30.4.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/55


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Sozialer Zusammenhalt in Lateinamerika und der Karibik“

(2004/C 110/12)

Die Kommission ersuchte in einem Schreiben von Herrn Christopher Patten vom 1. Juli 2003 den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um eine Stellungnahme zum Thema: „Sozialer Zusammenhalt in Lateinamerika und der Karibik“.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 6. Februar 2004 an. Berichterstatter war Herr ZUFIAUR.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 406. Plenartagung am 25./26. Februar 2004 (Sitzung vom 25. Februar) mit 94 gegen 5 Stimmen bei 11 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

Zusammenfassung

i.

Diese auf Ersuchen von Kommissionsmitglied Patten ausgearbeitete Sondierungsstellungnahme bringt die Ansichten der organisierten Zivilgesellschaft Europas, Lateinamerikas und der Karibik zu Fragen des sozialen Zusammenhalts im lateinamerikanisch-karibischen Raum zum Ausdruck. Sie enthält insbesondere Überlegungen über die möglichen Beiträge der Organisationen der Zivilgesellschaft zur Erreichung dieses Ziels, z.B. durch soziale Konzertierung, Entwicklung der Sozialschutzsysteme und Förderung der sozialen Verantwortung der Unternehmen. Diese Stellungnahme des EWSA bedarf allerdings noch der Vervollständigung durch die Beiträge der Organisationen aus Lateinamerika und der Karibik und die Ergebnisse der Gespräche auf dem Dritten Treffen der organisierten Zivilgesellschaft EU/Lateinamerika und Karibik im April 2004 in Mexiko-Stadt.

ii.

Ohne eine endgültige Definition des Begriffs des sozialen Zusammenhalts vorwegnehmen zu wollen, werden in der Stellungnahme die verschiedenen Teilaspekte - der politische, wirtschaftliche, soziale und territoriale - dieses Begriffs aufgezeigt, um nicht nur den üblicherweise erörterten makroökonomischen Faktoren Rechnung zu tragen, sondern auch andere Teilaspekte einzubeziehen, wie Bildung, Stärke der Institutionen und Zugang zu grundlegenden öffentlichen Dienstleistungen, die zur Bestimmung des Grades des sozialen Zusammenhalts in Lateinamerika und der Karibik unerlässlich sind.

iii.

Der augenfälligste Ausdruck des mangelnden sozialen Zusammenhalts in Lateinamerika und der Karibik sind, wie die Stellungnahme zeigt, Armut und Ungleichheit. Obwohl sich in Bezug auf erstere die Lage im vergangenen Jahrzehnt gebessert hat (der Anteil der von Armut betroffenen Bevölkerung sank von 48 % im Jahr 1990 auf 43 % im Jahr 2002), hat sich die Ungleichheit so weit verschärft, dass sie schon chronisch zu nennen ist. Bei aller Heterogenität der einzelnen Länder untereinander ist Lateinamerika insgesamt die Region mit der weltweit größten Ungleichheit. Zur materiellen Armut kommen die immaterielle (Zugang zu Bildung und Chancengleichheit) und die rechtliche (effektive Ungleichheit vor dem Gesetz, schwach entwickelte staatsbürgerliche, politische und soziale Bürgerrechte, Unsicherheit im Alltag) hinzu. Dies alles verursacht Gewalt, Zersetzung und Anomie in der Gesellschaft und untergräbt die Glaubwürdigkeit der Institutionen und des demokratischen Systems. Die Gefahr, dass sich in Lateinamerika eine Wahrnehmung der Bürger ausbreitet, bei der diese ihre Länder als „irrelevante Demokratien“ sehen, wurde vor kurzem in einer Untersuchung des UNDP hervorgehoben (Bericht über die Demokratie in Lateinamerika 2004).

iv.

Der geringe Entwicklungsgrad stützender Elemente, die moderne Gesellschaften kennzeichnen (Infrastruktur, Bildung, Gesundheitssystem, Steuersystem, Justiz, Sozialschutz, Rahmen der Arbeitsbeziehungen etc.) ist ein allen lateinamerikanischen und karibischen Ländern gemeinsames Wesensmerkmal. Der genannte Bericht spricht sogar vom abwesenden Staat als einem typischen Kennzeichen vieler lateinamerikanischer Länder. Dies zeigt sich unter anderem in drei Aspekten: der geringen Qualität der Bildungssysteme, dem ungleichen Zugang dazu und ihrer unzureichenden Ausrichtung auf die Produktionswelt; der in der Region überwiegend anzutreffenden unzureichenden, ungerechten Steuersysteme; und schließlich in den meisten Ländern der Region dem Fehlen umfassender Sozialschutzsysteme, was tiefgreifende Ungleichheiten verursacht und die Mehrheit der Bevölkerung vom Schutz, den die bestehenden Systeme gewähren, ausgrenzt.

v.

Eine grundlegende Voraussetzung für die Verbesserung des sozialen Zusammenhalts in Lateinamerika und der Karibik ist, wie in der Stellungnahme aufgezeigt wird, eine effizientere, demokratischere Gestaltung des Produktivsystems, das unter vielfältigen Beeinträchtigungen leidet: sehr großes Ausmaß des informellen Sektors, geringe Größe der Märkte, mangelnde Diversifizierung der Wirtschaft, schlecht entwickelte Infrastruktur, vor allem in den Bereichen Verkehr und Kommunikation, noch immer ausstehende Agrarreformen, Mangel an Finanzmitteln und in dieser Hinsicht Abhängigkeit vom Ausland, nur wenig entwickelte Formen der Sozialwirtschaft, niedrige Qualität und mangelnder Schutz der Beschäftigung und praktische Inexistenz eines Rahmens für Arbeitsbeziehungen, der auf der Achtung der grundlegenden Arbeitsrechte, auf Ausgewogenheit und Vertrauen basiert.

vi.

Die Stellungnahme zeigt auch die Bedeutung eines Aspekts auf, der dem EWSA sehr am Herzen liegt: Wenn in Lateinamerika und der Karibik die Demokratie gestärkt, die Lebensqualität erhöht und die Regierbarkeit verbessert werden sollen, muss die organisierte Zivilgesellschaft gestärkt und enger in die Beschlussfassung einbezogen werden. Dies ist eine grundlegende Vorbedingung für die Verbesserung der politischen Demokratie, eine gerechtere Verteilung des materiellen und immateriellen Wohlstands und die stärkere Einbeziehung aller Sektoren und Minderheiten (wie der von jeher marginalisierten Urbevölkerung) in das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben.

vii.

Abschließend enthält die Stellungnahme eine Reihe von Empfehlungen und Anregungen dafür, wie die Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika und der Karibik zu einem stärkeren sozialen Zusammenhalt in dieser Weltregion beitragen können. Diese Überlegungen gehen von zwei Prämissen aus: zum einen der strategischen Bedeutung, die die Beziehungen zu Lateinamerika und der Karibik für die EU sowohl zur Stärkung ihrer geopolitischen Bedeutung als auch für den Aufbau einer neuen Weltordnung und einer gerechten, solidarischen Steuerung der Globalisierung haben, sowie der Relevanz der Beziehungen zur EU für die Länder Lateinamerikas und der Karibik zur Unterstützung einer ausgewogenen Integration in der Region und zur Stärkung ihrer Verhandlungsposition auf der internationalen Ebene; und zum anderen von der Überzeugung, dass die EU nicht nur mit Entwicklungshilfe und Entwicklungskooperation zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts in der Region beitragen sollte, sondern dieses Ziel in alle Teilbereiche ihrer Beziehungen zu den Staaten Lateinamerikas und der Karibik einschreiben sollte.

viii.

Die Vorschläge der Stellungnahme richten sich u.a. auf die Stärkung der organisierten Zivilgesellschaft (Unterstützung von Entwicklungsprojekten mit sozialem Bezug in den Prozessen der regionalen Integration, des Aufbaus gemischter Einrichtungen zwischen berufsständischen und gesellschaftlichen Organisationen der EU und den Staaten Lateinamerikas und der Karibik, Einrichtung einer Haushaltslinie zur Unterstützung der Organisationen aus Wirtschaft und Gesellschaft, Schaffung eines Programms zum Schutz von Menschenrechtlern in Lateinamerika und der Karibik u.a.). Andere Vorschläge richten sich auf die Entwicklung des Produktivsystems und den Aufbau eines demokratischen Rahmens für Arbeitsbeziehungen und sozialen Dialog (Transfer europäischer Erfahrungen mit der sozialen Konzertierung, Unterstützung beim Aufbau von Infrastrukturen, die ausländische Direktinvestitionen anlocken, Einrichtung eines KMU-Fonds für Lateinamerika, gemeinsame Entwicklungspläne mit den Herkunftsländern lateinamerikanischer und karibischer Immigranten in die EU, Formulierung einer Charta der Grundsätze der sozialen Verantwortung der Unternehmen); weitere Initiativen haben die Verringerung der Auslandsverschuldung und die Entwicklungsfinanzierung zum Ziel (Formeln für Umschuldung, Schuldenrücknahme oder Schuldenerlass durch Programme zur Armutsbekämpfung, Kooperationsprogramme im Umwelt- und Bildungsbereich, Empfehlungen zur Verringerung der Abhängigkeit von Rating-Agenturen); weitere Vorschläge bezwecken die Stärkung der Sozialschutzsysteme (Transfer europäischer Erfahrungen, Unterstützung beim Abschluss zwischenstaatlicher Einwanderungsabkommen, Modernisierung ihrer Verwaltung und Unterstützung einer entsprechenden Fachausbildung); und schließlich sind verschiedene Vorschläge dem Bereich der Entwicklungshilfe und Entwicklungskooperation gewidmet: engere Koordinierung unter den europäischen Geberländern, bessere Übereinstimmung der Hilfen mit den angestrebten Zielen, mehr Mitsprache der Empfängerländer bei grundlegenden Entscheidungen über den Mitteleinsatz, Hilfe für die bedürftigsten Länder durch Stärkung ihrer Fähigkeit, in multilateralen Verhandlungen autonom aufzutreten. Darüber hinaus werden die Ausbildung der Menschen und die Stärkung der Institutionen als wichtige, vordringliche Handlungsbereiche hervorgehoben.

1.   Einleitung

1.1

Kommissionsmitglied Patten legte der Rio-Gruppe am 28. März 2003 in Vouliagmeni (Griechenland) einen Vorschlag vor, der die Förderung des sozialen Zusammenhalts in den Ländern Lateinamerikas zum Inhalt hat. Der Vorschlag, der auf dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der EU und der Länder Lateinamerikas und der Karibik am 28./29. Mai 2004 in Guadalajara/Mexiko eine zentrale Rolle spielen wird, geht von der Feststellung aus, dass die Folgen der Demokratisierung und der Wirtschaftsentwicklung der 90er Jahre bei breiten Bevölkerungsschichten gar nicht angekommen sind, sondern soziale Ungleichheit und Ausgrenzung fortbestehen. Das bremst die Wirtschaftsentwicklung und führt zu Instabilität in dieser Weltregion.

1.2

Die EU ist bereit, sich für einen neuen Konsens zwischen den Regierungen Lateinamerikas und der Karibik einzusetzen, der auf dem Gipfeltreffen in Mexiko mit einer festen Verpflichtung, bestimmte Ziele u.a. in der Sozial- und Steuerpolitik, der Wirtschaftsentwicklung und bei den Sozialausgaben zu erreichen, konkrete Gestalt annehmen soll. Die EU will mit einem 30 Mio. Euro umfassenden Programm für Erfahrungsaustausch und Wissenstransfer bei der Erarbeitung und Umsetzung sozialpolitischer Maßnahmen zu dieser Zielsetzung beitragen, da es sich um ein Thema handelt, das für die strategische biregionale Zusammenarbeit von besonderer Bedeutung ist.

1.3

Zum Auftakt dieser Initiative veranstaltete die Kommission gemeinsam mit der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IEB) am 5./6. Juni 2003 ein Seminar zum Thema „Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt in Lateinamerika und der Karibik“. Ziel war es, eine umfassende Debatte über den Umfang dieses Problems, seine negativen Auswirkungen auf Entwicklung und Stabilität, die möglichen politischen Optionen und die Anstrengungen einzuleiten, welche die lateinamerikanischen Regierungen unternehmen müssen, um Probleme, die aus dem mangelnden sozialen Zusammenhalt entstehen, wie z.B. Ungleichheit und gesellschaftliche Ausgrenzung, zu bewältigen.

1.4

Im Hinblick auf das Dritte Treffen der Zivilgesellschaft EU-Lateinamerika, das der EWSA gemeinsam mit seinen lateinamerikanischen und karibischen Partnerorganisationen am 13.-15. April 2004 in Mexiko veranstalten wird, ersuchte Kommissar Patten den Ausschuss am 1. Juli 2003 um Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zum sozialen Zusammenhalt in Lateinamerika.

1.5

Gemäß Kommissar Patten sollen in der Stellungnahme die Meinungen der organisierten Zivilgesellschaft Lateinamerikas, der Karibik und Europas zum Thema sozialer Zusammenhalt in Lateinamerika und der Karibik zum Ausdruck gebracht, die auf dem (oben erwähnten) Seminar im Juni 2003 erarbeiteten Dokumente ergänzt und die Rolle skizziert werden, welche die Sozialpartner derzeit in Lateinamerika und der Karibik spielen. Ferner sollte darin in Zusammenarbeit mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen Lateinamerikas und der Karibik untersucht werden, wie die Sozialpartner zu einem stärkeren sozialen Zusammenhalt in ihren Ländern beitragen können. Zu denken wäre in diesem Zusammenhang an die soziale Konzertierung, die gemeinsame Verwaltung der sozialen Sicherungssysteme oder die Umsetzung einer die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft fördernden und gleichzeitig dem sozialen Zusammenhalt aller Beteiligten dienenden Politik der sozialen Verantwortung (1) seitens der in Lateinamerika investierenden europäischen Unternehmen.

2.   Der Begriff des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts

2.1

Der Begriff des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts lässt verschiedene Auslegungen zu. In dieser Stellungnahme wird der von der Europäischen Kommission in den Berichten über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt in der Union geprägte Begriff zugrunde gelegt, dessen Betrachtung allerdings ergänzt wird durch einige für die Lage in Lateinamerika charakteristische Aspekte, wie Hunger, Ureinwohner und informale Beschäftigung sowie ein stärkerer sozialer Determinismus beim Zugang zur Chancengleichheit.

