11.9.2009   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 218/101


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — „Maßnahmen gegen die steigenden Ölpreise“

KOM(2008) 384 endg

2009/C 218/20

Die Europäische Kommission beschloss am 13. Juni 2008, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 93 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Maßnahmen gegen die steigenden Ölpreise

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 2. Februar 2009 an. Berichterstatter war Herr CEDRONE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 451. Plenartagung am 25./26. Februar 2009 (Sitzung vom 25. Februar) mit 162 gegen 6 Stimmen bei 12 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss teilt die Besorgnis der Kommission über die unmittelbaren und beunruhigenden inflationistischen Auswirkungen der Ölpreise auf gewisse Branchen und die schwächsten Bevölkerungsschichten. Die steigenden Ölpreise wirken sich in der Tat direkt auf die Heiz- und Transportkosten und indirekt auch auf die Lebensmittelpreise aus, die das Gros der Ausgaben der finanziell schwächeren Haushalte ausmachen.

1.2

Das Problem erfordert tatkräftiges und rasches Eingreifen, wirft jedoch auch eine heikle allgemeine Frage auf. Die Unterstützung einkommensschwacher Haushalte muss unbedingt in Form von direkten Einkommensbeihilfen und nicht bspw. mithilfe von steuerlichen Maßnahmen (wie einer Senkung der Steuer auf Erdölprodukte) erfolgen, die sich insofern auf die Marktpreise auswirken, als sie die Folgen der Ölverteuerung abfedern.

1.3

Der EWSA hält es für äußerst wichtig, dass der Markt in die Lage versetzt wird, seine Funktion zu erfüllen, die in der Registrierung der steigenden Ölpreise und der Festlegung der geeigneten Reaktionen darauf besteht.

1.4

Alle Marktakteure müssen aufgrund der Preissteigerungen entsprechende Einsparungen in den betroffenen Breichen vornehmen. Daher sollten sie die teurer gewordenen Güter durch preisgünstigere ersetzen und auf Kombinationen aus Produktion und Konsum zurückgreifen, die überall dort, wo es technisch möglich ist, Einsparungen ermöglichen. Wie bereits festgestellt, müssen finanziell schwächere Haushalte geschützt werden, aber nur mithilfe direkter Einkommensbeihilfen, ohne die Signale des Marktes zu verzerren, die in ihrer normalen ausgleichenden Funktion nicht beeinträchtigt werden dürfen.

1.5

Nach Ansicht der Kommission müssen entsprechende Strategien auch zugunsten jener Produktionssektoren umgesetzt werden, die besonders unter den steigenden Ölpreisen zu leiden haben. Dies betrifft zuallererst den Fischereisektor, aber generell alle Bereiche, die der Deckung des Nahrungsmittelbedarfs der Bevölkerung dienen, sowie den Verkehrssektor.

1.6

Auch hier müssen die Maßnahmen, die zur Vermeidung von zu massiven Auswirkungen auf das produzierende Gewerbe erforderlich sind, die Form von Direktbeihilfen und nicht von steuerpolitischen Maßnahmen (Steuersenkungen) annehmen, die die Kurse, die die gestiegene Knappheit der Erdölvorräte widerspiegeln müssen, künstlich nach unten treiben würden.

1.7

Was hingegen die makroökonomischen Auswirkungen auf die Entwicklungsländer betrifft, so müsste über komplexe Unterstützungspläne vor allem für die schwächsten Volkswirtschaften nachgedacht werden, in deren Rahmen insbesondere die Verwirklichung von Energieeinsparungsstrategien finanziell gefördert werden könnte. Auch hier helfen Unterstützungsmaßnahmen, die zwar eine maßgebliche Rolle spielen, aber nicht die Zeichen verzerren dürfen, denen die Märkte in jedem Fall weiterhin ungehindert folgen können müssen.

1.8

Der Ausschuss vertritt die Auffassung, dass seitens der Europäischen Union eindeutige politische Antworten erforderlich sind.

1.9

Erstens kann ein einheitliches Auftreten einer Institution wie der Europäischen Union, auf die ein Fünftel der Weltproduktion zurückgeht, in diesen wie in anderen Fällen absolut maßgebend und entscheidend sein. Präzise und einheitlich formulierte Vorschläge einer Einrichtung von so großer Bedeutung auf der Weltbühne können nicht so leicht übergangen werden. Ganz anders sieht es jedoch aus, wenn die Initiativen Europas in loser Reihenfolge angenommen werden und sich sogar gegenseitig zu widersprechen scheinen.

