17.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 51/15


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Auswirkungen der Staatsverschuldungskrise auf das europäische Regieren“ (Initiativstellungnahme)

2011/C 51/03

Berichterstatter: Michael SMYTH

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 29. April 2010, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Die Auswirkungen der Staatsverschuldungskrise auf das europäische Regieren“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 7. September 2010 an.

Aufgrund der Neubesetzung des Ausschusses hat das Plenum beschlossen, diese Stellungnahme auf der Oktober-Plenartagung zu erörtern, und Michael SMYTH gemäß Artikel 20 der Geschäftsordnung zum Hauptberichterstatter bestellt.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 466. Plenartagung am 21. Oktober 2010 mit 120 gegen 7 Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Die Staatsverschuldungskrise - ausgelöst durch die Finanz- und Haushaltskrise - ist eine existentielle Bedrohung für die Wirtschafts- und Währungsunion und erfordert daher effiziente Reaktionen des Finanzwesens, des Marktes und der Politik. Sie hat die Unzulänglichkeiten des Stabilitäts- und Wachstumspakts als Mechanismus zur Gewährleistung von finanzpolitischer Verantwortlichkeit in den Mitgliedstaaten deutlich gemacht.

1.2   Der EWSA befürwortet die vom Rat und von ECOFIN bereits getroffenen Maßnahmen zur Unterstützung von in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Mitgliedstaaten im Rahmen des europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) und der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF). Dies ist eine Übergangslösung, die aber über die Schaffung eines echten Europäischen Währungsfonds die Grundlage eines dauerhafteren Verfahrens und Rahmens für eine an bestimmte Bedingungen geknüpfte finanzielle Unterstützung werden kann. Auch die Einrichtung einer europäischen Agentur für die Verwaltung von Staatsschulden, die EU-Anleihen emittiert, könnte geprüft werden.

1.3   Damit die Ziele des Europäischen Konjunkturprogramms nicht gefährdet werden, plädiert der EWSA dafür, in der gesamten Eurozone Schuldenabbauprogramme einzuleiten, mit denen flächendeckend die wirtschaftliche und monetäre Stabilität gewährleistet werden kann. Diese Programme müssen abgestimmt sein auf die in der Kommissionsmitteilung „Europa 2020 - Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ genannten Ziele für Aufschwung und Beschäftigung, die durch die Krise stark gefährdet wurden.

1.4   Aus der Schuldenkrise lassen sich viele Lehren für die künftige Governance der Union ziehen. Die ursprünglichen Vorschläge der Arbeitsgruppe Wirtschaftspolitik zu Überwachung und Sanktionen sind ein Schritt in die richtige Richtung. Nach Auffassung des EWSA müssen Sanktionen jedoch mit größerer europäischer Solidarität in Bezug auf die Verwaltung von Staatsschulden einhergehen. Der EWSA stellt fest, dass es bisher an formalen Mechanismen zum Umgang mit der Zahlungsunfähigkeit eines Mitgliedstaats fehlt. Dies bleibt ein struktureller Schwachpunkt der Wirtschafts- und Währungsunion, der nach einer politischen Lösung verlangt. Die Sanktionen sollten jedoch sowohl politischer als auch wirtschaftlicher Art sein, um die Verschuldung der betroffenen Länder nicht noch weiter zu verschärfen.

1.5   Die Staatsverschuldungskrise ist in erheblichem Maße auf eine verantwortungslose Finanzpolitik mancher Mitgliedstaaten sowie zum Teil auf die unvorsichtige Kreditvergabe von Banken, durch die die Bau- und Vermögensblase aufgebläht wurde, und zum Teil auf das riskante Verhalten der Ratingagenturen zurückzuführen. Die großangelegte Rettung von Banken mit Steuermitteln in manchen Mitgliedstaaten und die daraus folgende Anfälligkeit des globalen Finanzsystems trugen ebenfalls maßgeblich zur Krise bei. Damit sich solche Verhaltensweisen in Zukunft nicht wiederholen, muss das globale Bankwesen wirksam reformiert werden.

