5.7.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 228/16


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Auf den Qualifikationsbedarf zugeschnittene Bildungssysteme“

(Initiativstellungnahme)

(2019/C 228/03)

Berichterstatterin: Milena ANGELOVA

Beschluss des Plenums

15.2.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

13.2.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

21.3.2019

Plenartagung Nr.

542

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

130/0/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt, dass die Europäische Kommission in ihren jüngsten Initiativen (1) den Schwerpunkt wieder verstärkt auf die allgemeine und berufliche Bildung sowie auf die Entwicklung und Nutzung von Kompetenzen in der EU legt. Er hebt hervor, dass die allgemeine und berufliche Bildung zu den Kernkompetenzen der Mitgliedstaaten zählt, unterstreicht aber zugleich die strategische Bedeutung dieser Bereiche für die Zukunft Europas in Bezug auf wirtschaftlichen Wohlstand, einen stärkeren Zusammenhalt und das demokratische Leben sowie hinsichtlich der Notwendigkeit, „den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger gerecht zu werden und auf ihre Zukunftssorgen angesichts einer sich rasch verändernden Welt zu reagieren“ (2).

1.2.

Der EWSA ist besorgt über die durch die Diskrepanz zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage hervorgerufenen erheblichen strukturellen Probleme auf den Arbeitsmärkten. Einige davon werden durch die technologische und die demografische Entwicklung verursacht. Er fordert daher, unverzüglich gezielte Maßnahmen zu konzipieren und durchzuführen, flankiert von Anreizen und der Erstellung von Kompendien bewährter Verfahren für die Mitgliedstaaten, um sie bei der Umsetzung eventuell erforderlicher erfolgreicher und fördernder Anpassungen ihrer Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung zu unterstützen, die zu einer besseren Abstimmung des Qualifikationsangebots auf die Nachfrage beitragen und der Vergeudung von Talenten vorbeugen.

1.3.

Der EWSA ist der Auffassung, dass es für das heutige und das künftige Qualifikationsdefizit nur dann eine dauerhafte Lösung geben kann, wenn die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten gezielte Strategien konzipieren und konkrete Maßnahmen ergreifen, um ihre Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung zu verbessern und auf eine geeignete Weise so umzugestalten, dass sie das Talentmanagement sowie eine ganzheitliche Steuerung von Kompetenzen gewährleisten. Daher fordert er sie zu unverzüglichem und wirksamem Handeln in diesem Bereich auf. All diese Systeme sollten auf die inklusive und kontinuierlich aktualisierte Anpassung der Arbeitskräfte an die neuen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ausgerichtet sein.

1.4.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, die Verbreitung bewährter Verfahren in Bezug auf Qualifizierungsprogramme und die berufliche Aus- und Weiterbildung zu intensivieren. Daneben sollte die richtige Mischung von Anreizen für alle Akteure im Rahmen von Bildung und Berufsausbildung angeboten werden, um das Recht auf geeignete Qualifizierungsmaßnahmen für alle zu wahren (3). Im Einklang mit seiner früheren Stellungnahme unterstreicht der EWSA die Bedeutung eines europäischen Bildungsraums (4). Der EWSA hält es für erforderlich, die Kompetenzen und Qualifikationen der Lehrkräfte und Ausbilder auf allen Ebenen der allgemeinen und beruflichen Bildung weiter auszubauen und kontinuierlich zu verbessern.

1.5.

Der EWSA räumt ein, dass das Missverhältnis zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage wohl nie gänzlich beseitigt werden kann und dass die Bildungssysteme die Menschen niemals perfekt auf alle Eventualitäten vorbereiten können. Die aktuellen Entwicklungen sind jedoch beunruhigend und führen zu Engpässen für das Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Sie behindern die Bürger bei der vollen Entfaltung ihres kreativen Potenzials und die Unternehmen bei der umfassenden Nutzung der Innovationskraft, die sich aus den Kompetenzen ihrer Mitarbeiter ergibt. Daher sollten sich der Staat, die Sozialpartner und die Zivilgesellschaft zusammentun, um dieses Problem zu überwinden, und den Menschen die erforderliche Beratung und Orientierungshilfe an die Hand geben, damit diese die richtigen Entscheidungen treffen und ihre Kenntnisse und ihre Kompetenzen zum Wohle der Gesellschaft kontinuierlich weiterentwickeln können. Für eine bessere Antizipation des und Reaktion auf den Qualifikationsbedarf bedarf es umfassender und ganzheitlicher Ansätze. (5)

1.6.

Eine zuverlässige Antizipation des künftigen Qualifikationsbedarfs und der künftigen Struktur des EU-Arbeitsmarktes ist zwangsläufig entscheidend, um die Diskrepanz zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage zu verringern. Daher sollten Universitäten, Hochschulen, Wissenschaftszentren und andere Forschungseinrichtungen dieses Thema in enger Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern und den zuständigen Verwaltungsorganen in den Mitgliedstaaten ernsthaft angehen. Die vom Europäischen Zentrum für die Förderung der Berufsbildung (Cedefop) in den letzten Jahren gesammelten Erfahrungen werden sehr nützlich sein, aber die Arbeit muss auch auf nationaler Ebene weitergeführt werden, und in allen Mitgliedstaaten muss stärker ins Detail gegangen werden.

1.7.

Der Staat, die Unternehmen und die Arbeitnehmer sollten die allgemeine und berufliche Bildung als Investition betrachten. Steueranreize für eine solche Investition könnten Arbeitgeber und Arbeitnehmer dazu bewegen, mehr zu investieren. In Tarifverträgen können bestimmte Rechte und Pflichten der Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Zusammenhang mit der allgemeinen und beruflichen Bildung festgeschrieben werden. Bewährte Weiter- und Neuqualifizierungsverfahren sollten bekannt gemacht werden, um die Arbeitssuche zu erleichtern.

1.8.

