10.10.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 367/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Wirkungen einer neuen kohlenstofffreien, dezentralen und digitalisierten Energieversorgungsstruktur auf Arbeitsplätze und Regionalwirtschaft“

(Initiativstellungnahme)

(2018/C 367/01)

Berichterstatter:

Lutz RIBBE

Beschluss des Plenums

15.2.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

28.6.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

11.7.2018

Plenartagung Nr.

536

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

123/1/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die Umstellung des Energiesystems auf eine kohlenstofffreie, dezentrale und digitalisierte Versorgung bietet große Chancen — insbesondere für die strukturschwachen und ländlichen Regionen Europas. Der Ausbau erneuerbarer Energien (im Folgenden „EE“) kann zu beträchtlichen positiven Beschäftigungseffekten führen und so gestalten werden, dass ganz neue Impulse für die regionale Wirtschaft erzielt werden.

1.2.

Insbesondere besteht das Potenzial, dass sich die europäische Energie- und Kohäsionspolitik in ihren positiven Auswirkungen gegenseitig bestärken könnten. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) bedauert, dass dieses Potenzial sowohl auf Seiten der Kommission als auch der Mitgliedstaaten noch nicht hinreichend erkannt, geschweige denn aktiviert wurde.

1.3.

Zwar trägt die Kohäsionspolitik seit ihrer Neuausrichtung zur Förderung der EE und der Energieeffizienz bei, was der EWSA begrüßt. Die europäische Energiepolitik hingegen unterstützt bisher kaum die Kohäsionspolitik. Es wird nicht gesehen, dass EE die wirtschaftliche Entwicklung gerade benachteiligter Regionen substanziell befördern könnten. So wird ein enormes politisches Potenzial für regionales Wachstum vergeben.

1.4.

Damit dieses Potenzial zur Geltung kommt, müssen die Regionen in die Lage versetzt und dabei unterstützt werden, durch den Ausbau von EE und der damit verbundenen spezifischen Netzinfrastruktur, Wachstumsimpulse für die regionale Wirtschaft zu erwirken und eine breite gesellschaftliche Teilhabe an diesem Wachstum zu schaffen. Eine für die regionale Wertschöpfung besonders wichtige Form der Partizipation ist die Aufwertung der Rolle der Verbraucher, die als Prosumenten auch dank der Digitalisierung eine ganz neue energiewirtschaftliche Verantwortung übernehmen, ökonomische Teilhabe erzielen und mit dem Ansatz „Klimaschutz von unten“ größere politische Ziele unterstützen könnten.

1.5.

Wichtig ist, einen ganzheitlichen regionalwirtschaftlichen Ansatz für den Ausbau von EE zu verfolgen. Damit ist gemeint, dass die Erzeugung und Nutzung von EE — und zwar die Sektoren Strom, Wärme und Mobilität übergreifend — vor Ort aufeinander abgestimmt werden. Künstliche Intelligenz und „smart grids“ könnten hier einen wichtigen Beitrag leisten.

1.6.

Inwieweit den Regionen dies gelingt, ist anhand des Verhältnisses aus regional nachgefragter Energie und den regional erzeugten bzw. erzeugbaren EE nachzuvollziehen. Der EWSA empfiehlt, im Rahmen von „regionalen Energie-Kreislaufwirtschaftsplänen“ Analysen zu erstellen, die eine differenzierte Bewertung des regionalwirtschaftlichen Potenzials von EE für jede einzelne Region möglich machen. Die Pläne sollten auch für die jeweilige Region die beschäftigungspolitischen Effekte abbilden. Denn selbst wenn allgemein gelten kann, dass durch die Energiewende mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, als es im bisherigen Energiesystem gab, wird es Regionen geben, die von diesem Effekt mehr profitieren als andere.

1.7.

Die regionalen Energie-Kreislaufwirtschaftspläne könnten die Basis für einen strukturierten und differenzierten Dialog mit den Menschen vor Ort sein, der a) für den Erhalt bzw. die Schaffung der lokalen Akzeptanz der EE und b) für die Stärkung der regionalen Wirtschaftsstandorte wichtig ist. Der EWSA ist erstaunt, dass es solche Analysen und Pläne bisher nur in sehr wenigen Einzelfällen gibt.

1.8.