1.6   Der EWSA hofft, dass die bessere wirtschaftspolitische Steuerung der EU, die im Januar 2011 mit dem „Europäischen Semester“ für eine bessere wirtschaftspolitische Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten (1) anlaufen wird, darauf angelegt ist, die Arbeitsplätze in Europa, die durch die Krise ernsthaft gefährdet wurden, zu erhalten.

1.7   Der EWSA ist jedoch der Auffassung, dass eine wirtschaftspolitische Koordinierung allein zumindest bei den Ländern der Eurozone nicht ausreicht, sondern eine wahrhaft gemeinsame Wirtschaftspolitik erforderlich ist, ebenso wie eine haushaltspolitische Koordinierung sinnvoll wäre, zumindest in der ersten Phase.

2.   Hintergrund der Krise - Finanzpolitische Grundlagen der Wirtschafts- und Währungsunion

2.1   Haushaltsdisziplin ist ein Schlüsselelement makroökonomischer Stabilität, insbesondere in einer Währungsunion wie der Eurozone, die aus souveränen Staaten besteht, die die Zuständigkeit für ihre Finanzpolitik behalten. Das Instrument einer nationalen Währungs- und Wechselkurspolitik, mit dem auf länderspezifische Erschütterungen reagiert werden konnte, steht im Euroraum nicht mehr zur Verfügung. Die Finanzpolitik spielt daher eine übermächtige Rolle, kann sich aber besser an derartige Erschütterungen anpassen, wenn sie von einer soliden Ausgangsposition ausgeht.

2.2   Es wurden verschiedene Mechanismen eingeführt und diverse Vorkehrungen getroffen, um eine solide Finanzpolitik zu gewährleisten und die Gefahren für die Preisstabilität zu begrenzen. Diese Vorkehrungen sind in den Artikeln 121, 123, 124, 125 und 126 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verankert und umfassen den Stabilitäts- und Wachstumspakt (gestützt auf Artikel 121 und 126), das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit (Artikel 126), das Verbot der monetären Finanzierung (Artikel 123), das Verbot des bevorrechtigten Zugangs staatlicher Stellen zu Finanzinstitutionen (Artikel 124) sowie das Verbot, für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaates einzutreten („no bail-out“, Artikel 125).

2.3   Die im Vertrag verankerte Grundregel der Haushaltspolitik lautet, dass die Mitgliedstaaten übermäßige öffentliche Defizite vermeiden. Als Grundlage für die Befolgung dieser Regel dürfen die Mitgliedstaaten bei der Neuverschuldung ein jährliches gesamtstaatliches Haushaltsdefizit von 3 % des BIP und beim Schuldenstand eine Bruttostaatsverschuldung von maximal 60 % des BIP nicht überschreiten.

2.4   In Ausnahmefällen kann der Referenzwert vorübergehend überschritten werden, ohne dass das Defizit als übermäßiges Defizit angesehen wird, sofern das Verhältnis in der Nähe des Referenzwerts bleibt. Ob ein übermäßiges Defizit besteht, beschließt der Rat „Wirtschaft und Finanzen“ auf Vorschlag der Europäischen Kommission. Wenn der Rat beschließt, dass in einem Mitgliedstaat ein übermäßiges Defizit besteht, sind die notwendigen Schritte gemäß dem Verfahren bei einem übermäßigen Defizit zu ergreifen. Dabei könnten in letzter Konsequenz Sanktionen gegen das betreffende Land verhängt werden.

