29.5.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 180/4


STELLUNGNAHME DER EUROPÄISCHEN ZENTRALBANK

vom 20. Mai 2020

zu Änderungen am aufsichtsrechtlichen Rahmen der Union infolge der COVID-19-Pandemie

(CON/2020/16)

(2020/C 180/04)

Einleitung und Rechtsgrundlage

Am 6. bzw. 12. Mai 2020 wurde die Europäische Zentralbank (EZB) vom Rat der Europäischen Union bzw. vom Europäischen Parlament um Stellungnahme zu einem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnungen (EU) Nr. 575/2013 und (EU) 2019/876 aufgrund von Anpassungen infolge der COVID-19-Pandemie (1) (nachfolgend der „Verordnungsvorschlag“) ersucht.

Die Zuständigkeit der EZB zur Abgabe einer Stellungnahme beruht auf Artikel 127 Absatz 4 und Artikel 282 Absatz 5 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, da der Verordnungsvorschlag Bestimmungen enthält, die 1) die Aufgabe des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB), die Geldpolitik im Einklang mit Artikel 127 Absatz 2 erster Gedankenstrich des Vertrags festzulegen und auszuführen, 2) die Aufgaben der EZB im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute gemäß Artikel 127 Absatz 6 des Vertrags und 3) den Beitrag des ESZB zur reibungslosen Durchführung der von den zuständigen Behörden auf dem Gebiet der Stabilität des Finanzsystems ergriffenen Maßnahmen gemäß Artikel 127 Absatz 5 des Vertrags betreffen. Diese Stellungnahme wurde gemäß Artikel 17.5 Satz 1 der Geschäftsordnung der Europäischen Zentralbank vom EZB-Rat verabschiedet.

Allgemeine Anmerkungen

Die beispiellosen Auswirkungen der globalen Krise verursacht durch die Coronavirus-Pandemie (COVID-19) haben die Behörden weltweit dazu bewegt, sofort und entschlossen Maßnahmen zu ergreifen, damit die Kreditinstitute ihre Funktion auch weiterhin erfüllen und die Realwirtschaft finanzieren können und in der Lage sind, die Wiederankurbelung der Konjunktur ungeachtet der infolge der Krise möglicherweise zunehmenden Verluste zu unterstützen.

Die EZB hat von der Flexibilität bei der Aufsicht, die der derzeitige Rechtsrahmen vorsieht, Gebrauch gemacht, um die Kreditinstitute bei der Kreditvergabe an private Haushalte, tragfähige Unternehmen und Konzerne, die von den aktuellen wirtschaftlichen Folgen am härtesten getroffen sind, weiterhin zu unterstützen (2). Die EZB hat in dieser Hinsicht vorübergehende Kapitalerleichterungen und operative Flexibilität gewährt (3) und weitere Flexibilität bei der aufsichtsrechtlichen Behandlung von Krediten, die mit einer staatlichen Garantie unterlegt sind (4), angekündigt. Die EZB hat die Institute außerdem ermutigt, bei der Anwendung des internationalen Rechnungslegungsstandards (IFRS 9) übermäßig prozyklische Effekte zu vermeiden (5), den qualitativen Multiplikator für das Marktrisiko temporär verringert, um auf die außergewöhnlich hohe Marktvolatilität (6) zu reagieren, und eine Empfehlung zu Dividendenausschüttungen zur Erhaltung der Kapitalressourcen im Bankensystem herausgegeben, damit die Banken auch weiterhin in der Lage sind, die Realwirtschaft zu unterstützen (7). Diese Maßnahmen stellen eine große Unterstützung bei der Bekämpfung der aktuellen Krise dar, wobei wichtige Synergieeffekten zwischen den Maßnahmen der EZB als Bankenaufsichtsbehörde und ihren geldpolitischen Maßnahmen als Zentralbank bestehen.

