11.2.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 44/68


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Der Vertrag von Lissabon und die Funktionsweise des Binnenmarktes“ (Initiativstellungnahme)

2011/C 44/12

Berichterstatter: Jorge PEGADO LIZ

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 18. Februar 2010, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

„Der Vertrag von Lissabon und die Funktionsweise des Binnenmarktes“.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch nahm ihre Stellungnahme am 15. Juni 2010 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 464. Plenartagung am 14./15. Juli 2010 (Sitzung vom 14. Juli) mit 129 Stimmen gegen 2 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon war ursprünglich auf Januar 2009 festgelegt, der Vertrag trat jedoch erst nach Abschluss der Ratifizierung durch alle 27 Mitgliedstaaten zum 1. Dezember 2009 in Kraft. Dabei muss gesagt werden, dass der Vertrag weiter komplex und schwer verständlich ist.

1.2   Aufgrund der vergleichenden Untersuchung im Informationsbericht dazu (CESE 241/2008) kann festgestellt werden, dass der Binnenmarkt von der Struktur her zwar nicht verändert wird, er sich jedoch durch den neuen Lissabon-Vertrag auf sozialere Weise zu definieren scheint. So scheint der Vertrag von Lissabon entgegen der Befürchtung, die der Verfassungsvertrag mit dem Ausdruck „Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb“ in einigen geweckt haben könnte, dem Binnenmarkt stärker sozial ausgerichtete Ziele zu verleihen, denn er dient einer „sozialen Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt“.

1.3   Die bisher bekannten Texte zur künftigen politischen Ausrichtung der Kommission, zur EU-2020-Strategie und zahlreiche Erklärungen von Kommissionsmitgliedern und Spitzenpolitikern auf nationaler Ebene lassen den Willen erkennen, sich auf den Weg zu einer fortschrittlichen, stärker an den Bürgerinnen und Bürgern orientierten Dimension des Binnenmarktes zu machen.

1.4   Diese Dimension wurde gestärkt durch den ausdrücklichen Verweis auf die Rechtsverbindlichkeit der Charta der Grundrechte, wobei die „Charta … und die Verträge … rechtlich gleichrangig [sind]“, allerdings mit einigen Einschränkungen in bestimmten Mitgliedstaaten.

1.5   Andererseits wird der Rechtsetzungsprozess im Zusammenhang mit dem Binnenmarkt durch das Tätigwerden der nationalen Parlamente gekennzeichnet sein, die aufgerufen sind, auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zu achten, durch das die geteilten Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten geregelt werden. Auf der Grundlage zweier Protokolle - dem über die „Rolle der nationalen Parlamente“ und dem über die „Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“ - wird ihnen dabei sogar die Möglichkeit gegeben, eine Überprüfung eines Legislativvorschlags in erster Lesung zu verlangen; somit wird die demokratische Mitwirkung am Rechtsetzungsprozess der EU gestärkt.

1.6   Wenn das präventive Einschreiten der nationalen Parlamente ordnungsgemäß funktioniert und sich die Kontrolle der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips als wirksam und gut genug erweist, damit der „Frühwarnmechanismus“, der im Vertrag von Lissabon von der Verfassung übernommen wurde, sich voll entfalten kann, könnte es sein, dass die Gesetzgebung der Union von den Mitgliedstaaten weniger als Eingriff in die nationalen Zuständigkeiten kritisiert und von den Bürgerinnen und Bürgern der Union weniger als ein Zeichen eines gewissen „Brüsseler Zentralismus“ empfunden wird. Hierfür wäre es jedoch erforderlich, dass die nationalen Parlamente ihre Vernetzung verstärken, denn der Anwendungsbereich und die Wirksamkeit des „Frühwarnmechanismus“ - obgleich er ein individuelles, jeder einzelnen Kammer zuerkanntes Recht ist - werden davon abhängen, ob die nationalen Parlamente in der Lage sind, sich kollektiv zu organisieren.

1.7   Im Vertrag von Lissabon wird ferner das „ordentliche Gesetzgebungsverfahren“ (Mitentscheidung nach Artikel 251 EGV) auf den Binnenmarkt ausgeweitet, wie dies insbesondere Artikel 48 AEUV über die auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit für die Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer notwendigen Maßnahmen bezeugt.

1.8   So soll mit dem Vertrag von Lissabon die Entwicklung des Binnenmarkts durch eine stärkere Ausweitung der als „ordentliches Gesetzgebungsverfahren“ bezeichneten Mitentscheidung erleichtert, den Institutionen der Union jedoch ein neuer Entscheidungspartner zur Seite gestellt werden, nämlich die nationalen Parlamente, mit denen bei der Verabschiedung aller auf den Binnenmarkt anzuwendenden Legislativmaßnahmen künftig gerechnet werden muss.