1.10

In einer Situation wie dieser, in der der Preis für einen Grundrohstoff möglicherweise stark ansteigt, scheint ein Vorschlag für eine Konsultation und einen Dialog auf globaler Ebene, in die alle großen Protagonisten einbezogen werden, eine unabdingbare Voraussetzung für jede weitere Initiative zu sein. Denkbar wäre zum Beispiel eine Weltkonferenz der Erzeuger- und Verbraucherländer.

1.11

Zweitens muss entschieden auf die Verwirklichung eines europäischen Energiebinnenmarkts hingearbeitet werden. Europa wurde auf dem Fundament großer Binnenmarktprojekte - Kohle und Stahl, Atomenergie, Landwirtschaft - erbaut. Im Januar 1993 kam der Binnenmarkt für Waren, Dienstleistungen und Kapital hinzu und seit 1999 gibt es die Währungsunion. Es ist an der Zeit, auch im Bereich des Energiemarkts spezielle Maßnahmen zu ergreifen.

1.12

Damit könnte dieser wesentliche Sektor auch vor den zerstörerischen Angriffen einer Spekulation gerettet werden, die innerhalb natürlicher Grenzen bekanntlich eine entscheidende Marktregulierungsfunktion ausübt, aber außerhalb dieser Grenzen Elemente völliger Desorganisation und absoluter Unsicherheit einführt.

1.13

Der europäische Energiemarkt muss so gestaltet werden, dass er transparent ist und von den zuständigen Behörden kontrolliert werden kann. Die Volatilität der Kurse muss erheblich reduziert werden. Dies lässt sich auch mithilfe einer entsprechenden Information und angemessenen Regulierung der strategischen Vorräte erreichen. Eine angemessene Regulierung eines wichtigen Marktes wie des europäischen bliebe nicht ohne erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Weltlage.

2.   Vorschläge

2.1

Daher muss die EU zu ihrem ursprünglichen Geist zurückfinden (EGKS- und Euratom-Vertrag) und endlich einen Energiebinnenmarkt schaffen, der heute dringender benötigt wird denn je, um Risiken und Folgen auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene - aber nicht nur dort - zu vermeiden.

2.2

Die EU muss sich geeignete Entscheidungsinstrumente verschaffen (d. h. sie muss das im Zuge der Finanzkrise von der französischen Ratspräsidentschaft kürzlich eingeführte Verfahren „institutionalisieren“), um die Energiepolitik intern steuern zu können und bei internationalen Treffen, bei denen über diese Politik (einschließlich Erdölpolitik) entschieden wird, „mit einer Stimme“ sprechen und tätig werden zu können, angefangen beim Beschaffungspreis, der dem Einfluss der Spekulanten entzogen werden muss.

2.3

Die Union muss die Politik der heute in jedem einzelnen Land bestehenden Ölvorräte gemeinsam und transparent gestalten und so auch die Versorgungspolitik sicherer machen.

2.4

Sie muss gemeinsame Maßnahmen wie beispielsweise harmonisierte Steuervorschriften für Erdölprodukte anwenden, um die den am stärksten betroffenen Wirtschaftssektoren entstehenden Schäden zu begrenzen und direkte Einkommensbeihilfen für die Verbraucher, vor allem die finanziell schwächeren Bevölkerungsschichten, denen auch ein Teil der Unternehmensgewinne zugutekommen kann, zu vereinbaren.

2.5

Die Union muss entschiedener eingreifen, um den Wettbewerb in diesem Sektor zu regulieren (der heute quasi nicht mehr existiert, da auf dem Angebotsmarkt ein Oligopol herrscht) und die Möglichkeit von Preisfestsetzungsmaßnahmen, von denen zumindest in Zeiten größerer Krisen Gebrauch gemacht werden könnte, oder wenigstens von Maßnahmen zur Verringerung der häufig ungerechtfertigten Schere zwischen Erzeuger- und Verbraucherpreisen zu prüfen. Denn gegenüber dieser Situation ist der Verbraucher ohnmächtig und schutzlos.