Andere Behörden, insbesondere der Basler Ausschuss für Bankenaufsicht (BCBS) und die Europäische Bankenaufsichtsbehörde (EBA), sind ebenfalls aktiv geworden und haben ergänzende Aufsichtsmaßnahmen ergriffen, die auf internationaler Ebene koordiniert werden. Ferner haben Staaten sehr umfangreiche Programme zur Unterstützung, darunter staatliche Garantien und Zahlungsmoratorien für Schuldner, aufgestellt.

Vor diesem Hintergrund unterstützt die EZB die Initiative der Kommission uneingeschränkt, die Fähigkeit der Kreditinstitute zu maximieren, Kredite zu vergeben und Verluste im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie auszugleichen, während zugleich ihre Widerstandsfähigkeit gewährleistet bleibt (8). Die gezielten Anpassungen der Verordnung (EU) Nr. 575/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (9) (CRR) werden begrüßt, da sie die Fähigkeit des Bankensystems zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie sowie zur Unterstützung der Wiederankurbelung der Konjunktur weiter stärken, während wesentliche Elemente des Aufsichtsrahmens erhalten bleiben. Außerdem ergänzen einige Elemente des Verordnungsvorschlags die Aufsichtsmaßnahmen, die die EZB zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen ergriffen hat, und bestimmte Maßnahmen, auf die sich der BCBS kürzlich geeinigt hat, erfordern Änderungen am unionsrechtlichen Rahmen, um tatsächlich umgesetzt werden zu können. Etwaige weitere Anpassungen des Verordnungsvorschlags sollten den Aufsichtsrahmen nicht grundlegend ändern, der die vereinbarten Basler Standards weiterhin respektieren sollte, und eine weitere Fragmentierung des europäischen einheitlichen Regelwerks vermeiden.

Als weitere allgemeine Anmerkung in Bezug auf die Bereitschaft, Kredite an die Wirtschaft zur Verfügung zu stellen, weist die EZB auf Folgendes hin: Sollte die harte Kernkapitalquote (CET1) von Kreditinstituten so stark absinken, dass die kombinierte Kapitalpufferanforderung nicht mehr erfüllt wäre, können Kreditinstitute Mittel nur innerhalb der Grenzen des ausschüttungsfähigen Höchstbetrags verteilen (10). Wenn Erträge nach unten korrigiert werden, werden Ausschüttungen unabhängig vom Umfang der Abweichung gestrichen. Möglicherweise sind Kreditinstitute nicht bereit, ihre Kapitalpuffer für weitere Kreditvergaben zu nutzen, da sie befürchten, Kupons im Zusammenhang mit zusätzlichem Kernkapital streichen zu müssen und sich möglichen negativen Reaktionen von Marktteilnehmern ausgesetzt sehen. Ein solches Verhalten würde den beabsichtigten positiven Effekt des Rahmens für Kapitalpuffer beeinträchtigen.

Spezifische Anmerkungen

1.   Übergangsbestimmungen zur Verringerung der Auswirkungen von IFRS 9 auf die Eigenmittel

1.1.

Artikel 473a CRR enthält Übergangsbestimmungen, die es den Instituten ermöglichen, höhere Rückstellungen, die sich durch die Einführung eines Rechnungslegungsrahmens für erwartete Kreditverluste (Expected Credit Loss — ECL) gemäß IFRS 9 ergeben, teilweise wieder zu ihrem harten Kernkapital hinzuzuaddieren. Die Übergangsbestimmungen beinhalten zwei Komponenten: eine statische und eine dynamische Komponente. Die statische Komponente gibt den Kreditinstituten die Möglichkeit, die CET1-Auswirkungen der durch die Einführung von IFRS 9 bedingten Erhöhung der buchmäßigen Rückstellungen am „Tag 1“ teilweise zu neutralisieren. Die dynamische Komponente ermöglicht den Kreditinstituten, die Auswirkungen der zusätzlichen (d. h. nach dem „Tag 1“ entstehenden) Erhöhung der Rückstellungen für Risikopositionen ohne Bonitätsbeeinträchtigungen teilweise zu neutralisieren. Die bestehenden Übergangsbestimmungen gelten für den Zeitraum 2018 bis 2022 (11).