Gelernt wird vielfach in einem nichtformalen und informellen Kontext, z. B. in Jugendorganisationen und durch Peer-to-Peer-Learning; viele berufsspezifische Kompetenzen können nicht im Rahmen der formalen Schulbildung erworben werden. (6) Daher fordert der EWSA die Mitgliedstaaten dazu auf, nach Wegen zu suchen, wie die in solchen Fällen erworbenen einschlägigen Qualifikationen validiert werden können. Eine Möglichkeit ist die Vervollständigung und richtige Anwendung ihrer nationalen Qualifikationssysteme, auch durch den Rückgriff auf Plattformen, die eine standardisierte Bewertung des Kompetenzniveaus anbieten, unabhängig davon, wie diese Kompetenzen erworben wurden. Ein solches Vorgehen schafft eine weitere Möglichkeit, um Unternehmen über das Potenzial insbesondere von älteren Bewerbern zu informieren, mit der auf Qualifikationen und Kompetenzen aufmerksam gemacht werden könnte, für die es keinen offiziellen Nachweis gibt, die aber vielleicht dennoch geschätzt werden.

1.9.

Das lebenslange Lernen sowie die Weiter- und Neuqualifizierung sind eine gemeinsame Aufgabe des Staates, der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Um den Menschen eine gute berufliche Laufbahn zu ermöglichen, sollten sie aktiv unterstützt und auch mithilfe von Berufsberatungsmethoden, Beratung, Hilfe, Coaching und Mentoren in Bezug darauf beraten werden, für welche Art von Ausbildung und Lernen sie sich entscheiden sollten, die ihnen die Kompetenzen und Qualifikationen vermittelt, die auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt werden. Die Sozialpartner sollten aktiv auf die einschlägigen Probleme aufmerksam machen und mögliche Lösungen vorschlagen. Bevor die Menschen ihre Zeit und ihr Geld in ihre Ausbildung investieren, müssen sie wissen, welche Qualifikationen sinnvoll sind und wie sich Programme der allgemeinen und beruflichen Bildung auf ihre berufliche Laufbahn auswirken werden. Zudem werden sie auch eine Qualifikation oder einen Abschluss erwerben wollen, die bzw. der von anderen anerkannt wird.

2.   Das Missverhältnis zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage heute und morgen

2.1.

Die Zukunft ist heute: sie wird schneller zur Realität, als wir es wahrhaben und vorhersagen können. Sie geht mit großen Herausforderungen für die Unternehmen und die öffentlichen Verwaltungen einher, weil neue Geschäftsmodelle entstehen, und für die Arbeitnehmer, weil sie neue Qualifikationen und Kompetenzen erforderlich macht, die sich heute zumeist schwer vorhersehen lassen. Deshalb ist die Gesellschaft als Ganzes zur rechtzeitigen Anpassung an einen raschen Wandel gezwungen. Wenn wir diesen erfolgreich bewältigen wollen, müssen wir geeint bleiben, bereit sein zu unverzüglichem Handeln, unsere Kräfte bündeln, um uns auf die Zukunft einzustellen, und den aktuellen tiefgreifenden Wandel in den Beziehungen zwischen Mensch, Robotik, künstlicher Intelligenz und der Digitalisierung zum Wohle unserer Gesellschaft aktiv angehen.

2.2.

Der Fachkräftemangel bzw. Qualifikationsdefizite zählen heute zu den größten Problemen, die das Wachstum bedrohen und dauerhaften Arbeitsplätzen in der EU im Wege stehen. In einigen Untersuchungen (7) werden die Kosten hierfür mit 2 % des EU-BIP veranschlagt. Nach Angaben der Europäischen Kommission können 70 Mio. Europäer nicht richtig lesen und schreiben und noch mehr verfügen über schlechte Rechen- und digitale Kompetenzen. Eine jüngere Studie (8) zeigt, dass der Anteil der Arbeitnehmer, die nicht über die gesuchten Qualifikationen verfügen, in der EU nach wie vor bei durchschnittlich etwa 40 % liegt, was der Gesamteinschätzung des Cedefop entspricht. Die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen hängt entscheidend von qualifizierten Arbeitnehmern ab. Es ist deshalb außerordentlich wichtig, dass die Arbeitnehmer heute und in Zukunft über die Fertigkeiten und Kompetenzen verfügen, die den sich verändernden Bedürfnissen der modernen Wirtschaft und des Arbeitsmarkts entsprechen. Niemand darf unberücksichtigt bleiben (9), und die Vergeudung von Talenten sollte vermieden werden. Das Erreichen dieser Ziele setzt hochqualifizierte Lehrkräfte und Bildungsanbieter sowie eine angemessene Unterstützung für die Teilnahme am lebenslangen Lernen voraus.

2.3.

Der EWSA hat in seinen früheren Stellungnahmen (10) die Auswirkungen von Digitalisierung, Robotisierung, neuen Wirtschaftsmodellen wie Industrie 4.0 sowie Kreislaufwirtschaft und Sharing Economy auf den neuen Kompetenzbedarf hervorgehoben. Er hat ferner festgestellt, dass innovativere Lösungen in den Bereichen Bildung und Kompetenzentwicklung nötig sind, da Europa einen echten Paradigmenwechsel in Bezug auf die Ziele und das Funktionieren des Bildungssektors und das Verständnis seiner Stellung und Rolle in der Gesellschaft benötigt. (11) Das Cedefop geht davon aus (12), dass die vorhandenen Kompetenzen der Beschäftigten in der EU um rund ein Fünftel hinter dem zurückbleiben, was die Arbeitnehmer benötigen, um bei ihrer Arbeit die höchstmögliche Produktivität zu erreichen. Dies erfordert konzertiertes Handeln, um die Erwachsenenbildung in Europa weiter anzuregen.

2.4.

Die Konjunkturerholung in Europa treibt in Verbindung mit einem sich ändernden Qualifikationsbedarf die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt und gleichzeitig auch den Fachkräftemangel auf den jeweils höchsten Wert der letzten zehn Jahre. Trotz sinkender Arbeitslosigkeit in der EU (von 10,11 % im Jahr 2014 auf 7,3 % im Jahr 2018) hat sich die Quote der offenen Stellen verdoppelt (von 1,1 % im Jahr 2009 auf 2,2 % im Jahr 2018) (13).