Ein ganzheitlicher regionalwirtschaftlicher Ansatz für den Ausbau von EE könnte nicht nur einen wichtigen Beitrag zur europäischen Kohäsionspolitik leisten. Für ihn spricht auch eine Reihe von energiepolitischen Gründen (Reduktion der Energieabhängigkeit und Energiearmut, Unterstützung der Sektorenkopplung, Nutzung des Innovationspotenzials der Digitalisierung, Netzentlastung).

1.9.

Vor diesem Hintergrund ruft der EWSA die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, die erforderlichen Schritte für die Verwirklichung eines ganzheitlichen energiewirtschaftlichen Ansatzes beim Ausbau von EE zu verfolgen: Definition von Energieregionen, Unterstützung bei der empirischen Erfassung des Verhältnisses aus regional nachgefragter Energie und regional erzeugter bzw. erzeugbarer EE, gezielte Aus- und Weiterbildung, Anreize für die Umsetzung, z. B. durch die Unterstützung des Ausbaus der EE-Infrastruktur, Öffnung der Netze und eine entsprechende Bepreisung von Netzkosten.

2.   Hintergrund

2.1.

Die Europäische Union steht vor tiefgreifenden Veränderungen in ihrer Energieversorgung und -politik. Diese betreffen nicht nur die Erzeugung (weg von kohlenstoffhaltigen fossilen Energieträgern hin zum Ausbau von erneuerbaren Energien), sie werden auch immense strukturelle Veränderungen mit sich bringen, sowohl was den Ort der Energieproduktion (weg von zentralen Großkraftwerken hin zu dezentraleren Strukturen) als auch die Anbieter- und Verbrauchsstruktur (neue Stakeholder sowie Verbrauchs- wie Verteilermodelle, unter anderem in Folge der Digitalisierung) angeht.

2.2.

Der EWSA hat sich bereits in verschiedenen Stellungnahmen mit den Auswirkungen der Energiewende auf die Regionen befasst, die negativ betroffen sein werden, z. B. die Kohleregionen (1). In solchen Regionen haben bereits etliche Menschen ihren Arbeitsplatz verloren; weitere Arbeitsplatzverluste sind kaum zu vermeiden. Umso wichtiger ist es, den Strukturwandel frühzeitig zu erkennen und politisch zu begleiten, damit die wirtschaftlichen und sozialen Folgen möglichst gering gehalten und abgefedert werden. Der EWSA begrüßt diesbezüglich erste Initiativen der Kommission (2).

2.3.

Dem EWSA ist allerdings aufgefallen, dass die positiven Veränderungen, die z. B. auf regionale Wertschöpfung und Arbeitsplatzschaffung ausgehen können, bisher nur am Rande diskutiert werden. Zwar geht die Kommission in den Erwägungen zur geltenden EE-Richtlinie (2009/28/EG) an verschiedenen Stellen auf die Bedeutung von EE für die regionale Wirtschaftsentwicklung ein, doch hat der EWSA während seiner Recherchen feststellen müssen, dass es a) kaum Studien über die möglichen regionalwirtschaftlichen Folgen des Ausbaus von EE gibt und b) innerhalb der Kommission, aber auch der Mitgliedstaaten keine Strategie erkennbar ist, Energiepolitik und Regionalentwicklung tatsächlich zielgerichteter zu koppeln. Von einer erkennbaren politischen Strategie zur vollen Erschließung des genannten Potenzials kann also keine Rede sein.

2.4.

Gleichwohl gibt es in Europa schon heute eine riesige Anzahl von positiven „Bottom-up“-Beispielen beim Ausbau von EE auf lokaler und regionaler Ebene. So wurde — um nur ein zufälliges Beispiel zu nennen — im ostfranzösischen Langres (10 000 Einwohner) ein Holzheizwerk errichtet, das über ein Nahwärmenetz von 5 km Länge 22 Warmwasseraufbereitungsanlagen und mittelbar unter anderem ein Hotel, ein Erlebnisbad und ein Altenheim versorgt; pro Jahr werden 3 400 Tonnen CO2 eingespart. Bei vielen solcher Initiativen fällt auf, dass sie nur selten systematisch auf ihre regionalwirtschaftliche Relevanz ausgewertet werden. Insofern muss ein großes „lack of statistical knowledge“ festgestellt werden.

2.5.