2.1.1

Um einen stärkeren sozialen Zusammenhalt zu erreichen, brauchen die Staaten in den Worten von IEB-Präsident Enrique Iglesias einen „Rahmen, der Mechanismen und Institutionen gedeihen lässt, die Ungleichheiten abbauen und Teilungen überwinden“. So gesehen, erschöpft sich der Begriff des sozialen Zusammenhalts nicht allein in sozioökonomischen Indikatoren, sondern schließt verschiedene Dimensionen ein.

2.2   Die politische Dimension

2.2.1

Der soziale Zusammenhalt hat zunächst eine fundamentale politische Dimension. Sie reicht von der Qualität der demokratischen Institutionen bis zur Beteiligung der Bürger an den öffentlichen Angelegenheiten und schließt die Sicherung der sozialen Bindungen, die Schaffung gerechterer Gesellschaften, den Ausbau von Sozialschutz- und Solidarsystemen, die Erhaltung des kulturellen Erbes und der Naturschätze und die aktive Beteiligung der wirtschaftlichen und sozialen Akteure am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben ein.

2.2.2

Die Verbesserung des sozialen Zusammenhalts erfordert das Tätigwerden des Staates und der öffentlichen Einrichtungen mit Hilfe wirkungsvoller Normen und Maßnahmen: Aufbau von Infrastrukturen, leistungsfähiger öffentlicher Dienste, einer unabhängigen Justiz, eines Regelwerks für Arbeitsbeziehungen, gerechter Steuersysteme usw. In einem Wort: die öffentlichen Einrichtungen spielen eine zentrale Rolle für die Förderung der Rechte und der staatsbürgerlichen, politischen und sozialen Bürgerschaft. Von daher ist der soziale Zusammenhalt in erster Linie eine politische Frage.

2.3   Die wirtschaftliche Dimension

2.3.1

Die wirtschaftliche Dimension des sozialen Zusammenhalts umfasst die Bereiche Wohlstand und seine Verteilung, Ausbau des Produktivsystems (Zugang zu Grundressourcen, Verbesserung produktivitätsrelevanter Faktoren, investitions- und KMU-freundliches Umfeld etc.), Forschung, Entwicklung und Innovation, Beschäftigungsquote und Qualität der Beschäftigung, Lohnniveau und bestehende Lohnungleichheiten. Verbesserungen in diesen Bereichen werden im Fall der Staaten Lateinamerikas und der Karibik u.a. durch die Zweiteilung in einen formalen und einen informalen Arbeitsmarkt, die unzureichende Höhe der Produktivinvestitionen und die geringe Qualifikation der Humanressourcen der Region erschwert. Ein ausgeprägtes Maß an wirtschaftlicher Ungleichheit, wie es für die lateinamerikanischen Gesellschaften kennzeichnend ist, wirkt bremsend auf die wirtschaftliche Entwicklung und bedeutet somit wirtschaftlichen Rückstand und soziale Destrukturierung.

2.3.2

Andererseits wird eine erhebliche Verbesserung des sozialen Zusammenhalts in den Ländern Lateinamerikas und der Karibik ohne ein anhaltendes Wirtschaftswachstum und eine dauerhafte soziale Entwicklung nicht möglich sein. Um dies zu erreichen, bedarf es eines höheren Maßes an gesamtwirtschaftlicher Stabilität - neben deutlichen Verbesserungen der sozialen Gerechtigkeit - im Einklang mit Strukturreformen, die die produktiven Ressourcen der Region aktivieren, dabei insbesondere Impulse für Unternehmensgründungen geben und der Befähigung der Arbeitnehmer, einer besseren Einkommensverteilung und der Schaffung demokratischer Rahmenbedingungen für die Arbeitsbeziehungen dienen.

2.4   Die territoriale Dimension

2.4.1

Der soziale Zusammenhalt ist eng mit dem territorialen verknüpft: der Fähigkeit zur Erzeugung von Synergien zwischen allen Akteuren eines Gebietes, einer ausreichenden Ausstattung mit Infrastrukturen jeder Art einschließlich moderner Informations- und Kommunikationstechniken und dem Zugang aller Bürger zu grundlegenden Leistungen der Daseinsvorsorge (in Bereichen wie Gesundheit, Bildung, Wasser, Verkehr, Strom, Wohnung). Die Ungleichheiten manifestieren sich innerhalb eines Gebiets, zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Stadt und Land, zwischen Küstenzonen und Binnenland sowie hinsichtlich gesellschaftlicher Gruppen wie der Urbevölkerung oder Zuwanderern.

2.5   Die soziale Dimension

2.5.1

Eine gerechte Verteilung des Wohlstands, der verschiedenen Quellen materiellen und immateriellen Reichtums und des Volkseinkommens ist ein Wesenselement des sozialen Zusammenhalts. Kennzeichnend für das europäische Gesellschaftsmodell (als den Gemeinsamkeiten der einzelnen, in Europa nebeneinander bestehenden Modelle: hohe Ausgaben für Sozialschutz, Regulierungsfunktion des Staates, wichtige Rolle der gesellschaftlichen Akteure) ist das Bemühen um die Verknüpfung der wirtschaftlichen mit der sozialen Entwicklung. Das bedeutet: Die Festlegung der Regeln für die Verteilung des Wohlstands (Arbeits- und Sozialnormen, Systeme der sozialen Sicherung für Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit, Schutz der Familie, Tarifverhandlungen, Steuersystem) zugunsten aller kommt vor der Erarbeitung der wirtschaftlichen Ergebnisse und der Erzeugung dieses Wohlstandes.

2.5.2

Die soziale Dimension des Begriffs „sozialer Zusammenhalt“ bezieht sich auch auf die sehr aktuelle Problematik der horizontalen Ungleichheit, die durch Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Rasse oder ethnischen Abstammung oder anderer, für die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen kennzeichnender Merkmale entsteht. In diesem Sinne sind die Grundprinzipien, auf denen der soziale Zusammenhalt fußt, die Daseinsvorsorge und die Gewährleistung von Rechten für alle.

2.5.3

Ein umfassendes Verständnis des Begriffs „sozialer Zusammenhalt“, wie es hier verfochten wird, eröffnet ein breites Spektrum von Ansatzpunkten zur Stärkung dieses Ziels sowohl durch Maßnahmen, die von den lateinamerikanischen und karibischen Staaten zu ergreifen sind, als auch in den Beziehungen zwischen der EU und den Ländern der Region. Zum einen müssen dazu mit der materiellen Unterstützung, aber auch mit dem Erfahrungsschatz der EU strategische Handlungsbereiche vertieft werden, die zur Erhöhung des sozialen Zusammenhalts in Lateinamerika und der Karibik beitragen. Zum anderen müssen die Beziehungen zwischen der EU und den Ländern der Region stärker dahin gehend entwickelt werden, dass sie neben den Mitteln für Entwicklungszusammenarbeit das Ziel eines besseren sozialen Zusammenhalts in Lateinamerika und der Karibik in den wechselseitigen Austausch und in die Handels-, Bildungs-, Technologie- und Sozialpolitik einschreiben. In diesem Sinne haben sich sowohl die ersten beiden Treffen der organisierten Zivilgesellschaft EU/Lateinamerika und Karibik als auch in letzter Zeit wichtige lateinamerikanische Politiker geäußert, z.B. der chilenische Präsident Lagos, der brasilianische Präsident Lula da Silva und der argentinische Präsident Néstor Kirchner.

3.   Das soziale Defizit in Lateinamerika

3.1

Eine Untersuchung, die sich mit Lateinamerika und der Karibik befasst, muss von der Feststellung ausgehen, dass die wirtschaftliche, politische und soziale Lage dieser Länder sehr heterogen ist. Für die Zwecke dieser Stellungnahme und eingedenk der Gefahr der Vereinfachung sollen hier aber gemeinsame Definitionsmerkmale zugrunde gelegt werden, um den Grad des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts der Region als Ganzes zu untersuchen und daraus Schlüsse zu ziehen, wie dem Defizit an Zusammenhalt, von dem alle Länder mehr oder minder betroffen sind, begegnet werden kann.

3.1.1

Diese Stellungnahme setzt vorrangig auf drei Ebenen zur Analyse der Lage in Lateinamerika und der Karibik an: dem wirtschaftlich-sozialen Kontext, dem politischen Kontext und den Indikatoren der sozialen Unzufriedenheit.

3.2   Der wirtschaftlich-soziale Kontext

3.2.1

Armut und Ungleichheit werden von den Menschen in Lateinamerika als die bedrückendsten Probleme wahrgenommen. Gemäß dem „Latinobarómetro“ ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung der Ansicht, dass die drängendsten Probleme Lateinamerikas die Arbeitslosigkeit, die niedrigen Löhne und die Armut sind. 2003 gab nahezu ein Viertel der Lateinamerikaner an, dass ihr Einkünfte nicht zur Deckung ihres Grundbedarfs ausreichten. Diese Probleme werden gegenüber anderen, wie Korruption oder Kriminalität, als vordringlich angesehen.

3.2.2   Armut

3.2.2.1

Nach Angaben der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC, span. CEPAL) lebten 2002 43,4 % der Bevölkerung in Lateinamerika und der Karibik in Armut und 18,8 % in extremer Armut (2). In absoluten Zahlen entspricht dies 220 Mio. bzw. 95 Mio. Einwohnern. Die Prognosen für 2003 lassen eine Zunahme der Zahl der Armen um 0,5 Prozentpunkte erwarten, was bedeuten würde, dass die Armut in dieser Region im dritten Jahr in Folge zunimmt. Zwischen 1997 und 2002 stagnierte die Armenquote bei rund 43,5 % der Bevölkerung; in absoluten Zahlen erhöhte sich der Anteil der Bevölkerung mit einem unzureichenden Lebensstandard jedoch von 204 auf 220 Mio. Einwohner. Zurückzuführen ist dies auf das geringe Wirtschaftswachstum in den vergangenen sechs Jahren, eine Zeit, die allgemein, auch von der CEPAL, als „das halb verlorene Jahrzehnt“ bezeichnet wird.

3.2.2.2

Am größten ist die Armut auf dem Lande, wo sie ein doppelt so hohes Ausmaß wie in den Städten erreicht (59,1 % gegenüber 26,1 %). In absoluten Zahlen verteilt sich aufgrund der zunehmenden Landflucht die Armut jedoch gleichmäßig auf Stadt- und Landbevölkerung. Vorrangig von Armut betroffen sind Haushalte, deren Familienoberhaupt in der Landwirtschaft sowie in nicht finanzwirtschaftlichen städtischen Dienstleistungssektoren arbeitet (35,5 % bzw. 29,1 % der in Armut lebenden Bevölkerung der Region). Gravierende Ungleichheiten gibt es auch innerhalb der einzelnen Länder, z.B. in Brasilien und Guatemala oder in Kolumbien, wo der schwache territoriale Zusammenhalt der politisch motivierten Gewalt Vorschub leistet.

3.2.2.3

Frauen sind stärker von Armut betroffen als Männer. Der Anteil der Frauen ohne Einkommen ist sowohl in den städtischen Gebieten (45 % gegenüber 21 %) als auch in den ländlichen (53 % gegenüber 20 %) höher. In den städtischen Gebieten ist der Anteil der armen Haushalte, deren Familienoberhaupt eine Frau ist, höher als der der Haushalte mit einem Mann als Familienoberhaupt (30,4 % gegenüber 25 %). Außerdem ist die Armut wesentlich ausgeprägter bei Menschen indianischer Abstammung oder mit afrikanischen Vorfahren als bei der übrigen Bevölkerung. In Brasilien, Bolivien, Guatemala und Peru durchgeführte Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Armut in diesen Bevölkerungsgruppen doppelt so hoch wie im Rest der Bevölkerung ist.

3.2.3   Einkommensverteilung

3.2.3.1

Das reichste Dezil (Zehntel) der Bevölkerung in Lateinamerika und der Karibik verfügt über 48 % des Gesamteinkommens, das ärmste Dezil dagegen nur über 1,6 %. Die Ungleichheit nahm, gemessen am Gini-Index, in den vergangenen drei Jahren in Lateinamerika und der Karibik zu. In einer in elf Ländern der Region (Argentinien, Bolivien, Brasilien, Costa Rica, Ecuador, Kolumbien, Mexiko, Nicaragua, Panama, Uruguay und Venezuela) durchgeführten CEPAL-Studie wird eine Zunahme der Einkommenskonzentration in allen Ländern außer Mexiko festgestellt. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass es erhebliche Unterschiede in der Einkommensverteilung zwischen den Ländern der Region gibt, die nicht mit den Grad der industriellen Entwicklung zusammenhängen.

3.2.4   Hunger

3.2.4.1

Beim Anteil der Hunger leidenden Bevölkerung (gemessen als Prozentanteil der unterernährten Bevölkerung) ist allgemein in Lateinamerika und der Karibik zwischen den Zeiträumen 90-92 und 98-00 ein Rückgang festzustellen; er betrifft durchschnittlich 11 % der Bevölkerung. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass es unter den Ländern der Region viele Unterschiede gibt, denn die Angaben für den Zweijahreszeitraum 1998-2000 umfassen neben Ländern, in denen mehr als 20 % der Bevölkerung unterernährt sind (Bolivien, Dominikanische Republik, Guatemala, Haiti, Honduras und Nicaragua) auch Länder mit einem Anteil von weniger als 5 % (Argentinien, Chile und Uruguay). Gründe für die Unterernährung sind der CEPAL zufolge u.a. der ungleiche Zugang zum Nahrungsmittelangebot, die Angebotsknappheit und die schlechte Einkommensverteilung.

3.2.4.2

Überproportional von Unterernährung betroffen sind Kinder, was weit reichende langfristige Folgen haben kann. Zwar weisen die Indikatoren für die Unterernährung bei Kindern auf eine Verbesserung im Zeitraum 1995-2001 hin, doch ist das Ausmaß immer noch erschreckend: 19,5 % der Kinder unter fünf Jahren sind chronisch und akut unterernährt.

3.2.4.3

Die chronische Unterernährung von Kindern ist der Hauptweg der Weitergabe von Unterentwicklung und Armut von Generation zu Generation, denn der Nahrungsmangel in den für die körperliche und psychomotorische Entwicklung eines Kindes kritischsten Jahren beeinträchtigt entscheidend seine geistigen Fähigkeiten und schulischen Leistungen, seine berufliche Einsatz- und seine soziale Integrationsfähigkeit und stellt eine große Hypothek für das Entwicklungspotenzial der Gesellschaft dar.