2.4.1.

Alle Mitgliedstaaten sind von diesem Problem betroffen, wenn auch unterschiedlich stark und aus unterschiedlichen Gründen. Eine weltweite Umfrage (14) zeigt, dass in vielen Mitgliedstaaten der Anteil der Arbeitgeber, die Schwierigkeiten haben, passende Bewerber zu finden, besorgniserregend hoch ist. Zehn Mitgliedstaaten liegen über dem globalen Durchschnitt von 45 %, am schlechtesten sieht die Lage in Rumänien (81 %), Bulgarien (68 %) und Griechenland (61 %) aus. Weniger, aber immer noch erhebliche Probleme haben am anderen Ende des Spektrums Irland (18 %), das Vereinigte Königreich (19 %) und die Niederlande (24 %).

2.4.2.

Für rund ein Drittel der Arbeitgeber liegt die Hauptursache für ihre Probleme bei der Besetzung offener Stellen im Mangel an Bewerbern. Weitere 20 % sind der Meinung, dass den Bewerbern die erforderliche Erfahrung fehlt. Im Zuge der Digitalisierung, Automatisierung und Umgestaltung von Unternehmen wird es immer wichtiger, Bewerber mit der richtigen Mischung aus fachlichen und sozialen Kompetenzen zu finden — 27 % der Arbeitgeber geben jedoch an, dass die Bewerber nicht über die von ihnen benötigten Kompetenzen verfügen. Weltweit schätzen mehr als die Hälfte (56 %) der Arbeitgeber die schriftliche und mündliche Kommunikationsfähigkeit als größte persönliche Kompetenz, gefolgt von der Fähigkeit zur Teamarbeit und Problemlösungskompetenz.

2.5.

Die Ergebnisse des Programms für die internationale Erfassung von Kompetenzen bei Erwachsenen (PIAAC) und der Cedefop-Erhebung zum Thema europäische Kompetenzen und Arbeitsplätze (ESJS) wie auch der wissenschaftlichen Forschung (15) zeigen, dass die Diskrepanz zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage zu einem Großteil auf Überqualifizierung bzw. Überbildung zurückzuführen ist. In der Regel haben vier von zehn erwachsenen Arbeitnehmern das Gefühl, dass sie ihre Kompetenzen nicht ausreichend einbringen können, und fast ein Drittel der Hochschulabsolventen ist für die von ihnen ausgeübte Tätigkeit überqualifiziert. Dies ist Folge sowohl eines ineffizienten Ressourceneinsatzes (der dazu führt, dass die vorhandenen Qualifikationen nicht umfassend genutzt werden) als auch des generellen Ungleichgewichts zwischen den Qualifikationen der Arbeitskräfte und der Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt (16).

2.6.

Das Missverhältnis zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage hat negative Folgen für die Wirtschaft und die Gesellschaft insgesamt. Es

verhindert, dass die Bürger zufrieden sind mit ihrer Arbeit und ihrer beruflichen Laufbahn, senkt das wahrgenommene Maß an Wertschätzung und wirkt sich möglicherweise negativ auf ihre Löhne und Gehälter aus;

beeinträchtigt die persönliche Entfaltung und Entwicklung und wirkt sich auf die Nutzung der Fähigkeiten und des individuellen Potenzials aus;

führt zu einer geringeren Arbeitsproduktivität — einigen Schätzungen zufolge betragen die Produktivitätsverluste (17) aufgrund der Diskrepanz zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage in der EU ca. 0,80 EUR pro Arbeitsstunde (18);

verringert die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, da Einstellungsverfahren verlangsamt und verteuert und zusätzliche Ausgaben für Schulungen erforderlich werden.

2.7.

Diese Diskrepanz liegt aufgrund des raschen Wandels sowohl bei hochqualifizierten als auch bei geringqualifizierten Arbeitskräften sowie in Berufen vor, die in der Regel eine lange Ausbildung und hochspezialisierte Fachkenntnisse erfordern. Elektriker, Mechaniker, Schweißer, Ingenieure, Kraftfahrer, IT-Fachkräfte, Fachkräfte im Sozialwesen, Handelsvertreter zählen derzeit zu den Berufen, die von den Arbeitgebern am dringendsten gesucht werden.

2.8.

Kompetenzen in den MINT-Bereichen und digitale Kompetenzen werden zunehmend wichtig für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und die Ausschöpfung des Potenzials der Produktivität der Beschäftigten. Die Bedeutung von Kompetenzen in den MINT-Fächern geht zudem über den bloßen Inhalt der Lehrpläne in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik hinaus. Durch sie können Schüler und Studierende ein breiteres Spektrum an Qualifikationen und Kompetenzen erwerben, wie etwa systemisches und kritisches Denken. Als Unterbau für diese Kompetenzen benötigen die Menschen auch gute Grundkompetenzen und unternehmerische Kompetenz. Kompetenzen in den MINT-Fächern können über die berufliche Aus- und Weiterbildung sowie über die allgemeine Bildung erworben werden. Insbesondere muss ein Studium der MINT-Fächer für Frauen attraktiver gemacht werden. Außerdem muss die digitale Kluft zwischen den Geschlechtern angegangen werden (19). Es müssen Wege gefunden werden, um MINT-Fächer vor allem in der Fläche attraktiver zu machen, da sich diese Fächer in der Regel in den Großstädten ballen (20). Das Radar für strategische digitale Kompetenzen ist ein nützliches Instrument, um junge Menschen mit Rollenvorbildern oder Mentoren zusammenzubringen, die sie über die für eine bestimmte Tätigkeit erforderlichen Kompetenzen informieren können (21).

2.9.

