3.2.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 28/42


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Denkpause: Struktur, Themen und Rahmen für eine Bewertung der Debatte über die Europäische Union“

(2006/C 28/08)

Das Europäische Parlament beschloss am 6. September 2005 gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Stellungnahme zu folgendem Thema zu ersuchen: „Denkpause: Struktur, Themen und Rahmen für eine Bewertung der Debatte über die Europäische Union“.

Gemäß Artikel 19 Absatz 1 der Geschäftsordnung beschloss der Ausschuss, zur Vorbereitung seiner Arbeiten einen Unterausschuss einzusetzen.

Der mit Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Unterausschuss „Denkpause: Struktur, Themen und Rahmen für eine Bewertung der Debatte über die Europäische Union“ nahm seine Stellungnahme am 13. Oktober 2005 an. Berichterstatterin war Frau van Turnhout.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 421. Plenartagung am 26./27. Oktober 2005 (Sitzung vom 26. Oktober) mit 130 gegen 3 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Keine Änderung der grundlegenden Logik und der Bewertungen

1.1

Die Logik und die Bewertungen, die den Ausschuss zu seiner mit sehr großer Mehrheit verabschiedeten Stellungnahme zu dem Vertrag über eine Verfassung für Europa (28. Oktober 2004) veranlasst haben, sind die gleichen geblieben — und dies gilt somit auch für die darin vorgebrachten Argumente und Empfehlungen. Nach Meinung des Ausschusses wird die Gültigkeit seiner Standpunkte durch die Unwägbarkeiten des Ratifizierungsprozesses für den Verfassungsvertrag noch weiter bekräftigt.

1.2

Beispielsweise zeigen die Ergebnisse der Referenden in Frankreich und in den Niederlanden nicht nur, dass die Mitgliedstaaten und die europäischen Institutionen unfähig waren, Europa zu vermitteln, wie es wirklich ist und wie es Kompromisse bewerkstelligt, sondern sie bestätigen auch die Kluft zwischen den Bürgern und dem Projekt Europa. Diese Kluft ist sicherlich nicht nur für diese beiden Länder spezifisch und basiert nicht nur auf kommunikativen und konjunkturellen Gründen, doch sie stellt das Wesen des Kompromisses selbst und damit auch der Art, wie er zustande kommt, in Frage.

1.3

Es ist angebracht, die „klaren Botschaften“ in Erinnerung zu rufen, die nach seiner in der Stellungnahme des Ausschusses vom Oktober 2004 geäußerten Auffassung an die Zivilgesellschaft hätten weitergegeben werden sollen:

die Anwendung der Konventsmethode, „ein Schritt nach vorn bei der Demokratisierung des europäischen Einigungswerks“;

die Ausarbeitung einer Verfassung, eine „Revolution“ in der Geschichte des europäischen Einigungswerks;

die Schaffung einer demokratischeren Union, die die Bürgerinnen und Bürger als Souveräne des europäischen Einigungswerkes anerkennt;

die Schaffung einer Union, die die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger der Union besser schützt;

die Schaffung einer Union, die mit der Gemeinschaftsmethode und den gemeinschaftlichen Politikbereichen den Erwartungen ihrer Bürgerinnen und Bürger besser entsprechen kann.

1.4

Trotz der Mängel im Verfassungsvertrag, die der Ausschuss nicht unerwähnt ließ, setzte er sich dafür ein, dass die europäische Zivilgesellschaft die Errungenschaften des Verfassungsvertrags mitträgt, um eben diese Mängel zu überwinden.

1.5

Zu den vom Ausschuss beanstandeten Mängeln zählen:

das Fehlen geeigneter Bestimmungen, um den Grundsatz der partizipativen Demokratie umzusetzen;

das Fehlen von Bestimmungen, in denen die Rolle der organisierten Zivilgesellschaft bei der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips anerkannt wird;

die Schwäche des Regierens auf Gemeinschaftsebene in Bezug auf die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik sowie das Fehlen von Vorschriften, in denen eine Anhörung des Europäischen Parlaments und des EWSA in diesen Bereichen vorgesehen ist, welche die Akteure der Zivilgesellschaft ganz unmittelbar betreffen.

