22.6.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 146/1


Schlussfolgerungen des Rates zum Thema „Gemeinsame Werte und Prinzipien in den Europäischen Union-Gesundheitssystemen“

(2006/C 146/01)

DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION:

1.

NIMMT KENNTNIS von der Entscheidung der Europäischen Kommission, in ihrem geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt die Gesundheitsdienstleistungen aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie auszuklammern und so die entsprechenden vom Europäischen Parlament vorgeschlagenen Abänderungen zu übernehmen;

2.

NIMMT KENNTNIS von der Erklärung der Europäischen Kommission über ihre Absicht zum Aufbau eines Gemeinschaftsrahmens für sichere, hochwertige und effiziente Gesundheitsdienste durch Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten sowie Herstellung von Klarheit und Sicherheit in der Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf Gesundheitsdienste und Gesundheitsversorgung;

3.

STELLT FEST, dass in jüngsten Urteilen des Europäischen Gerichtshofs das Erfordernis deutlich wurde, die Wechselwirkung zwischen Bestimmungen des EG-Vertrags zu klären, besonders bezüglich des freien Dienstleistungsverkehrs und der von den nationalen Gesundheitssystemen erbrachten Gesundheitsdienstleistungen;

4.

IST DER AUFFASSUNG, dass die Gesundheitssysteme bei den hohen Sozialschutzniveaus der EU einen zentralen Platz einnehmen und einen wichtigen Beitrag zu sozialem Zusammenhalt und sozialer Gerechtigkeit leisten;

5.

VERWEIST auf die Grundwerte Universalität, Zugang zu einer Gesundheitsversorgung von guter Qualität, Gleichbehandlung und Solidarität;

6.

BILLIGT die beigefügte Erklärung zu den gemeinsamen Werten und Prinzipien der Gesundheitssysteme in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Anlage);

7.

ERSUCHT die Europäische Kommission, dafür Sorge zu tragen, dass die in der Erklärung enthaltenen gemeinsamen Werte und Prinzipien bei der Abfassung von spezifischen Vorschlägen zu den Gesundheitsdiensten Beachtung finden;

8.

ERSUCHT die Organe der Europäischen Union, dafür Sorge zu tragen, dass die in der Erklärung enthaltenen gemeinsamen Werte und Prinzipien bei ihrem Handeln Beachtung finden.


ANLAGE

Erklärung zu den gemeinsamen Werten und Prinzipien

Dies ist eine Erklärung der 25 Gesundheitsminister der Europäischen Union zu den gemeinsamen Werten und Prinzipien, die den Gesundheitssystemen Europas zugrunde liegen. Wir halten eine solche Erklärung für wichtig als Klärung für unsere Bürger und für zeitlich angebracht angesichts der jüngsten Abstimmungsergebnisse im Europäischen Parlament und des geänderten Vorschlags der Kommission, wonach die Gesundheitsversorgung aus der vorgeschlagenen Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt ausgeklammert wird. Wir sind der festen Überzeugung, dass die Entwicklungen in diesem Bereich aus einem politischen Konsens und nicht nur aus der Rechtsprechung erwachsen sollten.

Wir sind auch der Überzeugung, dass es wichtig sein wird, die nachstehenden gemeinsamen Werte und Prinzipien bei der Anwendung der Wettbewerbsregeln auf die sie tragenden Systeme zu wahren.

Die Erklärung beruht auf Erörterungen im Rat und mit der Kommission als Teil der offenen Koordinierungsmethode und bei dem Reflexionsprozess auf hoher Ebene über die Patientenmobilität und die Entwicklung der gesundheitlichen Versorgung in der EU. Sie berücksichtigt auch die Rechtsinstrumente auf europäischer oder internationaler Ebene, die Auswirkungen auf dem Gebiet der Gesundheit haben.

Diese Erklärung beschreibt die gemeinsamen Werte und Prinzipien, die in der gesamten Europäischen Union an die Gesundheitssysteme angelegt werden, um zu ermessen, inwieweit sie den Bedürfnissen der auf sie angewiesenen Menschen und Patienten gerecht werden. Sie erläutert auch, dass die praktische Umsetzung dieser Werte und Prinzipien in die Realität der Gesundheitssysteme der EU zwischen den Mitgliedstaaten erhebliche Abweichungen aufweist und auch in Zukunft aufweisen wird. Im nationalen Kontext zu treffen sind insbesondere Entscheidungen darüber, auf welchen Korb von Gesundheitsleistungen der Bürger Anspruch haben soll, über welche Mechanismen diese finanziert und bereitgestellt werden sollen und inwieweit es angemessen erscheint, sich bei der Gestaltung der Gesundheitssysteme auf Marktmechanismen und Wettbewerbsdruck zu verlassen.

Gemeinsame Werte und Prinzipien

Die Gesundheitssysteme der Europäischen Union nehmen bei den hohen Sozialschutzniveaus der EU einen zentralen Platz ein und leisten einen Beitrag zu sozialem Zusammenhalt und sozialer Gerechtigkeit sowie zu nachhaltiger Entwicklung.