1.2.

Am 3. April 2020 hat sich der BCBS auf Änderungen (12) der bestehenden Übergangsbestimmungen für die aufsichtsrechtliche Behandlung von erwarteten Kreditverlusten aufgrund der COVID-19-Krise verständigt. Der BCBS hat ferner klargestellt, dass Länder, die die Übergangsbestimmungen bereits umgesetzt haben (einschließlich der Europäischen Union), insbesondere entscheiden können, in den Jahren 2020 und 2021 weniger als 100 % wieder hinzuzuadddieren oder Maßnahmen zu ergreifen, um die Wiederhinzurechnung einschließlich von vor dem Ausbruch der COVID-19-Krise ermittelten ECL-Beträgen auszuklammern (13). Um diesen Überlegungen Rechnung zu tragen, sieht der Verordnungsvorschlag vor, den im Jahr 2018 begonnenen fünfjährigen Übergangszeitraum nur für die dynamische Komponente neu festzusetzen.

1.3.

Die EZB unterstützt eine Änderung von Artikel 473a CRR, um es den Kreditinstituten zu ermöglichen, ihr hartes Kernkapital (CET1) in Höhe eines Betrages wieder hinzuzuaddieren, der auf die der dynamischen Komponente der ECL-Rückstellungen zurechenbaren Erhöhung nach dem 31. Dezember 2019 begrenzt ist. Erstens würde diese Lösung es erlauben, den Umfang der zusätzlichen Maßnahmen zur Abfederung der COVID-19-bedingten Auswirkungen individuell zu gestalten, und sie von den „Tag 1“-Auswirkungen zu unterscheiden, die die Erhöhung der Rückstellungen aufgrund der Einführung von IFRS 9 auf das harte Kernkapital hatte. Zweitens würde diese Lösung vollumfänglich im Einklang mit dem Beschluss des BCBS vom 3. April 2020 stehen.

2.   Behandlung öffentlich garantierter Kredite im Rahmen der aufsichtsrechtlichen Letztsicherung für notleidende Kredite

2.1.

Gemäß Artikel 47c Absatz 4 CRR erhalten notleidende Risikopositionen, für die eine Bürgschaft einer offiziellen Exportversicherungsagentur besteht, eine günstigere Behandlung in Bezug auf die Anforderungen nach Artikel 47c Absatz 3 CRR (die sogenannte „aufsichtsrechtliche Letztsicherung“). Im Fall von notleidenden Risikopositionen, für die eine Bürgschaft einer offiziellen Exportversicherungsagentur besteht, muss der durch diese Bürgschaft besicherte Teil erst sieben Jahre nach der Einstufung als notleidend in vollem Umfang in Abzug gebracht werden, während für die Zeit davor keine Anforderungen hinsichtlich eines Abzugs festgelegt sind. Für alle anderen notleidenden Risikopositionen, die vollständig oder teilweise durch qualifizierte Sicherheiten besichert sind, steigen die Mindestabzugsanforderungen schrittweise im Laufe der Zeit, bis die betreffenden notleidenden Risikopositionen vollständig in Abzug gebracht sind.

2.2.

Der Verordnungsvorschlag sieht eine vorübergehende Ausweitung der besonderen Behandlung von durch Exportversicherungsagenturen abgesicherten notleidenden Risikopositionen auf von Staaten oder anderen öffentlichen Einrichtungen garantierten bzw. verbürgten notleidenden Risikopositionen vor, die nach den Bestimmungen zur Kreditrisikominderung als Sicherungsgeber anerkannt werden können (14), vorausgesetzt, dass die Bürgschaft oder Rück.-bürgschaft im Rahmen von Unterstützungsmaßnahmen gewährt wird, um Kreditnehmern während der COVID-19-Pandemie zu helfen (15).

2.3.