3.2.5   Bildung und Bildungszugang

3.2.5.1

Die Analphabetenrate ist für Arbeitgeber aus den entwickelten Ländern hoch, allerdings von Land zu Land sehr unterschiedlich. In einigen Ländern, wie Argentinien, Chile, Costa Rica, Kuba und Uruguay liegt sie bei unter 5 % der über 15-jährigen. In anderen Ländern, wie El Salvador, Guatemala, Haiti, Honduras und Nicaragua liegt dieser Indikator jedoch bei über 20 %. Generell ist der Analphabetismus bei den Frauen höher.

3.2.5.2

Der Zugang zur Grundschulbildung (Schüler zwischen sieben und zwölf Jahren) ist sehr hoch in städtischen Gebieten und erreicht über 90 % (eine andere Frage ist natürlich die Regelmäßigkeit des Schulbesuchs und die volle Absolvierung des Lehrpensums; nach Angaben der CEPAL (3) haben im Jahr 2000 rund 15 Mio. von insgesamt 49 Mio. Jugendlichen im Alter von 15-19 Jahren die Schule vor Vollendung des zwölften Schuljahres verlassen). Die Einschulungsquoten sind in einkommensstarken Familien stets wesentlich höher, vor allem in Ländern mit hoher Einkommenskonzentration und einer geringeren relativen Entwicklung, wie z.B. der Dominikanischen Republik, Ecuador, El Salvador, Guatemala, Honduras, Kolumbien und Nicaragua. Diese einkommensabhängigen Unterschiede beim Zugang zur Bildung werden mit zunehmendem Alter der Schüler ausgeprägter, weil viele eine Arbeit aufnehmen müssen, um zum Familieneinkommen beizutragen. In den meisten lateinamerikanischen und karibischen Ländern ist der Grad des Schulbesuchs bei den Frauen höher als bei den Männern (in allen Einkommensklassen), vor allem in der Altersgruppe der 20- bis 24-jährigen.

3.2.5.3

Schwächen der Bildungssysteme in Lateinamerika und der Karibik sind in drei Bereichen festzustellen. Erstens ist die Qualität des Bildungsangebots in Bereichen wie der Grund- und höheren Schulbildung sehr gering, was sich in hohen Quoten von Schulabbruch und Schulversagen, in schwachen Schulleistungen der Schüler, in der schlechten Ausstattung der Schulen und in wenig motivierten Lehrern offenbart. Zweitens ist der Zugang zum Bildungsangebot sehr ungleich: Es gibt ausgeprägte Unterschiede in den Einschulungsquoten und der Schulleistung zwischen Stadt und Land, in Bezug auf die ethnische Herkunft oder auch je nach dem Geschlecht der Schüler. Und drittens besteht eine erhebliche Kluft zwischen dem Bildungssystem und den Erfordernissen der Arbeitsmärkte, nicht nur auf Grund der Unzulänglichkeiten der Arbeitsmärkte, sondern auch wegen der Schwächen u.a. in der höheren Schulbildung und der Berufsschulbildung.

3.2.6   Gesundheit und Gesundheitsversorgung

3.2.6.1

Die Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt reicht von 59 Jahren in Haiti bis zu 77 Jahren in Costa Rica und Barbados. Die Kindersterblichkeit reicht in einem weiten Bogen von 7 Promille in Kuba bis zu 59 Promille in Haiti (4).

3.2.6.2

Zum Vergleich: Die Menschen in Lateinamerika haben zum Zeitpunkt ihrer Geburt eine um acht Jahre geringere Lebenserwartung als die Bewohner eines europäischen Landes wie z.B. Spanien. Dieses niedrigere Gesundheitsniveau kommt auch in den relativ hohen Sterblichkeitsraten zum Ausdruck, die nach wie vor in der Region festzustellen sind und siebenmal höher als in Spanien oder Deutschland sind.

3.2.7   Soziale Ausgaben und sozialer Schutz

3.2.7.1

Die durchschnittlichen Ausgaben der lateinamerikanischen und karibischen Staaten für soziale Zwecke (nur in den vier Ausgabenbereichen Bildung, Gesundheit, Sozialversicherung/Sozialhilfe und Wohnungshilfe) erreichten 13,8 % des BIP im Zeitraum 2000-2001 und lagen damit um 1,7 Prozentpunkte über denen des Zweijahreszeitraums 1996-97. Sie verteilten sich wie folgt: 4,2 % für Bildung, 3,1 % für Gesundheit, 5,1 % für soziale Sicherheit und Sozialhilfe und 1,4 % für Wohnungshilfe und andere Zwecke. Die mittleren Pro-Kopf-Ausgaben der öffentlichen Hand für soziale Zwecke sind beinahe 30-mal geringer als der EU-Durchschnitt.

3.2.7.2

In den 90er Jahren war bei den sozialen Ausgaben dieser Länder ein zyklischer Verlauf festzustellen: in Wachstumsperioden nahmen sie zu, in Konjunkturkrisen ab. So sind die sozialen Aufwendungen der öffentlichen Hand in der Region zwar nicht zurückgegangen, doch hat wurde ihre Aufstockung seit 1998 mit sich abschwächendem Wachstum des Regionalprodukts verlangsamt.

3.2.7.3

Die Systeme der sozialen Sicherung (Alter, Krankheit, Erwerbsunfähigkeit) bieten ein vergleichsweise niedriges Schutzniveau. In den weitaus meisten Staaten Lateinamerikas und der Karibik sind nur zwischen 10 % und 15 % der Erwerbsbevölkerung an ein adäquates Sozialschutzsystem angeschlossen; selbst in den Staaten mit den am besten entwickelten Leistungssystemen werden höchstens 50 % der Erwerbsbevölkerung davon erfasst, wobei die abnehmende Tendenz infolge der zunehmenden Verlagerung von Beschäftigung in die informale Wirtschaft Anlass zu Besorgnis gibt.

3.2.7.4

Die in den vergangenen Jahrzehnten durchgeführten Reformen der Sozialschutzsysteme (Privatisierung der Verwaltung der Renten- und Gesundheitssysteme) und die Umstellung von umlagefinanzierten Systemen auf die Finanzierung durch individuelle Kapitalbildung haben nicht die angekündigten Resultate erbracht, sondern dem Staat weniger Kontrolle gegeben und sein Steueraufkommen verringert, der informalen Beschäftigung Vorschub geleistet und immer mehr Menschen aus den Sozialschutzsystemen gedrängt. Die Zunahme intraregionaler Migrationsströme infolge der Integrationsprozesse, die sich vollziehen, ohne dass es anerkannte Mechanismen der sozialen Prävention gibt, trägt ebenfalls zur Verschärfung von Armut, Marginalisierung und Ausgrenzung bei.

3.2.7.5

Das Jahr 2004 wurde von den iberoamerikanischen Staats- und Regierungschefs zum Iberoamerikanischen Jahr der Menschen mit Behinderungen ausgerufen. Schätzungen zufolge leben in Lateinamerika 45-65 Mio. Menschen mit Behinderungen, die für die meisten soziale Ausgrenzung und Armut zur Folge haben. Häufig sind auch ihre Familien davon mitbetroffen.

3.2.8   Arbeitsmarkt

3.2.8.1

Der Arbeitsmarkt in den Ländern Lateinamerikas und der Karibik befindet sich in einer Phase der Verschlechterung der Arbeitsbeziehungen aufgrund der Abschwächung des Wirtschaftswachstums in den vergangenen sechs Jahren. Die Arbeitslosenquote in den Städten ist in den ersten Quartalen 2002 auf 9,2 % angestiegen, den höchsten Wert seit 22 Jahren. Mehr als 70 % der Haushalte der Region sind ausschließlich auf die durch Arbeit erzeugten Einkünfte angewiesen; jeder zweite Arbeitnehmer erhält eine Vergütung, mit der er an der Armutsschwelle liegt. Ein zunehmend größerer Teil der Erwerbsbevölkerung wird nicht von der Arbeitsgesetzgebung erfasst, mit abnehmender Tendenz seit den 90er Jahren.

3.2.8.2

Im Zeitraum 1990-2002 (5) ist eine starke Tendenz zur Beschäftigungsverlagerung in den informalen Sektor (seit 1990 wurden sieben von zehn Arbeitsplätzen im informalen Arbeitsmarkt geschaffen, und die informale Arbeit macht 46,3 % der gesamten Beschäftigung in Lateinamerika aus) und zur Verschlechterung der Qualität der Arbeit zu beobachten: nur bei sechs von zehn im formalen Arbeitsmarkt neu geschaffenen Arbeitsplätzen und zwei von zehn im informalen Arbeitsmarkt besteht irgendeine Form von sozialem Schutz. Schätzungen zufolge gibt es ein Defizit an „ordentlicher Arbeit“, das sich auf 93 Mio. Arbeitnehmer in Lateinamerika und der Karibik beziffern lässt, 30 Mio. mehr als 1990 (hierzu zählen die 50,5 % der Erwerbsbevölkerung, die keine Beschäftigung haben, im informalen Sektor arbeiten oder zwar im formalen Sektor der Wirtschaft tätig sind, aber ohne Anspruch auf Sozialleistungen oder unter sehr schlechten Bedingungen).

3.2.8.3

Die Arbeitsbeziehungen sind durch die uneinheitliche, unvollständige Anerkennung der grundlegenden Arbeitsrechte (von Ländern, in denen die Arbeitsbeziehungen nominell ähnlich wie in Europa sind, bis zu solchen, in denen Jahr um Jahr Dutzende von Gewerkschaftern wegen ihres Amtes ermordet werden), den geringen Entwicklungsstand der Verfahren für Tarifverhandlungen und soziale Konzertierung, den niedrigen Organisationsgrad in Gewerkschaften (nur 14 % der städtischen Erwerbsbevölkerung) und Arbeitgeberverbänden sowie der im Verhältnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern vorherrschenden Misstrauens- und Konflikthaltung gekennzeichnet.

3.2.9   Auswanderung

3.2.9.1

Die Auswanderung ist ein Phänomen von großer Tragweite für die wirtschaftlich-soziale Lage in Lateinamerika und der Karibik, die sie sowohl zum Guten als auch zum Schlechten beeinflusst. Die größten Migrationsströme aus der Region gab es in den Norden, d.h. in die USA und nach Kanada, aber im vergangenen Jahrzehnt gewannen auch die Migrationsströme in die Europäische Union an Bedeutung.

3.2.9.2

Die positive Seite der Auswanderung ist, dass die Immigranten Geld in ihre Herkunftsländer zurückschicken, das für viele Länder eine wichtige Devisenquelle ist und für große Bevölkerungsteile eine Aufbesserung ihres Einkommens darstellt.

3.2.9.3

Die Auswanderung hat aber auch erhebliche negative Aspekte; ganz abgesehen von den Schwierigkeiten der Betroffenen, die ihr Land verlassen und fern von ihrer Familie leben müssen, sollen hier nur die Aspekte von makroökonomischer Bedeutung hervorgehoben werden. Der größte Nachteil ist der Verlust an Humankapital, denn in der Regel sind es Menschen, die ohnehin besser zurechtkommen und mehr Unternehmungs- und Initiativgeist haben, die auswandern. Außerdem können lang andauernde Migrationsströme mit der Zeit eine „Kultur der Emigration“ hervorrufen, die sich mit der Vorstellung verbindet, dass Prosperität nur durch Emigration möglich sei, sodass der Gesellschaft die wirtschaftlich dynamischen Kräfte abhanden kommen und der soziale Zusammenhalt abbröckelt.

3.2.10   Wachstum, Entwicklung und Strukturreformen

3.2.10.1

Die wirtschaftlichen Bedingungen der Region sind nicht die besten, um ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum sicherzustellen. Die deutlichen Verbesserungen, die in den vergangenen Jahren in vielen Staaten der Region auf dem Gebiet der gesamtwirtschaftlichen Stabilität erreicht wurden, sind eine gute - wenn auch nicht ausreichende - Basis, um ein stärkeres, stabileres Wirtschaftswachstum zu erreichen.

3.2.10.2

Außenwirtschaftliche Faktoren wirken nach wie vor hemmend auf ein nachhaltiges Wachstum der lateinamerikanischen Volkswirtschaften. Die starke Abhängigkeit von auswärtigen Kapitalströmen ist ein Bremsfaktor ersten Ranges für die interne Entwicklung. Aufgrund der Unstetigkeit dieser Kapitalströme, bedingt durch internationale Krisen oder konjunkturelle Veränderungen in den Geberländern, liegt die Fortführung und Steigerung von Produktivinvestitionen nicht in den Händen der lokalen Wirtschaftsakteure. Folgenschwer ist diese Abhängigkeit auch, weil die Länder Lateinamerikas und der Karibik aufgrund ihrer anderen außenwirtschaftlichen Belastung, nämlich der Verschuldung, ständig plötzliche Sprünge ihrer variablen Finanzierungskosten hinnehmen müssen. Diese starke Anfälligkeit der lateinamerikanischen Volkswirtschaften für außenwirtschaftliche Veränderungen ist einer der wichtigsten Faktoren, die sich dämpfend auf ihre Wachstumsdynamik auswirken.

3.2.10.3

Gründe für diese hohe Abhängigkeit und Anfälligkeit für externe Vorgänge sind die Schwäche der örtlichen Institutionen, die mangelnde Diversifizierung der lateinamerikanischen Volkswirtschaften, die drückende Auslandsverschuldung und das geringe Aufkommen an eigenen Finanzmitteln (Spareinlagen). Eine entschiedene Förderung des Binnenmarktes (die nicht simplifizierend mit Importsubstituierung gleichzusetzen ist) könnte daher neue Wege für die wirtschaftliche Entwicklung in Lateinamerika und der Karibik eröffnen.

3.2.10.4

In dieser Hinsicht würde eine stärkere Förderung regionaler Prozesse der Wirtschaftsintegration mithelfen, größere Märkte zu schaffen, in denen die resultierenden Größenvorteile als Anreiz für die Ausweitung örtlicher Wirtschaftsstrukturen und den Zustrom ausländischer Investitionen wirken würden.