Damit das Problem des Missverhältnisses zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage nicht noch größer wird, sind gut konzipierte Maßnahmen erforderlich. Aufgrund der revolutionären Veränderungen wandeln sich Technologien, Geschäftsmodelle, die Erwartungen der Kunden und die Art der Arbeit oft in beispielloser und nahezu nicht absehbarer Weise. Der EWSA hat bereits darauf hingewiesen (22), dass fast die Hälfte der heutigen Arbeitsplätze durch Automatisierung wegfallen könnte. Automatisierung und Roboter werden sich also in erheblichem Maße auf die Zukunft der Arbeit auswirken. Dies könnte zu einer wachsenden Kluft zwischen dem Bedarf der Unternehmen und den Qualifikationen, Fähigkeiten und Kompetenzen der Arbeitnehmer führen und ist eine Herausforderung für die Bildungsanbieter. Ferner unterstreicht dies auch die zunehmende Bedeutung von persönlichen und Querschnittskompetenzen sowie anderen Kompetenzen, die häufig durch informelles Lernen erworben werden, und wirft Fragen im Zusammenhang mit der Anerkennung und Validierung der informellen allgemeinen und beruflichen Bildung auf.

2.10.

Die EU sollte die Mitgliedstaaten dazu anhalten, dieses strukturelle Problem auf dem Arbeitsmarkt dringend anzugehen, und sie dabei unterstützen, eine Lösung für den Fachkräftemangel zu finden, der das Wachstum behindert, wobei die MINT-Fächer und digitale Kompetenzen besonders berücksichtigt werden sollten. Die Sozialpartner spielen eine wichtige Rolle bei der Ermittlung und, soweit möglich, Prognose der Fertigkeiten, Kompetenzen und Qualifikationen, die für neue und neu entstehende Berufe erforderlich sind (23), damit die allgemeine und berufliche Bildung dem Bedarf der Unternehmen und der Arbeitnehmer besser gerecht wird. Die Digitalisierung ist eine Chance für alle — aber nur dann, wenn sie richtig angewandt wird und ein neues Verständnis von Arbeit entsteht. (24) Ferner ist es wichtig, die Sozialpartner an der Auslegung der Daten zu beteiligen, die von Statistikbehörden und Regierungsstellen gesammelt werden, da Arbeitgeber und Gewerkschaften wichtige Erkenntnisse beisteuern können, die sonst möglicherweise übersehen werden. Der Europäische Sozialfonds (ESF) ist unverzichtbar für die Unterstützung von Initiativen, unter anderem durch gemeinsame Maßnahmen der Sozialpartner.

2.11.

Wissenschaftliche Untersuchungen zu Qualifikationsdefizit und Fachkräftemangel haben ergeben, dass sich die Ursachen, das Ausmaß, die Folgen und die wirtschaftlichen Kosten der vielen verschiedenen Arten dieser Defizite erheblich voneinander unterscheiden. Daher ist es unwahrscheinlich, dass Pauschallösungen greifen, da die Probleme der Mitgliedstaaten unterschiedlich gelagert sind. Fest steht jedoch, dass durch einschlägige Maßnahmen zur Verringerung der Diskrepanz zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage erhebliche Effizienzgewinne erzielt werden können. Diesbezüglich betont der EWSA die Bedeutung des ganzheitlichen Lernens, das die kulturelle Vielfalt und das Zugehörigkeitsgefühl achtet und bereichert (25).

2.12.

Der Europäische Qualifikationspass kann sehr hilfreich dabei sein, die Qualifikationen, Kompetenzen und Fertigkeiten einer Person so darzustellen, dass leichter erkennbar ist, ob ihre Fähigkeiten mit einem Stellenprofil übereinstimmen.

3.   Herausforderungen für die Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung

3.1.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.1.

Wenn die EU ihren Bürgern die besten Aussichten auf Erfolg ermöglichen und ihre Wettbewerbsfähigkeit erhalten und steigern möchte, muss sie die Mitgliedstaaten dazu bewegen, ein politisches Umfeld zu fördern, das arbeitsmarktorientierte Bildungs- und Berufsbildungssysteme und weitere Möglichkeiten für das lebenslange Lernen während des gesamten Berufslebens bietet.

3.1.2.

In vielen Mitgliedstaaten sind die Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung auf einen langen Zeitraum des formalen Lernens gefolgt von einer Berufslaufbahn ausgerichtet. Das Verhältnis zwischen Bildungsgrad und Verdienst folgt weitgehend einer einfachen Regel: je länger die formale Bildung, desto höher der entsprechende Verdienst. Wirtschaftsuntersuchungen weisen darauf hin, dass das Einkommen mit jedem zusätzlichen Lernjahr im Durchschnitt um 8 bis 13 Prozent steigt. Gleichzeitig kann ein Hochschulabschluss nicht mehr als Garantie dafür angesehen werden, dass nach Abschluss des Studiums automatisch ein Arbeitsplatz gefunden wird. Die Arbeitgeber schauen heute nicht nur auf die Qualifikationen eines Bewerbers, sondern auch auf die Fähigkeiten und Kompetenzen, die jemand während der Ausbildung erworben hat, und deren Relevanz für den Arbeitsmarkt. Angesichts der neuen Herausforderungen ist dieses Modell jedoch künftig nicht mehr sinnvoll. In Zukunft sollten die Bildungssysteme Bildung und Beschäftigung auf neue Art miteinander verbinden, durch einen leichteren Eintritt ins Erwerbsleben und durch die Befähigung der Menschen zum flexiblen Erwerb neuer Kompetenzen während ihres gesamten Berufslebens.

3.1.3.

Der Ruf nur nach mehr allgemeiner und beruflicher Bildung ist nicht die geeignete Antwort, denn mehr ist nicht unbedingt gleich besser. Stattdessen müssen die Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung auf den tatsächlichen Bedarf von Wirtschaft und Gesellschaft ausgerichtet, Ressourcen richtig eingesetzt und den Menschen Möglichkeiten zum gezielten lebenslangen Lernen geboten werden können. Um Gleichberechtigung und Inklusion im Bereich der Beschäftigung zu fördern, muss mit geeigneten Maßnahmen gegen das geschlechtsspezifische Lohngefälle vorgegangen werden.