Die EZB begrüßt den Vorschlag, die günstigere Behandlung nach Artikel 47c Absatz 4 CRR vorübergehend auf notleidende Risikopositionen auszuweiten, die durch eine Garantie bzw. Bürgschaft von Staaten oder anderen öffentlichen Einrichtungen abgesichert werden; dies steht auch im Einklang mit dem Vorschlag der EZB (16). Durch den Vorschlag wird die willkürliche Unterscheidung zwischen Garantien bzw. Bürgschaften beseitigt, die von verschiedenen öffentlichen Einrichtungen mit vergleichbarer Bonität gewährt werden.

3.   Geltungsbeginn des Puffers bei der Verschuldungsquote

3.1.

Die Gruppe der Notenbankpräsidenten und Leiter der Aufsichtsbehörden (Group of Central Bank Governors and Heads of Supervision — GHOS), die den BCBS beaufsichtigt, hat am 27. März 2020 beschlossen, dass der Zeitplan für die Umsetzung der endgültigen Fassung der Basel-III-Reform (einschließlich des Puffers in Bezug auf die Verschuldungsquote für global systemrelevante Banken), der am 1. Januar 2022 in der Union in Kraft tritt, um ein Jahr verschoben werden soll. Der Verordnungsvorschlag sieht eine Anpassung des geltenden Zeitplans in der CRR an den von der GHOS beschlossenen neuen Zeitplan, d. h. den 1. Januar 2023 statt den 1. Januar 2022 (17), vor.

3.2.

Die EZB unterstützt den Beschluss, den verlängerten Zeitplan, der auf internationaler Ebene für die Finalisierung der Basel-III-Reformen vereinbart wurde, für deren Umsetzung in Unionsrecht zu nutzen. Die Verschiebung der Anwendung des Puffers in Bezug auf die Verschuldungsquote für global systemrelevante Banken wird den Kreditinstituten eine reibungslosere Anpassung ermöglichen, während sie auf internationaler Ebene weiterhin gänzlich im Einklang mit dem vereinbarten Inhalt und Zeitplan stehen. Dies wird die Kreditinstitute in die Lage versetzen, sich auf ihre operative Kapazität Bezug auf die notwendigen Maßnahmen zur Bewältigung der aktuellen Krise und zur Förderung der wirtschaftlichen Erholung zu konzentrieren.

4.   Ausgleich bei Ausschluss bestimmter Risikopositionen aus der Berechnung der Verschuldungsquote

4.1.

Der im Dezember 2017 vom BCBS veröffentlichte endgültige Standard (18) zur Verschuldungsquote sieht vor, dass Zentralbankreserven unter bestimmten außergewöhnlichen Umständen bei der Risikopositionsmessgröße für die Verschuldungsquote vorübergehend unberücksichtigt bleiben können, um die Umsetzung geldpolitischer Maßnahmen zu erleichtern. Wird dieses Ermessen ausgeübt, ist nach dem Basler Standard eine Rekalibrierung (d. h. eine Erhöhung) der Anforderung für die Verschuldungsquote erforderlich, um den Ausschluss der Zentralbankreserven auszugleichen. Dieser ins Unionsrecht eingeführte Ermessensspielraum (19) soll ab dem 28. Juni 2021 wirksam werden.

4.2.

Die EZB weist darauf hin, dass sich aus den Erfahrungen im Zuge der weltweiten Finanzkrise die klare Notwendigkeit einer verpflichtenden Anforderung im Hinblick auf die Verschuldungsquote in Säule 1 ergab. Es ist allgemein anerkannt, dass die im Bankensystem aufgebaute exzessive Verschuldung eine der grundlegenden Ursachen für die globale Finanzkrise war. Die EZB erachtet es deshalb für wichtig, die Funktion der Verschuldungsquote als glaubwürdigen, nicht risikobasierten Backstop vollumfänglich zu wahren und den Ausschluss ihrer wichtigsten Komponenten zu vermeiden.

4.3.