2.   Einleitung

2.1   In dem Informationsbericht zu den Auswirkungen des Vertrags von Lissabon auf den Binnenmarkt (1), den die Fachgruppe am 13. Juni 2008 angenommen hatte, wurde für den Informationsbericht eine vergleichende Analyse in Tabellenform vorgeschlagen. In der Tabelle wurden die für den Binnenmarkt relevanten Bestimmungen des Vertrags von Lissabon, des zum damaligen Zeitpunkt noch in Kraft getretenen EG-Vertrags sowie des Verfassungsvertrags (der nie ratifiziert wurde) einander gegenübergestellt und mit Bemerkungen der Binnenmarktbeobachtungsstelle zu den rechtlichen Auswirkungen des am 13. Dezember 2007 in Lissabon angenommenen Vertrags versehen.

2.2   Ursprünglich sollte der Vertrag von Lissabon am 1. Januar 2009 in Kraft treten; dieser Zeitplan wurde jedoch durch seine Ablehnung im irischen Referendum am 12. Juni 2008 durcheinander gebracht.

2.3   Nachdem Irland Garantien zu seiner nationalen Souveränität gegeben und die Beibehaltung eines eigenen EU-Kommissars für jeden einzelnen EU-Mitgliedstaat zugesichert worden waren, wurde der Vertrag in einem Referendum am 3. Oktober 2009.

2.4   Durch das Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts vom 3. November 2009, in dem es bestätigte, dass der Vertrag durchaus mit dem tschechischen Grundgesetz vereinbar ist, konnte die Verzögerung der Ratifizierung beendet werden. Mit der Unterschrift von Präsident Vaclav Klaus wurde der Ratifizierungsprozess abgeschlossen, und der Vertrag trat schließlich am 1. Dezember 2009 in Kraft.

2.5   Wegen des langen Zeitraums zwischen der Verabschiedung des EWSA-Informationsberichts und dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, aber auch mit Blick auf die Empfehlung der Kommission vom 26. Juni 2009 zur „Optimierung der Funktionsweise des Binnenmarkts“ sowie im Hinblick auf ihre am 3. März 2010 angenommene Mitteilung „Europa 2020: Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ sieht sich der Ausschuss dazu veranlasst, den vorgenannten Informationsbericht in eine Initiativstellungnahme umzuwandeln und ihn dabei nicht nur zu aktualisieren, sondern die Gelegenheit auch dazu zu nutzen, sich erneut in dieser Frage zu äußern und gleichzeitig neue, aufgrund der fehlenden Distanz zum Vertrag von Lissabon noch nicht behandelte Fragen zu erörtern. Die Lesbarkeit des Vertrags lässt im Übrigen zu wünschen übrig, und die letzte konsolidierte Fassung wurde am 30. März 2010 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht (2).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1   Die politischen Ereignisse, die sich im Zeitraum von der Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon am 13. Dezember 2007 bis zu seinem Inkrafttreten am 1. Dezember 2009 begeben haben, haben zu keinen grundsätzlichen Änderungen der für den Binnenmarkt relevanten Bestimmungen geführt, sondern sich in erster Linie auf institutioneller Ebene ausgewirkt.

3.1.1   So hat der Europäische Rat auf seiner Tagung vom 11./12. Dezember 2008 die Anliegen der irischen Bevölkerung, die der irische Premierminister dargelegt hat, aufmerksam zur Kenntnis genommen und ist übereingekommen, dass – sofern der Vertrag von Lissabon in Kraft tritt – im Einklang mit den erforderlichen rechtlichen Verfahren ein Beschluss gefasst wird, wonach weiterhin ein Staatsangehöriger jedes Mitgliedstaats der Kommission angehören wird.

3.1.2   Der Europäische Rat war auf seiner Tagung am 18./19. Juni 2009 übereingekommen, Irland rechtlich bindend zuzusichern, dass bestimmte Angelegenheiten (wie die Steuerpolitik, das Recht auf Leben, die Bildung und die Familie sowie Irlands traditionelle Politik der militärischen Neutralität) durch das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nicht berührt werden, wobei diese Rechtsgarantie weder die Beziehungen zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten noch den Inhalt und die Anwendung des Vertrags von Lissabon ändert.

3.1.3   Außerdem hat der Europäische Rat eine feierliche Erklärung zu den Arbeitnehmerrechten und den öffentlichen Dienstleistungen angenommen.

3.2   Die Verspätung der Tschechischen Republik bei der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon hatte keine unmittelbaren Folgen für den Vertrag. Auf der Tagung des Europäischen Rates vom 29./30. Oktober 2009 wurde vereinbart, dass dem nächsten Beitrittsvertrag ein Protokoll beigefügt wird, nach Maßgabe dessen die Tschechische Republik, das Vereinigte Königreich sowie Polen von der Anwendung der Grundrechtecharta ausgenommen sind.

3.3   Der Informationsbericht zum Thema „Die Auswirkungen des Vertragsentwurfs auf die Funktionsweise des Binnenmarkts“ einschließlich seines Anhangs ist nach wie vor aktuell und als Grundlage für die rechtliche Analyse in der vorliegenden Stellungnahme herangezogen werden kann, und somit als integraler Bestandteil dieser Stellungnahme anzusehen ist.

