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Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema "Zuerkennung der Unionsbürgerschaft"

Amtsblatt Nr. C 208 vom 03/09/2003 S. 0076 - 0081


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema "Zuerkennung der Unionsbürgerschaft"

(2003/C 208/19)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 21. Januar 2003 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine stellungnahme zu dem vorgenannten Thema zu erarbeiten.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 2. April 2003 an. Berichterstatter war Herr Pariza Castaños.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 399. Plenartagung am 14. und 15. Mai 2003 (Sitzung vom 14. Mai) mit 88 gegen 40 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme.

1. Einleitung

1.1. Der Europäische Konvent arbeitet seit Monaten an der Formulierung eines Verfassungsvertrags für die Europäische Union. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss nimmt als Beobachter an diesen Arbeiten teil und trägt zu den Debatten des Konvents durch die verschiedenen, in seinen Stellungnahmen unterbreiteten Vorschläge und Empfehlungen sowie durch seine an den Konvent gerichtete Entschließung bei.

1.2. Im Zusammenhang mit der europäischen Einwanderungs- und Asylpolitik, die sich aus dem Vertrag von Amsterdam und den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats von Tampere ableitet, hat der EWSA über verschiedene Stellungnahmen dazu beigetragen, dass sich die Europäische Union auf eine angemessene gemeinsame Politik und transparente Rechtsvorschriften stützen kann, die auf den Grundsätzen der Gleichbehandlung, der gleichen Rechte und Pflichten und der Bekämpfung jedweder Diskriminierung aufbauen.

1.3. Am 9. und 10. September 2002 veranstaltete der EWSA in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission eine Konferenz, an der Vertreter der Sozialpartner und wichtiger sozialer Organisationen aus 25 europäischen Staaten mit dem Ziel teilnahmen, die Integration der Einwanderer und Flüchtlinge in die europäischen Gesellschaften und ein neues Engagement seitens der Zivilgesellschaft zu fördern(1).

1.4. In Zukunft wird der aus Zuwanderung hervorgegangene Teil der Bevölkerung der EU-Mitgliedstaaten weiter zunehmen. Alle Fachleute stimmen darin überein, dass die Zuwanderung aus demografischen, wirtschaftlichen und sozialen Gründen zunehmen und ein Großteil der Zugewanderten lange Zeit oder endgültig bleiben wird(2). Darüber hinaus wird sich die Mobilität der Personen innerhalb der Mitgliedstaaten als Folge der Entwicklung der Freizügigkeit erhöhen. Die Mobilität wird auch ursprünglich zugewanderte Bevölkerungsgruppen erfassen. Im Vorschlag für eine Richtlinie betreffend den Status der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen ist eine Erleichterung der Mobilität dieser Personen vorgesehen(3).

1.5. Um Europa zu einem guten Aufnahmeland und zu einer offenen, pluralistischen und interkulturellen Gesellschaft zu machen, müssen staatliches Handeln und gesellschaftliche Einstellungen auf Integration gerichtet sein. Die adäquate Integration aus Drittstaaten stammender gegenwärtiger und künftiger Bürger ist ein strategisches Ziel für die Europäer.

1.6. Der Konvent sollte darüber beraten, ob die gegenwärtigen politischen und rechtlichen Grundlagen, auf die sich die gemeinsame Zuwanderungspolitik stützt, ausreichen, um diesem Integrationsziel näher zu kommen. Der EWSA würde es begrüßen, wenn die künftige europäische Verfassung in Fortführung der Vorstellungen des Rates von Tampere der EU ein stärkeres Mandat für eine adäquate gemeinsame Zuwanderungs- und Asylpolitik gäbe.

1.7. Eine der Schlussfolgerungen der Konferenz war der Vorschlag an den Konvent, dass die Unionsbürgerschaft allen dauerhaft aufhältigen Drittstaatsangehörigen gewährt werden sollte, um die Ausübung der politischen Rechte zu erleichtern und somit die Integration zu verbessern, denn die Unionsbürgerschaft und die daraus abgeleiteten Rechte und Pflichten stellen einen sehr wichtigen Faktor für die Eingliederung dieser Personen in die Aufnahmegesellschaften dar.

