatkontrolle (ABl. L 131 vom 28.5.2009, S. 57).
(7) Nach Artikel 5 Absatz 3 Buchstabe c der Verordnung wird das Gefahrstoffinventar unter Berücksichtigung der einschlägigen IMO-Richtlinien erstellt. Wurde die Probenahme nicht abgeschlossen, so steht das Gefahrstoffinventar nicht im Einklang mit den genannten Leitlinien.
(8) Dies ist auch die Lösung, die der Internationale Verband der Klassifikationsgesellschaften (IACS) seinen Mitgliedern empfiehlt, indem er ergänzt, dass die noch vorzunehmende Probenahme zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen kann.