3.4   In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Vertrag von Lissabon auch in der konsolidierten Fassung ein komplexer Text ist. Lektüre und Verständnis gestalten sich selbst für fachlich kompetente Juristen schwierig, da er aus einer Reihe von Änderungen des Vertrags über die Europäische Union (EUV), in dem der allgemeine Rahmen der Europäischen Union sowie deren grundlegende Prinzipien niedergelegt sind, sowie aus dem Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) hervorgegangen ist. Letzterer wird nunmehr zum Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und enthält die Modalitäten für die Umsetzung der im EUV niedergelegten Prinzipien.

3.5   Da im Zeitpunkt der Ratifizierung kein offizieller, konsolidierter Wortlaut vorlag, ratifizierten die Mitgliedstaaten einen Vertragstext, dem es an Klarheit und Verständlichkeit mangelte, und in dem der Großteil der neuen Beschlussfassungsverfahren - außer in den dem Vertrag beigefügten Protokollen - nicht besonders präzise definiert und deren Praxistauglichkeit noch nicht getestet worden war.

3.6   Darüber hinaus war der in Lissabon unterzeichnete Vertragstext im Gegensatz zum Verfassungsvertrag weder dem Europäischen Parlament noch dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, dem Ausschuss der Regionen und den nationalen bzw. regionalen Parlamenten bzw. den zivilgesellschaftlichen Organisationen auf europäischer, nationaler oder regionaler Ebene zur Konsultation vorgelegt worden. Die Kommission und der Rat haben im Unterschied zu der im Hinblick auf die „Verfassung“ gewählten Vorgehensweise erst nach der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon beschlossen, Publikationen mit Informationen und Erläuterungen des Inhalts und der Vorteile des neuen Vertrags zu veröffentlichen.

3.7   Bei der Erarbeitung des Vertrags von Lissabon wurde erneut auf die Methode zurückgegriffen, bestehende Verträge im Rahmen einer Regierungskonferenz zu ändern, an der ausschließlich Vertreter der Mitgliedstaaten teilnehmen. Die „Verfassung“ war hingegen im Rahmen eines Konvents erarbeitet worden, der zu weiten Teilen aus Abgeordneten der nationalen Parlamente bestand - auch aus den künftigen Mitgliedstaaten von 2004 und 2007 - sowie aus Abgeordneten des Europäischen Parlaments, Vertretern der damals 15 Mitgliedstaaten und 12 Kandidatenländer sowie der Türkei, der Europäischen Kommission und, als Beobachter, der Zivilgesellschaft, darunter auch Mitglieder des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses.

3.8   Im Vergleich zur Verfassung, die einen stärker föderalistischen Charakter zu haben schien, nahmen die Mitgliedstaaten beim Vertrag von Lissabon die Zügel eindeutig wieder stärker in die Hand. Dies schlug sich insbesondere in der Streichung der von der Verfassung eingeführten Symbole nieder, die die Schaffung eines Bundesstaates suggerieren konnten (Flagge, Hymne, Leitspruch, 9. Mai als Europatag).

3.9   Im Vertrag von Lissabon werden die drei Säulen miteinander verschmolzen, indem dem EUV und dem AEUV die gleiche Rechtskraft zugestanden wird (3). Darüber hinaus wird der Europäischen Union als Rechtsnachfolgerin der Europäischen Gemeinschaft eine eigene Rechtspersönlichkeit verliehen, über die bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nur die Europäische Gemeinschaft verfügte.

3.10   Der Vorrang des EU-Rechts vor nationalem Recht war in Artikel I Absatz 6 des Verfassungsvertrags als eines der grundlegenden Prinzipien der EU fortgeschrieben worden. Zur Beendigung des Konflikts, der sich rund um die Verankerung dieses Rechtsvorrangs in der Verfassung entzündet hatte - wobei dies eigentlich nur die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofes widerspiegelte -, wurde der Rechtsvorrang schließlich nur in der Erklärung Nr. 17 niedergelegt. Die Regierungskonferenz beschloss diesbezüglich, dem Vertrag von Lissabon ein Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates über den Rechtsvorrang beizufügen, in dem auf die Rechtsprechung als Quelle dieses Rechtsvorrangs hingewiesen und dieser als Grundpfeiler des Gemeinschaftsrechts bezeichnet wird.

3.11   Durch den Vertrag von Lissabon wird der Rechtsstatus der am 7. Dezember 2000 in Nizza proklamierten Grundrechtecharta geändert. Auf dem Gipfel in Nizza war der Charta damals nämlich kein rechtlich bindender Charakter verliehen worden, so dass sie eine Grundsatzerklärung ohne erklärte rechtliche Bedeutung geblieben war.