3.2.10.5

Das Wirtschaftsgefüge der Region besteht gegenwärtig aus sehr kleinen Wirtschaftseinheiten und ist durch einen in hohem Maße informalen institutionellen Rahmen gekennzeichnet; die Unternehmen operieren in lokalen Märkten, die oft nur eine geringe Größe haben und auf die eine oder andere Weise vor externem Wettbewerb geschützt sind. Bevor sie jedoch dem Wettbewerb von außen ausgesetzt werden können, muss zunächst auf die Gründe eingegangen werden, die ihre geringe Produktivität erklären.

3.2.10.6

Die Entwicklung der Klein- und Mikrounternehmen wird durch schier unüberwindliche Hindernisse erschwert: Mangel an Unternehmenskultur, unzureichend ausgebildetes Humankapital und Rechtsunsicherheit in dem institutionellen Umfeld, in dem sie tätig sind. Hinzu kommt ein wenig entwickeltes Finanzsystem mit schwachen Vermittlungsinstrumenten.

3.2.10.7

Auch die Ungleichheit in der gegenwärtigen Verteilung des Produktivvermögens (vom Grund und Boden bis zum Kapital oder Humankapital) ist für lateinamerikanische Unternehmer ein Erschwernis.

3.2.10.8

Die Ausweitung der unternehmerischen Tätigkeit in den lateinamerikanischen Volkswirtschaften ist eine grundlegende Bedingung zur Erzielung eines nachhaltigen Wachstums. Die Reformen auf diesem Gebiet versanden jedoch zwischen der Indifferenz eines Teils der Unternehmerschaft, der mangelnden Glaubwürdigkeit und Unstetigkeit des Staates in seinen Plänen für Industrialisierung und Agrarreform, dem Fehlen eines politischen und gesellschaftlichen Konsenses über den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft und - ziemlich oft - dem Widerstand einiger lokaler Eliten, die eher an der Verteilung der Erlöse aus der Demontage des - heute obsoleten - Industriestaates als an der Schaffung von wettbewerbsfähigen Industrie- und Produktionsbetrieben interessiert sind.

3.2.10.9

Vor diesem Hintergrund kann die Sozialwirtschaft eine wichtige Rolle für die Festigung des sozialen Gefüges, die wirtschaftliche Entwicklung und den sozialen Zusammenhalt spielen. Mehr Beachtung sollte sie auch als Lösungsweg im Fall wirtschaftlicher Krisen und Unternehmensumstrukturierungen finden (Übernahme von Unternehmen in der Krise durch dessen Arbeitnehmer) und als wirkungsvolle Alternative für die Förderung der örtlichen Entwicklung (lokale Entwicklungskooperativen u.a.).

3.3   Der politische Kontext: Politische Elemente, die die Qualität der Institutionen und der Instrumente der politischen Teilhabe bestimmen

3.3.1

Die Etablierung demokratischer Systeme praktisch überall in Lateinamerika ging nicht mit einer Stärkung der sozialen Bürgerrechte (Beschäftigung, Alterssicherung, Schutz im Fall von Krankheit, Arbeitslosigkeit und Behinderung, Bildung, Wohnung, Chancengleichheit, Sicherheit der Bürger, Verbesserung des wirtschaftlichen Wohlergehens, Zugang zu den neuen Instrumenten der Informations- und Kommunikationstechnik) einher. Viele Bürger haben keinen Zugang zu grundlegenden bürgerlichen und sozialen Rechten. Das Unvermögen, die Schwäche lateinamerikanischer und karibischer Staaten zur Erfüllung grundlegender Anforderungen wie Steuergerechtigkeit, Zugang zur Justiz, Schutz vor verschiedenen Formen von Gewalt, umfassende Sozialschutzsysteme, Beteiligung der Bürger an sie betreffenden Fragen usw. haben dazu geführt, dass einige von der Abwesenheit des Staates sprechen und der Bürgersinn wenig ausgeprägt ist.

3.3.2

In Lateinamerika ist das soziale Geflecht weitmaschig. Eine organisierte Zivilgesellschaft ist kaum vorhanden, und die Institutionen geben keine Anschubimpulse in diese Richtung: Die politischen Eliten haben offensichtlich starke Vorbehalte, die Institutionen für die Beteiligung der Zivilgesellschaft zu öffnen. Infolgedessen ist diese schwach organisiert und verwundbar. Wenn Maßnahmen zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts mehr Erfolg haben sollen, müssen strukturierte, in der Gesellschaft glaubwürdige Partner hinzukommen und eine effiziente Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und privaten Handlungsebenen geschaffen werden.

3.3.3

Die Chancengleichheit wird durch sozialpolitische Maßnahmen ermöglicht, d.h. durch Investitionen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Beschäftigung und Wohnraum. Gleichzeitig bewirken solche Maßnahmen eine gleichmäßigere Einkommensverteilung und eine bessere Befähigung zu einer aktiven Beteiligung des Einzelnen an den politischen Entscheidungen. Sie stärken somit die Demokratie und die Regierbarkeit.

3.3.4

In dieser Hinsicht ist eine zunehmende Dissoziation in der Wahrnehmung von Politik bei den Menschen in Lateinamerika und der Karibik wahrzunehmen. Dabei werden einerseits in Bezug auf die Erfüllung materieller Bedürfnisse höhere Erwartungen an die Demokratie gestellt. Andererseits ist eine wachsende Wahlunlust festzustellen. Am Besorgnis erregendsten ist diese Situation bei den Jüngeren, bei denen sich ein starkes Gefühl der Abneigung gegenüber Parteien und anderen politischen Organisationen und Institutionen offenbart. Gemäß einem Bericht des UNDP wären 54,7 % der Lateinamerikaner bereit, ein autoritäres Regime zu akzeptieren, wenn es die Wirtschaftskrise löst.

3.4   Indikatoren der sozialen Unzufriedenheit

In engem Zusammenhang damit impliziert eine Untersuchung des Mangels an sozialem Zusammenhalt in Lateinamerika und der Karibik die Ermittlung des Grades der Unzufriedenheit der Gesellschaft mit der Realität. Außerdem müssen andere Formen der gesellschaftlichen Unmutsäußerung erwogen werden: Gewalt in den Städten, Kriminalität, Entstehen von Parallelgesellschaften und Verbreitung von „Mafia-Recht“.

3.4.1   Unzufriedenheit mit den Institutionen

3.4.1.1

Daten des „Latinobarómetro“ (6) zeigen, dass die Bürger immer weniger Vertrauen in alle Institutionen, insbesondere in die politischen, haben. Dies bedeutet zweifelsohne eine Minderung des Einflusses der Institutionen in der Gesellschaft und beeinträchtigt die Bereitschaft der Bürger, an der Regelung öffentlicher Angelegenheiten mitzuwirken.

3.4.2   Gleichheit vor dem Gesetz

3.4.2.1

Das oben angesprochene Phänomen hängt offenbar eng mit der Entwicklung der Situation im Bereich der sozialen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit in der Region zusammen, aber auch mit dem Fehlen grundlegender staatsbürgerlicher und politischer Rechte. So geben mehr als 50 % der von „Latinobarómetro“ befragten Lateinamerikaner an, dass der wichtigste Maßstab für das Vertrauen in die Institutionen sei, „dass sie alle ohne Unterschied gleich behandeln“ (neben Fragen im Zusammenhang mit der Verteilung des Wohlstands spielt dabei auch die diskriminierende Behandlung, sogar in gesetzlich zulässiger Form, von sozialen oder ethnischen Minderheiten eine Rolle; dies würde das zunehmende Erstarken von Ureinwohnerbewegungen in mehreren Ländern der Region ebenso erklären wie das Fortbestehen von Erscheinungsformen der Zwangsarbeit und Sklaverei).

3.4.2.2

Obwohl alle Länder der Region die internationalen Menschenrechtsübereinkommen ratifiziert haben, ist eine hohe Zahl von Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen. Urheber sind jedoch nicht mehr diktatorische Regierungen, sondern Banden und bestimmte Gruppen (Drogenhändler, private Milizen, bisweilen in Zusammenwirkung mit den Repressivorganen des Staates), von denen eine diffuse Gewalt ausgeht. In dieser Hinsicht bedarf es - neben Maßnahmen in anderen Bereichen - unbedingt der Stärkung eines respektierten, eigenständigen Justizwesens, das den Bürgern Sicherheit in einem Raum des Rechts gibt. Dadurch ließe sich auch einer der größten Widersprüche lateinamerikanischer und karibischer Demokratien überwinden: die Dissoziation zwischen Gesetzen und ihrer praktischen Unanwendbarkeit.

3.4.3   Korruption

3.4.3.1

Das Vertrauen der Bürger in Lateinamerika und der Karibik in die Demokratie als Regierungsform hat im Laufe der 90er Jahre stetig abgenommen (7). Die Konsolidierung der Institutionen ist ausschlaggebend für das Maß ihrer Akzeptanz bei den Bürgern. Damit diese Identifizierung jedoch wachsen kann, ist Transparenz in öffentlichen Angelegenheiten eine unerlässliche Bedingung.

3.4.3.2

Die Korruption in Politik und Wirtschaft, die in praktisch allen Ländern der Erde anzutreffen ist und bei der immer zu bedenken ist, dass sie zwei Seiten hat: die korrumpierte und die korrumpierende, wird als eines der schwerwiegendsten Probleme der Region angesehen. Dies ist mit ein Grund dafür, warum die Bürger zunehmend ein negatives Bild von den Regierungen und den sie tragenden politischen Parteien – nicht von der Demokratie an sich – haben und warum populistische politische Gruppierungen neuen Zulauf erhalten und einige der im letzten Jahrzehnt durchgeführten Wirtschaftsreformen einschließlich mancher der vorgenommenen Privatisierungen auf Ablehnung stoßen.

3.4.3.3

Die Korruption und die institutionalisierte Illegalität unterminieren die ethischen, normativen und gemeinschaftlichen Bindungen, die für das gesellschaftliche Zusammenleben grundlegend sind. Um sie wiederherzustellen, muss auf der Ebene der Aufklärung, des Wiederaufbaus des Vertrauens in den Rechtsstaat und in die Kraft des Gesetzes angesetzt werden. Der Abbau sozialer Ungleichheiten durch Schutz- und Inklusionsmaßnahmen, die indigenen Bevölkerungsgruppen, Frauen und jungen Menschen mehr Beachtung schenken und die allgemein der Ausweitung und Weiterentwicklung der sozialen Bürgerrechte für alle dienen, ist grundlegend für eine nachhaltige Entwicklung und die Stärkung des Vertrauens der Menschen in Lateinamerika und der Karibik in die politischen Institutionen und das demokratische System.

3.4.4   Gewalt, Kriminalität und Unsicherheit bei den Bürgern

3.4.4.1

Im Zusammenhang mit der sozialen Ausgrenzung, Armut und Ungleichheit steht der hohe Grad an Kriminalität und Gewalt in der Region. Der von den Vereinten Nationen erstellte Viktimisierungsindex zeigt, dass die Verbrechensrate in Lateinamerika und der Karibik zu den höchsten der Welt zählt. Eine von der Weltbank 2000 geförderte Studie (8) belegt eine enge Verbindung zwischen wirtschaftlicher Ungleichheit und Ausmaß der Kriminalität. Die Zahl der Opfer eines gewaltsamen Todes ist in der Region von acht pro 100.000 Einwohner in den 70er Jahren auf dreizehn in den 90er Jahren gestiegen. Weltweit an der Spitze liegt in dieser Beziehung Kolumbien mit 60 Mordopfern (ohne politisch motivierte Morde) pro 100.000 Einwohner.

3.4.4.2

Die das tägliche Leben in den großen städtischen Ballungsräumen in Lateinamerika bestimmende Gewalt hat vielfältige, komplexe historisch-gesellschaftliche Ursprünge, die sich in den letzten Jahren mit der Wirtschaftskrise und der Schwäche der Institutionen zugespitzt haben. Abgesehen von den Ländern, in denen die Gewalt politische Wurzeln hat, sind im übrigen Lateinamerika das starke Vordringen krimineller Organisationen des Drogenhandels und die sozialen Ungleichheiten die Hauptursachen der Gewalt. Die davon ausgehende diffuse Gewalt ist ein ernstes Erschwernis für das Zusammenleben, die Demokratie und die Entwicklung der Produktivstrukturen.

3.4.4.3

Der Drogenhandel als Quelle von Unsicherheit und Gewalt betrifft in erster Linie die ärmsten Sektoren, schwächt die politischen Institutionen und destabilisiert die Wirtschaftssysteme und die sozialen Beziehungen. Er ist der Nährboden für Korruption und Bürgerkriege und verschärft zugleich die Ungleichheiten in diesem Erdteil. Neben der internationalen Zusammenarbeit von Polizei und Justiz verlangt er von den betroffenen Ländern kostspielige Anstrengungen zur Zerschlagung der Drogennetze und -labors.

3.4.4.3.1

Illegale Anpflanzungen in Lateinamerika, die immer wieder ein heikles Thema in den Nord-Süd-Beziehungen darstellen, entstehen durch das Elend in manchen ländlichen Gebieten, die keine anderen Existenzmöglichkeiten bieten.

3.4.4.3.2

Die Konsumentenländer müssen ebenfalls ihren Teil der Verantwortung bei der Bekämpfung des Drogenhandels übernehmen und nicht die gesamte Verantwortung den Erzeugerländern anlasten, denn schließlich sind sie es, deren Finanzsysteme die Geldwäsche ermöglichen.

3.4.4.3.3

Der EWSA fordert die EU auf, sich im Einklang mit den WTO-Bestimmungen weiterhin stärker dem Handel mit den Andenländern zu öffnen, die bereit sind, illegale Anpflanzungen einzudämmen und durch andere Anbaukulturen zu ersetzen. Gleichzeitig verurteilt er die blindwütige Zerstörung von Anbauflächen aus der Luft, die sich als untauglich zur Beseitigung illegaler Anpflanzungen erwiesen und stattdessen noch mehr soziale und politische Gewalt erzeugt hat.

3.4.4.3.4

Um eine wirklich effiziente Anbausubstituierung zu erreichen, müsste eine finanzielle und technische Hilfe für neue Anbausorten bereitgestellt und ihr Vertrieb durch lokale Transportnetze gestützt werden, die eine regionale Vermarktung der alternativen Erzeugnisse erlauben.