1.6

Nach Meinung des Ausschusses haben diese Anmerkungen nichts von ihrer Aussagekraft und Gültigkeit verloren. In seiner Stellungnahme vom Oktober 2004 sprach sich der Ausschuss nicht nur für die Ratifizierung des Verfassungsvertrags aus, sondern forderte auch, die europäischen Bürger auf die demokratischen Fortschritte, die mit dem Entwurf des Verfassungsvertrags erzielt werden konnten, und seine Vorteile aufmerksam zu machen.

1.7

Die Debatten im Rahmen des Ratifizierungsprozesses zeigten erneut, dass eine der größten Herausforderungen, denen die Europäische Union gegenübersteht, die Erhaltung und Sicherstellung von Arbeitsplätzen und Wohlstand für die derzeitige und die künftigen Generationen ist. Die jüngste Eurobarometer-Umfrage (Eurobarometer 63, September 2005) zeigt, dass diese Frage ein Kernanliegen der europäischen Bürger ist.

1.8

Ein grundlegendes Element zur Beantwortung dieser Frage kann in den von den Staats- und Regierungschefs im Jahr 2000 festgelegten Zielen der Lissabon-Strategie gefunden werden, eine Strategie, die eine konkrete Vision der Zukunft der europäischen Gesellschaft aufzeigt.

1.9

Es muss jedoch eingeräumt werden, dass die Ergebnisse auch nach fünf Jahren eingehender Debatte und intensiver Tätigkeit auf europäischer Ebene bislang enttäuschend waren und die Verwirklichung der Lissabon-Strategie auf sich warten lässt.

1.10

Im März 2005 stellte der Europäische Rat fest, dass es „neben nicht zu leugnenden Fortschritten Schwachstellen und deutliche Rückstände gibt“. Es gibt sicherlich zahlreiche Gründe für diese Schwachstellen und Rückstände, aber die beiden folgenden Überlegungen finden wohl die weitreichendste Zustimmung:

Die Strategie ist zu abstrakt. Es fehlt an greifbaren Auswirkungen auf Menschen und Unternehmen. Die Bürger unterscheiden nicht zwischen den Auswirkungen der Globalisierung, der Politik der EU bzw. ihres eigenen Staates auf ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen;

die Strategie ist und bleibt ein von oben nach unten gerichteter Prozess. Die organisierte Zivilgesellschaft hat sich zu wenig daran beteiligt. In einigen Mitgliedstaaten ist diese Strategie vielen der betroffenen Akteure eigentlich gar kein Begriff. Offenbar gab es keine allgemeine Konsultation, zumindest nicht im Rahmen der Methode der offenen Koordinierung in den Bereichen Forschung und Bildung.

1.11

Daher betonte der Europäische Rat im März 2005 insbesondere die Notwendigkeit, dass sich die Zivilgesellschaft die Strategie zu Eigen macht und aktiv an der Umsetzung der in der Lissabon-Strategie dargelegten Ziele mitwirkt.

1.12

In diesem Zusammenhang ist ganz klar, dass die Zukunft des europäischen Gesellschaftsmodells einschl. des Sozialmodells, das grundlegender Bestandteil der kollektiven Identität der europäischen Bürger ist und mit dem diese sich stark identifizieren, von der Verwirklichung der Ziele der Lissabon-Strategie abhängt. Es geht daher nicht so sehr um die Zukunft des Verfassungsvertrages, auch wenn diese von Bedeutung ist, sondern vielmehr um die Schaffung der Bedingungen, die es den europäischen Bürgern ermöglichen, sich das europäische Einigungswerk auf der Grundlage einer umfassenden gemeinsamen Vision der Gesellschaft, die sie sich wünschen, wieder zu Eigen zu machen.

1.13

Aus diesem Grund stellte der Ausschuss in seiner Stellungnahme von Oktober 2004 auch eine Verbindung zwischen dem Verfassungsvertrag und der Lissabon-Strategie her, wobei er folgendes Argument ins Treffen führte:

„In den Debatten sollte diese Strategie vorgestellt werden, denn sie gibt jeder einzelnen Bürgerin, jedem Bürger eine Zukunftsperspektive: Wettbewerbsfähigkeit, Vollbeschäftigung, geteiltes Wissen, Investitionen in Humankapital und Wachstum, aber auch Erhaltung des Umfelds und der Lebensqualität im Wege einer nachhaltigen Entwicklung.“

2.   Europa wieder auf den richtigen Weg bringen — eine gemeinsame Vision durch partizipative Demokratie

2.1

Zur Lösung der Probleme, denen die Europäische Union gegenübersteht, muss der europäische Integrationsprozess auf der Grundlage eines neuen Konzepts des demokratischen Handelns neu legitimiert werden, in dem der Zivilgesellschaft und den sie vertretenden Einrichtungen eine wegweisende Rolle eingeräumt wird.