3.1.4.

Das Internet enthebt uns der Notwendigkeit, uns wichtige Fakten und Einzelheiten einzuprägen, da es Wissen mit nur einem Klick zugänglich macht. Dies verändert die grundlegenden Prinzipien der Geisteswissenschaften, da die Lernenden die Informationen nicht mehr in ihrem Gedächtnis abspeichern müssen und ihnen stattdessen ein grundlegender konzeptioneller Überblick über das jeweilige Thema vermittelt werden muss (bzw. muss ihnen beigebracht werden, wie sie sich einen solchen selbst aneignen), damit sie Informationen finden und verarbeiten können, um erfolgreich eine Lösung für eine bestimmte Aufgabe oder ein bestimmtes Problem zu finden.

3.1.5.

Der technologische Wandel verläuft so schnell, dass die Inhalte einiger Studienfächer schon vor Abschluss des Studiums überholt sind. Dies ist eine Herausforderung für klassische Lehrpläne, insbesondere wenn es um Grundkenntnisse geht, und verstärkt die Bedeutung des Unterrichts in den MINT-Fächern sowie der Entwicklung persönlicher Kompetenzen wie beispielsweise kritischem Denken, Problemlösung, gemeinsamem Lernen und Teamarbeit. Ebenso wichtig ist es, die Herausforderungen der Interaktion zwischen Mensch und Maschine anzugehen.

3.1.6.

Die Entwicklung neuer Technologien bedeutet auch eine große Herausforderung für den praktischen Teil der allgemeinen und beruflichen Bildung, da die Ausarbeitung und offizielle Genehmigung von Programmen in den meisten Mitgliedstaaten viel Zeit in Anspruch nimmt, was sie unflexibel werden lässt und ihre rasche Anpassung an Entwicklungen in der Praxis erschwert. Hierfür ist eine engere Verknüpfung zwischen allen Bildungsebenen und den Erfordernissen des Arbeitsmarkts erforderlich. Die rasche Aktualisierung der Lehrpläne wird zur größten Herausforderung, was die Bedeutung einer bedarfsgesteuerten beruflichen Aus- und Weiterbildung und Lehrlingsausbildung herausstellt.

3.1.7.

Für jede Art von Arbeit benötigen die Menschen bestimmte branchenspezifische fachliche Qualifikationen bzw. Kenntnisse und Erfahrungen. Es wird jedoch immer wichtiger, dass sie auch über Grundfertigkeiten wie Kreativität und Problemlösungsfähigkeit, aber auch über soziale Kompetenzen und Empathie verfügen.

3.1.8.

Das zunehmende Tempo, mit dem herkömmliche Qualifikationen veralten, macht es erforderlich, neue Kompetenzen rascher zu erwerben, und führt zu einer steigenden Nachfrage nach einer neuen Kombination von Qualifikationen als Reaktion auf so genannte „hybride Arbeitsplätze“, die verschiedene Arten von Aufgaben umfassen. Z. B. sind heute Programmierkenntnisse in vielen Bereichen über den Technologiebereich hinaus gefordert, und in einem Drittel bzw. der Hälfte der Stellenausschreibungen für die bestbezahlten Stellen werden Programmierkenntnisse als Voraussetzung genannt.

3.1.9.

Die jüngsten rasanten Veränderungen bei der Zusammensetzung neuer Arbeitsplätze machen es erforderlich, den Schwerpunkt zunehmend auf das Lernen als eigenständige Kompetenz zu legen. Der beste Weg, sich der Herausforderung des nicht vorhersehbaren technischen Wandels und zunehmend hybrider Arbeitsplätze zu stellen, ist die Fähigkeit, sich rasch neue Kompetenzen anzueignen und immer weiter zu lernen. Dieser Aspekt sollte angemessen berücksichtigt werden, um sicherzustellen, dass benachteiligte Gruppen (z. B. Langzeitarbeitslose, Geringqualifizierte, Menschen mit Behinderung und Minderheiten) nicht vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Zusammenarbeit zwischen den Sozialpartnern und den Anbietern aktiver arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen zu stärken.

3.1.10.

Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Mitgliedstaaten Wege finden, um junge Menschen zu motivieren, ihre Schullaufbahn nicht frühzeitig abzubrechen, da Schulabbrecher in der Regel unter den Geringqualifizierten und Niedriglohnempfängern sind. Mütter mit Kleinkindern benötigen besondere Aufmerksamkeit in Bezug auf ihre Ausbildung und die Aufrechterhaltung ihrer Qualifikationen, um mit dem raschen Wandel bei den Berufen Schritt halten zu können.

3.1.11.

Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, das modulare und das Online-Lernen stärker bekannt zu machen und zu nutzen, z. B. frei zugängliche Bildungsquellen und Massive Open Online Courses (MOOC) (26).

3.2.   Sekundäre Bildung

3.2.1.

Um den Schülerinnen und Schülern die grundlegenden Kompetenzen für die Zukunft — z. B. Neugier, Suche nach zuverlässigen Informationen, Fähigkeit zum kontinuierlichen Lernen, Kreativität, Problemlösungsfähigkeit, Teamarbeit — zu vermitteln, muss in der sekundären Bildung die Wende eingeleitet werden, weg vom reinen Auswendiglernen und Wiederholung hin zu einem projektbezogenen und lösungsorientierten Ansatz.

3.2.2.

