22.12.2010   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

CE 349/46


Mittwoch, 10. März 2010
Abkommen zur Bekämpfung von Produkt- und Markenpiraterie (ACTA)

P7_TA(2010)0058

Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. März 2010 zur Transparenz und zum Stand der Verhandlungen über das ACTA

2010/C 349 E/10

Das Europäische Parlament,

unter Hinweis auf die Artikel 207 und 218 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV),

unter Hinweis auf seine Entschließung vom 9. Februar 2010 zu einer revidierten Rahmenvereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament und der Kommission für die nächste Wahlperiode (1),

unter Hinweis auf seine Entschließung vom 11. März 2009 zum Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (Neufassung), die als Standpunkt des Parlaments aus erster Lesung aufzufassen ist (2) (KOM(2008)0229 – C6-0184/2008 – 2008/0090(COD)),

unter Hinweis auf seine Entschließung vom 18. Dezember 2008 zu den Auswirkungen von Produktfälschung auf den internationalen Handel (3),

unter Hinweis auf die Stellungnahme des Europäischen Datenschutzbeauftragten vom 22. Februar 2010 zu den laufenden Verhandlungen der Europäischen Union über ein Übereinkommen zur Bekämpfung von Produkt- und Markenpiraterie (ACTA),

unter Hinweis auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 8,

unter Hinweis auf die Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation, zuletzt geändert durch die Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009,

unter Hinweis auf die Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“),

gestützt auf Artikel 115 Absatz 5 seiner Geschäftsordnung,

A.

in der Erwägung, dass die Europäische Union und andere OECD-Länder 2008 Verhandlungen über ein neues plurilaterales Abkommen zur stärkeren Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums und zur Bekämpfung der Produktfälschung und -piraterie (Anti-Counterfeiting Trade Agreement – ACTA) aufgenommen und sich gemeinsam auf eine Vertraulichkeitsklausel geeinigt haben,

B.

in der Erwägung, dass das Parlament die Kommission in seinem Bericht vom 11. März 2009 auffordert, „unverzüglich alle Unterlagen im Zusammenhang mit den laufenden internationalen Verhandlungen zum Abkommen zur Bekämpfung von Produkt- und Markenpiraterie (ACTA) öffentlich zugänglich [zu] machen“,

C.

in der Erwägung, dass sich die Kommission am 27. Januar 2010 verpflichtet hat, das Parlament stärker einzubeziehen, und zwar auf der Grundlage seiner Entschließung vom 9. Februar 2010 zu einer revidierten Rahmenvereinbarung mit der Kommission, in der es eine „unverzügliche und umfassende Information des Parlaments in allen Phasen der Verhandlungen über internationale Abkommen […] insbesondere bei Handelsfragen und anderen Verhandlungen im Rahmen des Zustimmungsverfahrens, damit Artikel 218 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union in vollem Umfang wirksam wird“ gefordert hat,

D.

in der Erwägung, dass neben Vertretern der Kommission auch Vertreter des Rates an den Verhandlungen über das ACTA teilgenommen haben,

E.

in der Erwägung, dass die Kommission als Hüterin der Verträge verpflichtet ist, den gemeinschaftlichen Besitzstand zu wahren, wenn sie über internationale Übereinkommen verhandelt, die sich auf die Gesetzgebung in der EU auswirken,

F.

in der Erwägung, dass sich die Verhandlungen über das ACTA Dokumenten zufolge, die bekannt geworden sind, unter anderem auf geplante EU-Rechtsvorschriften zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums (2005/0127(COD)) – strafrechtliche Maßnahmen zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums (IPRED-II)) und das sogenannte Telekommunikationspaket sowie geltende EU-Rechtsvorschriften zum elektronischen Geschäftsverkehr und zum Datenschutz auswirken,

G.

in der Erwägung, dass die derzeitigen Bemühungen der EU um eine Harmonisierung der Maßnahmen zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums nicht durch Handelsverhandlungen unterlaufen werden sollten, die außerhalb normaler EU-Entscheidungsprozesse stattfinden,

H.

in der Erwägung, dass dringend dafür gesorgt werden muss, dass die Maßnahmen zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums so angelegt sind, dass Innovation und Wettbewerb nicht behindert, die Rechte des geistigen Eigentums nicht eingeschränkt und der Schutz personenbezogener Daten nicht beeinträchtigt, der freie Informationsfluss nicht gehemmt und der rechtmäßige Handel nicht in unzulässiger Weise erschwert werden,

I.

in der Erwägung, dass jegliche Vereinbarungen der Europäischen Union zum ACTA den rechtlichen Verpflichtungen der EU im Hinblick auf den Schutz der Privatsphäre und den Datenschutz entsprechen müssen, wie sie insbesondere in den Richtlinien 95/46/EG und 2002/58/EG sowie in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Gerichtshofs der Europäischen Union niedergelegt sind,

J.

in der Erwägung, dass der Vertrag von Lissabon seit dem 1. Dezember 2009 in Kraft ist,

K.

in der Erwägung, dass das Europäische Parlament gemäß dem nunmehr geltenden Vertrag von Lissabon dem Text des ACTA-Abkommens zustimmen muss, bevor es in der EU in Kraft tritt,

L.

in der Erwägung, dass sich die Kommission dazu verpflichtet hat, das Parlament in allen Phasen der Verhandlungen über internationale Abkommen unverzüglich und umfassend zu informieren,

1.

weist darauf hin, dass die Kommission seit dem 1. Dezember 2009 rechtlich dazu verpflichtet ist, das Parlament über alle Phasen internationaler Verhandlungen unverzüglich und umfassend zu unterrichten;

2.