Die Grundwerte Universalität, Zugang zu einer Gesundheitsversorgung von guter Qualität, Gleichbehandlung und Solidarität finden im Handeln der verschiedenen EU-Organe breite Zustimmung. Zusammen bilden sie ein Wertgefüge, das in ganz Europa geteilt wird. Universalität bedeutet, dass niemandem der Zugang zur Gesundheitsversorgung verwehrt ist; Solidarität ist eng verbunden mit der finanziellen Gestaltung unserer nationalen Gesundheitssysteme und dem Erfordernis, die Zugänglichkeit für alle zu gewährleisten; Gleichbehandlung bezieht sich auf gleichen Zugang je nach den Bedürfnissen, unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, Alter, sozialem Status oder Zahlungsfähigkeit. Die EU-Gesundheitssysteme haben auch zum Ziel, entsprechend dem Anliegen der EU-Mitgliedstaaten bestehende Ungleichheiten bei der Gesundheitsversorgung zu verringern; in enger Verbindung damit steht die Arbeit in den Systemen der Mitgliedstaaten zur Verhütung von Krankheiten, unter anderem durch die Förderung einer gesunden Lebensweise.

Alle Gesundheitssysteme in der EU streben nach Ausrichtung auf den Patienten und die Bedürfnisse des Einzelnen.

Indessen haben die einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedliche Konzepte für die praktische Umsetzung dieser Werte: so haben sie beispielsweise unterschiedliche Ansätze in der Frage, ob der Einzelne einen persönlichen Beitrag zu den Kostenelementen seiner Gesundheitsversorgung zahlen soll oder ob ein allgemeiner Beitrag erhoben wird und ob ein solcher auf dem Weg einer Zusatzversicherung gezahlt wird. Die Mitgliedstaaten haben unterschiedliche Formeln zur Gewährleistung der Gleichbehandlung entwickelt: einige definieren diese als Recht des Patienten, andere als Verpflichtung der Träger der Gesundheitsdienste. Die Durchsetzung ist ebenfalls in unterschiedlicher Weise geregelt, in einigen Mitgliedstaaten auf dem Wege über die Gerichte, in anderen auf dem Weg über Berufskammern, Ombudsleute usw.

Ein Grundmerkmal aller unserer Systeme besteht darin, dass wir danach streben, ihnen finanzielle Tragfähigkeit zu verleihen, so dass diese Werte für die Zukunft gesichert sind.

Die Entwicklung eines Konzepts zur stärkeren Betonung von Vorbeugemaßnahmen ist ein fester Bestandteil der Strategie der Mitgliedstaaten zur Verringerung der finanziellen Belastung der nationalen Gesundheitssysteme, denn die Vorbeugung leistet einen erheblichen Beitrag zur Kostenreduzierung im Gesundheitswesen und damit zur finanziellen Tragfähigkeit, indem sie Krankheiten und damit verbundene Kosten verhindert.

Neben diesen Grundwerten gilt in der gesamten Europäischen Union auch eine Reihe von Arbeitsprinzipien in dem Sinne, dass alle EU-Bürger davon ausgehen, diese und die entsprechenden Infrastrukturen überall in der EU in einem Gesundheitssystem anzutreffen. Dazu gehören:

—   Qualität:

Alle EU-Gesundheitssysteme sind bestrebt, eine Versorgung von hoher Qualität zu bieten. Erreicht wird dies insbesondere dadurch, dass eine ständige Fortbildung des Gesundheitspersonals auf der Grundlage von präzise festgelegten nationalen Standards vorgeschrieben wird, dass das Personal einen Zugang zu Kenntnissen über optimale Verfahren zur Qualitätssicherung erhält, dass die Innovation gefördert wird und vorbildliche Verfahren Verbreitung erfahren, dass Systeme zur Gewährleistung einer guten klinischen Praxisführung entwickelt werden und dass eine Qualitätskontrolle im Gesundheitssystem stattfindet. Von besonderer Bedeutung ist dabei auch das Prinzip der Sicherheit.

—   Sicherheit:

Die Patienten können von jedem Gesundheitssystem in der EU erwarten, dass es systematisch nach Sicherheit für den Patienten strebt, unter anderem durch die Kontrolle von Risikofaktoren und eine adäquate Schulung der Angehörigen der Gesundheitsberufe sowie durch einen Schutz vor irreführender Werbung für Gesundheitsprodukte und Behandlungen.

—   Wissensbasierte und ethisch abgesicherte Versorgung:

Durch die demographischen Herausforderungen und die neuen medizinischen Technologien kann es (in Bezug auf Ethik und Finanzierbarkeit) zu schwierigen Fragen kommen, die alle EU-Mitgliedstaaten beantworten müssen. Von entscheidender Bedeutung ist, dass die Versorgungssysteme wissensbasiert sein müssen, sowohl für die Gewährleistung einer Behandlung von hoher Qualität als auch für die Gewährleistung langfristiger Tragfähigkeit. Alle Systeme müssen die Herausforderung annehmen, bei der Gesundheitsversorgung in einer Weise Prioritäten zu setzen, dass ein Ausgleich zwischen den Bedürfnissen des einzelnen Patienten und den für den Bedarf der Gesamtbevölkerung zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen geschaffen wird.