3.4.4.4

Oftmals stellen Verbrechernetze, insbesondere in den Randzonen der städtischen Ballungsgebiete, parallele Formen der sozialen Organisation dar, die - durch die Ausübung von Gewalt - die Entwicklung einer organisierten Zivilgesellschaft als eines Grundelements eines demokratischen Staates, der die Bedürfnisse der Mehrheit seiner Bürger befriedigt, blockieren und verhindern. Solche Parallelgesellschaften, die ihrem Herrschaftsgebiet ihre eigenen Gesetze aufzwingen, unterminieren den demokratischen Staat und treten bisweilen gegen ihn auf.

4.   Wurzeln des sozialen Ungleichgewichts in Lateinamerika

4.1

Die Unabhängigkeit von der Kolonialherrschaft hat in den meisten lateinamerikanischen Ländern nicht in einen Prozess wirklicher sozialer, wirtschaftlicher und politischer Reformen gemündet. Im allgemeinen bedeutete sie schlicht einen Wechsel der politischen Eliten ohne nennenswerte Veränderungen im Bereich der Institutionen. Viele der präkapitalistischen sozialen und wirtschaftlichen Strukturen blieben bestehen, sodass die Wirtschaftsverhältnisse der lateinamerikanischen Gesellschaften gleich oder ähnlich wie in der Vergangenheit blieben.

4.2

Das soziale und wirtschaftliche Erbe der Kolonialzeit und die mehrfach gescheiterten Versuche einer radikalen Umgestaltung haben zur Folge gehabt: eine starke Konzentration des Eigentums an Ressourcen (was am Beispiel des Grundbesitzes in einigen lateinamerikanischen Ländern besonders deutlich wird); die politische, wirtschaftliche und soziale Marginalisierung ganzer Teile der lateinamerikanischen Gesellschaften; die Bemächtigung der Wirtschaftstätigkeit durch die herrschenden Eliten mit den bekannten Folgen der Korruption und der Ineffizienz des staatlichen Handelns; die schwache Regulierung des Marktes mit zahlreichen nachteiligen externen Auswirkungen, insbesondere einer ausgeprägten Ungleichheit der Einkommensverteilung; und schließlich die immer stärker werdende, ungezügelte Ausbreitung der Städte, wo die sozialen Grundlagen der Marktwirtschaft in der Informalität verschwinden.

4.3

In der Nachkolonialzeit besteht die Wirtschaftsgeschichte der Staaten Lateinamerikas und der Karibik (wenn auch mit großen Unterschieden von Land zu Land) aus einer fortgesetzten Abfolge tiefer Krisen, deren besonderes Merkmal das externe Ungleichgewicht ist, das auf ihren Versuchen der Weiterentwicklung lastet. In groben Zügen lassen sich in der Wirtschaftsgeschichte der Staaten Lateinamerikas und der Karibik der vergangenen zwei Jahrhunderte drei gemeinsame Phasen unterscheiden. In weiten Teilen des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten sich die lateinamerikanischen Volkswirtschaften nach einem Modell, das mit dem Stichwort „Rohstoffexporteur“ zu bezeichnen ist und auf einer starken Spezialisierung bei der Ausfuhr von Primärerzeugnissen beruhte. In einer zweiten Phase, die in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzt, begünstigt die kräftige Wirtschaftsexpansion, die in einigen lateinamerikanischen Staaten durch den Ersten Weltkrieg ausgelöst wurde, ein Modell der „Importsubstituierung“: es wurde versucht, Einfuhren im Rahmen der Integration der einzelstaatlichen Volkswirtschaften in die Weltwirtschaft durch inländische Erzeugung zu ersetzen und eine eigene Produktionsbasis aufzubauen. Die auftretenden starken makroökonomischen Ungleichgewichte (Inflation und Zahlungsbilanzdefizit) brachten diese Versuche einer Entwicklung nach innen jedoch zum Scheitern. Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre kam in den Staaten Lateinamerikas und der Karibik schließlich mehr und mehr eine Wirtschaftspolitik zur Anwendung, die - unter den wachsamen Augen internationaler Organisationen (sog. „Konsens von Washington“) - eine weit gehende Öffnung ihrer Volkswirtschaften nach außen anstrebte und die wirtschaftliche und soziale Entwicklung den Märkten anvertraute.

4.4

In den letzten Jahrzehnten haben die tiefgreifenden Reformen, die in den lateinamerikanischen Volkswirtschaften im Rahmen des „Konsenses von Washington“ (Privatisierung, Liberalisierung und gesamtwirtschaftliche Stabilität) durchgeführt wurden, zwar Erfolge bei der Erreichung des dritten Ziels gezeitigt (die hohe Inflation und die Währungsinstabilität wurden beseitigt), doch haben sie bei den bestimmenden Größen des realen Gleichgewichts - Beschäftigung, Wachstum und Einkommensverteilung - keine substanziellen Verbesserungen gebracht. Im Gegenteil: wie bereits dargelegt, haben sich einige dieser Parameter verschlechtert (besonders spektakulär in Ländern wie Argentinien).

4.5

Viele der durch den „Konsens von Washington“ veranlassten Maßnahmen sind zum Selbstzweck geworden, statt zu einem dauerhaften, gerechten Wachstum beizutragen, und auch andere externe Größen beeinträchtigen den Grad des sozialen Zusammenhalts in den Staaten Lateinamerikas und der Karibik. Die Praxis der entwickelten Länder, in ihren Handelsbeziehungen mit Lateinamerika und der Karibik „mit zweierlei Maß zu messen“; die von den internationalen Finanzinstitutionen auferlegten Strukturanpassungsprogramme, die in den meisten Fällen die Krisen in der Region noch verschärft haben; das Fehlen wirkungsvoller und zur Regulierung ausländischer Investitionen geeigneter Rechtsvorschriften bzw. mitunter deren lasche Durchsetzung, die nicht zur Verbesserung der Produktionsbasis und der sozialen Verantwortung der Unternehmen, sondern stattdessen in manchen Fällen letztlich zur Beseitigung lokaler Konkurrenten und zur Schaffung von Monopolen beigetragen haben; die seit den sechziger Jahren akkumulierte Verschuldung, die die Schuldnerländer durch ihre Zinszahlungen mehr als abgeleistet haben; die öffentliche Entwicklungshilfe, die nicht immer in ganzheitlich stimmige Projekte fließt, sondern gelegentlich schlicht zur Erlangung handelspolitischer oder diplomatischer Vorzüge eingesetzt wird: dies alles sind wichtige Faktoren, die der Verbesserung des sozialen Zusammenhalts in Lateinamerika und der Karibik im Wege stehen.

5.   Defizite der lateinamerikanischen Gesellschaften bei der Verbesserung des sozialen Zusammenhalts

5.1

Die bisherigen Feststellungen deuten darauf hin, dass es in der Fähigkeit der lateinamerikanischen Staaten, den sozialen Zusammenhalt auf ein akzeptables Niveau zu bringen, große Defizite gibt, die folgenden fünf Bereichen zuzuordnen sind:

5.2

Funktionsmängel des Staates als der Instanz, deren Auftrag die Wahrung des Allgemeininteresses und die Förderung des Wohlergehens aller ist, über die die Entwicklung der Marktwirtschaft und des Sozialpaktes reguliert wird und die ein unverzichtbares Instrument zur Gewährleistung des sozialen Zusammenhalts ist, denn die Zivilgesellschaft allein verfügt nicht über die Mittel, diesen zu erreichen und aufrechtzuerhalten. Der Staat hat in den Gesellschaften Lateinamerikas und der Karibik nicht die Rolle eines Modernisierers und eines Förderers der wirtschaftlichen Entwicklung und des sozialen Schutzes ausgeübt, die für andere Länder, die heute zu den entwickelten zählen, von ausschlaggebender Bedeutung war. Unter den Prämissen der geschichtlichen Entwicklungsphasen und der besonderen Gegebenheiten jedes einzelnen Landes diente der Staat in Lateinamerika und der Karibik eher den eigennützigen Interessen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen und nahm damit eine ganz andere Stellung ein als in den meisten entwickelten Ländern, wo er als Regulierer der Marktwirtschaft, Mittler in sozialen Konflikten und Förderer der Wirtschaftstätigkeit mit Hilfe mikro- und makroökonomischer und sozialpolitischer Maßnahmen auftritt, die den Entwicklungsprozess sinnvoll unterstützen. In vielen Fällen hat die Schwäche des Staates die Durchführung wirkungsvoller Maßnahmen zur Verbesserung des sozialen Zusammenhalts oder auch nur deren Entwurf verhindert.

5.3

Soziale Ungleichheiten, die sich nicht in Statistiken über die Verteilung des Wohlstands erschöpfen, stellen ein Hemmnis für die soziale und wirtschaftliche Mobilität der Bürger dar. Fehlen solche Mechanismen, die den sozialen Determinismus durchbrechen, kommen die althergebrachten Schemata zum Tragen, nach denen sich die gesellschaftlichen Gruppen und Klassen reproduzieren. In einem solchen Kontext haben die für demokratische Systeme kennzeichnenden Partizipationsinstrumente ganz erhebliche Schwierigkeiten, sich als Formen der gesellschaftlichen Organisation durchzusetzen und zu festigen.

5.4

Schwäche der organisierten Zivilgesellschaft. Die Schaffung demokratischer Institutionen und einer Marktwirtschaft reicht nicht aus, um Fortschritte in der wirtschaftlichen Entwicklung und beim sozialen Zusammenhalt zu erreichen. Nötig ist die Umformung der Gesellschaft, die Beseitigung der extremen Armut und der Ausgrenzung, die Schaffung der Voraussetzungen für eine wirkliche Chancengleichheit und eine gute Grundversorgung im Bereich der Gesundheit und der Bildung. Dieser Prozess kann nicht innerhalb eines Landes erlassen und auch nicht vom Ausland verordnet werden. Jedes Land muss sich vielmehr seinen eigenen Verantwortlichkeiten stellen. Das wird jedoch nicht möglich sein ohne die dauerhafte Beteiligung der Gesellschaft an der Entscheidungsfindung auf dem Wege der verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten, über die sie verfügt: politische Parteien, Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften, gesellschaftliche Organisationen. Eine gerechtere, gleichmäßigere Verteilung des Wohlstands als einer Grundbedingung des sozialen Zusammenhalts impliziert immer auch eine Aufteilung der Macht, was ohne eine Stärkung der organisierten Zivilgesellschaft nicht möglich ist. Dieses Defizit schlägt selbst auf die Produktivität des Wirtschaftssystems durch, denn die Auswirkungen des mangelnden sozialen Zusammenhalts erschüttern ständig die Fundamente der rechtlichen und politischen Stabilität, die jeder Wirtschaftsakteur braucht, um erfolgreich operieren zu können.

5.5

Verwerfungen im Kontext der Globalisierung. Die lateinamerikanischen Volkswirtschaften sind besonders anfällig für die Geschehnisse außerhalb ihrer Landesgrenzen. In manchen Fällen geht ihre Einbindung in den zunehmenden Prozess der wirtschaftlichen Globalisierung mit einem Verlust an Effizienz - in relativer Hinsicht und an internationaler Wettbewerbsfähigkeit - ihrer Produktivstrukturen einher. Dies führt zu einem sich selbst verstärkenden Prozess ähnlich einem Teufelskreis bzw. einer „circular causation“, wie es der schwedische Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Myrdal bezeichnet, insbesondere in rezessiven Phasen der Weltkonjunktur, was die Erreichung eines höheren Niveaus an wirtschaftlichem und sozialem Zusammenhalt verhindert.

5.6

Die Strukturpolitik der letzten Jahrzehnte, die oftmals auf Veranlassung internationaler Organisationen betrieben wird, die sie mit verschiedenen Druckmitteln einfordern, hat einige traditionelle Ungleichheiten in Lateinamerika und der Karibik noch verschärft, was besonders für das Niveau des sozialen Zusammenhalts gilt.

6.   Ansatzpunkte zur Förderung des sozialen Zusammenhalts in Lateinamerika und der Karibik

6.1

In diesem Abschnitt sollen aus Sicht europäischer Erfahrungen und unter Berücksichtigung dessen, was in den obigen Abschnitten als Schwächen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Lateinamerika und der Karibik festgestellt wurde, einige Ansatzpunkte aufgezeigt werden, die auch vor dem Hintergrund der lateinamerikanischen Realität von strategischer Bedeutung für die Verbesserung des sozialen Zusammenhalts sein könnten.

6.2   Staat, Institutionen und Politik

6.2.1

Von sozialem Zusammenhalt kann nicht gesprochen werden, ohne dass allen Bürgern gleiche Rechte garantiert und diese auch im Gesetz verankert, vor Gericht einklagbar und durch gezielte Wirtschafts- und Sozialprogramme zu ihrer Verwirklichung abgestützt sind.

6.2.2

Ebenso wenig ist es möglich, einen modernen Staat zu schaffen, der die von ihm erwarteten Funktionen erfüllt, ohne dass er über ein gerechtes, leistungsfähiges und hinreichendes Steuersystem verfügt. In Lateinamerika und der Karibik sind die Steuersysteme durch schwache Verwaltungsapparate für Steuerbeitreibung und Steuerprüfung, die Tendenz des Systems zur indirekten Besteuerung, die geringe Steuerbelastung und das große Ausmaß der Steuerumgehung gekennzeichnet. Dies ist somit eine der größten Herausforderungen, vor der die Gesellschaften und Volkswirtschaften Lateinamerikas und der Karibik stehen. Die Umsetzung von Steuerreformen wird wahrscheinlich auf den Widerstand von Gruppen in Gesellschaft und Wirtschaft stoßen, die sich an das Wirtschaften ohne Kontrolle der Steuerentrichtung oder mit im Wesentlichen regressiven Steuerlasten gewöhnt haben, doch ist sie eine unabdingbare Voraussetzung für den sozialen Zusammenhalt.

6.2.3

Ebenfalls unabdingbar für den sozialen Zusammenhalts ist die aktive Präsenz des Staates durch die Förderung spezifischer Maßnahmen, die Situationen sozialer Ungleichheit abstellen, eine solidarische Umverteilungspolitik anwenden und die Chancengleichheit für alle Bürger unter Beseitigung der sozialen Ausgrenzung verwirklichen. Dazu fehlt es den Staaten Lateinamerikas und der Karibik an umfassenden Sozialschutzsystemen, die in den meisten Ländern der Region inexistent sind, schwere Mängel aufweisen oder sogar Ungleichheiten begünstigen.