Der Verordnungsvorschlag sieht eine Änderung des Rekalibrierungsmechanismus vor, wie er derzeit in der CRR festgelegt ist. Insbesondere werden Kreditinstitute verpflichtet, die angepasste Verschuldungsquote nur einmal unter Zugrundelegung des Werts der anrechenbaren Zentralbankreserven des betreffenden Instituts und der Gesamtrisikopositionsmessgröße an dem Tag zu berechnen, an dem die für das jeweilige Institut zuständige Behörde erklärt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen, die ein entsprechendes Vorgehen rechtfertigen. Die angepasste Verschuldungsquote gilt für den gesamten Zeitraum, in dem der Ermessensspielraum ausgeübt wird, und bleibt in dieser Zeit anders als beim derzeitigen Rekalibrierungsmechanismus unverändert.

4.4.

Die EZB begrüßt die Tatsache, dass der Verordnungsvorschlag eine gezielte Ausklammerung einer Erhöhung bei den Zentralbankreserven vorsieht, was eine reibungslose Umsetzung und Transmission geldpolitischer Maßnahmen unterstützen kann. Die EZB weist darauf hin, dass eine Erhöhung der Zentralbankliquidität infolge der Durchführung der Geldpolitik zu einer Erhöhung des vom Bankensystem gehaltenen Volumens an Reserven führen wird, wie dies bei den unlängst bekannt gegebenen geldpolitischen Maßnahmen im Zusammenhang mit der COVID-19-Krise der Fall ist. Während einzelne Kreditinstitute diese Reserven umschichten können, wird das Bankensystem das Halten dieser zusätzlichen Reserven und die damit einhergehende Erhöhung der Gesamtrisikopositionsmessgröße in Bezug auf die Verschuldungsquote nicht vermeiden können. Damit der Ausschluss in vollem Umfang wirksam wird, schlägt die EZB die folgenden Modifizierungen vor.

4.5.

Die Änderung des Rekalibrierungsmechanismus tritt ab dem 28. Juni 2021 in Kraft. Allerdings könnte sich bis zu dem Zeitpunkt, an dem eine zuständige Behörde ihr Ermessen ausübt, was am 28. Juni 2021 oder später sein könnte, das Volumen der von einem Kreditinstitut gehaltenen Zentralbankreserven aufgrund geldpolitischer Maßnahmen bereits bedeutend erhöht haben. Eine Rekalibrierung auf der Grundlage der von einem Kreditinstitut an dem Tag, an dem eine zuständige Behörde ihren Ermessensspielraum ausübt, gehaltenen Zentralbankreserven könnte dazu führen, dass die Umsetzung und wirksame Transmission geldpolitischer Maßnahmen nicht in vollem Umfang erfolgt. Dies deshalb, weil die Erhöhung der Zentralbankreserven, die diese Maßnahmen implizieren, bis zu diesem Zeitpunkt voraussichtlich bereits weitgehend stattgefunden hat. Der Ausschluss von an diesem Zeitpunkt berechneten Zentralbankreserven führt deshalb zu einer geringeren Kapazität für die Banken in Bezug auf eine potenzielle Steigerung der Kreditvergabe an die Realwirtschaft. Darüber hinaus würde die Rekalibrierung — sollte es erforderlich sein, den Ausschluss am Ende des Zeitraums (von zunächst höchstens einem Jahr) zu verlängern, in welchem das Ermessen ausgeübt wird — auf der Höhe der am Verlängerungsdatum gehaltenen Reserven beruhen, die sich in der Zwischenzeit weiter erhöht haben könnten. Angesichts der Unsicherheit in Bezug auf die Dauer der außergewöhnlichen Umstände, könnte der Rekalibrierungsmechanismus die Wirksamkeit der Maßnahme zur ordnungsgemäßen Umsetzung und Transmission der Geldpolitik wesentlich beeinträchtigen.

4.6.