1.8. In seiner an den Europäischen Konvent gerichteten Entschließung befindet der EWSA: "Die Politik zur Integration der Einwanderer ist zu verbessern. Der Ausschuss ersucht den Konvent zu prüfen, ob den Drittstaatsangehörigen, die den Status langfristig aufenthaltsberechtigter Personen besitzen, die Unionsbürgerschaft zuerkannt werden kann."

1.9. In Anbetracht des Verfassungscharakters der Konventsarbeiten fordert der EWSA den Europäischen Konvent an dieser Stelle erneut auf, seinen Vorschlag mit gebührender Aufmerksamkeit zu prüfen.

1.10. Dieser Vorschlag wird ferner von zahlreichen Persönlichkeiten und Organisationen aus Politik und Gesellschaft der verschiedenen Mitgliedstaaten unterstützt, die sich schon seit Jahren dafür einsetzen, dass Drittstaatsangehörigen, die sich dauerhaft in der Europäischen Union aufhalten, ein Bürgerstatus zugestanden wird, der ihnen die Wahrnehmung der politischen und sozialen Rechte ermöglicht.

2. Rechtsgrundlagen

2.1. Es ist Aufgabe des Europäischen Konvents, Vorschläge dafür auszuarbeiten, die Rechtsordnung der Europäischen Union auf neue Grundlagen zu stellen. Die im Vertrag von Maastricht vorgesehene Schaffung einer Unionsbürgerschaft ist ein zentrales Element dieser Verantwortung für die zeitgemäße Anpassung der Grundlagen des Gemeinschaftsrechts. In dem am 6. Februar 2003 vom Sekretariat des Europäischen Konvents veröffentlichten Teil (CONV 528/03) des Entwurfs eines Verfassungsvertrages (Artikel 1 bis 16) schlägt das Konventspräsidium vor, dass die Unionsbürgerschaft ein Titel für die Zuerkennung von Rechten sein und zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzutreten sollte, ohne diese zu ersetzen. Diese Bestimmung stellt eine klare Verbindung zwischen der Definition der Unionsbürgerschaft und dem von der Europäischen Union garantierten Recht aller Unionsbürger auf Gleichheit vor dem Gesetz (Artikel 7 Absatz 1 "in fine") her.

2.2. Im Einklang mit dieser Verknüpfung zwischen Bürgerschaft und Gleichheit vor dem Gesetz schlägt der EWSA vor, dass der Europäische Konvent einen erweiterten Begriff der Unionsbürgerschaft zugrundelegt, deren personenbezogener Geltungsbereich Drittstaatsangehörige mit einschließt, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union dauerhaft oder langfristig aufenthaltsberechtigt sind. Dieser erweiterte Begriff deckt sich mit dem von der Kommission als "Zivilbürgerschaft" bezeichneten Konzept(4).

2.3. Die vorgeschlagene Festschreibung dieser erweiterten Unionsbürgerschaft in das europäische Primärrecht steht im Einklang mit dem erklärten Ziel des Konvents, die von dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission feierlich proklamierte Grundrechtscharta(5) in die europäische Verfassung aufzunehmen. Jedenfalls setzt die erweiterte Unionsbürgerschaft bzw. "Zivilbürgerschaft" voraus, dass die Absicht der Europäischen Union, das unteilbare und allgemeingültige Recht aller Personen auf Gleichheit vor dem Gesetz fortschreitend zu verwirklichen und umzusetzen, rechtlich ausformuliert wird. Der Grundsatz der Rechtsgleichheit ist im Zusammenhang mit den persönlichen Grundrechten in Artikel 20 der Charta der Grundrechte und Freiheiten der Europäischen Union enthalten. Darüber hinaus ist er als erster Bestandteil der Unionsbürgerschaft in Artikel 7 Absatz 1 des vom Konventspräsidium vorgelegten Entwurfs eines Verfassungsvertrags verankert.