2.6

Die Union muss mithilfe eines Gemeinschaftsfonds die Erforschung und Entwicklung alternativer Energieträger unterstützen und finanzieren, um die Ölabhängigkeit vor allem im Verkehrssektor - angefangen bei der Automobilbranche - zu mindern, und zwar durch eine deutliche Erhöhung der einschlägigen Investitionen, beispielsweise durch entsprechende Steuerbefreiungen, oder die Verpflichtung der Erdölunternehmen, einen Teil ihrer Gewinne dafür aufzuwenden!

2.7

Ferner muss sie verhindern, dass die durch den plötzlichen Rückgang des Rohölpreises und die Rezession bedingte Deflation schwerwiegendere wirtschaftliche Schäden verursacht als die Inflation. Eine Basisinflation, die aufgrund des Trägheitseffekts (oder der Unvollkommenheit des Marktes?) auch nach dem Rückgang des Rohölpreises fortbesteht, verschleiert mithin den Beginn einer potenziellen Deflation.

3.   Einleitung

3.1

Die Kommission hat endlich beschlossen, angesichts der durch die Finanzspekulation und den Zusammenbruch der Börsen bedingten Ereignisse der letzten Monate die Frage der steigenden bzw. schwankenden Ölpreise anzugehen - einer Preissteigerung, die den neu aufgeflammten inflationären Spannungen in der EU zugrunde liegt, gegen die die EZB und die Federal Reserve sofort vorgegangen sind; durch diese Gegenmaßnahmen wurden der Inflationsdruck zwar abgeschwächt, doch das Wirtschaftswachstum wurde gebremst.

3.2

Um die weltweite Finanzkrise zu bewältigen, wurden erst vor Kurzem die geldpolitischen Strategien zum Aufhalten derartiger Krisen überarbeitet: Dennoch hat die Finanzkrise ein drückendes Rezessionsklima heraufbeschworen, das nichts mit dem Öl zu tun hat und aufgrund dessen diese vom Öl verursachten inflationären Spannungen deutlich nachgelassen haben - folglich wird der Ölpreis seinen Auftrieb verlieren.

3.3

Eine weitere Folge von erheblicher Bedeutung stellt die Verlagerung der Kaufkraft von den Verbraucherländern auf die Erzeugerländer dar, die durch eine Erhöhung von deren Einfuhren aus den Verbraucherländern wieder ins Gleichgewicht gebracht werden kann (zwischen 2002 und 2007 stiegen diese Einfuhren jährlich um durchschnittlich 26 %, und zwar in einem viel schnelleren Tempo als die Einfuhren weltweit).

3.4

Wie in der Zusammenfassung noch besser zu erkennen sein wird, geht die Kommission die Frage unter verschiedenen Gesichtspunkten an, während andere Aspekte praktisch ignoriert werden oder unerwähnt bleiben (beispielsweise die Auswirkungen der Spekulation, das Vorhandensein von Oligopolformen in diesem Sektor, die sich leicht in „Kartelle“ verwandeln, mit den entsprechenden Konsequenzen usw.).

3.5

Daher muss der EWSA die Mitteilung ehrlich und objektiv bewerten und Licht- und Schattenseiten hervorheben, um Empfehlungen und Vorschläge zu formulieren, mit denen die Inflationswirkungen auf die Preise und Produktionskosten gesenkt werden.

3.6

Darüber hinaus muss der Ausschuss die politischen Unzulänglichkeiten der EU, ihre Schwäche auf internationaler Ebene und ihre Uneinigkeit als nicht unwesentliche Ursachen für die fehlende Kontrolle des Erdöl„marktes“ und der Spekulationen, denen er unterliegt, hervorheben.

3.7

Darüber hinaus ist Folgendes anzumerken: In Anbetracht der Entwicklung des Ölpreises, der seit Juli 2008 stark zurückgeht, müsste der Titel der Mitteilung der Europäischen Kommission aktualisiert werden. In der vorliegenden Stellungnahme werden jedenfalls nicht nur die Spitzenwerte, sondern auch die Schwankungen des Ölpreises, die uns mittlerweile nicht mehr neu sind, berücksichtigt.

4.   Zusammenfassung der Mitteilung

4.1   Die Ursachen für den Preisanstieg

4.1.1

Nach Ansicht der Kommission ist der Anstieg der Ölpreise der vergangenen Monate nur mit dem Anstieg in den 1970er Jahren vergleichbar; ferner hätten sich die Verbraucherpreise entsprechend den Rohölpreisen entwickelt und lägen die aktuellen Preise über dem Anfang der 1980er Jahre erreichten Höchststand.