—   Patienten-Ausrichtung:

Alle Gesundheitssysteme in der EU streben nach Ausrichtung auf den Patienten. Dies bedeutet, dass sie bestrebt sind, den Patienten mitwirkend an seiner Behandlung teilhaben zu lassen, dass sie ihm gegenüber Transparenz walten lassen und ihm im geeigneten Rahmen Wahlmöglichkeiten anbieten, z.B. eine Wahl zwischen verschiedenen Anbietern von Gesundheitsdienstleistungen. Jedes System ist bestrebt, dass dem Einzelnen Informationen über seinen Gesundheitszustand geboten werden und dass er das Recht erhält, in vollem Umfang über die angebotene Behandlung informiert zu werden und sich mit dieser Behandlung einverstanden zu erklären. Alle Systeme sollten auch einer öffentlichen Rechenschaftspflicht unterliegen und von verantwortungsvoller Verwaltungspraxis und Transparenz geprägt sein.

—   Entschädigung:

Wenn etwas schief geht, sollten die Patienten einen Entschädigungsanspruch haben. Dies umfasst ein transparentes und faires Beschwerdeverfahren und klare Informationen über Haftung und die verschiedenen vom betreffenden Gesundheitssystem bestimmten Formen der Entschädigung (z.B. Ausgleichszahlung).

—   Privatsphäre und Vertraulichkeit:

Das Recht aller EU-Bürger auf Vertraulichkeit von personenbezogenen Angaben ist in der Gesetzgebung auf EU-Ebene und auf nationaler Ebene anerkannt.

Als Gesundheitsminister stellen wir fest, dass ein zunehmendes Interesse an der Frage der Rolle der Marktmechanismen (einschließlich des Wettbewerbsdrucks) bei der Gestaltung der Gesundheitssysteme besteht. Es sind in dieser Beziehung in den Gesundheitssystemen der Europäischen Union zahlreiche politische Entwicklungen im Gange, die darauf abzielen, Pluralität und Wahlmöglichkeiten zu fördern und bestmöglichen Nutzen aus den Ressourcen zu ziehen. Wir können untereinander von unseren politischen Entwicklungen in diesem Bereich lernen, doch bleibt es Sache der einzelnen Mitgliedstaaten, ihr jeweiliges eigenes Konzept zu entwerfen, dessen spezifische Maßnahmen auf das betreffende Gesundheitssystem zugeschnitten sind.

Es ist zwar nicht angebracht, den Versuch einer Standardisierung der Gesundheitssysteme auf EU-Ebene zu unternehmen, wohl aber ist es äußerst wertvoll, auf ein europäisches Niveau bei der Gesundheitsversorgung hinzuarbeiten. Die Mitgliedstaaten stehen in der Verpflichtung zur Zusammenarbeit, um Erfahrungen und Informationen über Konzepte und bewährte Praktiken auszutauschen, beispielsweise durch die Hochrangige Gruppe der Kommission für das Gesundheitswesen und die medizinische Versorgung oder durch die in Gang gesetzte offene Methode der Koordinierung von Gesundheitsfürsorge und Langzeitpflege, und so das gemeinsame Ziel der Förderung einer effizienteren und zugänglichen Gesundheitsversorgung von hoher Qualität in Europa zu erreichen. Von besonderem Wert ist unseres Erachtens jede geeignete Initiative in Bezug auf die Gesundheitsdienste, mit der für die europäischen Bürger für Klarheit über ihre Rechte und Ansprüche beim Wechsel ihres Aufenthalts von einem EU-Mitgliedstaat in einen anderen gesorgt wird und diese Werte und Prinzipien zur Gewährleistung von Rechtssicherheit in einem Rechtsrahmen verankert werden.

Zusammenfassend gilt, dass unsere Gesundheitssysteme ein grundlegender Bestandteil der sozialen Infrastruktur Europas sind. Nicht zu unterschätzen sind die vor uns liegenden Herausforderungen beim Ausgleich zwischen den Bedürfnissen des Einzelnen und den verfügbaren Finanzmitteln in einer Zeit der Bevölkerungsalterung in Europa, steigender Erwartungen und medizinischer Fortschritte. Bei der Erörterung künftiger Strategien sollte es unser gemeinsames Anliegen sein, die den Gesundheitssystemen der EU zugrunde liegenden Werte und Prinzipien zu schützen. In unserer Eigenschaft als Gesundheitsminister der 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union ersuchen wir die europäischen Organe, dafür Sorge zu tragen, dass diese Werte durch ihr Handeln geschützt werden, indem die Auswirkungen der Europäischen Union auf die Gesundheitsdienste sowie die Einbeziehung der Gesundheitsaspekte in alle Politikbereiche näher untersucht werden.