Die zuständigen Behörden sollten daher das Referenzdatum für die Rekalibrierung so festlegen können, dass die Rekalibrierung für den Zeitraum, in dem die außergewöhnlichen Umstände andauern, stabil bleibt. Dies würde es den zuständigen Behörden erlauben, in Abstimmung mit den Zentralbanken ein Datum zu wählen, das den Beginn des Zeitraums der außergewöhnlichen Umstände bezeichnet, wie sich aus den maßgebenden geldpolitischen Beschlüssen ergibt (20). Dies würde für Sicherheit und Klarheit bei den Marktteilnehmern sorgen und die reibungslose Umsetzung und Transmission der Geldpolitik unterstützen.

4.7.

Darüber hinaus sollten die zuständigen Behörden in der Lage sein, eine Rekalibrierung auf der Grundlage eines Referenzzeitraums anstelle eines Referenzdatums vorzunehmen. Dann würde die durchschnittliche Höhe anrechenbarer Zentralbankreserven über den betreffenden Zeitraum bei der Rekalibrierung berücksichtigt. Dies würde es den zuständigen Behörden ermöglichen, bei der Festsetzung der neuen Mindestanforderung für jedes Institut tägliche Schwankungen der Zentralbankreserven unberücksichtigt zu lassen.

5.   Mögliche weitere Änderungen in Bezug auf bestimmte Aspekte der Anforderungen für das Marktrisiko

5.1.

Die seit dem Ausbruch der COVID-19-Krise an den Finanzmärkten verzeichneten außerordentlichen Volatilitätsschwankungen wirken sich auf zweierlei Weise auf die Kapitalanforderungen für das Marktrisiko bei Instituten aus, die den auf internen Modellen basierenden Ansatz verwenden: a) die Value-at-Risk-Werte steigen infolge der beobachteten höheren Volatilität und b) die quantitativen Multiplikatoren für das Marktrisiko, in denen sich die Anzahl der Backtesting-Überschreitungen widerspiegelt, erhöhen sich (21). Diese Entwicklungen beeinflussen die harte Kernkapitalquote der Kreditinstitute und könnten möglicherweise auch deren Fähigkeit beeinträchtigen, Marktpflege-Tätigkeiten weiterzuführen und Marktliquidität bereitzustellen, und dadurch das ordnungsgemäße Funktionieren des Marktes behindern. Darüber hinaus würde ein übermäßiger Anstieg der Kapitalanforderungen für das Marktrisiko das Ziel beeinträchtigen, Kapital zur Unterstützung der Kreditvergabe an die Realwirtschaft freizusetzen.

5.2.

Der BCBS Standard zu internen Modellen für das Marktrisiko sieht beim Vorliegen außergewöhnlicher Umstände eine hinreichende Flexibilität für die zuständigen Behörden in Bezug auf die Behandlung von Backtesting-Überschreitungen (22) vor. Der BCBS-Standard erkennt insbesondere an, dass selbst ein gut konzipiertes Modell eine plötzliche hohe Marktvolatilität möglicherweise nicht vorhersagen kann. Unter diesen außergewöhnlichen Umständen kann selbst ein präzises Modell innerhalb einer vergleichsweise kurzen Zeit zahlreiche Ausnahmeergebnisse aufweisen.

5.3.

Obgleich in der CRR nicht ausdrücklich auf die im BCBS-Dokument erwähnten außergewöhnlichen Umstände Bezug genommen wird, lässt sie eine gewisse Flexibilität der zuständigen Behörde bei der Bewertung der Backtesting-Ergebnisse zu. Vor allem Artikel 366 Absatz 4 CRR sieht vor, dass es im Ermessen der Aufsicht steht, Überschreitungen aufgrund tatsächlicher Verluste nicht mitzuberücksichtigen, wenn diese auf andere als im Modell begründete Mängel zurückzuführen sind, wie zum Beispiel außergewöhnliche Marktbedingungen. Gemäß CRR ist es der zuständigen Behörde jedoch nicht gestattet, eine vergleichbare Behandlung für hypothetische Überschreitungen anzuwenden und sie bei der Berechnung des Backtesting-Zuschlagfaktors unberücksichtigt zu lassen. Die durch COVID-19 hervorgerufenen Marktstörungen dürften die Anzahl der hypothetischen Überschreitungen in ähnlicher Weise wie die der tatsächlichen Überschreitungen beeinflussen.