In Feldheim (bei Berlin) allerdings werden nicht nur seit ca. 20 Jahren die lokalen Ressourcen konsequent zur lokalen Energieproduktion und -versorgung genutzt, sondern auch die regionalwirtschaftlichen Auswirkungen ausführlich beschrieben. Der Strombedarf des Dorfes wird mittlerweile mehrfach, der Wärmebedarf vollständig gedeckt. Neben den direkten Einkünften aus dem Energieverkauf sind die Ausgabeneinsparungen bemerkenswert: die Einwohner zahlen dort einen Strompreis von nur 16,6 ct/kWh, was nur knapp mehr als 50 % des durchschnittlichen Strompreises von Deutschland entspricht. In der konsequent betriebenen Energiekreislaufwirtschaft ist die lokale Bevölkerung als „treibende Kraft“ intensivst einbezogen (3).

Dem EWSA ist es ein wichtiges Anliegen, diese möglichen positiven regionalwirtschaftlichen Effekte den erwähnten negativen Begleiterscheinungen der Energietransformation in einer Gesamtbilanz gegenüberzustellen.

2.6.

Diese Initiativstellungnahme soll dazu beitragen, endlich eine vertiefende Diskussion anzuregen, indem die Potenziale und beispielhafte Ansätze beschrieben sowie Defizite benannt werden.

3.   Die Bedeutung der EE für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Europas und seiner Regionen

3.1.

Die EU ist der weltweit größte Energieimporteur; 53 % unseres Primärenergiebedarfs werden jährlich für eine Gesamtsumme von über 400 Mrd. EUR eingeführt. Die Energieabhängigkeit der Union ist ein gravierendes volkswirtschaftliches und geopolitisches Problem.

3.2.

Ziel der „Europäischen Energieunion“ ist es, a) die Energiesicherheit Europas zu erhöhen, indem die Energieimporte reduziert werden, b) den Klimaschutz zu fördern, c) neue Arbeitsplätze zu schaffen. Der EWSA ist der Auffassung, dass diese europäisch-makroökonomische Zielsetzung auch auf regionaler Ebene sinnvoll ist und angewendet werden sollte.

3.3.

Vor diesem Hintergrund muss die Förderung von EE als „heimische“ Energiequellen, die — anders als fossile Ressourcen — in allen Regionen der Union zur Verfügung stehen, nicht nur unter Klimaschutzgründen diskutiert, sondern als wichtiges regionalwirtschaftliches Ziel gesehen werden: Energieproduktion könnte und sollte regionale Wirtschaften stimulieren.

3.4.

Je mehr es gelingt, regionalen Akteuren — seien es Bürger, regionale Unternehmen oder die Kommunen selbst — eine ökonomische Teilhabe hieran zu ermöglichen, umso höher wird die notwendige Akzeptanz beim Ausbau der EE-Infrastruktur sein. Regionale Wertschöpfung durch EE steigt, je aktiver regionale Stakeholder einbezogen werden.

3.5.

Wie eine solche ökonomische Teilhabe im Einzelnen aussehen kann, erklärt ein differenzierter Blick auf die Wertschöpfungskette bei EE.

Zunächst ist die eigentliche Investition in EE-Anlagen zu nennen: Die Anlagen selbst werden meist aus anderen Regionen „importiert“. Gleiches gilt für den Planungsprozess, der — besonders bei größeren Vorhaben — häufig von Ingenieur- oder Entwicklungsbüros geleistet wird, die ebenfalls oft selbst nicht in der Region ansässig sind; die Wirkung auf die regionale Wirtschaft ist also eher begrenzt.

Eine unmittelbare regionale Wertschöpfung entsteht hingegen durch die Betriebs- und Wartungskosten der Anlagen. Diese Aufwände sind aber bei EE-Anlagen vergleichsweise gering. Positiv wirken, z. B. bei Wind- oder Photovoltaikfreiflächenanlagen, Pachtzahlungen an die lokalen Grundeigentümer, hinzu kommen eventuelle Steuereinnahmen für die Gemeinden.

Der eigentliche wirtschaftliche Gewinn von EE-Anlagen resultiert aus der Nutzung bzw. dem Verkauf der gewonnenen Energie. Für die regionale Wirtschaft ist es folglich entscheidend, wer die Anlagen betreibt und wer aus deren Betrieb Gewinne generieren kann.

3.6.

Eine Form von ökonomischer Teilhabe findet ihren Ausdruck in regionalen Arbeitsplätzen, die im Energiesektor im Zuge des Ausbaus der EE neu entstehen können. Zahlreiche Studien zeigen, dass der Nettoeffekt der Transformation des Energiesystems auf die Beschäftigung klar positiv ist — zuletzt etwa eine Untersuchung für die Niederlande (4). Hervorzuheben ist, dass dieser Studie zufolge alle niederländischen Provinzen von diesem positiven Effekt profitieren werden.