2.4. Die Heranziehung von Artikel 20 der Grundrechtscharta der Europäischen Union als Rechtsgrundlage für diesen Vorschlag steht vollständig im Einklang mit den umfassenden rechtlichen Überlegungen über die Zuwanderungspolitik der Europäischen Union, mit der sich die Kommission seit 1997 auf der Grundlage von Artikel 63 des EG-Vertrags auseinandersetzt. Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam nämlich verfügt der Rat über die Zuständigkeit, einwanderungspolitische Maßnahmen anzunehmen, um eine allgemeine Gleichbehandlung von Drittstaatsangehörigen in Bezug auf Einreise- und Aufenthaltsvoraussetzungen und die Erteilung von Visa sicherzustellen, sowie Maßnahmen zur Festlegung der Rechte und der Bedingungen zu ergreifen, auf Grund derer sich Staatsangehörige dritter Länder, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, in anderen Mitgliedstaaten aufhalten dürfen.

2.5. Auf Grund der Wahrnehmung dieser Zuständigkeiten soll in naher Zukunft ein echter Gemeinschaftsstatus erarbeitet werden, der den verschiedenen rechtlichen Situationen von Drittstaatsangehörigen Rechnung trägt, die rechtmäßig in das Unionsgebiet eingereist sind, sich auf der Durchreise befinden oder sich für eine begrenzte Zeit oder dauerhaft auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufhalten. Laut den Mitteilungen der Kommission an den Rat und das Parlament ("Eine Migrationspolitik der Gemeinschaft"(6) und "Offener Koordinierungsmechanismus für die Migrationspolitik der Gemeinschaft"(7)) und den dazugehörigen Richtlinienvorschlägen der Kommission soll dieser Status eine spezifische rechtliche Regelung für die Stellung von Drittstaatsangehörigen beinhalten, die entweder unmittelbar auf Grund ihres dauerhaften oder langfristigen rechtmäßigen Aufenthaltes(8) oder auf Grund einer Familienzusammenführung(9) ein Aufenthaltsrecht erworben haben.

2.6. Das auf Artikel 20 der Grundrechtscharta der Europäischen Union gestützte Konzept der erweiterten Unionsbürgerschaft oder "Zivilbürgerschaft" bezieht sich auf dieselbe gesellschaftliche Entwicklung, die auch die Zuweisung der in Artikel 63 des EG-Vertrags aufgeführten Zuständigkeiten an den Rat bewirkt hat, allerdings aus dem Blickwinkel der Zuwanderung mit dauerhafter Aufenthaltsberechtigung auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union.

2.7. Die beiden Betrachtungsweisen unterscheiden sich demnach nicht in Bezug auf die rechtlich zu regelnden sozialen Aspekte, sondern hinsichtlich der Auffassung des Konzepts der "Zivilbürgerschaft" für die Schaffung eines Verfassungsinstruments, das:

a) in der gemeinschaftlichen Rechtsordnung so weit wie möglich die Verpflichtung zur Gleichbehandlung von Drittstaatsangehörigen verankert, um die Integration von in Mitgliedstaaten der Europäischen Union dauerhaft und rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen in das bürgerliche Leben zu fördern und zu erleichtern (Gleichheit vor dem Gesetz).

b) besser gewährleistet, dass die Rechtsstellung von Drittstaatsangehörigen mit langfristiger Aufenthaltsberechtigung keine unzulässige Diskriminierung beinhaltet (Gleichheit im Gesetz).

c) unmittelbar wirksam dafür sorgt, dass die gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften zur Regelung der Situation von Drittstaatsangehörigen auf nichtdiskriminierende Weise angewendet werden (Gleichheit bei der Anwendung der Gesetze).