2.2

Die Einbindung der Zivilgesellschaft in die öffentliche Entscheidungsfindung ist dabei von grundlegender Bedeutung für die Stärkung der demokratischen Legitimität der europäischen Institutionen und der Tätigkeit der EU. Sie ist sogar von noch größerer Bedeutung für die Förderung einer gemeinsamen Sichtweise in Bezug auf die Frage, welcher Zweck mit „Europa“ verfolgt und welche Richtung dabei eingeschlagen werden soll, und somit eines neuen Konsenses, auf dessen Grundlage die Fortsetzung des europäischen Integrationsprozesses und die Gestaltung und Verwirklichung eines Projekts für das Europa der Zukunft möglich sein sollte, das den Erwartungen seiner Bürger besser entspricht.

2.3

Die Institutionen der Europäischen Union und die Regierungen der Mitgliedstaaten müssen eine echte Subsidiaritätskultur fördern, die nicht nur die unterschiedlichen Verwaltungsebenen, sondern auch die verschiedenen Komponenten der Zivilgesellschaft umfasst, um den europäischen Bürgern vor Augen zu führen, dass die EU nur dann agiert, wenn ihr Handeln auch wirklich einen zusätzlichen Nutzen bietet und dem Grundsatz der besseren Rechtsetzung entspricht.

2.4

Laut den jüngsten Eurobarometer-Umfragen sind 53 % der Befragten der Ansicht, dass ihre Stimme in der Europäischen Union nicht von Belang sei. Nur 38 % waren vom Gegenteil überzeugt.

2.5

Derartige Umfragen zeigen die Notwendigkeit auf, Instrumente zu schaffen und einzusetzen, die es den europäischen Bürgern ermöglichen, voll und ganz in die Konzipierung eines Projekts für das erweiterte Europa eingebunden zu sein, ein Projekt, das mit einem echten Inhalt versehen werden und die Bürger dazu ermuntern sollte, sich mit dem europäischen Integrationsprozess zu identifizieren und diesen zu unterstützen.

2.6

In diesem Zusammenhang sollte darauf hingewiesen werden, dass die demokratische Legitimität der Europäischen Union nicht nur in einer klaren Definition der Befugnisse und Zuständigkeiten ihrer Institutionen begründet ist. Sie bedeutet auch, dass

diese Institutionen das Vertrauen der Bürger genießen und auf eine starke Zustimmung der Bürger zum europäischen Projekt bauen können,

die aktive Beteiligung aller Bürger am demokratischen Leben der Europäischen Union umfassend gewährleistet ist, und

die Unionsbürgerschaft nicht nur eine einfache Hinzufügung zur nationalen Staatsbürgerschaft ist, sondern ihre spezifische Ausgestaltung angestrebt werden soll (1).

2.7

In der Stellungnahme des Ausschusses zu dem derzeit auf Eis gelegten bzw. verzögerten Ratifizierungsprozess des Verfassungsvertrags wird auf eine Ironie des Schicksals hingewiesen: Das Fehlen eben dieses Verfassungsvertrags, insbesondere der Bestimmungen in Titel VI über das demokratische Leben in der Europäischen Union, macht nur noch deutlicher, dass Europa seiner bedarf. Eines der Hauptprobleme der Europäischen Union ist daher die Frage, wie sie diese grundlegende Botschaft vermitteln kann.

2.8

Nach Ansicht des Ausschusses ist die Logik hinter den im Verfassungsvertrag verankerten Bestimmungen für partizipative Demokratie und den zivilen Dialog immer noch gültig. Daher müssen sich die europäischen Institutionen der Logik, die dem Verfassungsvertrag zu Grund liegt, mit Leib und Seele verschreiben und eine echte partizipative Demokratie aufbauen.