2.5   Der Grundgedanke hinter dem Stabilitäts- und Wachstumspakts ist die dauerhafte Gewährleistung einer soliden Haushaltspolitik. In dem Pakt werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, in Bezug auf ihre Haushaltslage das mittelfristige Ziel eines nahezu ausgeglichenen oder einen Überschuss aufweisenden Haushalts gemäß den länderspezifischen Erwägungen einzuhalten. Es wird davon ausgegangen, dass Maßnahmen zur Erreichung einer entsprechenden Haushaltslage es den Mitgliedstaaten ermöglichen, die normalen zyklischen Schwankungen zu überstehen, ohne den Referenzwert von 3 % des BIP für das öffentliche Defizit zu überschreiten. In der Praxis klaffen Anspruch und Wirklichkeit beim Stabilitäts- und Wachstumspakt jedoch sehr weit auseinander, wie die Europäische Zentralbank (EZB) unlängst kommentierte:

„Allerdings gibt es hinsichtlich der Befolgung der Haushaltsregeln, die im Vertrag von Maastricht und im Stabilitäts- und Wachstumspakt enthalten sind, deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten. In einigen Ländern wurde der Referenzwert für das öffentliche Defizit von 3 % des BIP wiederholt und dauerhaft überschritten, was darauf schließen lässt, dass zumindest in diesen Fällen die Umsetzung des Stabilitäts- und Wachstumspakts von einem Mangel an Entschlossenheit und politischem Willen geprägt war. Die Abweichungen von den Haushaltsplänen waren in den betroffenen Ländern in unterschiedlichem Ausmaß durch zu optimistische Wachstumsprognosen, nachträgliche Korrekturen des Datenmaterials, unerwartet starke Einnahmenschwankungen und anhaltende Überschreitungen von Ausgabenzielen gekennzeichnet.“ (Zehn Jahre Stabilitäts- und Wachstumspakt, EZB-Monatsbericht Oktober 2008, S. 59).

2.6   Das offenkundige Scheitern hinsichtlich der Einhaltung der der WWU zugrunde liegenden Haushaltsregeln ging der gegenwärtigen weltweiten Finanzkrise zwar voraus, aber es könnte argumentiert werden, dass die Risiken der Zahlungsunfähigkeit bei den Staatsschulden innerhalb der Währungsunion als die zweite Phase der Krise betrachtet werden können. Nach zehn oder mehr Jahren der Zunahme schneller Kredite, die zu einer Immobilien- und Baublase geführt hat, haben die anschließenden wirtschaftlichen Einbrüche in einigen Mitgliedstaaten eine Schuldenspirale in Gang gesetzt. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Regierungen Griechenlands, Spaniens und Portugal während der Bankenkrise keine aus Steuern finanzierten Maßnahmen zur Rettung ihrer Bankensysteme zu unternehmen brauchten, dass ihre Staatsverschuldung aber jetzt die Stabilität von Banken überall in der Union bedroht. Dies ist ein Beleg für das Argument, dass das Ansteigen der Staatsverschuldung nicht in erster Linie auf solche steuerfinanzierten Bankenrettungsmaßnahmen zurückgeführt werden kann.

2.7   Während der Bankenkrise wurde häufig behauptet, einige Banken seien zu groß, als dass man sie pleite gehen lassen könne („too big to be allowed to fail“); jetzt heißt es von den Mitgliedstaaten, die mit einer steigenden Staatsverschuldung zu kämpfen haben, sie seien zu wichtig, um sie zahlungsunfähig werden zu lassen. Ebenso wie sich die Steuerzahler zähneknirschend der Notwendigkeit beugen mussten, verantwortungslose Banken zu retten, verlangen die internationalen Anleihemärkte jetzt von einigen Mitgliedstaaten eine möglicherweise noch schmerzhaftere Bereinigung der öffentlichen Finanzen. Die durch die Zahlungsunfähigkeit bei Staatsanleihen verursachte Verunsicherung hat auch bereits den Euro selbst auszuhöhlen begonnen und Ängste ausgelöst, dass dies eine Reihe von Euroländern mit in den Abgrund reißen könnte.