2.8. Das Konzept der Unionsbürgerschaft im engeren Sinn entspricht den in den Artikeln 17 bis 22 des EG-Vertrags festgelegten Rechtsvorschriften. Desgleichen sollte das Konzept der erweiterten Unionsbürgerschaft oder "Zivilbürgerschaft" eine gesicherte rechtliche Stellung im künftigen Verfassungsvertrag begründen, dessen personenbezogener Geltungsbereich dauerhaft aufhältige Personen, die nicht Staatsangehörige eines der Mitgliedstaaten sind, mit einbezieht. Die Aufnahme dieses neuen Kriteriums für die Zuerkennung der Bürgerschaft in das Gemeinschaftsrecht muss durch die Festlegung der Rechte, Leistungen und Interessen zum Ausdruck kommen, die im Rahmen dieser rechtlichen Stellung zu schützen sind. Der Inhalt dieser künftigen Regelung muss in einem ausgewogenen Verhältnis an die Verpflichtung dieser Personen zur Einhaltung und Beachtung der gemeinschaftlichen Rechtsordnung und der für sie geltenden Grundsätze des Gemeinschaftsrechts geknüpft werden. Darüber hinaus wäre anzustreben, dass diese rechtliche Anerkennung des erweiterten Begriffs der Unionsbürgerschaft, d. h. der "Zivilbürgerschaft", in ähnlicher Weise inhaltlich dynamisch definiert wird, wie dies in Artikel 22 EG-Vertrag für die Unionsbürgerschaft vorgesehen ist.

2.9. Die durch dieses neue Zuerkennungskriterium verursachte Ausweitung der mit der Unionsbürgerschaft verbundenen persönlichen Rechte und Pflichten hat keinerlei Einfluss auf die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgabenbereiche der Institutionen der Union. Dagegen würde die Einführung der erweiterten Unionsbürgerschaft durch den Konvent veranschaulichen, dass die Verpflichtung der Union gegenüber den Drittstaatsangehörigen bezüglich der Gewährleistung des Grundrechts auf die Gleichheit der Personen vor dem Gesetz, im Gesetz und bei der Anwendung des Gesetzes im Einklang mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten fortschreitend umgesetzt wird.

2.10. Diese Verpflichtung muss gemäß Artikel 51 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union von den Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union erfuellt werden. Und in der Praxis sollte an dieser Verpflichtung die angemessene Anwendung von Artikel 63 Absatz 4 des EG-Vertrags betreffend die Einführung innerstaatlicher Vorschriften durch die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Einreise- und Aufenthaltsvoraussetzungen für Drittstaatsangehörige (Artikel 63 Absatz 3 und 4), die mit dem EU-Vertrag und mit internationalen Übereinkünften vereinbar sind, ausgerichtet werden.

3. Der Europäische Konvent

3.1. Am 6. Februar veröffentlichte das Präsidium des Konvents seinen Vorschlag für die Artikel 1 bis 16 der Verfassung. In Artikel 5 wird die Charta der Grundrechte in die Verfassung aufgenommen; und in Artikel 7 wird die Unionsbürgerschaft definiert: "Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ohne diese zu ersetzen."

3.2. In diesem Vorschlag werden Drittstaatsangehörige, auch wenn sie dauerhaft aufenthaltsberechtigt sind, von der Unionsbürgerschaft ausgeschlossen.

3.3. Der EWSA hat in verschiedenen Stellungnahmen, die im Anhang aufgeführt sind, vorgeschlagen, dass die Verfassung Drittstaatsangehörigen mit langfristiger Aufenthaltsberechtigung in der EU die Unionsbürgerschaft zugestehen sollte.

3.4. In seiner an den Europäischen Konvent gerichteten Entschließung ersuchte der EWSA den Konvent zu prüfen, ob den dauerhaft oder langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen zur Verbesserung der Integration die Unionsbürgerschaft zuerkannt werden kann. Die Gleichheit aller aufhältigen Personen, seien es Staatsangehörige der Mitgliedstaaten oder Drittstaatsangehörige, ist eine notwendige Vorbedingung für die Integration. Eine Gemeinschaft kann nicht in ihrer Mitte eine Gruppe von Personen von den politischen und anderen Rechten ausschließen, über die andererseits die Gruppe der "EU-Ausländer" verfügt.