4.1.2

Des Weiteren vertritt die Kommission die Auffassung, der aktuelle Preisanstieg sei hauptsächlich auf die erhebliche strukturbedingte Verlagerung von Angebot und Nachfrage infolge des (vor allem in China und Indien) gestiegenen Verbrauchs zurückzuführen sowie auf den Rückgang der Erdölvorkommen, die schwache Reaktion der staatlichen Unternehmen in den OPEC-Ländern, die geringen Raffineriekapazitäten in einigen Ländern, die Abwertung des Dollars, die Zunahme der Inflation usw.

4.2   Die Folgen für die EU-Wirtschaft

4.2.1

Zu den schwerwiegendsten Folgen zählen der Anstieg der Inflation und die Auswirkungen auf die Energiepreise aufgrund des Mitnahmeeffekts. Sehr häufig geht auch ein Rückgang der Rohstoffpreise nicht automatisch mit einem Rückgang der Verbraucherpreise einher.

4.2.2

Die gravierendsten Auswirkungen bekommen die Haushalte zu spüren, vor allem die einkommensschwachen, wenn auch in unterschiedlichem Maße in den einzelnen europäischen Ländern: das wirtschaftliche Ungleichgewicht und die Kaufkraft der Löhne nehmen zu und die armen Bevölkerungsschichten werden folglich größer.

4.2.3

Erdrückend sind auch die Konsequenzen für die Unternehmen und das Wachstum. Die Kommission ist hier der Ansicht, dass Landwirtschaft, Verkehr und Fischerei die am stärksten betroffenen Sektoren sind. Dies werde hoffentlich ein größeres Interesse an der Forschung und der Erhöhung des Anteils der erneuerbaren Energien hervorrufen.

4.3   Die makroökonomischen Auswirkungen in den Entwicklungsländern

4.3.1

Auch in den Erdöl importierenden Entwicklungsländern wird die gestiegene Inflation immer gravierendere Auswirkungen für die Bürger und Unternehmen mit sich bringen.

4.3.2

In diesen Ländern sind die Folgen aufgrund der Auswirkungen auf die Lebensmittel, die öffentlichen Finanzen usw. sogar noch schlimmer, während in den unterentwickelten Ländern, die jedoch Öl exportieren, Kapital angehäuft wird, was die makroökonomische Politik in Anbetracht der häufig unzulänglichen Verwaltung der Öleinnahmen vor besondere Herausforderungen stellt.

4.4   Die politische Reaktion der EU

4.4.1

Die Antwort der EU gründet auf der Annahme, dass die Preise mittel- bis langfristig vermutlich auf hohem Niveau bleiben werden, weshalb angemessene Antworten erforderlich sind, wie sie beispielsweise in dem Paket zum Klimawandel und zu erneuerbaren Energien vorgesehen sind und für die Schaffung eines echten Energiebinnenmarkts erhofft werden.

4.4.2

Kurzfristig muss man sich darum bemühen, die Auswirkungen auf die Verbraucher, vor allem finanziell schwächere Haushalte, zu mindern. Die Vorschläge reichen hier von der Mineralölbesteuerung über die Organisation eines Gipfeltreffens zwischen Erzeuger- und Verbraucherländern bis hin zur Versorgung der Öl importierenden Länder mit zusätzlichen Mitteln.

4.4.3

Als mittelfristige strukturpolitische Maßnahmen wird vorgeschlagen, den Dialog mit den wichtigsten Erzeugerländern zu intensivieren, den in diesem Sektor bestehenden „Wettbewerb“ zu überwachen, die Transparenz der Vorräte zu bewerten, die bestehenden EU-Vorschriften (über die Vorräte) zu überarbeiten, die steuerlichen Maßnahmen zugunsten kohlenstoffarmer Energieträger zu prüfen, für die Investitionen die Gewinne der Förderunternehmen zu nutzen, diese Gewinne möglicherweise zu besteuern und den Dialog zwischen der EU und den Entwicklungsländern zu fördern.

4.4.4

Als langfristige strukturpolitische Maßnahmen wird hingegen Folgendes empfohlen: Abschluss des Abkommens über den Klimawandel und erneuerbare Energien zwischen den EU-Ländern; Verbesserung der Energieeffizienz; Einführung struktureller Veränderungen, um eine bessere Effizienz im Verkehrs- und Fischereisektor zu erzielen; Einführung von direkten steuerlichen Anreizen oder Zuschüssen zur Förderung von Energiesparmaßnahmen in Privathaushalten; stärkere Diversifizierung der Energieversorgung der EU.