Damit solche positiven Entwicklungen in allen Regionen Europas erreicht werden können, ist es notwendig, möglichst frühzeitig in eine entsprechende Qualifizierung der Menschen zu investieren.

3.7.

Es ist offensichtlich, dass diese positiven Effekte nicht in jedem Fall alle Nachteile des Strukturwandels, zum Beispiel für Kohleregionen, voll kompensieren können. Aber die Umstellung auf EE bietet doch große Chancen für eine positive Entwicklung in den vielen Regionen Europas, die heute reine Importeure von Energien sind.

3.8.

Eine weitere Form der regionalen ökonomischen Teilhabe erfolgt über die direkte Beteiligung an den Investitionen in EE-Anlagen und somit über deren Betrieb. Bei EE-Anlagen machen Kapitalkosten den größten Teil der Gesamtkosten aus. Umso wichtiger ist es für die regionale Wertschöpfung, dass es regionalen Akteuren möglich ist, in EE-Anlagen zu investieren. Laut einer Studie für das deutsche Bundesland Hessen kann die regionale Wertschöpfung bis zu achtmal so groß ausfallen, wenn ein Windpark in regionaler Hand betrieben wird (5).

3.9.

In einigen europäischen Regionen haben die politischen Verantwortlichen diese Bedeutung erkannt und Initiativen gestartet, mit denen die regionale Teilhabe an EE gestärkt werden soll, etwa: Community Empowerment Bill (Schottland), Lov om fremme af vedvarende energi (Dänemark), Bürger- und Gemeindenbeteiligungsgesetz (im deutschen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern) oder die „National Energy Independence Strategy“ Litauens.

3.10.

Eine dritte mögliche Form der Teilhabe besteht darin, dass Verbraucher die Energie, die aus Anlagen in ihrer Region gewonnen wird, direkt beziehen können, beispielsweise über sogenannte „power purchase agreements“ (PPA). Die Digitalisierung wird ppa auch für kleinere Energieverbraucher zugänglich machen, und die Kostenentwicklung verspricht, dass die Kosten des lokal gewonnenen Wind- oder Solarstroms immer häufiger unter dem Großhandelsmarktpreis liegen wird.

3.11.

Ein weiterer möglicher Effekt ist wichtig. Wenn eine regionale Energiekreislaufwirtschaft durch Einsparungen bzw. durch Einnahmen aufgrund von EE für neue Wertschöpfungen in einer Region sorgt bzw. den Geldabfluss durch den Import von Energie verringert, wird Kapital verfügbar, dass auch in anderen Wirtschaftsbereichen — also außerhalb der Energiebranche — investiert werden kann. Es sind also nicht nur die „direkten“ Arbeitsplatzeffekte zu betrachten (wie Jobs im EE-Bereich), sondern auch die „indirekten“, die sich aus neuen regionalen Finanzströmen ergeben können.

4.   EE als Regionalpolitik — ein „Best Case“ aus Polen (Podlachien)

4.1.

Die polnische Woiwodschaft Podlachien liefert ein Beispiel, das besonders anschaulich zeigt, wie die Überlegungen aus Kapitel 3 regional umgesetzt werden können. Das Beispiel verdeutlicht, wie in einer strukturschwachen Region mit dem Ausbau von EE erfolgreiche Regionalpolitik betrieben werden kann — und dies selbst bei alles anderen als optimalen nationalen Vorgaben. Voraussetzung ist allerdings ein systematisches Vorgehen, das im Folgenden beschrieben wird.

4.2.

Im Jahr 2012 verabschiedete das Regionalparlament (Sejmik) einen Regionalentwicklungsplan, der die Grundlage für die Umsetzung der Operationalen Programme zur Nutzung der Europäischen Strukturfonds bildete.

4.3.

Podlachien, das zu den struktur- und einkommensschwächsten Regionen Europas zählt, importiert jährlich für ca. 5,2 Mrd. PLN (= 1,25 Mrd. EUR) Energie. Eigene fossile Energiequellen gibt es in der Woiwodschaft nicht.

4.4.

Die Entwicklungsstrategie spricht von einer geplanten „Revolution“ mit vier Zielen: 1.) Unabhängigkeit vom Import von Strom, 2.) Steigerung der Anteile von EE im Energieverbrauch, 3.) Reduktion der CO2-Emission und 4.) Steigerung des wirtschaftlichen Potenzials der Region, in dem importierte (kohlenstofflastige) Energieträger durch regionale (saubere) Energieformen substituiert werden.