2.9

Die Partizipation muss umso dringender gestärkt werden, als die Bürger der Europäischen Union trotz der Ereignisse der jüngsten Vergangenheit viel von ihr erwarten. In der oben erwähnten Eurobarometer-Umfrage wurde auch ermittelt, dass 60 % der europäischen Bürger eine stärkere Integration innerhalb der Union befürworten (zahlreiche weitere Meinungsumfragen ergaben ähnliche Werte). Die Ergebnisse zeigen außerdem, dass die europäischen Bürger die Rolle der Union angesichts der dringenden Probleme wie die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, Armut und sozialer Ausgrenzung gestärkt wissen wollen.

2.10

Bereits im Oktober 2004 führte der Ausschuss aus, dass zur Beseitigung der Schwachstellen des Verfassungsvertrags und zur Sicherstellung seiner Ratifizierung durch die Einbeziehung der Zivilgesellschaft zahlreiche Maßnahmen getroffen werden könnten, um den vorgeschlagenen institutionellen Rahmen aufzubauen und ihn durch operative Maßnahmen zu verbessern. Der Ausschuss strich insbesondere folgende Punkte heraus:

Die Bestimmungen über die partizipative Demokratie sollten Gegenstand einer Reihe von Mitteilungen werden, in denen die Verfahren für die Anhörung und die Rolle des EWSA festgelegt werden;

der Inhalt des Europäischen Gesetzes zur Festlegung der Verfahren für die Verwirklichung des Initiativrechts für die Bürgerinnen und Bürger sollte Gegenstand von Anhörungen der Zivilgesellschaft werden. Der EWSA könnte damit im Rahmen eines Ersuchens um Abgabe einer Sondierungsstellungnahme befasst werden;

der Grundsatz der partizipativen Demokratie sollte auf die großen Strategien der Union angewandt werden, um Wachstum, Beschäftigung und nachhaltige Entwicklung zu fördern.

2.11

Auf diese Weise versuchte der Ausschuss, die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten und die europäischen Institutionen von der zwingenden Notwendigkeit zu überzeugen, die Zivilgesellschaft und ihre Organisationen für den Geist wie auch den Buchstaben des Verfassungsvertrags zu gewinnen.

2.12

Der Ausschuss hält fest, dass die von den Staats- und Regierungschefs in ihrer Erklärung von Juni diesen Jahres angekündigte breit angelegte Debatte noch nicht stattfindet. Diese sollte jedoch so bald wie möglich auf den Weg gebracht werden. Sie wäre allerdings kontraproduktiv, wenn die Bürger daraus nicht mehr Klarheit über die Art des europäischen Integrationsprozesses und insbesondere die demokratischen Aspekte dieses Prozesses ziehen könnten.

2.13

Die von den Staats- und Regierungschefs im Juni beschlossene „Zeit der Reflexion“ sollte dazu genutzt werden, Möglichkeiten zu untersuchen, um einen Ausweg aus der durch das Ergebnis des französischen und des niederländischen Referendums entstandenen politischen und institutionellen Situation zu finden.

2.14

Diese Denkpause sollte nach Meinung des Ausschusses aber in erster Linie genutzt werden, um das Fundament für eine gemeinsame, von den Bürgern mitgetragene Vision der Zukunft Europas und einen neuen Gesellschaftsvertrag zwischen Europa und seinen Bürgern, d.h. einen neuen Konsens zu legen, mit dem auch der Rahmen für die zur Sicherstellung von Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand erforderlichen Maßnahmen geschaffen wird. In diesem Zusammenhang sollten die Mitgliedstaaten „die EU mit nach Hause nehmen“.

2.15

Es muss unbedingt deutlich gemacht werden, dass „partizipative Demokratie“ und „ziviler Dialog“ keine hohlen Phrasen, sondern vielmehr wesentliche Grundsätze sind, die für den Erfolg der Politik der Europäischen Union und somit für ihre Zukunft maßgeblich sind.

2.16

Daher muss die Zivilgesellschaft so umfassend wie möglich auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene in alle künftigen Debatten und Diskussionen eingebunden werden, um die europäischen Bürger zu ermutigen, ihre konkreten Erwartungen zum Ausdruck zu bringen. Hierfür muss eine Strategie des „Zuhörens“ und des Dialogs über die europäische Politik und die Vorstellungen, die die Bürger von ihrer gemeinsamen Zukunft haben, entwickelt werden.