3.11.1   Durch ihre Aufnahme in die Verfassung wäre die Charta jedoch rechtsverbindlich geworden. Da die Verfassung aber nicht ratifiziert wurde, blieb die Rechtverbindlichkeit praktisch Makulatur (4). Mit dem Vertrag von Lissabon wurde diese Situation bereinigt, allerdings wurden nicht alle Neuerungen übernommen, die durch die Verfassung eingeführt worden wären (5).

3.11.2   In der Tat ist in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union in der durch den Vertrag von Lissabon geänderten Fassung niedergelegt, dass „die Charta der Grundrechte und die Verträge […] rechtlich gleichrangig“ sind, was bedeutet, dass die Organe und sonstigen Einrichtungen der Europäischen Union gehalten sind, die in der Charta verankerten Rechte zu achten. Dies gilt bei der Umsetzung des EU-Rechts in gleichem Maße für die EU-Mitgliedstaaten (Regierungen, Verwaltungen, Gerichte).

3.11.3   Im Protokoll Nr. 30 über die Anwendung der Charta auf Polen und das Vereinigte Königreich ist nichtsdestoweniger niedergelegt, dass die Charta keine Ausweitung der Befugnis des Gerichtshofs der Europäischen Union oder eines Gerichts Polens bzw. des Vereinigten Königreichs zu der Feststellung bewirkt, dass die Rechtsvorschriften Polens oder des Vereinigten Königreichs nicht mit der Charta im Einklang stehen.

3.11.4   Zudem wird in diesem Protokoll bekräftigt, dass mit Titel IV der Charta keine für Polen oder das Vereinigte Königreich geltenden einklagbaren Rechte geschaffen werden, soweit Polen bzw. das Vereinigte Königreich solche Rechte nicht in ihrem nationalen Recht vorgesehen haben.

3.11.5   Schließlich wird klargestellt, dass die Bestimmungen der Charta auf Polen und das Vereinigte Königreich nur in dem Maße Anwendung finden, in dem die darin enthaltenen Rechte oder Grundsätze durch das Recht oder die Praxis dieser Mitgliedstaaten anerkannt sind.

3.11.6   In der Praxis wird sich das Protokoll aber nur sehr bedingt auswirken: Nach Maßgabe des Grundsatzes der einheitlichen Anwendung des Rechts der Europäischen Union muss der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union als Teil der Rechtsordnung der Union in sämtlichen Mitgliedstaaten Rechnung getragen werden. Wenn der Gerichtshof also in einem seiner Urteile auf Titel IV der Charta verweisen oder diesen auslegen würde, müssten sich auch die Gerichte im Vereinigten Königreich und Polen diesem Urteil beugen, und zwar unabhängig davon, ob sie Verfahrensbeteiligte sind.

3.12   Die Möglichkeit eines Mitgliedstaates, freiwillig aus der Europäischen Union auszutreten (Artikel 50 EUV), wurde aus der Verfassung in den Vertrag von Lissabon übernommen. Auf der Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates handelt die EU mit dem Mitgliedstaat ein Abkommen über die Einzelheiten aus und schließt das Abkommen, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird.

3.13   Ein solcher freiwilliger Austritt ist nicht zu verwechseln mit der Aussetzung der Rechte eines Mitgliedstaates, der sich eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Artikel 7 EUV genannten Werte (Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Wahrung der Menschenrechte usw.) (6) zu schulde kommen lässt.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1   Auf eine Reihe Aspekte politischer und ökonomischer Natur, die sich im Zuge der Gestaltung der Binnenmarktpolitik nach Maßgabe des Vertrags von Lissabon herauskristallisiert haben, wie z.B. die neue Zusammensetzung des Europäischen Parlaments und der Kommission „Barroso II“, soll an dieser Stelle detaillierter eingegangen werden.

4.2   In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Europäische Kommission bereits im November 2007 im Anschluss an die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 4. September 2007 zur „Überprüfung des Binnenmarkts: Beseitigung von Schranken und Mängeln anhand einer verbesserten Umsetzung und Durchsetzung“, eine wichtige Mitteilung zum Thema „Ein Binnenmarkt für das Europa des 21. Jahrhunderts“ vorgelegt hat, in der sie eine „neue Vision“ für einen Binnenmarkt für alle skizziert, „der mehr noch als bisher Europa unter den Bedingungen der Globalisierung stärkt, Wachstum und Beschäftigung fördert, gerechte Preise gewährleistet und zur sozialen Sicherung sowie zum Umweltschutz beiträgt“. Der EWSA hatte in zwei Stellungnahmen (7) seine Position bekräftigt, wonach der Binnenmarkt seit jeher ein Instrument zum Wohle aller Bürgerinnen und Bürger war, –einschließlich der freien Berufe, der Arbeitnehmer und Verbraucher.

4.3   In einer Mitteilung vom 6.11.2008 (8) hatte die Kommission darauf hingewiesen, dass die Vorteile des Binnenmarktes im Zusammenhang mit dem Ausbau der Verwaltungszusammenarbeit stehen. In ihrem Bericht über den Stand des Binnenmarkt-Informationssystems (IMI) forderte sie die Behörden der Mitgliedstaaten dazu auf, eng zusammenzuarbeiten, um gegenseitiges Vertrauen in die jeweiligen Systeme aufzubauen (9).