5.   Erwägungen und Bemerkungen

5.1

Die Mitteilung der Kommission wurde verfasst, als der Ölpreis zu Beginn des vergangenen Sommers gerade seinen besorgniserregenden Höchststand erreicht hatte. Gleichwohl sei daran erinnert, dass wir uns in der heutigen Wirtschaft an plötzliche und erhebliche Perspektivänderungen, auch innerhalb kürzester Zeitabstände, gewöhnt haben.

5.2

Die Weltwirtschaft ist, anders als noch vor wenigen Monaten, durch beunruhigende Rezessionsaussichten gekennzeichnet, die vorläufigen Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) zufolge offenbar auch sämtliche Schwellenländer betreffen, die in der letzten Zeit (mehr oder weniger in den letzten dreißig Jahren, nach dem Ende des so genannten goldenen Zeitalters des modernen Kapitalismus) ein deutlich schnelleres und stabileres Wirtschaftswachstum verzeichneten als die Industriestaaten.

5.3

Vor diesem Hintergrund könnte der Rückgang des Ölpreises, von seinen Höchstständen im vergangenen Juli (die sowohl bezüglich der Nominal- als auch der Realwerte absolute Rekorde darstellten) bis hin zu den niedrigsten Werten im November 2008, die inflationsbereinigt wieder den Stand von vor fünfundzwanzig Jahren erreichten, nicht nur eine Einzelerscheinung sein. Die Wirtschaftswissenschaftler befürchten jetzt vor allem, dass es zu einer Deflation kommt, die den Ölmarkt bestimmt nicht verschonen würde.

5.4

Darüber hinaus sollten langfristige Prognosen zur potenziellen Erschöpfung der verfügbaren Bodenschätze vermieden werden. Diese Befürchtung wird immer wieder geäußert, mittlerweile seit Jahrzehnten, könnte sich jedoch als unbegründet erweisen. In einer kürzlich erschienenen Ausgabe der angesehenen Zeitschrift The Economist (vom 21. Juni 2008) wurde berichtet, dass die bekannten Ölreserven beim gegenwärtigen Fördertempo noch 42 Jahre reichen dürften (das ist nicht wenig: was könnte nicht alles in den nächsten 42 Jahren geschehen, vor allem im Bereich der wissenschaftlichen und technologischen Innovationen?). Es wurde allerdings auch berichtet, dass die Reserven der Länder des Nahen Ostens seit Jahren dieselben sind, was dem Economist zufolge darauf schließen lässt, dass die neu entdeckten Ölvorkommen wohl einen Ausgleich für das geförderte und verbrannte Öl darstellen oder dass die Schätzungen der Vorräte nicht sehr genau sind. Es sei jedoch betont, dass die Berechnung auf dem derzeitigen Fördertempo beruht. Das Problem liegt aber nicht in erster Linie in der langfristigen Erschöpfung der Vorkommen, sondern vielmehr in Krisenszenarien, die von kurzfristigen Ungleichgewichten von Nachfrage und Angebot - insbesondere bei eventuellen Förderausfällen in den Gebieten von strategischer Bedeutung - geprägt sind.

5.5

Die Suche nach neuen Ölvorkommen und neuen Quellen erfolgt kontinuierlich und muss auch weiterhin fortgesetzt werden. Besonders bezeichnend und zu den wichtigsten Ereignissen des vorigen Jahrhunderts zählend waren die auch für unsere Zwecke sehr relevanten Ölschocks in den 1970er Jahren. Sie wurden durch eine Angebotsverringerung der Erzeugerländer ausgelöst und waren - anders als es die aktuellen Ungleichgewichte offenbar sind - keine spontanen Marktphänomene. In jedem Fall führte der damals verzeichnete enorme Ölkursanstieg dazu, dass neue Energiequellen erforscht wurden, indem man sich auf hochinnovative Produktionsmethoden stützte.

5.6

Die Entwicklungen, die sich aufgrund irgendwelcher Verwerfungen zwischen Angebot und Nachfrage auf den Märkten vollziehen, müssen in jedem Fall sorgfältiger beobachtet werden.