6.2.3.1

Sozialer Zusammenhalt ist nicht allein mit Aktionsplänen gegen soziale Ausgrenzung zu erreichen, sondern es bedarf sozialer Sicherungssysteme, die u.a. die Gesundheits- und Pensionsversorgung der gesamten Bevölkerung gewährleisten. Besonders dringlich bedürfen in dieser Hinsicht die schwerwiegenden Ungleichheiten einer Lösung, von der die ältere Bevölkerung betroffen ist, die vielfach am Rande der Bedürftigkeit und/oder der sozialen Ausgrenzung lebt. Die Schaffung staatlicher umlagefinanzierter Rentensysteme mit allgemeiner Deckung ist ein unumgängliches Erfordernis, um den sozialen Zusammenhalt auf ein annehmbares Niveau zu bringen. Dies steht der Beibehaltung komplementärer, anders beschaffener Rentensysteme nicht entgegen.

6.2.3.2

Für die Systeme des sozialen Schutzes und der sozialen Sicherheit müssen gleichfalls Lösung gefunden werden, die auch den in Lateinamerika und der Karibik so wichtigen Sektoren der selbstständig Erwerbstätigen, Scheinunabhängigen und Arbeitnehmern der informalen Wirtschaft Deckung gewähren; dafür sind Erfahrungen europäischer Länder nutzbar zu machen.

6.2.3.3

Der Ausbau des öffentlichen Gesundheitswesens ist ein weiterer zentraler Ansatzpunkt für die Verbesserung des sozialen Zusammenhalts in Lateinamerika und der Karibik. Aus europäischer Sicht haben sich staatliche Gesundheitssysteme, die durch Umlage finanziert werden, als sozial effizienter erwiesen, weil sie solidarischer, weniger kostspielig und kohäsiver sind als Systeme mit Privatversicherung.

6.2.3.4

Seit den 90er Jahren haben einige lateinamerikanische und karibische Länder staatliche Sozialprogramme aufgelegt, die den schwächsten Bevölkerungsgruppen bei der Deckung der Grundbedürfnisse helfen sollten. Diese Programme sind an bestimmte Anforderungen oder Gegenleistungen geknüpft. So sind die Bildungsprogramme an den Schulbesuch und die Nahrungsmittelhilfeprogramme an Impfkampagnen und die Aufklärung über Lebensmittelhygiene geknüpft. Die Programme werden vom Staat gefördert und verwaltet und haben eine wohltuende Wirkung auf die Einkommensverteilung ebenso wie auf Schulanmeldung und Gesundheit. Darüber hinaus haben einige Staaten Schritte zur Erleichterung des Zugangs zu Darlehen unternommen. In Brasilien wurden zum Beispiel elektronische Karten verteilt, um den Zugang zu Kleinkrediten mit staatlicher Bürgschaft zu erleichtern. Innovative Maßnahmen dieser Art sollte die EU in einer Strategie zur Förderung des sozialen Zusammenhalts in Lateinamerika und der Karibik unterstützen.

6.2.3.5

Ein vollständiger Sozialschutz für formale Beschäftigungsverhältnisse, die schrittweise Ausdehnung des Versicherungsschutzes auf die Arbeitnehmer der informalen Wirtschaft, ein Sozialschutz für Zuwanderer und die Ausmerzung einiger der Hauptursachen der Kindersterblichkeit sind ebenfalls wichtige Prioritäten einer stärkeren sozialen Einbeziehung in Amerika Lateinamerika und der Karibik.

6.2.3.6

Einige ultraperiphere Gebiete der EU, die sich in Lateinamerika und der Karibik befinden, erhalten Strukturhilfen der Gemeinschaft insbesondere für den Aufbau grundlegender Infrastrukturen. Das Niveau des sozialen Zusammenhalts, das dort wesentlich niedriger als in Europa ist, und ihre schwache Integration in den karibischen Raum bringen jedoch ebenso wirtschaftliche Herausforderungen für die Zukunft mit sich wie die Tatsache, dass einige ihrer Grunderzeugnisse, wie Agrarprodukte und Tourismus, mit höheren Erzeugungskosten im Wettbewerb mit den AKP-Ländern stehen, für die Präferenzabkommen gelten. Die EU sollte daher in ihrer finanziellen Vorausschau der Notwendigkeit Rechnung tragen, dass die spezifischen Beihilfen für diese ultraperipheren Gebiete der Union fortgeführt werden müssen.

6.3   Wirtschaftliche Infrastruktur, Forschung & Entwicklung

6.3.1

Die Ausstattung mit Infrastrukturen verschiedenster Art (im Fall Lateinamerikas und der Karibik insbesondere der Aufbau von Infrastrukturen für Verkehr, Kommunikation, Trinkwasser und Energie mit einer dauerhaft gesicherten Instandhaltung) ist eine Grundvoraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung, die Ausweitung der Produktion und des Handels und letztendlich für die Erhöhung der Produktivität. Die Steigerung der Produktivität erfordert darüber hinaus einen höheren technologischen Stand der Produktionsprozesse und eine bessere Ausbildung aller am Produktionssystem Beteiligten.

6.3.2

Das Bemühen der lateinamerikanischen und karibischen Gesellschaften, sich wettbewerbsfähig in die Weltwirtschaft einzufügen, erfordert ein entschlossenes Vorgehen der öffentlichen Hand und des Privatsektors, um einen höheren technologischen Stand zu erreichen. Auf diese Weise könnten sie nicht nur die Kluft überwinden, die sie von den entwickelteren Länder trennt, sondern auch die Herausforderung einer Entwicklung „von oben“ bewältigen, so dass sie innerhalb der Weltwirtschaft Mehrwert erzeugen können.

6.3.3

Zu diesem Zweck muss durch den Ausbau des Berufsbildungs- und Hochschulwesens mehr für eine kontinuierliche Ausbildung getan werden. Auf diesem Gebiet kann die EU mit ihren speziellen Kenntnissen und Erfahrungen mit Systemen der Berufsausbildung, der gegenseitigen Anerkennung von Berufsbezeichnungen und der Schaffung von Bildungsinfrastrukturen viel beitragen.

6.4   Bildung

6.4.1

Bildung ist ein Schlüsselfaktor für die Beseitigung der Hindernisse, die der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung im Wege stehen oder sie erschweren, und ein Kernelement für die Gewährleistung von Chancengleichheit und sozialer Mobilität. Angesichts der genannten Bedingungen im Bildungswesen (geringe Qualität, ungleicher Zugang und mangelnde Verzahnung mit der Arbeitswelt) kann die Bildung in Lateinamerika und der Karibik statt zu einem Faktor des Fortschritts, der sozialen Mobilität und der Förderung der Gleichheit zu einem Mechanismus werden, der soziale Ungleichheit zementiert und fortbestehen lässt. Unbeschadet der Bildungsangebote, die die Privatinitiative bereitstellen kann, muss der Staat daher dafür Sorge tragen, dass alle Bürger eine Grundschulbildung von angemessener Qualität erhalten, dass ihnen die höheren Stufen des Bildungssystems diskriminierungsfrei offen stehen, dass die Bildung besser auf den Arbeitsmarkt ausgerichtet wird, dass die Begabtenförderung gesichert ist und dass neue Formen der Ausgrenzung, hervorgerufen durch die Einführung der „Wissensgesellschaft“, vermieden werden.

6.5   Produktivsystem und seine Dynamik

6.5.1

Der soziale Zusammenhalt muss sich auf ein leistungsfähiges Produktivsystem stützen, das in der Lage ist, Arbeitsplätze und Einkommen für alle Bürger zu schaffen. In Lateinamerika und der Karibik gebührt in dieser Hinsicht der lokalen und regionalen Wirtschaft besondere Aufmerksamkeit, denn sie besteht aus einem weiten Geflecht von Kleinunternehmen, von denen heute viele im informalen Sektor tätig sind, nur am Rande an den nationalen Märkten teilhaben und daher nur ein geringes Wachstumspotenzial aufweisen.

6.5.2

Das Vordringen der informalen Wirtschaft ist in erster Linie Ausdruck des wirtschaftlichen Unvermögens der Staaten, für wachstumsfähige Märkte zu sorgen. Mit ihrem geringen Expansionspotenzial ist die informale Wirtschaft in den meisten Fällen der Widerschein rückständiger Volkswirtschaften, die kaum in der Lage sind, gute Arbeitsplätze zu schaffen.

6.5.3

Die Sozialwirtschaft - Genossenschaften und gemeinwirtschaftliche Vereinigungen – ist in vielen EU-Ländern von erheblicher wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Bedeutung. In den lateinamerikanischen Staaten kann sie einen wichtigen Handlungsbereich darstellen, der in Zukunft als Alternative zur informalen Wirtschaft für die Wirtschaftsentwicklung, die Schaffung von Arbeitsplätzen, die soziale Integration und die Einbindung zahlreicher Sektoren in den Produktionsprozess stärker ins Auge gefasst werden muss, wie in der vor kurzem verabschiedeten Erklärung der iberoamerikanischen Staaten ausdrücklich betont wurde (9).

6.5.4

Unzulänglichkeiten auf dem Gebiet der Ausstattung mit Finanzmitteln sind eine der wesentlichen Ursachen, die bremsend auf die Produktivsysteme der Staaten Lateinamerikas und der Karibik wirken. Nicht nur die geringe Höhe der Spareinlagen, sondern auch die Ineffizienz der Vergabemechanismen machen es den Wirtschaftsbeteiligten, insbesondere den KMU (rund 80 % der Unternehmen der Region sind KMU oder Kleinstbetriebe), selbstständig Erwerbstätigen, Genossenschaften usw. schwer, schneller und leichter Zugang zu Finanzmitteln zu erhalten. Nötig wäre in dieser Hinsicht die Verbesserung der Systeme für Kleinstkredite und die Stärkung der Betriebsführungsfähigkeit der Kleinbetriebe und selbstständig Erwerbstätigen.

6.5.5

Die vergleichsweise wichtige Stellung, die der Primärsektor in vielen lateinamerikanischen und karibischen Ländern nach wie vor hat, rückt ihn neben einer Politik zur vertikalen und horizontalen Unterstützung der industriellen Entwicklung in das Zentrum der Reformen, die zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Angriff zu nehmen sind. Die Steigerung der Produktivität der Landwirtschaft, die für viele Länder eine wichtige Devisenquelle ist, muss Hand in Hand mit der Lösung sozialer Konflikte gehen, die in den ländlichen Gebieten lang zurückreichen. Eine Agrarreform mit unterschiedlicher formaler und inhaltlicher Ausgestaltung je nach Land ist noch immer eine unumgängliche Notwendigkeit, um Millionen verarmter Bauern und Tagelöhner neue Chancen zu eröffnen, die Kapitalbildung und die Agrarproduktion zu erhöhen und so den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt zu stärken.

6.5.6

Die regionale Wirtschaftsintegration, die neben einer Liberalisierung der Märkte auch Ausgleichs- und Solidarmechanismen ähnlich den Strukturfonds der EU vorsieht und sich nach und nach im MERCOSUR, in der Andengemeinschaft und zwischen diesen beiden subregionalen Zusammenschlüssen herausbildet, ist von großer Bedeutung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Staaten Lateinamerikas und der Karibik. Dies gilt ganz besonders für die nötige Diversifizierung der lateinamerikanischen Volkswirtschaften und die Notwendigkeit, wettbewerbsfähige Wirtschaftssektoren zu schaffen und Auslandsinvestitionen anzuziehen.

6.6   Umfang und Qualität der Beschäftigung

6.6.1

In den meisten lateinamerikanischen und karibischen Staaten ist das Ausmaß der Arbeitslosigkeit nach Einschätzung der Bürger (Argentinien, Ecuador, Jamaika, Kolumbien...) eines der schwerwiegendsten sozialen Probleme. In all diesen Ländern nimmt die irreguläre Beschäftigung mit Besorgnis erregender Schnelligkeit zu. Die Erhöhung der Beschäftigungsquote und die Verbesserung der Beschäftigungsbedingungen für alle Arbeitnehmer sind zwei zentrale Aufgaben, die die öffentlichen Institutionen und Sozialpartner in Lateinamerika und der Karibik mit größter Dringlichkeit lösen müssen.

6.6.2

Die Schaffung von mehr und besseren Arbeitsplätzen erfordert tiefgreifende, konsensgetragene Eingriffe in die Funktionsweise der Arbeitsmärkte. Die in vielen Ländern der Region durchgeführten Arbeitsreformen haben die versprochenen Ziele der Beschäftigungsschaffung und Erhöhung des Angebots an guten Arbeitsplätzen verfehlt. In vielen Fällen haben sie sogar zu einer allgemeinen Verschlechterung der Qualität der Arbeit beigetragen, was am deutlichsten in den hohen Indikatoren der informalen Beschäftigung zum Ausdruck kommt.

6.6.3

Die quantitative und qualitative Verbesserung des Arbeitsplatzangebots in Lateinamerika und der Karibik muss u.a. bei folgenden strukturellen Anforderungen ansetzen: Konzipierung einer makroökonomischen Politik zur Reduzierung der extremen wirtschaftlichen Volatilität, Vervollkommnung der Systeme der Arbeitsmediation, stärkere Verflechtung von Bildungswesen und Arbeitswelt, Entwicklung geeigneter Mechanismen für den Schutz der Arbeitnehmer vor Einkommensverlusten aufgrund der ständigen Arbeitsrotation, Verstärkung der Anstrengungen zur Befähigung der Arbeitnehmer, Durchsetzung der Arbeitsgesetzgebung und Förderung verhandlungs- und konsensgetragener Arbeitsbeziehungen.

6.7   Arbeitsrechte und sozialer Dialog

6.7.1

Der frühere Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, hat das europäische Gesellschaftsmodell als ein Modell beschrieben, das Staat und Markt, Privatinitiative und kollektive Rechte, Unternehmen und Gewerkschaften miteinander vereint. Das Vorhandensein eines demokratischen Rahmens von Arbeitsbeziehungen war und ist in Europa ein wichtiger Grund für die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und den sozialen Zusammenhalt.

6.7.2

Neben der Achtung der Menschenrechte am Arbeitsplatz (wie sie in den wichtigsten Übereinkommen der IAO festgeschrieben sind) sind derartige Arbeitsbeziehungen gekennzeichnet durch das Vorhandensein repräsentativer Gewerkschaften und Unternehmerverbände, durch Verfahren für Tarifverhandlungen auf verschiedenen Ebenen und in einigen Fällen durch Formen der dreiseitigen Konzertierung über Leitlinien der Wirtschafts- und Sozialpolitik (von auf dem Verhandlungswege erarbeiteten Rechtsvorschriften bis zu Sozialpakten über Einkommen) sowie durch unterschiedliche Formen der Partizipation der Arbeitnehmer in Betrieben und Sozialinstitutionen (Sozialversicherung, Berufsausbildung usw.).