5.4.

Demzufolge sind die zuständigen Behörden im Vergleich zu internationalen Standards bei den ihnen zur Verfügung stehenden aufsichtsrechtlichen Maßnahmen zur Erreichung ihres Ziels beschränkt, den Kreditinstituten zu ermöglichen, unter außergewöhnlichen Umständen Liquidität für den Markt bereitzustellen und weiterhin Marktpflege zu betreiben, die beide eine kritische Rolle bei der Unterstützung der Realwirtschaft spielen. Mit zusätzlichen Maßnahmen, wie etwa die Nichtberücksichtigung von Überschreitungen (sowohl aus tatsächlichen als auch hypothetischen Verlusten) unter außergewöhnlichen Umständen, ließe sich diese Ziel besser erreichen. Daher sollte die CRR geändert werden, um sicherzustellen, dass die zuständigen Behörden unter außergewöhnlichen Umständen geeignete Maßnahmen im Einklang mit dem BCBS-Standard ergreifen können. Zu diesem Zweck sollte den zuständigen Behörden weitere Flexibilität eingeräumt werden, die es ihnen erlaubt, die Anzahl der Überschreitungen (sowohl aus tatsächlichen als auch hypothetischen Verlusten) vorübergehend anzupassen oder andere geeignete Maßnahmen zu ergreifen. In Anbetracht dessen, dass die außergewöhnlichen Marktbedingungen nicht mit bestimmten einzelnen Unternehmen, sondern dem gesamten Markt verknüpft sind, wäre es auch wichtig, dass die zuständige Behörde von dieser Befugnis durchweg bei allen beaufsichtigten Unternehmen im Hinblick auf deren jeweilige interne Modelle statt auf Einzelinstitutsbasis Gebrauch macht.

Diese Stellungnahme wird auf der Website der EZB veröffentlicht.

Geschehen zu Frankfurt am Main am 20. Mai 2020.

Die Präsidentin der EZB

Christine LAGARDE


(1)  COM(2020) 310 final.

(2)  Siehe Blogbeitrag von Andrea Enria, Vorsitzender des Aufsichtsgremiums der EZB vom 27. März 2020, Flexibilität bei der Aufsicht: wie die EZB-Bankenaufsicht zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Coronavirus-Pandemie in Europa beitragen kann, abrufbar auf der Website der EZB unter www.bankingsupervision.europa.eu.

Siehe auch Fragen und Antworten zu Aufsichtsmaßnahmen der EZB als Antwort auf den Coronavirus, abrufbar auf der Website der EZB zur Bankenaufsicht unter www.bankingsupervision.europa.eu.

(3)  Siehe Pressemitteilung der EZB vom 12. März 2020, EZB-Bankenaufsicht reagiert auf Coronavirus – vorübergehende Kapitalerleichterungen und operative Flexibilität für Banken, abrufbar auf der Website der EZB zur Bankenaufsicht unter www.bankingsupervision.europa.eu.

(4)  Siehe Pressemitteilung der EZB vom 20. März 2020, EZB-Bankenaufsicht reagiert mit zusätzlichen Flexibilisierungsmaßnahmen für Banken auf die Ausbreitung des Coronavirus, abrufbar auf der Website der EZB zur Bankenaufsicht unter www.bankingsupervision.europa.eu.

(5)  Siehe Pressemitteilung der EZB vom 20. März 2020, EZB-Bankenaufsicht reagiert mit zusätzlichen Flexibilisierungsmaßnahmen für Banken auf die Ausbreitung des Coronavirus, abrufbar auf der Website der EZB zur Bankenaufsicht unter www.bankingsupervision.europa.eu.