4. Eine vielschichtige, integrative und partizipative Unionsbürgerschaft

4.1. Zwar müssen die Rechtsvorschriften betreffend die Zuerkennung der Staatsangehörigkeit im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip auch weiterhin in die Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten fallen, doch ist eine gewisse Harmonisierung anzustreben, um unerwünschte Diskriminierungen zu vermeiden und integrationsfreundliche Maßnahmen zu fördern, beispielsweise indem denjenigen dauerhaft aufhältigen Personen, die dies wünschen, die Staatsangehörigkeit des Gastlandes gewährt wird. Die Subsidiarität darf jedoch von den Mitgliedstaaten nicht zur Begrenzung der Rechte aufhältiger Personen ins Feld geführt werden. Der Ausschuss hat bereits zu einem früheren Zeitpunkt festgestellt: "Die nationalen Gesetze, die eine doppelte Staatsbürgerschaft auf freiwilliger Basis zulassen, sind im Hinblick auf die Integration begrüßenswert"(10).

4.2. Jedoch ist es Sache der Union, die Unionsbürgerschaft und ihre Wesenszüge zu definieren. Mit der erneuten Bemühung um eine Definition der Unionsbürgerschaft nimmt der Konvent sein Mandat auf angemessene Weise wahr, da es der Union obliegt, im Verfassungsvertrag den Inhalt dieses Begriffs festzulegen. Die Unionsbürgerschaft wurde im Vertrag von Maastricht eingeführt und in den Verträgen von Amsterdam und Nizza gefestigt. Inzwischen ist sie zu einem fest verankerten rechtlichen und politischen Konzept der Europäischen Union geworden. Dem Vertrag zufolge ist Unionsbürger, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt; somit bestimmen also indirekt die Mitgliedstaaten, wer Unionsbürger ist und wer nicht.

4.3. Die Unionsbürgerschaft muss im Mittelpunkt des europäischen Einigungswerks stehen. Der Konvent entwickelt ein großes politisches Vorhaben mit dem Ziel, dass alle Bürger sich in eine supranational angelegte, demokratische politische Gemeinschaft einbezogen fühlen. Daher muss das Konzept der Bürgerschaft um ein neues Zuerkennungskriterium bereichert werden: eine Unionsbürgerschaft, die nicht nur aus der Staatsangehörigkeit erwächst, sondern auch durch den dauerhaften Aufenthalt in der Europäischen Union begründet wird. In der Charta der Grundrechte, im nationalen Recht der Mitgliedstaaten, in den Verträgen und in den EU-Rechtsvorschriften ist der Aufenthalt bereits ein Kriterium für die Zuerkennung verschiedener wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und zivilbürgerlicher Rechte und Pflichten. Gegenwärtig sind davon jedoch einige politische Rechte, wie zum Beispiel das Wahlrecht, ausgeklammert. Der dauerhafte rechtmäßige Aufenthalt muss daher nach Auffassung des EWSA auch ein Grund für den Zugang zur Unionsbürgerschaft sein.

4.4. Der EWSA unterstützt die Übernahme der Charta der Grundrechte in die Verfassung und den Beitritt zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten, denn sie bedeutet die Anerkennung einer "Zivilbürgerschaft" als erster Etappe auf dem Weg zu einer partizipativen Bürgerschaft für alle dauerhaft im Unionsgebiet aufhältigen Personen.

4.5. Der Ausschuss hält den Charakter der Unionsbürgerschaft, die zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzutritt, sie aber nicht ersetzt, für richtig. Das neue Kriterium für die Zuerkennung der Unionsbürgerschaft, für das der Ausschuss eintritt, kann für Drittstaatsangehörige neue Perspektiven eröffnen.

4.6. Derzeit ist die Staatsangehörigkeit ausschlaggebend für den Erwerb der Unionsbürgerschaft und der damit verbundenen politischen Rechte. Die Unionsbürgerschaft wird derzeit fünf Millionen Menschen zugestanden, die in einem der Mitgliedstaaten wohnen und die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen. Das bedeutet aber eine Diskriminierung der 15 bis 20 Millionen Menschen, die sich langfristig in der Europäischen Union aufhalten und nicht die Staatsangehörigkeit eines der Mitgliedstaaten besitzen. In einigen Mitglied- und Kandidatenstaaten wird ihnen das aktive Wahlrecht bei Kommunalwahlen zuerkannt, die meisten aber verweigern ihnen die politischen Rechte. Ausgehend vom Gleichheitsgrundsatz muss diese Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit beseitigt werden.