4.4   In ihrer Empfehlung vom 29.6.2009 zu den Maßnahmen zur Verbesserung der Funktionsweise des Binnenmarktes (10) stellte die Kommission mehrere Schwächen in Bezug auf ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes fest, in erster Linie weil die Vorschriften nicht korrekt angewandt werden und ihre Einhaltung nicht kontrolliert werde. Die Kommission schlug ferner vor, im Rahmen einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit ergänzend zu den Maßnahmen der Mitgliedstaaten konkrete Maßnahmen zu ergreifen.

4.4.1   Als Maßnahmen wird unter anderem empfohlen, die Einhaltung der Vorschriften stärker zu kontrollieren, alternative Möglichkeiten der alternativen Streitschlichtung zu entwickeln, die nationalen Rechtsvorschriften regelmäßig zu bewerten sowie die Bürger und die Unternehmen über ihre Rechte im Binnenmarkt zu informieren.

4.5   Die Finanzkrise hat sich insbesondere in Europa ausgebreitet und nach Feststellungen des Ausschusses wirtschaftliche und soziale Folgen nach sich gezogen, die ebenso unerwartet wie unvorhersehbar waren: die schlimmste Rezession seit den 30er Jahren und mit mehr als 23 Millionen Arbeitslosen (11) eine Arbeitslosenquote, wie sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr zu beobachten war. Diese Situation veranlasste die Kommission dazu, im Vorfeld der Erneuerung ihres Mandats und nachdem sie bei der De-Larosière-Gruppe (12) eine eingehende Studie zu den Ursachen und den notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise in Auftrag gegeben hatte, in diesem neuen wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Rahmen neue politische Leitlinien für die Zukunft festzulegen.

4.6   In diesem Kontext hat Präsident Barroso in seinen „Politischen Leitlinien für die neue Kommission“ die allgemeinen Vorgaben für einen „Binnenmarkt des 21. Jahrhundert“ festgelegt. Darin prangert er die Beeinträchtigungen der Entwicklung des Binnenmarktes unter dem Vorwand der Krise an und verteidigt den Binnenmarkt erneut als Eckstein der Verträge, der der beste Garant für langfristigen Wohlstand sei, wenn er an die Herausforderungen der Wirtschaft von morgen angepasst werde. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass das Ziel der Wiederbelebung des Binnenmarktes als der wichtigsten Triebkraft der europäischen Wirtschaft nur dann erreicht werden kann, wenn eine aktive Verbraucherschutzpolitik den Verbrauchern das notwendige Vertrauen gibt, den Binnenmarkt in vollem Umfang zu nutzen.

4.6.1   Gleichzeitig hat der Präsident der Kommission Herrn Mario Monti, ehemals in der Kommission für den Binnenmarkt zuständig, damit beauftragt, einen Bericht über eine neue Strategie für den Binnenmarkt zu verfassen, der am 9. Mai – dem Europatag – im Europäischen Parlament vorgestellt wurde. Nach einer Hervorhebung der wesentlichen Hindernisse, die im Binnenmarkt zu überwinden sind, werden in dem Bericht Initiativen zur Stärkung des Binnenmarktes mit Rücksichtnahme auf soziale und ökologische Überlegungen vorgeschlagen. Ein weiterer Bericht mit dem Titel „Projekt Europa 2030 – Herausforderungen und Chancen“, erstellt von der Reflexionsgruppe zur Zukunft Europas unter dem Vorsitz des früheren spanischen Ministerpräsidenten Felipe González, wurde am selben Tag dem Europäischen Rat vorgestellt. Im Mittelpunkt dieses Berichts stehen die mittelfristigen wirtschaftlichen Ziele, wobei auch auf die entscheidende Bedeutung der Stärkung und der Vervollständigung des Binnenmarktes verwiesen wird, mit dem Ziel: „Eine allseits gewinnbringende Lösung finden: ein neuer Pakt für den Binnenmarkt“. ehemals in der Kommission für den Binnenmarkt zuständig, Die Schlussfolgerungen aus diesem Bericht zur Ordnungspolitik werden sicherlich großen Einfluss auf die Zukunft des Binnenmarktes haben.

4.7   Vor dem Hintergrund dieser neuen politischen Leitlinien ist die Strategie in der Nachfolge der Lissabon-Strategie zu betrachten, deren Realisierung allerdings in Teilen gescheitert ist. In der „Europa 2020“-Strategie scheint dem Binnenmarkt jedoch keine allzu große Bedeutung beigemessen zu werden, abgesehen von einigen Anmerkungen im Kapitel „Fehlende Schnittstellen und Hindernisse“, in dem in Zusammenhang mit dem Binnenmarkt eine nachlassende Euphorie festgestellt wird.