5.7

Infolge der drastischen Geldpolitik, die seit Anfang der 1980er Jahre - vor allem von den Regierungen Ronald Reagans (USA) und Margaret Thatchers (GB) - verfolgt wurde bzw. wird und auf der Grundlage der Theorien der Chicagoer Schule von Milton Friedman wurden die Zinssätze stark angehoben, was die Besitzer der Ölreserven veranlasste, ihre Prioritäten zu ändern und den Schutz der verfügbaren Ölvorräte im Boden aufgrund des starken Gewinnrückgangs als äußerst nachteilig anzusehen. Der Anstieg der Zinssätze stellte eine der nicht unerheblichen Ursachen dafür dar, dass das Ölkartell Mitte der 1980er Jahre zerbrach.

5.8

Bei einer vollständigen Analyse müssten nicht nur die Informationen berücksichtigt werden, die sich aus geologischen oder technischen Kenntnissen im Allgemeinen ergeben, sondern auch die Schlussfolgerungen einer wirtschaftlichen Analyse. Wenn die Ressourcenknappheit und die das Angebot übersteigende Nachfrage zu einem Kursanstieg führen, wirken sich die Kurse auf die Verfügbarkeit der Ressourcen selbst aus und tragen so häufig zu einer Minderung der Diskrepanzen bei. In solchen Fällen muss berücksichtigt werden, dass die forcierte Suche nach neuen Ölvorkommen Zonen und Gebiete in Mitleidenschaft ziehen kann, die ökologisch besonders anfällig sind (z. B. der Nordpol). Dies gilt es zu vermeiden, indem alternative Energiequellen erforscht werden.

5.9

Zur Ergründung der Ursachen für den jüngsten Preisanstieg kann eine weitere Bemerkung methodischer Art angeführt werden. Unabdingbare Voraussetzung für jegliches Eingreifen stellt sicherlich die möglichst genaue Kenntnis der zu bewältigenden Situation dar. Ein großer italienischer Wirtschaftswissenschaftler, Luigi EINAUDI, erinnerte seine Zeitgenossen daran, dass man etwas kennen müsse, wenn man darüber beschließen wolle.

5.10

Der EWSA hält es für äußerst wünschenswert, mehr über das Funktionieren des Ölmarkts zu erfahren. Die Befürchtungen, die durch die heftigen Ölpreisschwankungen entstehen, beruhen auf statistischen Erhebungen, die im Wesentlichen auf der Ermittlung der Preise basieren, die Tag für Tag auf den Märkten registriert werden. Eine der bekanntesten Methoden ist beispielsweise die des IWF, wenn er den so genannten APSP berechnet (average petroleum spot price, der einen nicht gewogenen Mittelwert der Kurse der Rohölsorten Brent, Dubai Fateh und WTI darstellt, das den amerikanischen Preis bildet).

5.11

Es könnte hilfreich sein, die Mittelwerte der Rohöleinfuhren zu bestimmen, die sich anhand der Außenhandelsstatistiken zumindest der größten Importländer ermitteln lassen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre es weitaus zuverlässiger, die Bedingungen für die Rohölversorgung zu kennen, statt sich auf Erkenntnisse zu stützen, die auf der Auswertung der täglichen Marktkurse basieren.

5.12

Der EWSA hält die Behauptung für richtig, dass bei einer sorgfältigen Analyse der Ursachen für den jüngsten kräftigen Anstieg des Ölpreises und seinen gerade erfolgten drastischen Rückgang zunächst die bestehenden Grundtendenzen der Weltwirtschaft untersucht werden müssen.

5.13

Er stellt jedoch fest, dass in der Mitteilung nicht auf die Bedeutung eingegangen wird, die der äußerst starke Spekulationsdruck auf den unkontrollierten Anstieg der Ölpreise mit Sicherheit hatte. Ohne diesen Druck hätte der Kurs schwerlich bei 147 Dollar pro Barrel im Juli und rund 60 Dollar im Oktober 2008 liegen können.

5.14

Berücksichtigt man jedoch die grundlegenden Strukturdaten, kann davon ausgegangen werden, dass der weltweite Energieverbrauch mittlerweile konstant mehr als 10 Milliarden Tonnen Rohöläquivalent beträgt und diese Zunahme von einem Anstieg des weltweiten BIP getrieben wird, der absolut gesehen - und vielleicht sogar auch in Bezug auf seine relative Intensität - bisher einmalig ist.