4.7. Überdies gehören viele dieser Personen Minderheiten ein, die ohnehin schon auf unterschiedlichste Weise seitens der Gesellschaft, in der sie leben, diskriminiert werden, was dazu führt, dass sie zusätzlich zu dieser sozialen auch eine rechtliche Diskriminierung erleiden. Die rechtliche Ungleichbehandlung aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit verstärkt die Ausgrenzung dieser Personen.

4.8. Die Unionsbürgerschaft kann nicht ohne Rücksicht auf all diese Personen ausgebaut werden. Angesichts der Erweiterung der Union um den größten Teil der mittel- und osteuropäischen Staaten und ihrer Einwohner können nicht Millionen unter uns lebender, dauerhaft aufenthaltsberechtigter Personen ausgegrenzt werden. Die Öffnung der Unionsbürgerschaft nach außen muss die Integration nach innen ergänzen. Ansonsten werden sich Millionen um Integration bemühte Menschen ausgegrenzt fühlen. Da von diesen Menschen Gesetzestreue gefordert wird, ist es nur gerecht, wenn ihnen auch die gleichen Rechte eingeräumt werden wie der übrigen Gemeinschaft.

4.9. Der EWSA befürwortet eine Erweiterung der Unionsbürgerschaft auch nach innen, um die Bevölkerungsgruppen zu erfassen, die sich dauerhaft in der Europäischen Union aufhalten und die Staatsangehörigkeit von Drittstaaten besitzen oder staatenlos sind. Diese Bevölkerungsgruppen machen derzeit ca. 7 % der EU-Bevölkerung aus. Das Europa der Bürger darf nicht gleichbedeutend mit einer Festung Europa sein, in der Einwohner aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit einen unterschiedlichen Status haben. Doch diese Festungsmentalität tritt immer deutlicher zutage.

4.10. Der Europäische Konvent muss die Frage beantworten, ob diese politische und gesellschaftliche Ausgrenzung von Millionen von Menschen mit den in Artikel 2 der künftigen Verfassung vorgeschlagenen Werten der Union zu vereinen ist: Menschenwürde, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte, Toleranz, Gerechtigkeit und Solidarität, und ebenso die Frage, ob dies am Ende des langen Weges stehen soll, den die europäischen Demokratien in ihrem Kampf gegen rechtliche und gesellschaftliche Diskriminierung jeder Art gegangen sind.

4.11. Nach Ansicht des EWSA kann der Konvent dieser Diskriminierung in der künftigen europäischen Verfassung ein Ende setzen. Der Erwerb der Unionsbürgerschaft bedeutet für langfristig aufhältige Drittstaatsangehörige die Überwindung bestimmter Diskriminierungen, von denen viele Menschen betroffen sind, z. B. in Bezug auf die politischen Partizipationsrechte, die Freizügigkeit, den Zugang zur Daseinsvorsorge, das Recht auf Teilnahme an im Arbeitsrecht vorgesehenen Wahlen, das Recht auf Eigentum usw.

4.12. Die europäischen Bürger sprechen unterschiedliche Sprachen, haben unterschiedliche Gebräuche, üben unterschiedliche Religionen aus oder gar keine, haben unterschiedliche Haar- und Hautfarben, unterscheiden sich in Geschlecht und sexuellen Neigungen, haben eine unterschiedliche ethnische, geografische, nationale, soziale und kulturelle Herkunft, und hängen unterschiedlichen moralischen und ideologischen Lehren an. Die europäischen Demokratien haben sich als fähig erwiesen, diese Unterschiede zu integrieren und unzulässige Diskriminierungen durch Gesetze zu vermeiden. Und dennoch gibt es diskriminierende Rechtsvorschriften, die bestimmten Personen aufgrund ihrer nationalen Herkunft die Wahrnehmung der politischen und sozialen Rechte verweigern.