4.7.1   Um an dieser Stelle Abhilfe zu schaffen, kündigt die Kommission eine Rechtsetzung an, bei der sie insbesondere stärker auf Verordnungen als auf Richtlinien zurückgreift, die Rechtsvorschriften dem digitalen Zeitalter anpasst und ein Europäisches Vertragsrecht anstrebt, das insbesondere bei Verbraucherverträgen fakultativen Charakter haben soll. Michel BARNIER, in der neuen Kommission für den Binnenmarkt zuständig, beharrte indes bei seiner Anhörung vor dem Europäischen Parlament und insbesondere auch bei seinen jüngsten Erklärungen in Paris auf der Notwendigkeit den einzelnen Bürger mit dem Binnenmarkt zu versöhnen, wobei letzterer „im Dienste eines Gesellschaftsprojekts stehen müsse.“ Wie auch Kommissionsmitglied Viviane REDING unterstreicht, ist der Binnenmarkt nach wie vor „das Kronjuwel der EU“ (13).

4.8   Zugleich könnte die mit Artikel 11 Absatz 4 EUV eingeführte Bürgerinitiative, die bereits in einer ausführlichen Studie des Ausschusses (14) behandelt wurde, beträchtliche Konsequenzen für die künftige Entwicklung des Binnenmarktes haben.

4.8.1   Mit diesem Instrument der Bürgerbeteiligung eröffnen sich nämlich neue Möglichkeiten für Themen, die für die Zivilgesellschaft von Bedeutung sind und bislang entweder aus mangelndem Interesse oder mangelndem politischem Willen seitens der EU-Organe nicht behandelt wurden (Satzung der Europäischen Stiftung (15), europäische Sammelklage (16), europäisches Streikrecht usw.).

5.   Besondere Bemerkungen

5.1   Die Bemerkungen zu den Vorschriften in Bezug auf den Binnenmarkt im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) aus dem Informationsbericht bleiben weiter aktuell (siehe u.a. Ziffer 6 a).

5.2   Vier der 37 Protokolle haben mehr oder weniger direkte Auswirkungen auf den Binnenmarkt:

Zunächst das Protokoll Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, da diese im Rahmen der geteilten Zuständigkeit zwischen der Union und den Mitgliedstaten Anwendung finden sollen und der Binnenmarkt Teil der geteilten Zuständigkeitsbereiche ist.

Auch das Protokoll Nr. 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb wird Auswirkungen auf den Binnenmarkt haben. Es sieht im Wesentlichen vor, dass der Binnenmarkt ein System umfasst, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt.

Das Protokoll Nr. 25 über die Ausübung der geteilten Zuständigkeit wird aus denselben Gründen wie das Protokoll Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit Auswirkungen auf den Binnenmarkt haben.

Auch das Protokoll Nr. 26 über Dienste von allgemeinem Interesse wird im Binnenmarkt sicherlich eine Rolle spielen. Darin wird erläutert, dass diese Dienste zu den gemeinsamen Werten der Union zählen, und es wird nachdrücklich der weite Ermessensspielraum der nationalen, regionalen und lokalen Behörden in der Frage unterstrichen, wie Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu organisieren sind. In dem Protokoll werden auch die Vielfalt und die möglichen Unterschiede bei den Bedürfnissen und Präferenzen der Nutzer gerechtfertigt, die aus unterschiedlichen geografischen, sozialen oder kulturellen Gegebenheiten folgen können. Schließlich wird nachdrücklich auf die Förderung des universellen Zugangs und das hohe Niveau in Bezug auf Qualität, Sicherheit und Bezahlbarkeit dieser Dienstleistungen sowie die Förderung der Nutzerrechte hingewiesen. Artikel 2 des Protokolls Nr. 26 führt insofern eine Neuerung ein, als erstmalig im Primärrecht „nichtwirtschaftliche Dienste von allgemeinem Interesse“ erwähnt werden, und schreibt die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fest, diese Dienste zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu organisieren.

5.3   Zwei der Erklärungen werden wahrscheinlich Auswirkungen auf den Binnenmarkt haben. Zum einen die Erklärung Nr. 18 zur Abgrenzung der Zuständigkeiten, in der daran erinnert wird, dass gemäß dem in den Verträgen vorgesehenen System der Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten verbleiben und die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit wahrnehmen, sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat oder entschieden hat, diese nicht mehr auszuüben.

5.3.1   Die Zuweisung von Zuständigkeiten an die Gemeinschaft wurde vom Gerichtshof bereits sehr früh einer Übertragung von Befugnissen durch die Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaftsorgane gleichgesetzt, wie das Urteil Costa gegen ENEL von 1964 zeigt, in dem die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft wie folgt definiert wird: „… eine Gemeinschaft für unbegrenzte Zeit, die mit eigenen Organen […] und insbesondere mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist“ (Rechtssache 6/64, Sammlung der Rechtsprechung S. 1253)

5.3.2   Zum anderen die Erklärung Nr. 42, in der erläutert wird, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union das Prinzip der Einzelermächtigung keine Grundlage dafür bieten kann, den Bereich der Unionsbefugnisse über den allgemeinen Rahmen hinaus auszudehnen, der sich aus der Gesamtheit der Bestimmungen der Verträge ergibt.