2.8   Die Staatsverschuldungskrise ist eine Vertrauenskrise für die EU als Ganzes und für die Eurozone im Besonderen. Sie erfordert sowohl eine politische als auch eine finanzielle Lösung. Sie hat auch die Frage aufgeworfen, ob die oben beschriebenen finanzpolitischen Vorkehrungen zur Gewährleistung der Stabilität der gemeinsamen Währung angemessen sind. Es könnte mit einer gewissen Berechtigung argumentiert werden, der Stabilitäts- und Wachstumspakt habe versagt und Europa müsse nun einen neuen haushalts- und geldpolitischen Rahmen schaffen, mit dem auf besorgniserregend negative Resultate oder gar den Bankrott eines Mitgliedstaats effizienter reagiert werden kann. Wenn dies zutrifft, wie könnte ein solcher Rahmen aussehen?

3.   Alternative haushalts- und geldpolitische Rahmenbedingungen

3.1   In den letzten Monaten ist sowohl in der politischen Theorie als auch bei der Umsetzung politischer Maßnahmen eine Reihe bemerkenswerter Entwicklungen zu beobachten. Ein interessanter Vorschlag zur Bewältigung der Staatsverschuldungskrise und zur Verhinderung von Staatspleiten ist die Errichtung eines Europäischen Währungsfonds (EWF) (2). Dahinter steht der Gedanke, dass der Internationale Währungsfonds (IWF) keine Erfahrung darin hat, auf die drohende Gefahr der Zahlungsunfähigkeit eines Mitgliedstaats einer Währungsunion zu reagieren, und dass die EU mit einem EWF viel wirksamere Durchsetzungsmechanismen hätte.

3.2   Das Konzept eines Europäischen Währungsfonds sollte in Analogie zu den verschiedenen, als Reaktion auf den jüngsten Zusammenbruch der Finanzmärkte ergriffenen politischen Maßnahmen gesehen werden, als das Ziel der Politik darin bestand, den Konkurs großer Finanzinstitute zu verhindern. Nun, da die EU die Bankenkrise allmählich überwunden hat, konzentriert sich die politische Debatte auf Reformen, die eine geordnete Insolvenz von Finanzinstituten und die Selbstfinanzierung von Rettungsfonds für in Schieflage geratene Großbanken ermöglichen. Mit anderen Worten konzentrieren sich die europäischen Entscheidungsträger nach der Stabilisierung der Finanzsysteme nun darauf, dafür zu sorgen, dass künftig in Krisenzeiten die Finanzinstitute und nicht die Steuerzahler die Last zu stemmen haben werden. Für die Bankenreform vorgeschlagen werden unter anderem höhere Eigenkapitalquoten, eine strengere Überwachung, die Begrenzung der Bonuszahlungen für Banker und die Erstellung von Notfallplänen („living wills“). Was die WWU angeht, muss zum Schutz der gemeinsamen Währung das System auch gestärkt werden, um mit der durch die Zahlungsunfähigkeit oder Pleite eines ihrer Mitgliedstaaten verursachten Instabilität fertig werden zu können.

3.3   Die Befürworter eines EWF haben ins Feld geführt, dass dies dem im Vertrag verankerten Konzept der verstärkten Zusammenarbeit entspreche und möglicherweise keine Änderung des Vertrags erforderlich mache. Mit einem ordnungsgemäß errichteten EWF könnten die Schwächen der WWU-Architektur ausgemerzt werden, die auf das bisherige Versagen des Stabilitätspakts sowie den offensichtlichen Mangel an Glaubwürdigkeit des Verbots, für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaats aufzukommen, zurückzuführen sind.

3.4   Wie würde ein solcher Fonds finanziert? Um das moralische Risiko - die Gefahr von Trittbrettfahrern - zu minimieren, dem sich nun Deutschland und Frankreich bei der Kofinanzierung des Rettungspakets ausgesetzt sehen, sollen nur diejenigen Länder in den EWF einzahlen, die gegen die Maastricht-Kriterien verstoßen. Ihre Beitragssätze würden nach den beiden folgenden Grundsätzen ermittelt:

jährlich 1 % der „übermäßigen Schulden“, die als die Differenz zwischen der tatsächlichen Höhe der öffentlichen Schulden (am Ende des Vorjahres) und dem in den Maastricht-Kriterien festgelegten Referenzwert von 60 % des BIP definiert sind. Für Griechenland, bei dem das Verhältnis der Verschuldung zum BIP 115 % beträgt, würde dies einem Beitrag zum EWF in Höhe von 0,55 % entsprechen.