4.5.

In Podlachien hat man erkannt, dass eine „regionale Energiepolitik“ nur gelingen kann, wenn man auch die Akteursstruktur auf dem Energiemarkt betrachtet. So wird angestrebt, „dass Einwohner und Unternehmer von Podlachien Besitzer der dezentralen Energiequellen werden“.

4.6.

Seit Ende 2016 organisierte die podlachische Gemeinde Turośń Kościelna aus EFRE-Mitteln für ihre Bürger den Kauf von 38 Wärmepumpen, 77 PV- und 270 Solarthermieanlagen. Sie koordiniert die Berechnungen, die Bestellungen und die Installation und nimmt ihren Einwohnern alle rechtlichen und technischen Arbeiten ab. Die Investitionen wurden zu 85 % aus EU-Strukturfondsmitteln bezuschusst. Zukünftig werden ca. 25 % aller Häuser mit moderner EE-Technik ausgestattet sein.

4.7.

In Verbindung mit dem in Polen für kleine PV-Anlagen existierenden „net-metering“ produzieren die Bürger ihren eigenen „grünen“ Strom (inkl. aller Nebenkosten) für ca. 0,18 PLN/kWh (ca. 4,3 ct/kWh). Im Vergleich dazu: beim Netzbezug (von hauptsächlich aus Kohle hergestellten Strom) sind derzeit 0,65 PLN/kWh (= 15,5 ct/kWh) zu zahlen. Daraus ergibt sich eine Reduktion der Stromkosten um ca. 75 % — das eingesparte Geld kommt der regionalen Wirtschaft zugute.

4.8.

Das Marschallamt hat diesen Ansatz aufgegriffen und im Jahr 2017 ähnliche Projekte in 62 anderen Gemeinden ermöglicht. Insgesamt wurde die Förderung von ca. 4 700 Solarthermie-Dachanlagen und 2 250 PV-Hausdachanlagen mit einer Gesamtkapazität von etwas mehr als 7 mWp beantragt; die Umsetzung soll 2018 erfolgen.

4.9.

Längst wird allerdings weitergedacht, z. B. in Richtung Elektromobilität. Von den 5,2 Mrd. PLN, die jährlich für Energieimporte aus Podlachien abfließen, entfallen allein rund 1,5 Mrd. PLN auf den Import von Benzin und Diesel für Pkw.

4.9.1.

Die „podlachische Überlegung“ hierzu: Die in der Region zugelassenen Pkw legen pro Jahr ca. 5,2 Mrd. km zurück. Würden alle Fahrzeuge mit Strom betrieben, bräuchte man dafür bei einem Verbrauch von 15 kWh/100 km ca. 800 000 MWh Strom. Bei den derzeitigen Netzbezugskosten von 0,63 PLN/kWh wären dafür ca. 500 Mio. PLN aufzuwenden anstatt der 1,5 Mrd. PLN für fossile Kraftstoffe, die heute aufgewendet werden. Rund 1 Mrd. PLN verbliebe allein dadurch in der Region und könnten zur Stärkung der Wirtschaft beitragen!!

4.9.2.

Die benötigte Strommenge könnte mit rund 70 (regional installierten) Windkraftanlagen hergestellt werden. Der jährliche Strom einer solchen Anlage reicht für den Betrieb von ca. 7 000 Pkw, eine kWh kostet rund 6-7 ct. Würden sich 7 000 Autofahrer zusammenschließen und eine solche Anlage genossenschaftlich betreiben, würde sich ihr Kostenaufwand für den Betrieb von E-Fahrzeugen nochmals signifikant senken lassen. Dies müsste allerdings rechtlich und administrativ ermöglicht werden, z. B. dadurch, dass die Netze für die Peer-to-Peer-Verteilung geöffnet werden, die Digitalisierung eröffnet solche Möglichkeiten, die politische Realität blockiert sie hingegen!

4.10.

Auch wird in Podlachien die Nutzung von regional erzeugtem Windstrom zur Substitution von Kohle in Heizwerken erwogen. Der Windstrom käme in Industriewärmepumpen sowie Wärmespeicher zum Einsatz. Dies erscheint höchst wirtschaftlich. Dennoch sind die Überlegungen bisher nicht über eine Vorplanungsphase hinausgekommen. Nicht einmal für eine Machbarkeitsstudie finden sich Finanztöpfe.