6.   Wesentliche Auswirkungen auf die Binnenmarktpolitik

6.1   Was konkret die Änderungen der Vertragsbestimmungen im Zusammenhang mit der Binnenmarktpolitik betrifft, ist Folgendes hervorzuheben:

a)

Der Ersatz der Wörter „Gemeinsamer Markt“ durch „Binnenmarkt“ veranschaulicht einen qualitativen Wandel von einem gemeinsamen Markt hin zu einem Binnenmarkt, wodurch in der Rechtslehre kontroverse Begriffe geklärt werden können und der Gedanke verstärkt wird, dass die EU nicht nur ein freier Markt im rein wirtschaftlichen Sinne einer Freihandelszone, sondern eher ein Binnenmarkt für die Bürger ist (Artikel 26 AEUV) (17);

b)

Bei der Stärkung und detaillierteren Definition des Subsidiaritätsprinzips ist festzustellen, dass der im Protokoll Nr. 30 des EG-Vertrags verankerte Vorzug von Richtlinien vor Verordnungen durch das Protokoll Nr. 2 des Lissabon-Vertrags aufgegeben und aufgehoben wurde;

c)

Zur Überwachung der Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit wird den nationalen Parlamenten praktisch ein „Vetorecht“ eingeräumt (festgelegt auf ein Drittel der Gesamtzahl der den nationalen Parlamenten zugewiesenen Stimmen). Zudem kann ein einziges nationales Parlament eine Legislativinitiative im Bereich des Familienrechts ablehnen (Artikel 81 AEUV);

d)

Dem Europäischen Parlament werden dank der Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens neue Befugnisse zuerkannt, das in „ordentliches Gesetzgebungsverfahren“ umbenannt wird. In Haushaltsfragen wird es auf eine Ebene mit dem Rat gestellt und es wird den Präsidenten der Kommission wählen. Das Europäische Parlament setzt sich nach Maßgabe des Vertrags von Lissabon aus „Vertretern der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger“ zusammen, während der EG-Vertrag von „Vertretern der Völker der … Staaten“ spricht;

e)

Ein Mitentscheidungsverfahren (ordentliches Gesetzgebungsverfahren) mit einem neuen System der qualifizierten Mehrheit der Stimmen im Rat (18) wird sich auf zahlreiche neue Bereiche beziehen;

f)

Die Mitgliedstaaten haben die Bezugnahme auf „einen Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb“ aus den Zielen der Union herausgenommen. Die Wettbewerbspolitik wird als ein „für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderliches“ Instrument neu formuliert, während der Verfassungsvertrag durch die Aufnahme eines „Binnenmarkts mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb“ unter die Ziele der Union bei manchem Befürchtungen hervorgerufen hatte;

g)

Auf einer neuen Sicht auf die Interessen der Verbraucher und der KMU beruhen das „Paket“ Neue Vision und die Mitteilung „Ein Binnenmarkt für das Europa des 21. Jahrhunderts“ (19);

h)

Mit einer neuen Konzeption der Dienste von allgemeinem Interesse (Artikel 14 AEUV und Protokoll Nr. 26) werden die Zuständigkeiten der Union und der weite Ermessensspielraum der nationalen, regionalen und lokalen Behörden geklärt, die in der Mitteilung „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse unter Einschluss von Sozialdienstleistungen: Europas neues Engagement“ (20) erörtert wurden, wobei vorgeschlagen wird, den Rahmen der EU für die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zu konsolidieren;

i)

Deutlichere Bemühungen gelten der Einbeziehung der sozialen Aspekte der Verwirklichung des Binnenmarkts (Bekämpfung von Ausgrenzung und Diskriminierung, Förderung der Gerechtigkeit, des sozialen Schutzes und der Gleichberechtigung der Geschlechter, Solidarität zwischen den Generationen, Schutz der Rechte von Kindern) in Verbindung mit der Mitteilung „Chancen, Zugangsmöglichkeiten und Solidarität: eine neue gesellschaftliche Vision für das Europa des 21. Jahrhunderts“ (21);

j)

Der Vertrag von Lissabon enthält insofern eine Neuerung, als der Bereich für Möglichkeiten einer verstärkten Zusammenarbeit auf sämtliche Tätigkeitsfelder der Union mit Ausnahme des Bereichs der ausschließlichen Zuständigkeit der Union ausgeweitet (Artikel 20 EUV) werden, sofern sich mindestens neun Mitgliedstaaten beteiligen (unabhängig von der Gesamtzahl der Mitgliedstaaten). Maßgebend dafür ist ein Ratsbeschluss mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments (Artikel 329 Absatz 1 AEUV) und dies könnte somit Folgen u.a. für den Binnenmarkt, den Energiemarkt, die Zuwanderungspolitik und den Katastrophenschutz haben.