2.17

In diesem Zusammenhang wird der Ausschuss den „Plan D“ der Europäischen Kommission sorgfältig prüfen, umso mehr als er überzeugt ist, dass derzeit im Hinblick auf die Debatte keine wirklichen Maßnahmen eingeleitet wurden und die Methode, der Zeitplan und die Mittel, die der Debatte in jedem Mitgliedstaat, aber auch auf innergemeinschaftlicher Ebene einen Impuls geben sollen, ausschlaggebend sein werden. Der Ausschuss hat den wiederholt von der Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Margot Wallström, geäußerten Standpunkt begrüßt, dass die Kommunikation ein in beide Richtungen gehender Prozess ist und dass Europa seinen Bürgern mehr Gehör schenken muss. Nach Meinung des Ausschusses bedeutet „zuhören“ allerdings nicht unbedingt „folgen“, aber auf alle Fälle „einbinden“. Und es sollte „verstehen“ bedeuten.

3.   „Europa vermitteln“

3.1

Der Ausschuss hat ganz allgemein die immer weiter verbreitete Ansicht befürwortet, dass die Europäische Union eine eigene Kommunikationsstrategie entwickeln und ihre Kommunikationsinstrumente reformieren und verbessern soll. Der Ausschuss begrüßte den Bericht des Europäischen Parlaments vom 26. April 2005 über die Umsetzung der Informations- und Kommunikationsstrategie der Europäischen Union und den von der Europäischen Kommission am 20. Juli 2005 angenommenen Aktionsplan für eine bessere Kommunikationsarbeit der Kommission zu Europa.

3.2

Der Ausschuss hat seinerseits einen strategischen Kommunikationsplan verabschiedet, der regelmäßig aktualisiert wird. Ferner hat das Präsidium im Dezember 2004 eine umfassende Strategie angenommen, um sich der Herausforderung „Europa vermitteln“ zu stellen. Der Ausschuss setzt in beiden Fällen alles daran, die Funktion seiner Mitglieder und der Organisationen, die sie vertreten, als Verbindungsglied zu stärken. Der Ausschuss ist außerdem als eifriger Befürworter der Initiative von Wicklow aus dem Jahr 2004 aufgetreten, insbesondere durch die Vorlage eines strategischen Dokuments mit dem Titel „Bridging the Gap“ auf dem informellen Ministertreffen in Amsterdam zu der Frage, wie die organisierte Zivilgesellschaft im Allgemeinen und der Ausschuss im Besonderen besser in den Kommunikationsprozess eingebunden werden können.

3.3

Der Ausschuss begrüßte die im November 2004 ergangene Aufforderung des Europäischen Rates an die Europäische Kommission, eine schlüssige Kommunikationsstrategie für die Union zu entwickeln. In enger Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission veranstaltet der Ausschuss ein Stakeholder-Forum zu der Herausforderung, die EU zu vermitteln, um den Organisationen der Zivilgesellschaft Gelegenheit zu bieten, ihre Standpunkte in die derzeitigen Überlegungen einzubringen. Diese könnten von der Europäischen Kommission bei der Formulierung ihres Weißbuches zur Kommunikation berücksichtigt werden.

3.4

Der Ausschuss hat bereits im April 2005 ein ähnliches Stakeholder-Forum zur nachhaltigen Entwicklung abgehalten und ist bereit, weitere derartige „Foren des Konsultierens und Zuhörens“ zu wichtigen politischen Fragen auszurichten, um der organisierten Zivilgesellschaft mehr Gehör zu verschaffen und so auch „Brüssel“ die Möglichkeit zu bieten, besser zuzuhören.

3.5

In diesem Zusammenhang betont der Ausschuss die grundlegende Rolle, die das Europäische Parlament, so die Hoffnung des Ausschusses, auch weiterhin als erster und wichtigster Baustein in diesem demokratischen Brückenbau spielt. Der Ausschuss ist bereit, wie bereits im Rahmen des Europäischen Konvents, das Europäische Parlament als Partner zu unterstützen und aus eigener Initiative Anhörungen und Foren zu den Fragen zu veranstalten, die das Europäische Parlament mit der organisierten Zivilgesellschaft erörtern möchte.