5.   Mehr regionale Wertschöpfung durch regionale Nutzung der regional erzeugten EE

5.1.

Das „podlachische Beispiel“ zeigt: Ein bedeutender Effekt der EE liegt in der potenziellen Stärkung der regionalen Kaufkraft. Um diesen zu erfassen, ist es wichtig, im Rahmen einer „regionalen Energiekreislaufwirtschaft“ als erstes die Potenziale abzuschätzen, und zwar sowohl im Bereich Strom, als auch Wärme und Verkehr.

5.2.

Das Potenzial des regionalwirtschaftlichen Ansatzes lässt sich am Beispiel der Solarthermie gut veranschaulichen. Die regionale Wertschöpfung durch Installation und Betrieb ist gering, zumal ihr auch negative Effekte gegenüberstehen, z. B. dann, wenn eine Ölheizung ersetzt wird und dadurch Arbeitsplätze von Heizölhändlern unter Druck geraten. Tatsächlich hat Solarthermie aber einen höchst positiven Effekt für die Verbraucher. Denn je größer der Anteil der solaren Wärme an ihrem gesamten Wärmebedarf ist, umso mehr können sie auf den Import von Energierohstoffen wie Kohle, Erdöl oder Erdgas verzichten, der einen Abfluss von Kaufkraft aus der Region und zugunsten kohle-, öl- und gasexportierender Länder bzw. multinationaler Mineralöl- und Erdgaskonzerne darstellt.

5.3.

Insgesamt erscheint es erforderlich, in einer regionalen Energiebilanz zu erfassen, bis zu welchem Grad es gelingt bzw. gelingen könnte, den regionalen Energieverbrauch mit regional erzeugten (und unter Umständen zwischengespeicherten) EE zu decken. Die Bilanz muss vier Aspekte umfassen:

1.

Es ist zu bestimmen, wieviel Bedarf an Energie eine Region in den Sektoren Elektrizität, Wärme und Mobilität hat. Die Berücksichtigung des Wärme- und des Mobilitätssektors ist aus zwei Gründen wichtig: Zum einen entfallen 75 % des Energieverbrauchs auf diese Bereiche. Zum anderen sind Wärme- und Mobilitätsanwendungen wichtige Flexibilitätsoptionen, die meist nur vor Ort zur Verfügung stehen.

2.

Es ist zu erfassen, wieviel Potenzial besteht, diesen Bedarf mit EE aus der Region zu decken. Dafür ist auch zu bestimmen, inwieweit dadurch tatsächlich ein Umlenken des Kapitalflusses zu Gunsten der Region erreicht wird. Dafür kommt es im Falle von Bioenergie auf die Herkunft der Biomasse an sowie bei allen EE-Technologien auf die Herkunft der Anlagen und der mit der Installation und Wartung beauftragten Unternehmen. Außerdem ist anhand der Betreiberstruktur und ggf. des Volumens des intraregionalen Stromverbrauchs zu bestimmen, ob der mit dem Betrieb erwirtschaftete Umsatz in der Region verbleibt und insofern eine ökonomische Teilhabe regionaler Akteure impliziert.

3.

Die Differenz zwischen dem regionalen Energiebedarf und dem Anteil daran, der aus regionalen EE gedeckt werden kann, zeigt, wieviel Energie aus anderen Regionen importiert werden muss (Kapitalabfluss aus der Region). Auch in Zukunft werden viele europäische Regionen auf Energieimport nicht verzichten können — sei es, weil es ineffizient, unwirtschaftlich oder schlichtweg technisch nicht möglich ist, den gesamten regionalen Energiebedarf regional zu decken.

4.

Soweit in der Region mehr Energie erzeugt wird als regional verbraucht wird, ist zu bestimmen, wer an den Verkaufserlösen des Stroms partizipiert.

5.4.

Die Bilanz aus der regionalen Energieerzeugung und dem regionalen Energieverbrauch sollte für jede europäische Region aufgestellt werden, ohne dass hierfür eine gesetzliche Verpflichtung vorzusehen ist. Vielmehr sollte jede Region ein Eigeninteresse haben, entsprechende Bilanzen freiwillig zu erstellen. Es ist zu prüfen, ob hierfür die etablierte Kategorie von NUTS 3-Regionen genutzt werden kann. In einigen Fällen erscheinen auch grenzüberschreitende Energieregionen attraktiv, auch im Sinne der „Europa der Regionen“-Idee. In diesem Zusammenhang könnte die Energieinformationsstelle, deren Einrichtung der EWSA in einer früheren Stellungnahme (6) gefordert hat, eine Koordinationsaufgabe übernehmen.