6.7.3

Das Fehlen gut entwickelter, wirklich demokratischer Systeme von Arbeitsbeziehungen ist einer der Hauptgründe für den schwachen sozialen Zusammenhalt in Lateinamerika.

6.7.4

Im Juli 2001 legte die Europäische Kommission das Grünbuch „Europäische Rahmenbedingungen für die soziale Verantwortung der Unternehmen“ vor. Es steht in einer Reihe u.a. mit der Dreiseitigen Grundsatzerklärung zu multinationalen Unternehmen und Sozialpolitik der Internationalen Arbeitsorganisation.

6.7.5

Das Grünbuch enthält eine Reihe von Kriterien zur Definition der sozialen Verantwortung der europäischen Unternehmen: den Grundsatz der Freiwilligkeit (d.h. über die für die Unternehmen geltenden rechtlichen Verpflichtungen hinaus) der durchgeführten Maßnahmen; die Dauerhaftigkeit der eingegangenen Verpflichtungen (keine vereinzelten Maßnahmen, sondern eine neue Form der Unternehmensführung); die Einbeziehung der unternehmensinternen und -externen Beteiligten in die sie betreffenden Fragen; die Transparenz bei der Darlegung der Praktiken der sozialen Verantwortung.

6.7.6

Diese Kriterien sollten derart gefördert werden, dass alle in Lateinamerika und der Karibik tätigen multinationalen Unternehmen, insbesondere die europäischen, sie freiwillig so verinnerlichen, dass sie zu einem Motor und einem Vorbild für die Entwicklung demokratischer Spielregeln in den Arbeitsbeziehungen und das verantwortungsvolle Handeln der Unternehmen in Bezug auf Arbeits- und Umweltrechte werden.

6.8   Gesellschaftliche Artikulation durch eine starke Zivilgesellschaft

6.8.1

Die Stärkung der Demokratie, die Erhöhung der Lebensqualität und die Verbesserung der Regierungsführung erfordern eine intensivere soziale Partizipation. Die Beteiligung der Zivilgesellschaft ist ein Ausdruck des Willens der Bürger bei der Verwirklichung des Allgemeininteresses, ein Anreiz für ein effizienteres Management der öffentlichen Angelegenheiten, ein Instrument der Kontrolle durch die Bürger und eine Form der effektiven Teilhabe an der Entscheidungsfindung in den öffentlichen und privaten Institutionen. Sie ist eine Voraussetzung für eine gute demokratische Regierungsführung.

6.8.2

Gemäß dem „Latinobarómetro“ ist ein Wesenszug, der in Lateinamerika als erstes ins Auge fällt, das geringe Maß des Vertrauens unter den Menschen. Maßnahmen zur Förderung des Gemeinsinns sind daher eine Grundbedingung dafür, den sozialen Zusammenhalt in Lateinamerika und der Karibik politisch zu untermauern.

6.8.3

Die Stärkung repräsentativer wirtschaftlicher und sozialer Organisationen, die Verpflichtungen eingehen können und unabhängig sind, ist eine wesentliche Vorbedingung für einen fruchtbaren sozialen und zivilen Dialog und damit letztlich für die Entwicklung der Staaten Lateinamerikas und der Karibik.

6.8.4

Die Beteiligung der Zivilgesellschaft manifestiert sich in Europa historisch nicht nur im Parteiensystem, sondern auch in den Systemen der Arbeitsbeziehungen und der sozialen Konzertierung, die bereits angesprochen wurden (und die ihren Niederschlag u.a. in der Schaffung von Wirtschafts- und Sozialräten bzw. -ausschüssen finden), sowie in der Beteiligung der sozialen Akteure in den verschiedenen Sozialinstitutionen (sozialer Dialog, Sozialschutz, Arbeitslosigkeitsversicherungen, öffentliche Anstalten für Beschäftigung und Ausbildung usw.) sowohl auf Sektorebene als auch sektorübergreifend.

6.8.5

Die rechtliche Anerkennung gesellschaftlicher Organisationen, unter denen in den letzten Jahren die nichtstaatlichen Organisationen (NRO) besondere Bedeutung und Relevanz gewonnen haben, ist ein weiterer Pfeiler, auf die sich die Partizipation der Zivilgesellschaft stützt, ebenso wie die partnerschaftlichen Gespräche mit verschiedenen Organisationen, die Gruppeninteressen vertreten, und in neuerer Zeit auch der zivile Dialog.

6.8.6

Die lokale Ebene hat sich als besonders fruchtbar für diese Partizipation und für die Interaktion zwischen den repräsentativen Organisationen des sozialen und des zivilen Dialogs erwiesen.

7.   Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika und der Karibik und ihre Bedeutung für den sozialen Zusammenhalt

7.1

Der EWSA hat sich in einer Reihe von Stellungnahmen zu den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und den Staaten Lateinamerikas und der Karibik mit der geplanten gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA und mit verschiedenen Zusammenschlüssen und einzelnen Ländern der Region (MERCOSUR, Mexiko, Chile) beschäftigt. Er hat dabei den Stand der Beziehungen insbesondere aus dem Blickwinkel der wirtschaftlich-sozialen Dimension der einzelnen Assoziierungsabkommen beleuchtet.

7.2   Umfassendere, ausgewogenere Beziehungen

7.2.1

Nach Auffassung des EWSA kann die Vertiefung der Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika und der Karibik unter bestimmten Bedingungen kräftige Anstöße für die Verbesserung des sozialen Zusammenhalts in der Region geben. In diesem Sinne hat die EU vor kurzem Abkommen über die politische Assoziierung mit der Andengemeinschaft und mit Zentralamerika geschlossen. Darüber hinaus wurden ein Zeitplan und ein fester Termin für den Abschluss der Verhandlungen mit dem MERCOSUR festgelegt.

7.2.2

Der EWSA hat sich stets dafür ausgesprochen, die Verhandlungen mit dem MERCOSUR zügig zu Ende zu führen und sie nicht von den - seit dem Scheitern des jüngsten Gipfeltreffens in Cancún stagnierenden - Verhandlungen in der WTO abhängig zu machen. Er tritt für ein ausgewogenes, zufrieden stellendes Abkommen ein, das unter anderem auch die Landwirtschafts- und Dienstleistungsthematik berücksichtigt.

7.2.3

Der Abschluss eines Abkommens mit dem MERCOSUR und die Vertiefung der Abkommen mit der Andengemeinschaft (CAN) und dem Zentralamerikanischen Gemeinsamen Markt (MCCA) werden sicher zu einer größeren Ausgewogenheit in den Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und den Staaten Lateinamerikas und der Karibik beitragen, die zur Zeit durch ein steigendes Handelsbilanzdefizit der lateinamerikanischen Länder gegenüber der EU gekennzeichnet sind.

7.2.4

Nach Ansicht des EWSA muss zur Entwicklung einer biregionalen strategischen Allianz, wie sie auf den Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in Río und in Madrid proklamiert wurde, eine gemeinsame Agenda aufgestellt werden, auf deren Grundlage rasch Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen mit der gesamten Region Lateinamerika aufgenommen werden können.

7.2.5

Als institutionelle Instrumente stützen sich die Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika im wesentlichen auf Abkommen und Gipfeltreffen. Für die Aufstellung einer operativen Agenda müssten andere Strukturen für die Beziehungen geschaffen werden. In diesem Zusammenhang verdienen die Beziehungen zwischen der EU und den AKP-Staaten Erwähnung, für die es eine Gemeinsame Parlamentarische Versammlung und ein Ständiges Sekretariat in Brüssel gibt. Nach Ansicht des EWSA müssen im Rahmen der euro-lateinamerikanischen Allianz handlungsfähige, ständige und strukturierte Organe für die Beziehungen zwischen den beiden Weltregionen geschaffen werden.

7.2.6

Die EU sollte ihre Beziehungen strategisch so ausrichten, dass die Verbesserung des sozialen Zusammenhalts in Lateinamerika und der Karibik in all ihren Teilaspekten (handels-, technologie-, allgemein-, bildungs-, kulturpolitische Beziehungen, Entwicklungszusammenarbeit etc.) als Ziel festgeschrieben wird.

7.2.7

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Beziehungen der EU zu den Staaten Lateinamerikas und der Karibik über Handelsabkommen hinaus auch viel für die Aufwertung der EU als weltpolitischer Akteur, die Unterstützung eines Prozesses der regionalen Integration in Lateinamerikas und der Karibik, der im Unterschied zum ersten Vorhaben der ALCA der Region insgesamt und ihren verschiedenen subregionalen Zusammenschlüssen eine stärkere Verhandlungsmacht auf der internationalen Bühne verleiht, für den Aufbau einer neuen Weltwirtschaftsordnung und für einen international geordneten Umgang mit der Globalisierung leisten können. Die Eckwerte dieses internationalen Vorgehens müssen der Multilateralismus, die Unterwerfung unter das Völkerrecht, die Bewahrung der Umwelt, die Sicherung des Friedens und der Abbau der Entwicklungsunterschiede zwischen der nördlichen und der südlichen Erdhalbkugel sein.

7.3   Stärkung und Partizipation der organisierten Zivilgesellschaft

7.3.1

In den Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika und der Karibik müssen aus Sicht des EWSA Prozesse der regionalen Integration in Lateinamerika gestärkt werden, die nach dem Vorbild der europäischen Integration nicht nur auf eine Vergrößerung der Märkte zur Belebung des Wirtschaftswachstums abzielen, sondern auch Solidarmechanismen und soziale Normen umfassen, die die mit diesen Prozessen angestrebte Schaffung eines Binnenmarktes flankieren und einen stärkeren sozialen Zusammenhalt begünstigen.

7.3.2

In diesem Sinne tritt der EWSA dafür ein, dass die EU in Anlehnung an das Projekt „Unterstützung der sozialen Dimension des MERCOSUR“ Projekte finanziert, die die soziale Dimension der subregionalen Integrationsprozesse und die beratenden Organe der organisierten Zivilgesellschaft im gesamten lateinamerikanisch-karibischen Raum stärken.

7.3.3

Außerdem spricht sich der EWSA dafür aus, dass in allen Abkommen zwischen der EU und den einzelnen Ländern und subregionalen Zusammenschlüssen in Lateinamerika und der Karibik institutionalisierte Verfahren - wie z.B. Gemischte Beratende Ausschüsse - vorgesehen werden, die es der organisierten Zivilgesellschaft erlauben, an der Entwicklung solcher Abkommen mitzuwirken und ihre Standpunkte dazu zur Geltung zu bringen. Dazu muss die EU den Auf- oder Ausbau von Partizipationsorganen der organisierten Zivilgesellschaft dort, wo sie noch nicht oder nur in rudimentärer Form bestehen, fördern.

7.3.4

Die Förderung direkter Kontakte zwischen den sozialen und berufsständischen Organisationen der EU und entsprechender Organisationen im lateinamerikanisch-karibischen Raum kann zur Weitergabe von Erfahrungen, zu einem wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Austausch und zur Stärkung der Organisationen der Zivilgesellschaft beitragen. Nach Ansicht des EWSA sollten bestehende Erfahrungen - z.B. im Unternehmerforum EU-MERCOSUR und in den NRO-Foren EU/Zentralamerika oder Mexiko - auf andere Sektoren ausgeweitet werden, namentlich auf den Bereich der Gewerkschaften (wo ein Arbeitsforum EU/Mercosur gegründet wurde), der Sozialwirtschaft und der Landwirtschaft.

7.3.5

Darüber hinaus spricht sich der EWSA dafür aus, dass die EU in Anlehnung an bestehende Haushaltslinien zur Förderung der städtischen Entwicklung und des Technologie- und Bildungsaustauschs eine Haushaltslinie für die Stärkung der Organisationen der Zivilgesellschaft (Gewerkschaften, Unternehmervereinigungen, gesellschaftliche Verbände) in Lateinamerika und der Karibik einrichtet.

7.3.6

Auch die Weltbank und der IWF sollten sich bei der Stärkung der Organisationen der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft in Zusammenarbeit mit dem EWSA und den anderen EU-Institutionen sowie der IAO engagieren.

7.3.7

Ein gut entwickelter Rahmen von Arbeitsbeziehungen ist eine wichtige Bedingung dafür, dass Prozesse der sozialen Konzertierung entstehen, die Produktivinvestitionen, ordentliche Arbeit mit garantierten Arbeitsrechten, die Stabilität der Wirtschaftstätigkeit, wirtschaftliche Umstrukturierungen und eine bessere Einkommensverteilung fördern. Für die Stärkung der Sozialpartner, der Systeme für Tarifverhandlungen und Konfliktbeilegung zwischen ihnen, die Formen der innerbetrieblichen Mitbestimmung und der Konzertierung zwischen den sozialen Akteuren würden europäische Erfahrungen - von Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften und anderen Verbänden auf Gemeinschafts- und einzelstaatlicher Ebene - einen wichtigen Beitrag darstellen.

7.4   Produktivinvestitionen und soziale Verantwortung der Unternehmen

7.4.1

Die Europäische Union ist einer der größten Investoren in Lateinamerika. Die ausländischen Direktinvestitionen aus Europa nehmen weiter zu, sodass sie gegenwärtig das größte Investitionsvolumen in der Region bilden. Für die Schaffung der - nationalen und internationalen - Bedingungen für die Gewährleistung der Qualität und Dauerhaftigkeit der Investitionsströme ist die Kooperation zwischen der EU und den Staaten der Region wichtig, insbesondere auch um Investitionen in die Infrastruktur, die für ausländische Direktinvestitionen ein bedeutsames Standortkriterium ist, zu verstärken. Nach Meinung des EWSA muss das entschiedene Handeln der in Lateinamerika investierenden europäischen Unternehmen, unterstützt durch die Gemeinschaftsinstitutionen und die Mitgliedstaaten, ein grundlegendes Element in den Beziehungen zu Lateinamerika und der Karibik und für die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung sein.

7.4.2

Die finanzielle Unterstützung der KMU ist von besonderer Relevanz in Lateinamerika und der Karibik, um ihre Ausstattung mit Kapital, technologischem Know-how und Humanressourcen zu verbessern. In dieser Hinsicht wäre es sicher zweckmäßig, einen KMU-Fonds für Lateinamerika einzurichten, der mit Beiträgen aus den Mitgliedstaaten und der EU gespeist wird.