3.6

Ausgehend von diesen Überlegungen möchte der Ausschuss zwei grundlegende Aspekte herausstreichen. Zum einen begrüßt der Ausschuss zwar, dass Kommunikationsstrategien und -instrumente immer stärker in den Mittelpunkt gerückt werden, möchte aber gleichzeitig darauf hinweisen, dass die Kommunikation immer nur so wirksam sein kann wie die Botschaft, die mit ihr übermittelt wird. Daher ist die Kommunikation ein zusätzlicher Mechanismus, aber kein Selbstzweck. Zum anderen steht der Ausschuss zwar voll und ganz hinter dem Prozess der Einführung einer Kommunikationsstrategie auf europäischer Ebene und der damit einhergehenden Verbesserung der Kommunikationsinstrumente der EU, doch darf die Kommunikationstätigkeit der Union nur als zusätzlicher Beitrag zu den Kommunikationsprozessen in den einzelnen Mitgliedstaaten betrachtet werden. Daher ist eine derartige Strategie auf europäischer Ebene zwar unerlässlich, aber bei weitem nicht ausreichend.

3.7

Vor diesem Hintergrund sollte die Rolle der vertretenden und beratenden Einrichtungen auf staatlicher Ebene, insbesondere der nationalen Parlamente und der Wirtschafts- und Sozialräte, sowie auf lokaler und regionaler Ebene betont werden.

4.   Empfehlungen

Es ist an der Zeit, die partizipative Demokratie Realität werden zu lassen

4.1

Die Gründe und die Logik, die den Ausschuss zu seiner Zustimmung zum Verfassungsvertrag, insbesondere zu dessen Bestimmungen über das demokratische Leben in der Europäischen Union, mit derart großer Mehrheit veranlasst haben, sind die gleichen geblieben. Der Ausschuss ist nach wie vor fest davon überzeugt, dass die beste Möglichkeit zur Gewährleistung des demokratischen Lebens in der Europäischen Union die Verankerung derartiger Bestimmungen in einer festen verfassungsmäßigen Vereinbarung ist. Die derzeit herrschende Unsicherheit sollte die Akteure der Europäischen Union jedoch nicht davon abhalten, bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt Maßnahmen zu ergreifen, um die partizipative Demokratie in die Praxis umzusetzen. Sämtliche EU-Institutionen sollten daher aktiv darüber nachdenken, wie sie

den Bürgern und deren repräsentativen Verbänden Gelegenheit geben können, ihren Standpunkt zu allen Bereichen der Unionspolitik vorzubringen und ihre Meinung auszutauschen;

einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft führen können;

breit angelegte Konsultationen der betroffenen Akteure durchführen können, um ein kohärentes und transparentes Handeln der Union sicherzustellen.

Außerdem sollte die Europäische Kommission die Vorwegnahme der in Artikel I-47 Absatz 4 des Verfassungsvertrags enthaltenen Bestimmungen durch die Konsultation der Zivilgesellschaft zum Inhalt des Europäischen Gesetzes über die Verfahren für die Ausübung des Initiativrechts der Bürger (Bürgerbegehren) in Erwägung ziehen (der Ausschuss könnte um Ausarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zu dieser Frage ersucht werden).

4.2

Der Ausschuss seinerseits bekräftigt seine Entschlossenheit, eine wichtige, wenn auch nur ergänzende Rolle beim Ausbau des zivilen Dialogs nicht nur über die traditionellen Konsultationsmechanismen, sondern auch über seine Funktion als Bindeglied zwischen Europa und der organisierten Zivilgesellschaft zu übernehmen. In diesem Zusammenhang weist der Ausschuss auf die Notwendigkeit hin, neue Ideen für die Möglichkeiten zur Interaktion mit der organisierten Zivilgesellschaft zu finden. Der Ausschuss ist bereit und in der Lage, als echter Partner alle Tätigkeiten zur Förderung des zivilen Dialogs zu unterstützen.