Das duale System der Berufsbildung, bei dem die Lernenden einen Teil ihrer Ausbildungszeit in der Schule und einen Teil im Betrieb verbringen, und insbesondere die Lehrlingsausbildung sind ein wirkungsvolles Instrument, um den Berufsschülern und Auszubildenden tätigkeitsspezifische und (persönliche) Querschnittskompetenzen zu vermitteln und um einen erfolgreichen Übergang von der Schule ins Berufsleben zu unterstützen. Das duale System in der Berufsbildung sollte daher in den Mitgliedstaaten stärker gefördert werden, anhand des Vorbilds von Vorreitern in diesem Bereich, wo zwischen einem Drittel und der Hälfte der Schülerinnen und Schüler an weiterführenden Schulen diesen Bildungsweg einschlägt. Auch Praktika sind wichtig, damit junge Menschen praktische Berufserfahrungen sammeln können. Praktika sind hauptsächlich in die allgemeine und berufliche Bildung integriert. Daneben gibt es Praktika, die auf dem freien Markt angeboten und nach Abschluss der allgemeinen oder beruflichen Bildung absolviert werden. Die Bestimmungen für Praktika und die Bedingungen, unter denen sie erfolgen, werden auf nationaler Ebene unter Berücksichtigung der bestehenden Regelungen, der Arbeitsbeziehungen und der Praktiken im Bildungsbereich festgelegt. Diese Regeln könnten sich an der Empfehlung des Rates zu einem Qualitätsrahmen für Praktika orientieren. (27)

3.2.3.

Das duale System der Berufsbildung sollte jedoch neuen Realitäten angepasst werden, auch durch die rasche Aktualisierung der Lehrpläne, indem ein günstiges Lernumfeld geschaffen wird, in dem Kompetenzen während eines Ausbildungszyklus entwickelt und ausgebaut werden können.

3.2.4.

Die Fähigkeiten und Kompetenzen der Lehrkräfte sind der Schlüssel für eine hohe Qualität der dualen beruflichen Bildung und von entscheidender Bedeutung für die Mischung aus praktischer Erfahrung und theoretischem Wissen. Daher ist es wichtig, dass die Mitgliedstaaten ein System für die Fortbildung von Lehrkräften und Ausbildern haben und gemeinsam mit den Sozialpartnern Wege suchen, um sie zu motivieren.

3.3.   Hochschulbildung

3.3.1.

Der EWSA hält es im Bereich der Hochschulbildung für besonders wichtig, in vielen Mitgliedstaaten die Komponente der berufspraktischen Ausbildung in den Studienplänen zu stärken, um den Studierenden die Querschnitts- und berufsspezifischen praktischen Kompetenzen zu vermitteln, die von den Arbeitgebern nachgefragt werden. Aus diesem Grund müssen die Sozialpartner auch stärker an der Konzeption und Durchführung der allgemeinen und beruflichen Bildung beteiligt werden.

3.3.2.

Es darf nie vergessen werden, dass ein Hochschulstudium kein Selbstzweck ist. Alle Arbeitsplätze sind wichtig, da jeder Beruf den Menschen einen Beitrag zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung einer Gesellschaft ermöglicht. Ein Hochschulstudium sollte eine Option bleiben, darf aber keine Verpflichtung oder ein Gütesiegel für die Qualität eines Menschen werden.

3.3.3.

Ein Hochschulabschluss zu Beginn der beruflichen Laufbahn enthebt nicht der Notwendigkeit des kontinuierlichen Erwerbs neuer Kompetenzen, vor allem da das aktive Erwerbsleben immer länger wird. Die Universitäten und Hochschulen sollten ein neues soziales Ziel berücksichtigen und durch flexible Lernformen eine lebenslange Bildung ermöglichen (Fernunterricht, Abendkurse usw.) und ihre Strukturen und Pläne entsprechend anpassen.

3.3.4.

Soziale Kompetenzen werden für ein breites Spektrum an Arbeitsplätzen immer wichtiger, aufgrund ihrer Bedeutung für das Arbeitsklima, für die Aufteilung und das Management der Aufgaben sowie für die Schaffung und die Erhaltung eines effizienten und produktiven Umfelds. Daher sollten die Universitäten und Hochschulen ihre klassischen Lehrpläne in bestimmten Studiengängen durch zusätzliche Kurse in Management, Kommunikation usw. erweitern. Zudem müssen sie die Wände zwischen den verschiedenen Bildungsbereichen einreißen und auf interdisziplinäre Ansätze setzen. Die Zukunft der Arbeit für hochqualifizierte Berufe wird zwangsläufig interdisziplinäre Kompetenzen erfordern.

3.3.5.

Auch Informationen über wirksame Lernstrategien können individuell zugeschnitten werden. Wenn sich die Menschen ihrer eigenen Denkprozesse besser bewusst sind, ist es leichter, sie zu wirkungsvollerem Lernen mit besseren Ergebnissen zu motivieren. Mit der jüngsten Zunahme des Online-Lernens sind die Mechanismen des Lernens besser bekannt geworden und könnten eine bessere Orientierungshilfe in Bezug auf die besten Wege für das individuelle Lernen geben. Die Anwendung solcher Ansätze erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Studierenden im späteren Leben neue Kompetenzen erwerben können. Zudem könnten auch für Studierende im Fernunterricht personalisierte Inhalte bereitgestellt werden.

3.3.6.

Angesichts der hohen Kosten für die Hochschulbildung und der vielfachen Belege für eine ineffiziente Mittelverwendung in diesem Bereich sollten die Mitgliedstaaten dazu angeregt werden, Nachverfolgungssysteme einzuführen, die Informationen über die tatsächliche Arbeitsmarktlage liefern könnten (siehe die Empfehlung des Rates zur Werdegang-Nachverfolgung (28)).

3.4.   Das System der beruflichen Aus- und Weiterbildung

3.4.1.

Der EWSA begrüßt das im Europäischen Rahmen für hochwertige und nachhaltige Berufsausbildungen vorgestellte Ziel, dass eine Berufsausbildung mindestens zur Hälfte im Betrieb stattfinden soll. In Anbetracht der Vielfalt der nationalen Systeme besteht das Ziel darin, schrittweise zu erreichen, dass der größte Teil der Ausbildungen in den Betrieben stattfindet. (29)

3.4.2.

Der EWSA begrüßt das Ziel der Europäischen Kommission, die berufliche Aus- und Weiterbildung zu einer Option erster Wahl für Lernende zu machen. Er betont, dass die Durchlässigkeit zwischen Berufsausbildung und Hochschulbildung gefördert werden muss, um Möglichkeiten zu eröffnen und zur Beendigung der Stigmatisierung der beruflichen Bildung beizutragen. (30)

3.4.3.