1 % des übermäßigen Defizits, d.h. desjenigen Betrags des Defizits für ein bestimmtes Jahr, das über dem in den Maastricht-Kriterien festgelegten Referenzwert von 3 % des BIP liegt. Griechenland hätte mit seinem Defizit von 13 % des BIP einen Beitrag zum EWF zu leisten, der 0,10 % des BIP entspricht.

Für 2009 hätte der Gesamtbeitrag für Griechenland 0,65 % des BIP betragen, also wesentlich weniger als die jetzt geforderten Einsparungen.

3.5   Zusätzlich könnte sich der EWF auch Geld auf den Märkten leihen, um über die aufgelaufenen Beiträge hinaus im Bedarfsfall über ausreichende Mittel zu verfügen. Der EWF könnte mit finanzieller Unterstützung intervenieren, indem er entweder einen Teil seiner Bestände flüssig macht oder die Bürgschaft für eine Staatsanleihe eines Mitgliedstaats übernimmt. Zur Verdeutlichung lässt sich im Nachhinein errechnen, dass mit dem vorgeschlagenen Finanzierungsmechanismus im EWF seit Beginn der WWU Reserven in Höhe von 120 Mrd. EUR hätten angehäuft werden können. In Verbindung mit einer ausreichend hohen Kreditaufnahme am Markt würde dies genug Spielraum schaffen, um die Rettung eines jeden der kleineren Euroländer zu finanzieren.

3.6   In Bezug auf die Durchsetzung stehen der EU verschiedene Optionen zur Verfügung, von der Kürzung der Strukturfondsmittel über die Verweigerung neuer Kreditbürgschaften bis hin zum Ausschluss vom Geldmarkt des Euroraums. Diese Strafmaßnahmen könnten schrittweise angewandt werden, da mit jeder für sich genommen ein starker wirtschaftlicher Druck auf diejenigen Mitgliedstaaten ausgeübt werden kann, die sich nicht an die zuvor vereinbarten Reformprogramme halten.

3.7   Einer der ins Feld geführten Vorteile des vorgeschlagenen EWF besteht darin, dass über ihn eine geordnete Insolvenz eines Eurolandes abgewickelt werden könnte, das sich nicht an die Bedingungen eines Reformprogramms hält. Im Vergleich zu den Unwägbarkeiten einer Umschuldung auf den internationalen Anleihemärkten könnte der EWF den Inhabern staatlicher Schuldtitel eines zahlungsunfähigen Mitgliedstaats das Angebot machen, diese Schuldtitel zu einem Standarddiskontsatz gegen Forderungen gegenüber dem EWF einzutauschen. Auf diese Art und Weise könnten die durch die Zahlungsunfähigkeit verursachten Störungen begrenzt und auch die Verluste der Finanzinstitute verringert werden.

3.8   Die Befürworter eines EWF behaupten, dass er gegenüber einer einfachen Anrufung des IWF erhebliche Vorteile biete. Der EWF könnte bei einer geordneten Insolvenz die Federführung übernehmen, wodurch störende Spillover-Effekte auf den Anleihemarkt und andere Märkte so gering wie möglich gehalten werden könnten. Gemäß den aus der Bankenkrise gezogenen Lehren sollten die politischen Maßnahmen nun so ausgestaltet werden, dass eine Krise künftig nicht nur verhindert wird, sondern auch geeignete Vorkehrungen getroffen werden. Das Gleiche gilt für die Staatsverschuldungskrise. Sollte die Krise dann endlich vorbei sein, muss sich Europa gegen einen erneuten Ausbruch wappnen.