4.13. In der ersten europäischen Verfassung zu Beginn des 21. Jahrhunderts muss das Recht auf Bürgerschaft die Grenzen der Zugehörigkeit zu einer Nationalität sprengen und sich am Konzept des dauerhaften Aufenthalts ausrichten. Wenn die politischen und sozialen Personenrechte an die Zugehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft oder einer ethnisch-kulturellen Gruppe gebunden sind, lässt sich keine Unionsbürgerschaft konzipieren. Europa ist in jeder Hinsicht vielschichtig und im wesentlichen interkulturell. Die Europäische Union baut nicht auf dem Grundgedanken der "europäischen Nation" auf. Die Unionsbürgerschaft kann nicht ausschließlich von der Nationalität ausgehen. Die Unionsbürgerschaft muss über die einfache Summe der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten hinaus ein vielschichtiges, integrierendes und partizipatives politisches Konzept werden. Diese partizipative Bürgerschaft, die Bestandteil der gemeinsamen Identität der Europäer ist, impliziert nicht nur ein demokratisches Verhältnis zwischen den Bürgern und "dem Staat", sondern sie geht darüber hinaus und bedeutet auch ein System partizipativer Beziehungen zwischen den Bürgern und den Organisationen der Zivilgesellschaft.

5. Das Wahlrecht

5.1. Im Griechenland und Rom der Antike hatten Frauen, Sklaven und "Fremde" keine Bürgerrechte (im heutigen Sinne). Auch bei den Revolutionen der vergangenen Jahrhunderte waren den Arbeitern und den Besitzlosen verschiedentlich die Wahrnehmung des Wahlrechts und anderer politischer Rechte verwehrt. Erst weit ins 20. Jahrhundert hinein erhielten die Frauen in Europa das Wahlrecht und gleiche Bürgerrechte wie die Männer. Auch im vergangenen Jahrhundert verweigerten mehrere Staaten Personen, die ethnischen Minderheiten angehörten, die Bürgerrechte. Die Demokratisierung und die Verwirklichung der politischen Rechte dauert bis in unsere Zeit an, und auch in der heutigen Zeit muss diese Entwicklung weiterhin engagiert vorangetrieben werden.

5.2. Wenn einer Person oder einer Personengruppe von der Gesellschaft, in der sie leben, das Wahlrecht und die politische Partizipation verweigert werden, dann ist dies eine willentliche Ausgrenzung: Die Betreffenden werden von der Gemeinschaft ausgeschlossen. Sie können dort wohnen, arbeiten, Steuern und Abgaben zahlen, Gesetze befolgen ..., doch u. a. wird ihnen das Recht auf politische Partizipation verweigert. Sie sind nicht Bürger der Europäischen Union, weil sie - auch wenn sie es wollten - nicht Teil der politischen Gemeinschaft der "civitas", in der sie leben, sind.

5.3. In einer anderen Stellungnahme(11) forderte der EWSA integrierende Maßnahmen und Konzepte sowohl auf dem Weg von Rechtsvorschriften als auch seitens der Behörden und der Zivilgesellschaft ein. Grundlage der Integration sei die "staatsbürgerliche Eingliederung", die "im Wesentlichen auf der schrittweisen Gleichstellung der Einwanderer mit den übrigen Bürgern (unter Beachtung der Grundsätze der Chancengleichheit und der Gleichbehandlung), sowohl was ihre Rechte und Pflichten als auch ihren Zugang zu Waren, Dienstleistungen und Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung betrifft", beruhe. Es geht also um ein Konzept der Integration, das politischer Art ist und das Wahlrecht und die übrigen politischen Bürgerrechte umfasst.