ist besorgt über den Mangel an Transparenz bei den Verhandlungen über das ACTA, der den Buchstaben und dem Geist des AEUV widerspricht; ist zutiefst besorgt darüber, dass vor dem Beginn der Verhandlungen über das ACTA keine Rechtsgrundlage festgelegt wurde, und dass es nicht um Zustimmung zu dem Verhandlungsmandat ersucht wurde;

3.

fordert die Kommission und den Rat auf, der Öffentlichkeit und dem Parlament gemäß dem Vertrag und der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission Zugang zu den Texten und Zusammenfassungen mit Bezug auf das ACTA zu gewähren;

4.

fordert die Kommission und den Rat auf, sich bereits im Vorfeld mit den Verhandlungspartnern im Rahmen des ACTA zu verständigen, damit weitere vertrauliche Verhandlungen ausgeschlossen sind, und das Parlament umfassend und rechtzeitig über diesbezügliche Initiativen zu informieren; erwartet, dass die Kommission schon vor der nächsten Verhandlungsrunde in Neuseeland im April 2010 Vorschläge unterbreitet, die darauf ausgerichtet sind, dass die Frage der Transparenz auf die Tagesordnung dieses Treffens gesetzt wird und das Parlament unverzüglich nach Abschluss dieser Verhandlungsrunde über die Ergebnisse unterrichtet wird;

5.

betont, dass es sich zur Wahrung seiner Vorrechte entsprechende Maßnahmen vorbehält, zum Beispiel auch ein entsprechendes Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union anzustrengen, wenn es nicht in allen Phasen unverzüglich und umfassend über die Verhandlungen unterrichtet wird;

6.

bedauert die bewusste Entscheidung der Parteien, nicht im Rahmen etablierter internationaler Gremien wie der WIPO und der WTO zu verhandeln, die über feste Strukturen für die Information der Öffentlichkeit und Konsultationen verfügen;

7.

fordert die Kommission auf, im Vorfeld der Zustimmung der EU zu einem konsolidierten Text des ACTA eine Abschätzung der Folgen der Umsetzung des ACTA für die Grundrechte und den Datenschutz, die derzeitigen Bemühungen der EU um eine Harmonisierung der Maßnahmen zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums und den elektronischen Geschäftsverkehr durchzuführen und es rechtzeitig über die Ergebnisse dieser Folgenabschätzung zu informieren;

8.

begrüßt die Zusicherungen der Kommission, dass sich das ACTA-Abkommen auf jeden Fall, ohne der Entwicklung des materiellen Rechts des geistigen Eigentums in der Europäischen Union vorzugreifen, auf die Durchsetzung der bestehenden Rechte des geistigen Eigentums beschränken wird;

9.

fordert die Kommission auf, die Verhandlungen über das ACTA fortzusetzen und sie auf das bestehende europäische System zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums bei der Bekämpfung von Produktfälschung zu beschränken; vertritt die Auffassung, dass an weiteren ACTA-Verhandlungen eine größere Anzahl an Entwicklungs- und Schwellenländern beteiligt werden sollte, damit eine möglichst umfassende multilaterale Ebene der Verhandlungen erreicht wird;

10.

fordert die Kommission auf, dafür zu sorgen, dass die Umsetzung der ACTA-Bestimmungen – insbesondere zu den Verfahren der Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums im digitalen Umfeld – vollständig dem gemeinschaftlichen Besitzstand entspricht; fordert, dass an EU-Grenzen keine Personendurchsuchungen durchgeführt werden, und verlangt eine vollständige Aufklärung aller Klauseln, nach denen nicht durch einen Durchsuchungsbefehl abgesicherte Durchsuchungen und Beschlagnahmungen von Laptops, Mobiltelefonen, MP3-Geräten oder anderen Geräten zur Speicherung von Informationen durch Grenz- oder Zollbehörden vorgenommen werden können;

11.

vertritt die Auffassung, dass – in Übereinstimmung mit seinem Beschluss zu Artikel 1.1b der Änderungsrichtlinie 2009/140/EG und der darin enthaltenen Forderung, in Artikel 1 der Richtlinie 2002/21/EG einen neuen Absatz 3a zur Frage der Three-Strikes-Verfahren aufzunehmen – im Rahmen des geplanten Abkommens nicht die Möglichkeit bestehen darf, sogenannte Three-Strikes-Verfahren einzuführen, damit Grundrechte wie die Meinungsfreiheit und das Recht auf Schutz der Privatsphäre gewahrt werden und der Grundsatz der Subsidiarität uneingeschränkt respektiert wird; vertritt die Auffassung, dass jedes Abkommen die Regelung enthalten muss, dass das Sperren des Internetzugangs einer Person zuvor von einem Gericht geprüft werden muss;

12.

betont, dass das Recht auf Privatsphäre und der Datenschutz zentrale Werte der Europäischen Union darstellen, die in Artikel 8 EMRK und in den Artikeln 7 und 8 der Charta der Grundrechte der EU verankert und die gemäß Artikel 16 AEUV in allen Politikbereichen und bei allen Vorschriften der EU zu wahren sind;

13.

weist darauf hin, dass die Bestimmungen des ACTA, insbesondere die Maßnahmen, die der Stärkung der Befugnisse im Hinblick auf grenzübergreifende Kontrollen und die Beschlagnahme von Waren dienen, den allgemeinen Zugang zu rechtmäßigen, erschwinglichen und sicheren Arzneimitteln – darunter innovativen Mitteln und Generika – nicht unter dem Vorwand der Bekämpfung von Produktfälschung behindern sollten;

14.

beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission und den Regierungen und Parlamenten der Staaten zu übermitteln, die an den Verhandlungen über das ACTA beteiligt sind.


(1)  Angenommene Texte, P7_TA(2010)0009.

(2)  Angenommene Texte, P6_TA(2009)0114.

(3)  Angenommene Texte, P6_TA(2008)0634.