5.15

Es muss jedoch geprüft werden, welche Bedeutung die Rezessionsaussichten haben, die sich aus den Ereignissen im Zusammenhang mit der Krise auf den weltweiten Finanzmärkten ergeben. In keinem Fall darf der Umstand unterschätzt werden, dass die Produktion gut vier Jahre lang, von 2004 bis 2007, weltweit um jährlich 5 % gestiegen ist, vor allem aufgrund des Drucks der Schwellenländer, insbesondere Chinas und Indiens - aber nicht nur: auch Afrika ist erwacht und wächst jährlich um 6 bis 7 %; Russland wird international wieder zu dem Riesen, der es einmal war, und auf der Weltbühne sind zudem viele weitere neue Gegebenheiten entstanden.

5.16

Das weltweite reale BIP ist, in Preisen von 2007, von 53 Billionen Dollar im Jahr 2003 (wobei die Berechnung, wie es unserer Ansicht nach richtig ist, zu Dollar in Kaufkraftparitäten (KKP) anstatt auf der Grundlage der marktüblichen Wechselkurse erfolgte) auf 65 Billionen im Jahr 2007 gestiegen, was einem Zuwachs um rund 12 Billionen Dollar entspricht. Der BIP-Anstieg ist somit so hoch, als wäre zur Weltwirtschaft innerhalb von vier Jahren eine Volkswirtschaft von der Größe der Vereinigten Staaten hinzugekommen.

5.17

Ein Wachstum um jährlich 5 % bedeutet, dass sich die weltweite Produktion bei Beibehaltung dieses Tempos (was nicht unbedingt unmöglich sein muss) innerhalb von vierzehn Jahren verdoppeln und innerhalb von achtundzwanzig Jahren - dem Zeitraum einer Generation - vervierfachen würde. Dies sind unglaubliche Aussichten, die jedoch auch zeigen, dass wir am Beginn eines völlig neuen Abschnitts der Wirtschaftsgeschichte stehen.

5.18

In der Mitteilung wird zu Recht daran erinnert, dass Energie - wie es in allen historischen Epochen der Fall war - ein wesentlicher Faktor des Wirtschaftswachstums ist. Daher besteht einer der wichtigsten Effekte der zurzeit äußerst starken wirtschaftlichen Entwicklung darin, dass sie einen enormen Druck auf die Energiequellen ausübt.

5.19

Wie oben dargelegt, müssen die Auswirkungen der Spekulation hervorgehoben werden, die auf dem Ölmarkt in großem Stil betrieben wird und die Bewegungen verstärkt, wobei deren Grundursachen jedoch zweifelsohne struktureller Natur sind.

5.20

Um das Phänomen der Preisschwankungen zu verstehen, muss berücksichtigt werden, dass zurzeit ein Drittel der verbrauchten Energie aus Öl gewonnen wird!

5.21

Eine genauere Analyse der verfügbaren Daten über die Marktpreise für Öl führt zu überraschenden Ergebnissen, die nicht mit den Behauptungen in der Mitteilung übereinstimmen (Quelle: inflationdata.com/inflation/inflation_Rate/Historical_Oil_Prices_Table.asp des Financial Trend Forecaster).

5.22

Aufgrund der Datenauswertung kann hervorgehoben werden, dass der Ölpreis zwischen dem Ende der 1940er und der Mitte der 1970er Jahre real, d.h. bereinigt um die allgemeine Inflation in Bezug auf die Preisentwicklung insgesamt, im Wesentlichen gleich geblieben ist und durchschnittlich knapp über 20 Dollar pro Barrel betrug! Dies geht aus allen zugänglichen einschlägigen Quellen hervor.

5.23

Etwa dreißig Jahre lang (ein Zeitraum, der später zum goldenen Zeitalter des modernen Kapitalismus erklärt wurde und den der berühmte Historiker Eric Hobsbawm als intensivste Phase der wirtschaftlichen Entwicklung bezeichnete, die die Menschheit je in diesem Umfang erlebt hat) wurde die äußerst starke Entwicklung der Weltwirtschaft durch die Knappheit der Energiequellen nicht aufgehalten: das Angebot konnte offensichtlich einem außergewöhnlichen Nachfrageanstieg gerecht werden.