Brüssel, den 14. Juli 2010

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI


(1)  CESE 241/2008 – INT/393 (nicht im ABl. veröffentlicht).

(2)  ABl. C 83 vom 30.3.2010 – Bezugnahmen auf den Vertrag von Lissabon erfolgen nunmehr stets auf diese konsolidierte Fassung.

(3)  In Artikel 1 Absatz 3 des AEUV werden EUV und AEUV gleichgestellt, obwohl der Gerichtshof in seinem Urteil vom 13. September 2005 zur Anwendung des Strafrechts im Umweltschutz den Vorrang des EGV vor dem EUV festgestellt hatte.

(4)  Obwohl die Charta keinen rechtlich bindenden Charakter hat, nimmt der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften dennoch häufig darauf Bezug. Siehe diesbezüglich insbesondere folgende Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit: Urteil des Gerichtshofes vom 14. Februar 2008 in der Rechtssache C 244/06 Dynamic Medien Vertriebs GmbH gegen Avides Media AG zum freien Warenverkehr. In Ziffer 41 seines Urteils verweist der Gerichtshof auf Artikel 24 Absatz 1 der Charta, in dem niedergelegt ist, dass Kinder Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge haben, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Urteil des Gerichtshofes, ebenfalls vom 14. Februar 2008, in der Rechtssache Varec SA gegen den belgischen Staat zur Niederlassungsfreiheit. In Ziffer 48 dieses Urteils verweist der Gerichtshof auf Artikel 7 der Grundrechtecharta, in dem das Recht auf Achtung des Privatlebens niedergelegt ist.

(5)  Im Entwurf des Vertrags von Lissabon vom 23. Juli 2007 (CIG 3/07) war in einer Erklärung Nr. 11 eine feierliche Proklamation der Grundrechtecharta durch die drei EU-Organe am Tag der Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon vorgesehen; zur Rechtsverbindlichkeit der Charta gab es hingegen keine Bestimmung.

Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union wurde am Mittwoch, dem 12. Dezember 2007 von den drei EU-Organen in Straßburg zum zweiten Mal feierlich proklamiert. Diese zweite Proklamation war notwendig, weil der Charta seit ihrer ersten Proklamation auf dem Gipfel in Nizza im Dezember 2000 Erläuterungen und Fußnoten hinzugefügt worden waren.

(6)  In Artikel 7 EUV sind unterschiedliche Vorgehensweisen für den Fall einer „eindeutige[n] Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ bzw. des Vorliegens einer „schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung“ vorgesehen.

(7)  ABl. C 77 vom 31.3.2009, S. 15 und ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 1.

(8)  KOM(2008) 703 endg.

(9)  Stellungnahme des EWSA, ABl. C 128, vom 18.5.2010, S. 103.

(10)  Empfehlung 2009/524/EG; s. die wichtige Entschließung des EP vom 9.3.2010 (Dok. A7-0064/2009).

(11)  Letzte Daten von EUROSTAT.

(12)  Der EWSA hat sich zu dem Bericht der de-Larosière-Gruppe geäußert: ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 57.

(13)  Am Verbrauchertag (15.3.2010) in Madrid gehaltene Rede zum Thema „An ambitious Consumers Rights Directive: boosting consumers’ protection and helping businesses“ (Eine Verbraucherschutzrichtlinie mit ehrgeizigen Zielen; Förderung des Verbraucherschutzes und Unterstützung der Unternehmen).

(14)  Initiativstellungnahme zum Thema „Die Umsetzung des Vertrags von Lissabon: Partizipative Demokratie und die europäische Bürgerinitiative (Artikel 11)“ (CESE 465/2010, SC/032), in der das Grünbuch der Kommission (KOM(2009) 622 endg. vom 11.11.2009) analysiert und kommentiert wurde, sowie die Initiativstellungnahme zum Thema „Die Organisationen der Zivilgesellschaft und der EU-Ratsvorsitz“ (CESE 464/2010, SC/031); siehe auch die wichtige Entschließung des EP zur Umsetzung der Bürgerinitiative vom 7. Mai 2009 (Dok. A6-0043/2009).

(15)  Initiativstellungnahme des EWSA 634/2010, INT/498.

(16)  ABl. C 162 vom 25.6.2008, S. 1 - Berichterstatter: Jorge PEGADO LIZ und ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 97.

(17)  Am 5. Mai 1982 hatte der Gerichtshof bereits im Urteil Schul (Rechtss. 15/81) festgestellt, dass der gemeinsame Markt als einfache Freihandelszone dem Binnenmarkt vorausgeht. „Binnenmarkt“ verweist also auf einen höheren Grad der wirtschaftlichen Integration.

(18)  Protokoll Nr. 36 über die Übergangsbestimmungen.

(19)  KOM(2007) 724 endg., SEK(2007) 1517, 1518, 1519, 1520 und 1521.

(20)  KOM(2007) 725 endg., SEK(2007) 1514, 1515 und 1516.

(21)  KOM(2007) 726 endg.