Die Union muss die Bürger mitreißen und die Lissabon-Strategie zum Erfolg führen

4.3

Die Wirtschaftslage in Europa ist für die Haltung der Bürger gegenüber dem europäischen Integrationsprozess von grundlegender Bedeutung. Der Ausschuss bekräftigt seine Unterstützung für die Lissabon-Strategie, betont jedoch, dass die Union und ihre Mitgliedstaaten ihre Verpflichtung auch für alle sichtbar einhalten müssen. Er ist davon überzeugt, dass die Lissabon-Strategie der beste Garant für den künftigen wirtschaftlichen Wohlstand und das soziale, ökologische und kulturelle Wohlergehen der Union ist, doch ist diese seltsamerweise dabei fehlgeschlagen, die Bürger mit ins Boot zu bringen, was beispielsweise bei der Kampagne für die Schaffung des Binnenmarktes 1992 gelungen ist. Die Mitgliedstaaten müssen ihre diesbezüglichen Verpflichtungen akzeptieren und auch einhalten. Die Lissabon-Strategie muss konkreter gestaltet werden, ihre Ziele (ggf. auch ihre Bezeichnung) müssen in das politische Alltagsvokabular der Bürger Eingang finden. Die Zivilgesellschaft und ihre Organisationen müssen einbezogen werden.

4.4

Der Ausschuss wird seinerseits gemäß dem ihm vom Europäischen Rat am 22./23. März 2005 erteilten Mandat, „gemeinsam mit den Wirtschafts- und Sozialausschüssen der Mitgliedstaaten und anderen Partnerorganisationen ein interaktives Netz von Initiativen der Zivilgesellschaft zur Förderung der Umsetzung der Strategie einzurichten“, weiterarbeiten (Dok. 7619/1/05/rev. 1 des Rates, Ziffer 9).

Die Kluft überbrücken — die Kommunikation stärken

4.5

Der Ausschuss hat stets auf die Bedeutung einer besseren Kommunikation zwischen der Europäischen Union und ihren Bürgern, in deren Auftrag sie vorgibt zu handeln, hingewiesen. Er anerkennt, dass in letzter Zeit viel seitens der EU-Institutionen sowohl in Einzel- als auch in Gemeinschaftsarbeit unternommen wurde. Als zwei Beispiele aus letzter Zeit seien das Facelifting der Website des Europäischen Parlaments und die völlige Neugestaltung des Dienstes „Europe Direct“ der Europäischen Kommission genannt. Der Ausschuss spricht sich für eine enge interinstitutionelle Zusammenarbeit in Kommunikationsfragen aus. Er nimmt den „Plan D“ der Europäischen Kommission ebenso zur Kenntnis wie ihre Absicht, demnächst ein Weißbuch zu dieser Frage vorzulegen. Der Ausschuss ist bereit, seinen Beitrag zu leisten, um die Kluft wo immer möglich zu überbrücken, wie das von ihm ausgerichtete Stakeholder-Forum am 7./8. November 2005 zu dieser Thematik zeigt.

4.6

Nach Ansicht des Ausschusses kann die Kommunikation freilich nur so gut sein wie die Botschaft, die mit ihr vermittelt werden soll. Unter Verweis auf seinen Standpunkt zur Lissabon-Strategie ist der Ausschuss der Ansicht, dass die europäischen Institutionen, insbesondere aber die Mitgliedstaaten, eingehender darüber nachdenken müssen, wie Europa vermittelt werden kann. Es wurde bereits vielfach angemahnt, die gegenseitigen Schuldzuweisungen einzustellen, doch ist klar, dass „Europa“ zu oft als negativ oder bürgerfern empfunden wird und dass nicht genug Anstrengungen unternommen wurden, um die positiven Aspekte des Integrationsprozesses in den Vordergrund zu stellen.

4.7

Im Hinblick auf eine bessere Koordinierung fordert der Ausschuss, dass der (auf einem informellen Treffen der Minister für europäische Angelegenheiten auf den Weg gebrachten) Initiative von Wicklow neuer Schwung verliehen wird. Ihr sollte jedoch ein ständiges Mandat zur Untersuchung der Möglichkeiten übertragen werden, wie Europa besser vermittelt werden kann. Außerdem sollte sie den Mitgliedstaaten einen informellen Rahmen für eine Bestandsaufnahme hinsichtlich der öffentlichen Meinung und den Austausch bewährter Verfahren bieten. Auf interinstitutioneller Ebene fordert der Ausschuss die Einrichtung einer interinstitutionellen Gruppe mit einem ähnlichen Mandat, die regelmäßiger und öfter zusammentrifft und Kommunikationsfragen erörtert. Derartige Mechanismen sind angesichts der schnellen technischen Entwicklung (z.B. Mobiltelefone, Breitband usw.) und der rasanten Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien von besonderer Bedeutung, um deren Potenzial ausschöpfen zu können.