5.24

Bekanntlich führten die Ölschocks der 1970er Jahre - der erste fiel mit dem Yom-Kippur-Krieg im Oktober 1973, der zweite mit der Revolution Khomeinis im Iran zusammen - zu enormen Preisanstiegen, die der Kommission zufolge auf eine erfolgreiche Kontrolle der Produktion seitens des OPEC-Kartells zurückzuführen sind.

5.25

Nach Ansicht des EWSA basierten diese Krise und dieser plötzliche Kursanstieg jedoch auch auf anderen Faktoren, vor allem der Phase des großen Währungschaos, die ihren Höhepunkt in der Erklärung der Nichtkonvertierbarkeit des Dollars vom August 1971 fand. Entstanden war dieses Chaos durch die übermäßigen Defizite in der amerikanischen Zahlungsbilanz, die die Beibehaltung der festen Wechselkurse des Bretton-Woods-Systems unmöglich machten. Die Dollarkrise manifestierte sich anhand starker inflationärer Spannungen, die sich letztendlich in großem Ausmaß auf dem Ölmarkt niederschlugen. Schließlich sei daran erinnert, dass die Konjunktur Anfang der 1970er Jahre weltweit von einem außergewöhnlichen Produktionsschub gekennzeichnet war, der auf dem gesamten Rohstoffmarkt zu großem Nachfragedruck geführt hatte.

5.26

Wichtiger als die Analogien zur derzeitigen Lage erscheinen uns jedoch die Unterschiede zwischen der damaligen und heutigen Situation. Als Gemeinsamkeit erweist sich lediglich das sehr starke weltweite Wirtschaftswachstum. Es lassen sich jedoch keine wesentlichen Marktmanipulationen erkennen - abgesehen von den Spekulationen, die etwas ganz anderes sind als die Maßnahmen des OPEC-Ölkartells, das bei echten internationalen Konferenzen offiziell vertreten war.

5.27

Der EWSA vertritt die Auffassung, dass nicht einmal die derzeitige Anhäufung von Dollarreserven, vor allem in China und Japan, viel gemein hat mit der Vermehrung entsprechender Währungsreserven Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre. China und Japan hüten sich davor, ihre gewaltigen Dollarreserven plötzlich und unversehens auf den Markt zu werfen.

5.28

Die äußerst harte Währungspolitik der großen westlichen Länder führte vor allem seit 1986 zu Kurseinbrüchen. Interessanterweise betrug der reale Durchschnittskurs im Siebenjahreszeitraum 1993-1999 23 Dollar pro Barrel und war damit ebenso hoch wie vierzig Jahre zuvor (1953-1959), nach einem gewaltigen weltweiten Wirtschaftswachstum und einem enormen Anstieg der Ölnachfrage.

5.29

Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass die Beschleunigung des weltweiten Wirtschaftswachstums, auch wenn es nicht mehr von den Industriestaaten, sondern von den Schwellenländern ausgeht, daher nicht weniger relevant ist. Durch diese Entwicklung ist offenbar eine Grundtendenz zum - nominalen und realen - Kursanstieg entstanden. Im Jahr 2003 (in dem die „starke“ Phase der Weltkonjunktur begann) lag der Wert noch bei bescheidenen rund 30 Dollar pro Barrel, während er heute mehr als 60 Dollar beträgt und sich somit quasi verdoppelt hat. Es stimmt zwar, dass der Dollar zwischen 2003 und 2007 im Verhältnis zum Euro ein Viertel seines Wertes eingebüßt hat, weshalb sich der Ölkurs in Euro nicht verdoppelt hat. Nichtsdestotrotz ist der Ölkurs jedoch um 50 % gestiegen.

5.30

Dies gilt auch, wenn der Höchststand von 147 Dollar vom vergangenen Juli wahrscheinlich das Ergebnis einer Spekulationsblase war. Wenn dieser Höchststand spekulationsbedingt war, müssten wir in naher Zukunft mit einem Kursanstieg rechnen, wenn die Spekulanten damit beginnen, das jetzt als kostengünstig bewertete Öl zurückzukaufen. Die wichtigsten Persönlichkeiten der weltweiten Ölindustrie, deren Einfluss zumindest zurückgedrängt und transparenter werden müsste, halten heute einen Preis um die 80 Dollar pro Barrel - also einen erheblich höheren Kurs als zu Beginn des Aufschwungs (rund 30 Dollar in den Jahren 2002 bis 2003) - tatsächlich für „normal“.

Brüssel, den 25. Februar 2009

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Mario SEPI