6.   Energie- und regionalpolitisches Potenzial einer ausgeglichenen oder positiven Energiebilanz

6.1.

Wenn es gelingt, die in Kapitel 5 beschriebene Bilanz aus regional erzeugten und regional genutzten EE zu verbessern, wird ein Beitrag zur Reduzierung der Energieabhängigkeit Europas geleistet.

6.2.

Wenn regionale Akteure verstärkt an EE ökonomisch teilhaben könnten, würde dies die regionale Kohäsion stärken. Dies liegt daran, dass strukturschwache Regionen häufig die größten Flächenpotenziale für EE aufweisen und hier also der regionalökonomische Effekt von EE am meisten wirkt.

6.3.

Die Erstellung spezifischer regionaler Energiebilanzen würde es erlauben zu erfassen, welche Bedeutung die Energiewende für die einzelnen Regionen hat. Die Debatte um einen Strukturwandel in bestimmten Regionen ließe sich auf eine fundierte Basis stellen. Entsprechende regionalpolitische Interventionen ließen sich besser entwickeln als heute, da relativ pauschal von „Kohleregionen“ oder „Energie-Inseln“ gesprochen wird.

6.4.

Ob eine Region Energieexportregion oder Energieimportregion ist oder eine ausgeglichene Energiebilanz hat — dies hat konkrete Auswirkungen für die dort lebenden Menschen. Hierüber muss ein Dialog mit regionalen Stakeholdern geführt werden. Es gibt nicht die perfekte Lösung, die für alle Regionen gleichermaßen passt. Stattdessen müssen gerechtere Lösungen — auch im Hinblick auf Raumgerechtigkeit („spatial justice“), also die Frage, wofür welche Flächen genutzt werden — regionenspezifisch vereinbart werden. Vertreter der regionalen Politik und Verwaltung müssen entsprechend qualifiziert werden.

6.5.

Je mehr es gelingt, den regionalen Energiebedarf mit regionalen EE zu decken, umso unabhängiger würden die in der Region lebenden und arbeitenden Verbraucher von der Entwicklung der Weltmarktpreise, insbesondere von Mineralöl und Erdgas. Dies ist die beste Voraussetzung, Energiearmut und die Verletzlichkeit von Endverbrauchern zu reduzieren. Da Energiepreise ein zunehmend wichtiges Kriterium für Investitionsentscheidungen sind, kann gleichzeitig die Attraktivität des örtlichen Wirtschafts- und Industriestandortes erhöht werden.

6.6.

Die anstehende Integration des Wärme- und Mobilitätssektors in das Stromsystem ließe sich durch Anreize zur regionalen Verwendung der regional erzeugten EE und somit zur Stärkung gezielt fördern.

6.7.

Die Digitalisierung der Energiewirtschaft bietet große Chancen. Auch in dieser Hinsicht könnten Anreize zur Verbesserung der regionalen Verwendung der regional erzeugten EE bewirken, das spezifische Potenzial der Digitalisierung freizusetzen und so innovationsfördernd zu werden.

6.8.

Es ist Ziel der europäischen Energieunion, die Rolle der Bürgerinnen und Bürger bzw. der Energieverbraucherinnen und -verbraucher in der Energiewende zu stärken. Allerdings bestehen in überregionalen Energiemärkten hohe Markteintrittsbarrieren, und Größenvorteile spielen eine wichtige Rolle (7). Letztlich ist dies eine Folge von historisch gewachsenen monopolistischen Marktstrukturen. Im regionalen Maßstab ist die neue, aktivere Rolle der Bürger und Verbraucher, d. h. im Rahmen einer regionalen Energie-Kreislaufwirtschaft, sehr viel einfacher auszuüben.

6.9.

Wenn regional erzeugte EE verstärkt regional genutzt würden, würde dies netzentlastend wirken und unter Umständen den Bedarf, die europäischen Stromübertragungsnetze massiv auszubauen, reduzieren (vgl. auch Erwägungsgrund 52 des Vorschlags für eine Richtlinie zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen (COM(2016) 767 final)).

7.   Forderungen mit Bezug auf eine regionale Energie-Kreislaufwirtschaft

7.1.