3.9   Das Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit von wirtschaftlicher Erholung und Schuldenabbau in Europa steht im Mittelpunkt einiger weiterer interessanter Gedankengänge. Untersuchungen zufolge wirkte sich die geforderte Haushaltsdisziplin gemäß den Maastricht-Kriterien und dem Stabilitäts- und Wachstumspakt im Vergleich zu den USA und Großbritannien dämpfend auf das Wirtschaftswachstum aus (3). Ironischerweise hat die Finanzkrise in ihrem Ursprungsland USA als politische Reaktion einen gewaltigen antizyklischen haushalts- und geldpolitischen Anschub ausgelöst. Bei der makroökonomischen Politik der Eurozone dagegen hat sich aufgrund der politischen Präferenz für Währungsstabilität statt Wirtschaftswachstum praktisch nichts bewegt. Vor dem Hintergrund des Ziels der Glaubwürdigkeit der einheitlichen Währung und der EZB ist diese Präferenz zwar nachvollziehbar, kann aber mittlerweile auch als potenzielles Hindernis für den wirtschaftlichen Aufschwung angesehen werden. Tatsächlich lässt sich mit einigem Recht behaupten, dass eine Lockerung der Schwellenwerte des Stabilitäts- und Wachstumspakts dazu beitragen könnte, die wirtschaftliche Erholung anzukurbeln und die Schuldenkrise zu beenden.

3.10   Es könnte argumentiert werden, dass jede politische Maßnahme oder institutionelle Reaktion auf die Staatsverschuldungskrise auf die Verminderung der Schulden abzielen sollte, ohne die Ziele des Europäischen Konjunkturprogramms zu gefährden. Dies könnte möglicherweise dadurch erreicht werden, dass der Schuldenabbau mit einer Ausweitung der Investitionen kombiniert wird, um die deflationären Auswirkungen des Schuldenabbaus abzufedern. Dieser Vorschlag basiert auf dem Weißbuch von Jacques Delors zum Thema Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung (1993) und beinhaltet als Herzstück die Möglichkeit eines Schuldentransfers. Ein gewisser Anteil der Staatsverschuldung jedes Mitgliedstaats würde also auf Anleihen der Europäischen Union übertragen. Bei dieser Übertragung wären die Mitgliedstaaten weiterhin verpflichtet, ihren Schuldenanteil zu bedienen, der nun in EU-Anleihen bestünde. Es würde sich daher weder um einen Schuldenerlass handeln, noch würde die Kreditaufnahme von in Schuldenschwierigkeiten geratenen Mitgliedstaaten erhöht, sondern es würden nur die Kosten des Schuldendienstes für den übertragenen Anteil gesenkt. Befürworter dieses Vorschlags argumentieren, er lasse sich im Rahmen der bestehenden Leitlinien des Vertrags durchführen. In Verbindung mit der Übertragung der Schulden wird auch vorgeschlagen, die Kreditaufnahme der Europäischen Investitionsbank (EIB) und der nationalen Finanzinstitute auszuweiten, um das Europäische Konjunkturprogramm zu finanzieren und dem Rückgang der Arbeitseinkommen und Handelstätigkeiten als Folge eines aggressiven Schuldenabbaus entgegenzuwirken (4).

3.11   Die offizielle Antwort auf die Schuldenkrise wurde nach der außerordentlichen Ratssitzung am 9. Mai 2010 formuliert. Sie beinhaltet die Schaffung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) auf der Grundlage von Art. 122 Absatz 2 AEUV („außergewöhnliche Ereignisse“) und einer zwischenstaatlichen Vereinbarung der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets. Der EFSM ist mit einem Etat von 60 Mrd. EUR ausgestattet und wird zu ähnlichen Modalitäten verwaltet wie der IWF. Darüber hinaus wurde eine Zweckgesellschaft (Special Purpose Vehicle, SPV) eingesetzt, die im Weiteren als Europäische Finanzstabilisierungsfazilität bezeichnet wird. Diese Zweckgesellschaft soll drei Jahre lang bestehen und bis zu 690 Mrd. EUR zur Verfügung haben, um Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets bei außergewöhnlichen finanziellen Schwierigkeiten zu unterstützen. Darüber hinaus begann die Europäische Zentralbank (EZB) auf den Anleihemärkten zu intervenieren, indem sie die Schuldtitel von in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Regierungen aufkaufte.