7.4.3

Zu dieser intensiveren europäischen Investitionstätigkeit muss ein stärkeres freiwilliges Engagement der in Lateinamerika und der Karibik investierenden Unternehmen kommen, eine Politik der sozialen Verantwortung zu betreiben, die über die entsprechenden nationalen (gesetzlich vorgeschriebenen oder vertraglich vereinbarten) Anforderungen und die Einhaltung der Kernarbeitsnormen der IAO hinausgeht und damit richtungweisend für den Aufbau eines demokratischen Rahmens von Arbeitsbeziehungen sein kann.

7.4.4

Die Aufstellung einer Charta der Grundsätze der sozialen Verantwortung der Unternehmen (angefangen mit den europäischen) in Lateinamerika und der Karibik, die von den in der Region ansässigen Unternehmen aus freien Stücken angewandt werden könnten, wäre ein wirkungsvolles Mittel zur Förderung des sozialen Dialogs und des Umweltschutzes und damit des sozialen Zusammenhalts in der Region.

7.5   Einwanderung

7.5.1

Die Migrationsströme aus Lateinamerika und der Karibik in die Europäische Union haben in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen. Ein Beitrag, den die EU zum sozialen Zusammenhalt in Lateinamerika und der Karibik leisten könnte, wäre die Erarbeitung von Abkommen zur Erleichterung der regulären Einwanderung, der Integration der Immigranten und ihrer Familien in die EU-Mitgliedstaaten und die Konzipierung einer von den Herkunfts- und den Aufnahmeländern gemeinsam durchgeführten Entwicklungspolitik (Bildungsprogramme und Finanzierung produktiver Unternehmungen je nach Berufsausbildung, Ersparnisse, rückkehrende Emigranten etc.). Dies würde dem Aderlass an begabten, ideenreichen Köpfen Einhalt gebieten, die die Migration in die EU-Staaten für diese Länder darstellt.

7.6   Öffentliche Entwicklungshilfe

7.6.1

Nach Ansicht des Ausschusses sollte die EU, wie das Europäische Parlament gerade gefordert hat, einen biregionalen Solidaritätsfonds für Lateinamerika entwickeln und ausreichend ausstatten (mit dem u.a. die Verwaltung und Finanzierung von Programmen im Bereich der Gesundheit, der Bildung und der Bekämpfung der extremen Armut unterstützt wird) und im Hinblick auf die von der EU und ihren Mitgliedstaaten bereits eingegangenen Verpflichtungen die Beträge der öffentlichen Entwicklungshilfe für Lateinamerika aufstocken und ihre Durchführungsmodalitäten neu ausrichten. Darüber hinaus muss die Koordinierung mit anderen regionalen und internationalen Finanzierungsorganisationen verbessert werden.

7.6.2

Wie bereits ausgeführt, muss die EU nach Auffassung des EWSA die Förderung des sozialen Zusammenhalts als strategisches Ziel in all ihre Beziehungen (handels-, technologie-, wirtschafts-, bildungspolitische usw.) zu Lateinamerika und der Karibik einbeziehen. Davon abgesehen, bleiben sowohl die Entwicklungshilfe als auch die Entwicklungszusammenarbeit auch weiterhin sehr wichtig. In den ärmsten Ländern der Region muss sich die EU auf die Bemühungen zur Definition einer Strategie der Armutsverringerung konzentrieren, die die Ausrichtung der Hilfe auf das zentrale Ziel der Bekämpfung der Armut gewährleistet und eine bessere Koordinierung zwischen den Geberländern (zumindest den gemeinschaftlichen) ermöglicht. Bei den lateinamerikanischen und karibischen Ländern mit dem relativ niedrigsten Entwicklungsstand muss die Entwicklungskooperation der EU auf die Schaffung der Voraussetzungen gerichtet sein, die es diesen Ländern erlauben, sich unter vorteilhaften Bedingungen auf der internationalen Ebene einzufügen, die ihre Anfälligkeit für Einflüsse von außen verringern und Maßnahmen fördern, durch die Ungleichheiten korrigiert werden und die Institutionen in der Gesellschaft an Legitimität und Verwurzelung gewinnen. Dazu müssen politischer Dialog, technische Hilfe, finanzielle Kooperation und Unterstützung auf der internationalen Ebene miteinander verflochten werden.

7.6.3

In jedem Fall müssen sich die EU und ihre Mitgliedstaaten um mehr Qualität und Effizienz ihrer Hilfe bemühen. Dazu sind erstens die öffentlichen Maßnahmen kohärenter zu gestalten, zweitens muss die Koordinierung unter den Geberländern verbessert werden, und drittens sind eigene Entwicklungsprozesse der Empfängerländer zu stärken, die die grundlegenden Entscheidungen über Gestaltung und Verwaltung der Unterstützungsmaßnahmen selbst treffen müssen.

7.6.4

Nach Auffassung des EWSA sollte ein Teil der Gemeinschaftshilfe dafür eingesetzt werden, die Verhandlungskapazität der am wenigsten entwickelten Länder Lateinamerikas und der Karibik in multilateralen Foren zu stärken, indem die dafür zuständigen Institutionen unterstützt werden und ihnen Rückhalt gegeben wird. In allen Ländern der Region sollte sich die EU auf die arbeitsmarktgerechte Ausbildung der Humanressourcen und die Stärkung der Institutionen konzentrieren.

7.7   Verringerung der drückenden Auslandsverschuldung und finanzielle Unterstützung von Entwicklung und sozialem Zusammenhalt

7.7.1

Die Auslandsverschuldung ist für die Entwicklung vieler lateinamerikanischer und karibischer Länder nach wie vor eine erhebliche Belastung. Die hohe Auslandsverschuldung und die schlecht funktionierenden Finanzmärkte sind miteinander zusammenhängende Faktoren, die die aus- und inländische Investitionstätigkeit beeinträchtigen. Auch die Initiative der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds zur Schuldenentlastung der ärmsten Länder (Bolivien, Guayana, Honduras und Nicaragua gehören zu den lateinamerikanischen Ländern, die davon profitieren) hat die Probleme dieser Staaten nicht gelöst. Ein Schuldenerlass würde noch nicht einmal ausreichen, wenn er nicht durch Maßnahmen zur Förderung von Produktivinvestitionen flankiert wird.

7.7.2

Für mehr als 50 % der Schulden lateinamerikanischer und karibischer Länder sind die Gläubiger EU-Mitgliedstaaten. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten sich nach Auffassung des EWSA in den multilateralen Gremien dafür einsetzen, dass die Umschuldungsbedingungen überdacht, Formeln der Schuldentilgung durch Kooperationsprogramme im Umwelt- und Bildungsbereich usw. erarbeitet und Schuldenerlasse mit Investitionsverpflichtungen verknüpft werden (Unterstützung der ländlichen Entwicklung, Förderung der KMU, Schaffung grundlegender Infrastrukturen, Förderprogramme für Rückkehrer zur Aufnahme neuer Produktivtätigkeiten...).

7.7.3

Die Staaten Lateinamerikas und der Karibik, die selbst nur über eine geringe Fähigkeit zur internen Kapitalbildung verfügen, sind auf die Aufnahme von Finanzmitteln an den internationalen Finanzmärkten angewiesen. Der Zugang zu den Finanzmärkten unter angemessenen Bedingungen und zu akzeptablen Kosten wird stark von den Rating-Agenturen (Risikobewertung) bestimmt, die durch ihr faktisches Oligopol in vielen Fällen die nationalen Märkte finanziell destabilisieren und internationale Kredite für die Länder Lateinamerikas und der Karibik schwerer zugänglich machen. Wenn die Gemeinschaftsinstitutionen und die europäischen Finanzorganisationen für mehr Wettbewerb auf den Rating-Märkten sorgen würden, wäre der Entwicklung und den Zusammenhalt in der Region geholfen.

7.8   Stärkung der lokalen Dimension

7.8.1

Angesichts der Globalisierung gewinnt die lokale Ebene immer mehr an Bedeutung sowohl für die wirtschaftliche Entwicklung, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die soziale Integration als auch für die konkrete Verwirklichung einer partizipativen Demokratie. Die EU und ihre Mitgliedstaaten verfügen über Erfahrungen und Institutionen (verschiedene Formen der lokalen Konzertierung, Ausschuss der Regionen, Kongress der Gemeinden und Regionen Europas u.a.), die wertvolle Impulse für die Stärkung lokaler Strukturen und lokaler Handlungsansätze geben können.

7.9   Stärkung der Sozialschutzsysteme

7.9.1

Die Sozialschutzsysteme sind zentraler Bestandteil einer Strategie, deren Ziele die soziale Inklusion, die Verringerung der Armut und die Stärkung der sozialen Wohlfahrt in Lateinamerika sind. Daher sollte die EU zum Aufbau umfassender Sozialschutzsysteme beitragen, die einzelnen Staaten der Region zur Unterzeichnung internationaler Abkommen über die Koordinierung ihrer Sozialgesetzgebung ermuntern, die Modernisierung der Verwaltung der Sozialschutzsysteme unterstützen und eine entsprechende Fachausbildung fördern.

7.10   Förderung einer ausgewogenen regionalen Entwicklung in Lateinamerika und der Karibik

7.10.1

Nach Auffassung des EWSA könnte die EU zu einer besseren, ausgewogeneren regionalen Integration der lateinamerikanischen und karibischen Staaten als einem wichtigen Faktor für deren Entwicklung und Eigenständigkeit nicht nur mit Assoziierungsabkommen, sondern auch durch technische Hilfe und Infrastrukturinvestitionen, durch institutionelle Verfahren und mit den Erfahrungen der Gemeinschaftspolitik beitragen. Dabei sollte nicht nur der EU und den einzelstaatlichen Regierungen, sondern auch den Arbeitgeberverbänden, den Gewerkschaften und anderen gesellschaftlichen Organisationen eine wichtige Rolle zukommen.

7.11   Nachhaltige Entwicklung

7.11.1

Angesichts der allgemein anerkannten Tatsache, dass eine nachhaltige Entwicklung mittel- und langfristig nur durch Fortschritte auf dem Gebiet des Umweltschutzes gewährleistet werden kann, sollte die EU in ihren Beziehungen zu Lateinamerika und der Karibik auf eine Spezialisierung der Produktion hinwirken, durch die die Erschöpfung der Naturressourcen als einem der großen Reichtümer der Region nicht beschleunigt wird.

7.12   Schutz der Menschenrechte

7.12.1

In zahlreichen Berichten internationaler Organisationen wird auf Probleme bei der Achtung der Menschenrechte in Lateinamerika und der Karibik aufmerksam gemacht. Menschenrechtler sind in vielen Fällen Opfer von Verfolgung, Diffamierung, Folter oder Mord. Gemäß einem Bericht der Vereinten Nationen (2002) finden 90 % aller weltweit verübten Morde an Menschenrechtlern in Lateinamerika statt. Die Verfolgung und Kriminalisierung von Führern vollkommen legitimer sozialer Bewegungen ist ein großes Hindernis für die Bekämpfung der Ausgrenzung und der sozialen Ungleichheit. Nach Ansicht des EWSA wäre ein Programm der EU zum Schutz von Menschenrechtlern in Lateinamerika und der Karibik daher sehr zweckmäßig.

7.13   Eine offene Stellungnahme

7.13.1

Diese Stellungnahme ist inhaltlich offen und wird erst nach der Debatte zu vollenden sein, die zum Thema „Sozialer Zusammenhalt in Lateinamerika und der Karibik“ auf dem Dritten Treffen der organisierten Zivilgesellschaft im April 2004 in Mexiko zu führen sein wird. Sie enthält Vorschläge für mögliche Beiträge, die die EU zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts in Lateinamerika und der Karibik leisten kann. Hinzukommen muss jedoch, was nach Ansicht der Organisationen der Zivilgesellschaft Lateinamerikas und der Karibik in den folgenden strategischen Handlungsbereichen - Rolle des Staates und seiner Institutionen, Steuersystem, Bildung, Gesundheit, Sozialschutz, wirtschaftliche Infrastrukturen und Industriepolitik, Rahmen der Arbeitsbeziehungen, Partizipation der Zivilgesellschaft und Schutz der Menschenrechte - zur Verbesserung des sozialen Zusammenhalts in den Ländern der Region zu tun ist. Wenn sie ihre Ansichten geäußert haben und darüber eine Debatte geführt wurde, kann diese Stellungnahme um einen Anhang ergänzt oder eine zusätzliche Stellungnahme erarbeitet werden, um der Kommission „die Meinungen der organisierten Zivilgesellschaft Lateinamerikas, der Karibik und Europas“ vorzutragen, um die Kommissar Patten in seinem Stellungnahmeersuchen gebeten hatte.

Brüssel, den 25. Februar 2004

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  Schreiben von Kommissionsmitglied Patten an EWSA-Präsident Briesch vom 1. Juli 2003: „... die Rolle europäischer Unternehmen, die in Lateinamerika und der Karibik investieren, die zeigt, dass die “sozialpolitischen Maßnahmen„ der Unternehmen auch günstig für die Wettbewerbsfähigkeit sein können“. Siehe auch Stellungnahme des EWSA vom 20. März 2002 zu dem „Grünbuch: Europäische Rahmenbedingungen für die soziale Verantwortung der Unternehmen“ (ABl. C 125 vom 27.5.2002, S. 44), in der sich der Ausschuss mit dem Begriff der sozialen Verantwortung der Unternehmen beschäftigt.

(2)  „Panorama social de América Latina 2002-2003“, CEPAL (2003), Santiago de Chile.

(3)  „Panorama social de América Latina 2002-2003“, CEPAL, Santiago de Chile.

(4)  „Hacia el objetivo del milenio de reducir la pobreza en América Latina y el Caribe“, CEPAL, Santiago de Chile.

(5)  „Se buscan nuevos empleos: los mercados laborales en América Latina“ (http://www.iadb.org/res/ipes)

(6)  http://www.latinobarometro.org

(7)  http://www.latinobarometro.org

(8)  Pablo Fajnzylber, Daniel Lederman und Norman Loayza: „Inequality and violent crime“. Weltbank, Washington (2000).

(9)  XIII. iberoamerikanisches Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs, Santa Cruz de la Sierra/Bolivien, 14./15. November 2003.