Der EWSA ruft die EU-Institutionen dazu auf, die regionale Nutzung von regional erzeugten EE als Ziel einer europäischen Energiepolitik wie auch der Kohäsionspolitik anzusehen und als Zielmaßstab die Bilanz aus regionalem Energiebedarf und regionaler EE-Erzeugung anzuwenden. Dazu gehört zum einen, dass in der weiteren Gestaltung der Förderung der EE die besonderen Charakteristika von Bürgerenergie und anderen regionalen Akteuren, die nicht von Größenvorteilen profitieren, berücksichtigt werden (8). Ziel muss es insbesondere sein, Marktzugangsbarrieren abzubauen, die die Marktchancen von kleinen (regionalen) Akteuren beeinträchtigen. Hilfreich ist auch ein europäisches Programm zur Qualifizierung von regionalen Akteuren sowie zum verstärkten Austausch von Best Practices.

7.2.

Voraussetzung dafür ist eine strategische Entscheidung, die Energiepolitik auf Dezentralität auszurichten. In dieser Hinsicht gibt es im „Saubere Energie für alle Europäer“-Paket noch deutlich zu viele Widersprüche zwischen einer eher dezentralen und einer eindeutig zentralistischen Energiepolitik. Zu befürworten wäre es, wenn die europäischen Regionen und Kommunen die Befugnis erhielten, die Teilhabe von regionalen Akteuren an der Nutzung von regionalen erneuerbaren Energien direkt zu regeln. Dies entspräche auch der in vielen europäischen Mitgliedstaaten gewachsenen Tradition der kommunalen Daseinsvorsorge.

7.3.

Der EWSA fordert die Kommission auf, ein Konzept vorzulegen, welche Maßnahmen des energiepolitischen Mix auf europäischer, nationaler und sub-nationaler Ebene helfen, um die regionale Energie zu befördern. Teil dessen kann eine entsprechende Fassung des Vergabe- und Beschaffungsrechts sein. Außerdem sollte eine Methodik entwickelt werden, nach der die Regionen ihre spezifische Energiebilanz erstellen können. Eine Online-Applikation für regionale Politiker und Stakeholder, die mindestens annähernde Ergebnisse ausgibt, wäre wünschenswert.

7.4.

Eine Neustrukturierung der Netzentgelte, möglicherweise auch von weiteren Abgaben und Steuern könnte helfen, die beschriebenen regionalwirtschaftlichen Effekte beim Ausbau von EE zu erreichen. Der Ex- und vor allem der Import von Energie sollte so bepreist werden, dass dadurch mindestens die Transportkosten berücksichtigt werden.

7.5.

Eine differenzierte Erhebung der Netzentgelte — also die Bepreisung einer Stromhandelstransaktion danach, wie viele Netzebenen für die Abwicklung der Transaktion in Anspruch genommen werden — erleichtert es in Verbindung mit einer stärkeren Deckung des regionalen Energiebedarfs durch regional erzeugte EE auch, den tatsächlichen Bedarf an Netzausbau marktorientiert festzustellen. Zwar wird es wichtig sein, die Energieregionen Europas gut zu vernetzen. Doch bedeutet dies nicht, dass unbedingt und in jedem Fall dem Netzausbau Priorität zu geben ist. Dies wird heute noch zu häufig getan, ohne dass dies ökonomisch begründbar wäre (9).

Brüssel, den 11. Juli 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 1.

(2)  https://ec.europa.eu/info/news/no-region-left-behind-launch-platform-coal-regions-transition-2017-dec-08_en.

(3)  Für weitere Details siehe die Präsentation der Fallstudie in der EWSA-Anhörung „Die Energiewende in Europas Regionen — Bewertung der Wirkungen der Umstellung auf eine intelligente und kohlenstoffarme Energieversorgung auf die Regionalwirtschaft“ am 31. Mai 2018, https://www.eesc.europa.eu/en/news-media/presentations/presentation-michael-knape.

(4)  Weterings, A. et al. (2018): Effecten van de energietransitie op de regionale arbeidsmarkt — een quickscan, PBL, Den Haag, S. 36.

(5)  Institut für dezentrale Energietechnologien (2016). Regionale Wertschöpfung in der Windindustrie am Beispiel Nordhessen.

(6)  ABl. C 262 vom 25.7.2018, S. 86.

(7)  ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 91.

(8)  ABl. C 246 vom 28.7.2017, S. 55.

(9)  Vgl. Peter, F.; Grimm, V. & Zöttl, G. (2016). Dezentralität und zellulare Optimierung — Auswirkungen auf den Netzausbaubedarf. https://www.fau.de/files/2016/10/Energiestudie_Studie.pdf.