Im Rahmen der Berufsausbildung haben die Arbeitgeber die klare Aufgabe, für die Ausbildung am Arbeitsplatz zu sorgen, um diesen Teil der Ausbildung auf die Entwicklungen am Arbeitsmarkt und den Qualifikationsbedarf abstimmen zu können.

3.4.4.

Auch die berufliche Erstausbildung sowie die Weiterbildung außerhalb der Sekundar- und universitären Bildungssysteme spielen eine Rolle bei der Überwindung des Qualifikationsdefizits. In einer Welt ständiger Neuqualifizierung und von immer mehr selbstständiger Erwerbstätigkeit brauchen die Menschen Unterstützung beim Wechsel des Arbeitsplatzes. (31) Daher müssen verschiedene Formen für die Organisation der Beratung entwickelt werden, um Informationen u. a. über Aufstiegsmöglichkeiten, durchschnittliche Verdienstmöglichkeiten für verschiedene Berufe und Positionen sowie darüber zu vermitteln, wie lange bestimmte Qualifikationen nützlich sein werden. (32)

3.4.5.

Neue Technologien, wie etwa die virtuelle und die erweiterte Realität, machen das Lernen leichter, wirkungsvoller und könnten die berufliche Bildung radikal verbessern, während Big-Data-Techniken individuell zugeschnittene Ausbildungsmöglichkeiten bieten. Damit diese Möglichkeiten genutzt werden können, sollten Plattformen mit preiswerten und direkten Verbindungen sowie Bibliotheken, die bei Bedarf online abrufbare Kurse anbieten, eingerichtet werden. Neben allen anderen Vorteilen lösen solche Plattformen auch das Problem der großen Entfernungen für Menschen in abgelegenen Gebieten. Dieser Aspekt der beruflichen Aus- und Weiterbildung ist derzeit im Vergleich zur Hochschulbildung unterentwickelt und muss gestärkt werden.

3.4.6.

Die betriebsinterne Fortbildung bietet eine weitere Möglichkeit, Kompetenzen zu verbessern und zur Steigerung der Produktivität der Arbeitskräfte sowie zu deren beruflicher Entwicklung, zur allgemeinen Unternehmensleistung sowie dazu beizutragen, dass sich die Arbeitnehmer an ihrem Arbeitsplatz wohlfühlen. Zudem motiviert sie und bietet Möglichkeiten für einen beruflichen Aufstieg sowie bessere Verdienstmöglichkeiten. Die Mitarbeiterfortbildung liegt daher im Interesse beider Seiten und in der gemeinsamen Verantwortung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern als Beitrag zur Weiter- und Neuqualifizierung, was zu erfolgreichen Unternehmen und angemessen qualifizierten Arbeitskräften führt.

3.4.7.

Es gibt viele verschiedene nationale Gesetze, Vorschriften und Ansätze für die Organisation und die Durchführung der Mitarbeiterfortbildung. In einigen Mitgliedstaaten sind vielfältige und starke berufsbildungspolitische Strategien gesetzlich verankert, während in anderen Mitgliedstaaten Bestimmungen zur beruflichen Fortbildung auf verschiedenen Ebenen in Tarifverträgen festgelegt sind bzw. unmittelbar am Arbeitsplatz zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern vereinbart werden. Die Fortbildungsmöglichkeiten können auch von der Größe des Unternehmens bzw. des Arbeitgebers abhängen. Der Zugang zu einer wirkungsvollen Mitarbeiterfortbildung sollte erleichtert werden, wobei die Vielfalt und die Flexibilität der Systeme zu berücksichtigen sind, die je nach den unterschiedlichen Gepflogenheiten bei den Beziehungen zwischen den Sozialpartnern variieren.

3.4.8.

Die Mitgliedstaaten und die Sozialpartner sollten zur Ausschöpfung des vollen Potenzials des sozialen Dialogs auf Zweier- oder Dreierbasis zusammenarbeiten, um den Zugang zur Mitarbeiterfortbildung und die Teilnahme hieran zu stärken. Diese Entwicklung sollte so verlaufen, dass sie allen Arbeitnehmern und Unternehmen/Arbeitsplätzen im Rahmen eines Ansatzes des lebenslangen Lernens zugutekommt, was wiederum dem potenziellen und tatsächlichen Bedarf einer vielfältigen Arbeitnehmerschaft sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor sowie in kleinen, mittleren und großen Unternehmen und Betrieben entgegenkommt.

3.4.9.

Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen gemeinsam aushandeln, wie die Fortbildung am Arbeitsplatz organisiert und durchgeführt werden soll, über eine Mischung aus kollektiven und individuellen Vereinbarungen. Dies umfasst die Fortbildung möglichst während der Arbeitszeit oder, falls erforderlich, außerhalb der Arbeitszeit (insbesondere bei nicht betriebsinternen Fortbildungen). Die Arbeitgeber sollten der Mitarbeiterfortbildung positiv gegenüberstehen. Beantragt jedoch ein Arbeitnehmer eine Fortbildung oder hat ein Anrecht darauf, sollte der Arbeitgeber das Recht haben, einen solchen Antrag zu besprechen, um sicherzustellen, dass diese Fortbildung die Beschäftigungsfähigkeit des Arbeitnehmers auf eine Art fördert, die auch im Interesse des Unternehmens ist.

3.4.10.

Die berufliche Bildung ist nicht nur für die Beschäftigten wichtig. Große Unternehmen bieten auch ihren Führungskräften in der Regel eine spezielle Fortbildung an. Dies ist jedoch bei KMU und insbesondere bei kleinen Traditions- und Familienbetrieben nicht der Fall. Der Erfolg dieser Unternehmen ist nahezu vollständig von den Eigentümern/Geschäftsführern abhängig. Kurzlehrgänge und der Zugang zu Beratungsdienstleistungen und zu Videokursen mit dem Schwerpunkt auf rechtlichen Anforderungen, Vorschriften, Verbraucherschutz, technischen Standards usw. könnten die Leistungsfähigkeit dieser Unternehmen verbessern.