5.4. Die Vorteile für die Personen, denen die politischen Rechte gewährt werden, liegen auf der Hand: sie haben die gleichen Pflichten und Rechte wie die übrigen Bürger. Und welche Vorteile hat die betreffende Gesellschaft? Einige Mitgliedstaaten, die ihren "ausländischen" Mitbürgern bereits das kommunale Wahlrecht zugestanden haben, ziehen eine positive Bilanz unter dem Gesichtspunkt der Integration. Zwar gibt es in allen Gesellschaften ein gewisses Konfliktpotenzial, doch bleiben die Konflikte gering, solange die politische Partizipation effektiv ausgeübt werden kann, da eine Mitwirkung an der Erarbeitung von Vorschriften auch zu ihrer wirksamen Anwendung beiträgt. Der Europarat forderte 1992 in seiner Konvention 144 das kommunale Wahlrecht für dauerhaft aufenthaltsberechtigte ausländische Staatsbürger.

5.5. Das (aktive und passive) Wahlrecht, das sich aus der für dauerhaft oder langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige geforderten Unionsbürgerschaft ableitet, bezieht sich sowohl auf die Kommunalwahlen am Wohnort als auch auf die Wahlen zum Europäischen Parlament, der Institution, die alle Bürger der Europäischen Union politisch vertritt.

6. Schlussfolgerungen

6.1. Drittstaatsangehörigen mit dauerhafter oder langfristiger Aufenthaltsberechtigung die Unionsbürgerschaft zuzuerkennen, ist eine positive Willensbekundung der Union, alle Menschen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit zu integrieren.

6.2. In Zukunft wird der aus Zuwanderung hervorgegangene Teil der Bevölkerung der EU-Mitgliedstaaten weiter zunehmen. Viele dieser Menschen werden dauerhaft oder langfristig aufhältig sein. Darüber hinaus wird sich die Mobilität aller Personen als Folge der Entwicklung der Freizügigkeit vergrößern. Der Europäische Konvent sollte prüfen, ob die gegenwärtigen politischen und rechtlichen Grundlagen zur Förderung der Integration ausreichen oder nicht.

6.3. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss fordert den Konvent auf, bei der Ausarbeitung der ersten Verfassung der Europäischen Union den Grundsatz der Gleichheit auf alle Menschen anzuwenden, d. h. auf Staatsangehörige der Mitgliedstaaten ebenso wie auf Drittstaatsangehörige, die rechtmäßig und dauerhaft in der Europäischen Union aufenthaltsberechtigt sind.

6.4. Der Ausschuss fordert den Konvent auf, für die Zuerkennung der Unionsbürgerschaft ein neues Kriterium vorzusehen, nämlich eine Unionsbürgerschaft, die nicht nur aus dem Besitz der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats erwächst, sondern auch durch den dauerhaften Aufenthalt in der Europäischen Union.

6.5. Er ersucht den Konvent daher, in Artikel 7 ("Unionsbürgerschaft") die Unionsbürgerschaft nicht nur den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zu gewähren, sondern allen Menschen, die dauerhaft oder langfristig in der Europäischen Union aufenthaltsberechtigt sind. Die Unionsbürgerschaft träte somit zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ohne diese zu ersetzen. Diese Menschen würden dadurch zu Unionsbürgern, und ihre Gleichheit vor dem Gesetz wäre garantiert.

Brüssel, den 14. Mai 2003.

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger Briesch

(1) Auf der Konferenz wurden auch andere zuwanderungsbezogene Fragen erörtert, wie die Situation der Personen "ohne Papiere". Es wurde die Ansicht vertreten, dass sich die irreguläre Zuwanderung verringern wird, wenn es angemessene Rechtsvorschriften gibt, die eine Zuwanderung auf legale, transparente Weise erlauben.

(2) KOM(2001) 127 endg. - EWSA-Stellungnahme ABl. C 36 vom 8.2.2002.

(3) Stellungnahme des EWSA zu dem "Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung", ABl. C 241 vom 7.10.2002; ABl. C 204 vom 18.7.2000. Richtlinie des Rates vom 27. und 28.2.2003.

(4) KOM(2000) 757 endg.

(5) ABl. C 364 vom 18.12.2000.

(6) KOM(2000) 757 endg.

(7) KOM(2001) 387 endg.

(8) KOM(2001) 127 endg.

(9) ABl. C 204 vom 18.7.2000.

(10) ABl. C 125 vom 27.5.2002.

(11) ABl. C 125 vom 27.5.2002.