3.12   Die neuen Regelungen weisen einige wichtige Aspekte auf. Erstens handelt es sich nicht um eine billige Art der Finanzierung, da alle Zinsen und Tilgungen von dem betroffenen Mitgliedstaat selbst über die Kommission zurückgezahlt werden. In diesem Sinn ist der EFSM nicht gleichbedeutend mit dem Eintreten für die Verbindlichkeiten eines Mitgliedstaates („bail-out“) und ist daher mit Artikel 125 vereinbar. Zweitens beinhalten EFSM und EFSF keine Haushaltslinien, sondern Kreditlinien, und bleiben damit im Rahmen des Eigenmittelbeschlusses. Drittens soll die EFSF für drei Jahre zur Verfügung stehen, aber ihre Wirkung kann darüber hinaus noch mehrere Jahre fortdauern, wenn sie Anleihen ausgibt, deren Fälligkeit über diesen Zeitraum hinausreicht. Viertens sollen die über die Fazilität ausgegebenen Anleihen zu bis zu 120 % durch Garantien aller Mitgliedstaaten abgesichert und mit einer „AAA“-Einstufung versehen werden, wodurch die Kosten der Schuldenbedienung niedrig gehalten werden (5). Und letztendlich ist der EFSM auch ein handfester Beweis dafür, dass die Solidarität der EU die wichtigste Stütze der Wirtschafts- und Währungsunion bleibt.

3.13   Der Grad der Wirksamkeit der Vorschläge bezüglich des EFSM zur Überwindung der derzeitigen Schuldenkrise wird erst in den kommenden Monaten deutlich werden. Er wird auch davon abhängen, inwieweit die einzelnen Mitgliedstaaten die von EU und IWF geforderten finanzpolitischen Anpassungen tatsächlich umsetzen. Die EU hat noch einmal ihr Bestreben bekräftigt, die Haushaltsdisziplin zu verbessern und einen ständigen Krisenbewältigungsrahmen zu schaffen. Letzteres hat zu Spekulationen geführt, EFSM und EFSF könnten zu ständigen Einrichtungen ausgebaut werden, was sich jedoch schwierig gestalten würde, weil dazu die Zustimmung aller Mitgliedstaaten erforderlich wäre. Da keinerlei konkrete Vorschläge zum Umgang mit der möglichen Zahlungsunfähigkeit eines Mitgliedstaats vorliegen, muss davon ausgegangen werden, dass die Politik solche Eventualitäten nicht zulassen wird. Diese Haltung ist zwar sehr verständlich, kann aber die Möglichkeit solcher Zahlungsunfähigkeiten nicht völlig ausschließen.

4.   Lehren für die Zukunft

4.1   Allmählich wird deutlich, dass die Schuldenkrise durch eine bessere Governance in den Mitgliedstaaten und der EU zu vermeiden gewesen wäre; die Schwächen der Governance dürfen sich in Zukunft nicht wiederholen. Daher hat die Arbeitsgruppe zur wirtschaftspolitischen Koordinierung eine Reihe von Maßnahmen angekündigt, um die Überwachung der Haushalte im Einklang mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt zu verbessern. Zu diesen Maßnahmen gehören die gegenseitige Überprüfung der nationalen Haushaltsentwürfe, die frühzeitigere Verhängung von Sanktionen bei Überschreitung der Schuldenschwelle von 3 % beziehungsweise 60 %, die Einleitung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit im Fall von Verzögerungen beim Schuldenabbau und größere Unabhängigkeit der nationalen Statistikbehörden von ihrer jeweiligen Regierung.