3.4.11.

Die Europäische Kommission sollte die Mitgliedstaaten dazu anhalten, die in EU-Ländern mit gut ausgebauten Systemen der beruflichen Aus- und Weiterbildung gemachten positiven Erfahrungen zu prüfen, und erwägen, Programme zur Ermöglichung eines solchen Austauschs zu entwickeln.

Brüssel, den 21. März 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Neue europäische Agenda für Kompetenzen, 2016, Europäischer Bildungsraum, 2018. Auch das Projekt der GD GROW „Blaupause zur Branchenzusammenarbeit für Kompetenzen“ ist trotz seines sehr begrenzten Umfangs zu begrüßen, ebenso wie Projekte von EASME/COSME — z. B. 2017/001, 004, 007 und 2016/033 und 034.

(2)  COM(2018) 268 final.

(3)  ABl. C 237 vom 6.7.2018, S. 8.

(4)  ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 136.

(5)  Die Europäische Kommission (GD EMPL) hat dies anerkannt und die Länderprojekte der nationalen Qualifikationsstrategie unter der Leitung der OECD in mehreren Mitgliedstaaten, darunter Portugal, Italien, Spanien, Slowenien und Belgien (Flandern), finanziell und anderweitig unterstützt. In den vergangenen Jahren hat das Cedefop ferner gezielte Programme zur Unterstützung bestimmter Mitgliedstaaten (Griechenland, Bulgarien, Slowakei, Estland, Malta) bei der besseren Antizipation des Qualifikationsbedarfs und dem Ausbau der Infrastruktur durchgeführt: https://www.cedefop.europa.eu/en/events-and-projects/projects/assisting-eu-countries-skills-matching.

(6)  ABl. C 13 vom 15.1.2016, S. 49.

(7)  https://www.eesc.europa.eu/de/node/63699.

(8)  „Das Missverhältnis zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage — ein Hemmschuh für die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Unternehmen“, EWSA.

(9)  ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 136.

(10)  ABl. C 237 vom 6.7.2018, S. 8, ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 15.

(11)  ABl. C 173 vom 31.5.2017, S. 45. 40 % der erwachsenen Arbeitnehmer haben den Eindruck, dass sie ihre Kompetenzen nicht ausreichend einbringen können: https://www.cedefop.europa.eu/en/publications-and-resources/publications/3075.

(12)  „Insights into skill shortages and skill mismatch“. Learning from Cedefop’s European skills and jobs survey, Europäisches Zentrum für die Förderung der Berufsbildung (Cedefop), 2018. Siehe auch das Kompetenzpanorama und Europass.

(13)  Statistiken zu Arbeitslosigkeit und offenen Stellen, Eurostat.

(14)  „Solving the Talent Shortage“, ManpowerGroup Employment Outlook Survey, 2018. Die Glaubwürdigkeit dieser Untersuchung wird allerdings von einigen angezweifelt, z. B. Cappelli (2014): https://www.nber.org/papers/w20382.

(15)  Studie zum Thema „Das Missverhältnis zwischen Qualifikationsangebot und -nachfrage — ein Hemmschuh für die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Unternehmen“, Studie des IME auf Ersuchen der Gruppe Arbeitgeber im EWSA.

(16)  Ebda.

(17)  Ceteris paribus.

(18)  Ebda.

(19)  ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 37.

(20)  ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 37. Außerdem finden sich Beispiele für bewährte Verfahren etwa in Deutschland. Hier wird die frühe Bildung in den MINT-Bereichen über die Stiftung „Haus der kleinen Forscher“ unterstützt: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publications/publication/did/leitfaden-berufsorientierung-1/.

(21)  Erkenntnisse der BMW Foundation European Table.

(22)  ABl. C 367 vom 10.10.2018, S. 15.

(23)  https://www.cedefop.europa.eu/en/events-and-projects/projects/big-data-analysis-online-vancancies. Siehe auch den Überblick über die nationalen Strategien für das Programm Arbeiten 4.0: eine kohärente Analyse der Rolle der Sozialpartner, https://www.eesc.europa.eu/de/our-work/publications-other-work/publications/overview-national-strategies-work-40-coherent-analysis-role-social-partners-study.

(24)  https://twentythirty.com/how-digitization-will-affect-the-world-of-work.

(25)  ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 136.

(26)  Solche Instrumente können: den Zugang zu vollwertigen Hochschulabschlüssen, verkürzten Studiengängen und Spezialisierungen sowie „Nano-Degrees“ ermöglichen; eine flexible Organisation ermöglichen, indem die Abschlüsse in Module und die Module in Kurse oder in sogar noch kleinere Einheiten unterteilt werden; älteren Arbeitnehmern die Möglichkeit eines Studiums in einer späteren Phase ihrer Berufslaufbahn eröffnen; die Kosten und die Zeit für das Lernen verringern und eine bessere Vereinbarkeit von Beruf, Studium und Familie ermöglichen; eine schnellere und flexiblere Reaktion auf die zunehmenden Anforderungen des Arbeitsmarkts ermöglichen, die Menschen mit den gewünschten Qualifikationen und Kompetenzen auszustatten; Vertrauen schaffen und die Arbeitgeber dabei unterstützen, Informationen über potenzielle Mitarbeiter zu erhalten, wenn sie von renommierten Bildungseinrichtungen stammen.

(27)  https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52013PC0857&from=DE.

(28)  http://ec.europa.eu/transparency/regexpert/index.cfm?do=groupDetail.groupDetailDoc&id=36708&no=1.

(29)  ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 41.

(30)  https://www.ceemet.org/positionpaper/10-point-plan-competitive-industry.

(31)  ABl. C 434 vom 15.12.2017, S. 36.

(32)  https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publications/publication/did/leitfaden-berufsorientierung-1/.