4.8

Der Ausschuss betont, dass die Kommunikation ein ständiges Anliegen sein muss und nicht nur Gegenstand einer gelegentlichen Kampagne zu einem bestimmten Thema sein darf.

Anerkennen, wo die Hauptverantwortung liegt

4.9

Die Institutionen der Europäischen Union müssen sich vor einem — wenn auch gut gemeinten — Irrglauben hüten, und zwar dem, dass der derzeitige „Kurzschluss“ von einer zentralen Stelle, d.h. von Brüssel aus, repariert werden kann. Denn die Kommunikationsanstrengungen der europäischen Institutionen können nur ergänzende Maßnahmen sein. Die Hauptverantwortung liegt anderswo. Das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament sowie der Referenden über den Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden haben deutlich gezeigt, dass viele Unionsbürger Europa skeptisch gegenüberstehen, insbesondere was die Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts auf ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen betrifft. Es ist Sache der Mitgliedstaaten, ihren Bürgern die Bedeutung der EU und die Notwendigkeit eigener europäischer Rechtsvorschriften zu erklären sowie die daraus resultierenden Auswirkungen den jeweils betroffenen Akteuren in ihrem Land zu vermitteln.

4.10

Die Bürger einschl. der Zivilgesellschaft werden erst dann von der Legitimität und der gemeinsamen Zukunft der Europäischen Union überzeugt sein, wenn ihnen diese Union glaubwürdig und vertrauensvoll erscheint und die Transparenz des Legislativprozesses sowie die Rechtsstaatlichkeit gewahrt sind. Dies sicherzustellen ist in erster Linie Aufgabe der Regierungen der Mitgliedstaaten. Diese müssen als Teilhaber der Union auftreten und dürfen sich nicht davon distanzieren. Vielmehr müssen sie von den mit einer solchen Haltung verbundenen ständigen ambivalenten Aussagen Abstand nehmen.

4.11

Wie das Irish National Forum on Europe gezeigt hat, können die Organisationen der Zivilgesellschaft manchmal einen entscheidenden Beitrag leisten. Es gilt, die Kommunikation auf der jeweiligen Ebene bzw. im jeweiligen Umfeld (auf örtlicher Ebene, Arbeitswelt usw.) zu verbessern und den Erfolg der Politik oder der Rechtsakte der Union dort auf anschauliche und verständliche Art und Weise zu erläutern. Die Organisationen der Zivilgesellschaft sind für diese Aufgabe bestens geeignet. Der Ausschuss ist daher entschlossen, die Organisationen der Zivilgesellschaft in den Mitgliedstaaten insbesondere dank der Mittlerfunktion seiner Mitglieder zu unterstützen und anzuspornen. Sollte tatsächlich eine breit angelegte Debatte über die europäische Einigung und die europäische Politik auf den Weg gebracht werden, dann sollte diese auf den nachgeordneten Ebenen der Zivilgesellschaft in den Mitgliedstaaten beginnen. Ein europaweites Forum ist nur dann sinnvoll, wenn diese Standpunkte sowohl nach oben als auch nach unten weitergegeben werden. Es bedarf weniger eines von oben nach unten oder eines von unten nach oben, sondern eines von unten nach unten gerichteten Ansatzes.

4.12

In dieser Stellungnahme wurde eine weitreichende Debatte über die Zukunft des Verfassungsvertrags und die der Europäischen Union offenstehenden Möglichkeiten bewusst ausgespart. Die dauerhafte Rückkehr zu dem Status quo vor dem Vertrag von Nizza ist ganz eindeutig keine Alternative. Aber vielleicht könnte die von den Staats- und Regierungschefs angekündigte breit angelegte Debatte dazu beitragen, den besten Weg für die Zukunft aufzuzeigen. Der Ausschuss nimmt jedoch mit Besorgnis zur Kenntnis, dass diese Debatte in den meisten Mitgliedstaaten kaum stattfindet. Solange es keine derartige Debatte gibt, können auch keine spürbaren Fortschritte erzielt werden.

Brüssel, den 26. Oktober 2005

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Ausschussstellungnahme SOC/203 „Aktionsprogramm aktive Bürgerschaft“.