4.2   Die wichtigsten Ratingagenturen haben während der Finanz- und Schuldenkrise, gelinde gesagt, eine fragwürdige Rolle gespielt (6). Von Bundeskanzlerin Merkel kam der Vorschlag zur Gründung einer neuen, unabhängigen Europäischen Ratingagentur in Konkurrenz zu den vorhanden großen Drei der Branche (7). Darüber hinaus gibt es den Vorschlag einer neuen Befugnis für Eurostat, Ratings über die öffentlichen Finanzen der Mitgliedstaaten zu erstellen. Mit einer solchen Befugnis hätte Eurostat im Fall der Schuldenkrise Griechenlands bereits früher eine Warnung abgeben können (8).

4.3   Kritiker werfen der Europäischen Kommission vor, sie habe es bei der Qualitätssicherung für die Daten über die nationalen öffentlichen Finanzen an Wachsamkeit und vorausschauendem Handeln fehlen lassen. Dieser Punkt verweist auf weiterreichende Probleme der Überwachung, Überprüfung und Einhaltung, die zum Kernpunkt des Scheiterns der Mechanismen des Stabilitäts- und Wachstumspakts führen. Jede längerfristige Lösung muss effektive Ansätze zur Lösung dieser Probleme beinhalten.

4.4   In Griechenland, Spanien und Portugal wurden zwar keine aus Steuern finanzierten Maßnahmen zur Rettung der Banken unternommen, aber der Umfang entsprechender Rettungspakete in anderen EU-Mitgliedstaaten und den USA war eine der Ursache für den beispiellosen Druck auf die Staatsanleihenmärkte und die Verschärfung der Krise. Wirksame Reformen des globalen Bankwesens sind dringend erforderlich, damit es nicht wieder zu einer solchen finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Instabilität kommen kann.

Brüssel, den 21. Oktober 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  KOM(2010) 367: Stärkung der wirtschaftspolitischen Koordinierung für Stabilität, Wachstum und Beschäftigung – Instrumente für bessere wirtschaftspolitische Steuerung der EU.

(2)  Dieser Vorschlag ist ausführlich beschrieben in D. Gros und T. Mayer, „How to deal with sovereign debt default in Europe: Towards a Euro(pean) Monetary Fund.“ Politikbericht Nr. 202, Centre for European Policy Studies, Mai 2010. Viele der in dieser Stellungnahme dargelegten Argumente sind dieser scharfsinnigen Analyse entnommen.

(3)  Vgl. J.P. Fitoussi und F. Saraceno, „Europe: How deep is a Crisis? Policy Responses and Structural Factors Behind Diverging Performances“. Journal of Globalisation and Development. Band 1 Ausgabe 1, Berkeley Electronic Press. 2010.

(4)  Dieser Vorschlag ist ausführlich beschrieben in S. Holland: „A European Monetary Fund, Recovery and Cohesion“ in Insight, http://www.insightweb.it/web/node/136 (aufgerufen am 10.6.2010).

(5)  Am 21. September kündigten die wichtigsten Ratingagenturen allesamt an, die EFSF-Anleihen mit einer „AAA“-Einstufung zu versehen.

(6)  Eine ausführliche Darstellung von Schwachpunkten der Ratingagenturen findet sich in dem Bericht der U.S. Securities and Exchange Commission: (SEC) „Summary Report of Issues Identified in the Commission Staff’s Examinations of Select Credit Rating Agencies“ http://www.sec.gov/news/studies/2008/craexamination070808.pdf (besucht am 10.6.2010).

(7)  Die Irish Times zitiert die deutsche Bundeskanzlerin mit der Aussage, dass die neue Agentur „natürlich unabhängig arbeiten muss“ und dafür ihren Auftrag „im Sinne einer nachhaltigen, eher langfristig orientierten Wirtschaft wahrnehmen würde“. Irish Times vom 21. Mai 2010.

(8)  Während unseres Besuchs bei Eurostat wurde uns gesagt, Eurostat habe zuvor mehrfach vor dem hohen Defizit Griechenlands und vor der Staatsverschuldungskrise gewarnt, sei aber damit auf taube Ohren gestoßen.