(6)  Siehe Pressemitteilung der EZB vom 16. April 2020, EZB-Bankenaufsicht gewährt vorübergehende Erleichterungen bei den Kapitalanforderungen für das Markrisiko, abrufbar auf der Website der EZB zur Bankenaufsicht unter www.bankingsupervision.europa.eu.

(7)  Empfehlung der Europäischen Zentralbank vom 27. März 2020 zu Dividendenausschüttungen während der COVID-19-Pandemie und zur Aufhebung der Empfehlung (EZB/2020/1) (EZB/2020/19) (ABl. C 102 I vom 30.3.2020, S. 1).

(8)  Siehe Nummer 1 der Begründung zum Verordnungsvorschlag.

(9)  Verordnung (EU) Nr. 575/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 648/2012 (ABl. L 176 vom 27.6.2013, S. 1).

(10)  Siehe Artikel 141 der Richtlinie 2013/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen, zur Änderung der Richtlinie 2002/87/EG und zur Aufhebung der Richtlinien 2006/48/EG und 2006/49/EG (ABl. L 176 vom 27.6.2013, S. 338).

(11)  Siehe Nummer 5 der Begründung zum Verordnungsvorschlag.

(12)  Siehe Pressemitteilung der BIZ vom 3. April 2020, „Basel Committee sets out additional measures to alleviate the impact of Covid-19“, abrufbar unter https://www.bis.org/press/p200403.htm.

(13)  BCBS, „Measures to reflect the impact of Covid-19“, abrufbar unter https://www.bis.org/bcbs/publ/d498.pdf.

(14)  Die Buchstaben a bis e in Artikel 201 Absatz 1 CRR beziehen sich auf a) Zentralstaaten und Zentralbanken, b) regionale und lokale Gebietskörperschaften, c) multilaterale Entwicklungsbanken, d) internationale Organisationen, wenn Risikopositionen ihnen gegenüber nach Artikel 117 ein Risikogewicht von 0 % zugewiesen wird, e) öffentliche Stellen, wenn Ansprüche an sie gemäß Artikel 116 behandelt werden.

(15)  Siehe den vorgeschlagenen neuen Artikel 500a CRR.

(16)  Siehe Fragen und Antworten zu Aufsichtsmaßnahmen der EZB als Antwort auf den Coronavirus.

(17)  Siehe vorgeschlagene Änderung von Artikel 3 Absatz 5 der Verordnung (EU) 2019/876 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2019 zur Änderung der Verordnung(EU) Nr. 575/2013 in Bezug auf die Verschuldungsquote, die strukturelle Liquiditätsquote, Anforderungen an Eigenmittel und berücksichtigungsfähige Verbindlichkeiten, das Gegenparteiausfallrisiko, das Marktrisiko, Risikopositionen gegenüber zentralen Gegenparteien, Risikopositionen gegenüber Organismen für gemeinsame Anlagen, Großkredite, Melde- und Offenlegungspflichten und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 648/2012 (Abl.L 150 vom 7.6.2019, S. 1).

(18)  BCBS, Basel III: Finalising post-crisis reforms, S. 144, abrufbar unter https://www.bis.org/bcbs/publ/d424.pdf.

(19)  Siehe Artikel 429a Absatz 1 Buchstabe n und Absatz 7 CRR, geändert durch die Verordnung (EU) 2019/876.

(20)  Siehe Pressemitteilung der EZB vom 12. März 2020, Geldpolitische Beschlüsse, abrufbar auf der Website der EZB unter www.ecb.europa.eu

(21)  Siehe auch Mitteilung der EBA über die Anwendung des aufsichtsrechtlichen Rahmens in Bezug auf Zielaspekte im Bereich Marktrisiko im Rahmen von COVID-19 vom 22. April 2020 (Application of the prudential framework on targeted aspects in the area of market risk in the COVID-19 outbreak of 22 April 2020), abrufbar auf der Website der EBA unter www.eba.europa.eu

(22)  BCBS, MAR – Calculation of RWA for market risk, Nummern 99.65 bis 99.69, abrufbar unter https://www.bis.org/basel_framework/standard/MAR.htm.