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Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema "Beitrag des WSA zu den Grundzügen der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft im Jahr 2002"

Amtsblatt Nr. C 125 vom 27/05/2002 S. 0056 - 0060


Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema "Beitrag des WSA zu den Grundzügen der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft im Jahr 2002"

(2002/C 125/12)

Der Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 29. November 2001 gemäß Artikel 23 der Geschäftsordnung, eine Stellungnahme zu dem vorgenannten Thema zu erarbeiten.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 25. Februar 2002 an. Berichterstatterin war Frau Konitzer.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 389. Plenartagung am 20. und 21. März 2002 (Sitzung vom 20. März) einstimmig folgende Stellungnahme.

1. Der Zweck dieser Initiativstellungnahme des WSA

Diese Stellungnahme soll:

- einen Input für die Ausarbeitung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik 2002 durch Kommission und Rat liefern,

- einen Beitrag leisten zur öffentlichen Diskussion über die Koordinierung und den Inhalt der Wirtschaftspolitik auf Gemeinschaftsebene und

- die sachliche interne Diskussion in den im WSA vertretenen Organisationen und sozioökonomischen Gruppen fördern.

2. Die bestehenden Verfahren zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik und die Notwendigkeit ihrer Weiterentwicklung und Rationalisierung

2.1. Die Philosophie des Maastricht-Vertrages

Das Kapitel Wirtschaftspolitik (Artikel 98 bis 104) des Vertrages lässt die Zuständigkeit für die Wirtschaftspolitik grundsätzlich auf der Ebene der Mitgliedstaaten. Allerdings wird die Wirtschaftspolitik als eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse betrachtet. Die nationalen Politiken sollen so koordiniert werden, dass sie zur Verwirklichung der Ziele der Gemeinschaft im Sinne des Artikels 2(1) beitragen. "Die Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft" sind das zentrale wirtschaftspolitische Dokument der Gemeinschaft. Es handelt sich um eine (nicht verbindliche) Empfehlung des Rates, die aufgrund einer Empfehlung der Kommission und einer Schlussfolgerung des Europäischen Rates erstellt wird. Der Rat unterrichtet das Europäische Parlament über seine Empfehlung. Die Umsetzung der Grundzüge wird in einem intergouvernementalen Verfahren überwacht. Bei festgestellten Verstößen kann eine neuerliche Empfehlung an den betreffenden Mitgliedstaat erfolgen, die (als Sanktion) veröffentlicht werden kann. Inhaltliche Vorgaben für die Wirtschaftspolitik - über den Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb und der Förderung eines effizienten Einsatzes der Ressourcen hinaus - enthält das wirtschaftspolitische Kapitel des Vertrages lediglich in den Vorschriften für die Haushaltspolitik. Diese Vorschriften(2) sollen sicherstellen, dass die in nationaler Verantwortung verbleibenden Haushaltspolitiken die auf Preisstabilität ausgerichtete und im ESZB zentralisierte Geldpolitik nicht beeinträchtigen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ergänzt und verstärkt diese Vorschriften im Rahmen der EWWU.

2.2. Die im Vertrag vorgesehenen Verfahren und inhaltlichen Vorgaben wurden in verschiedener Weise ergänzt und weiterentwickelt:

- In Amsterdam wurde dem Vertrag ein Titel "Beschäftigung" hinzugefügt, der im Bereich der Beschäftigungsleitlinien die Gemeinschaftsprozedur wiederherstellt, die im Bereich der Grundzüge der Wirtschaftspolitik im Vertrag von Maastricht nicht mehr gegeben ist (Vorschlag der Kommission, der vom Rat nur einstimmig geändert werden kann, der aber von ihm mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden muss).

- Im Anschluss daran entwickelten sich die sogenannten "Prozesse":

- der Luxemburg-Prozess für die Arbeitsmarktpolitik,

- der Cardiff-Prozess für die Strukturpolitik (im Bereich der Güter- und Faktormärkte) und

- der Köln-Prozess für den makroökonomischen Dialog zwischen den Verantwortlichen der Geld-, Haushalts- und Lohnpolitik im Hinblick auf die Verbesserung des makroökonomischen Policy-mix in der WWU.

- Diese "Prozesse" wurden ergänzt durch die Zielvorgaben des Europäischen Rates von Lissabon im Bereich von Wachstum, technischem Fortschritt und Vollbeschäftigung.

- Darüber hinaus entwickelte sich ein nur schwer überschaubares Geflecht von Konsultationen, Arrangements über nicht obligatorische Stellungnahmen des Parlaments, des WSA, der Sozialpartner, sowie Versuche der Kommission und des Parlaments, eine öffentliche Diskussion über Fragen der europäischen Wirtschaftspolitik anzuregen: Zusammenarbeit von Wirtschaftsforschungsinstituten, Brüsseler Wirtschaftsforum.

- Im Bereich der Regierungsvertreter hat sich die wichtige Rolle der Ausschüsse (Wirtschafts- und Finanzausschuss, Ausschuss für Wirtschaftspolitik und Beschäftigungsausschuss) fortentwickelt; zum Teil ging diese Entwicklung zu Lasten der Rolle der Kommission als Vertreterin des Gemeinschaftsinteresses; es entstand auch der Eindruck von Rivalität, mangelnder Transparenz und von Problemen bei der Zusammensetzung der Ausschüsse.

- Auf Ratsebene wurde in informeller Weise die Euro-Gruppe gebildet, die sich mit der Koordination der Wirtschaftspolitik und der Entwicklung des Policy-mix in der WWU befasst, die jedoch keine vertragliche Entscheidungsbefugnis hat.

2.3. Beurteilung des vertraglichen Ansatzes für die allgemeine Wirtschaftspolitik

2.3.1. Zum Zeitpunkt der Euro-Bargeldeinführung und der Einberufung eines Verfassungskonvents für die Europäische Union aber auch im Hinblick auf die bevorstehende Erweiterung der Gemeinschaft stellt sich die Frage, ob das Verfahren zur Erstellung und zur Überwachung der Umsetzung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik den Erwartungen entsprochen hat und ob es den Herausforderungen der Zukunft gerecht werden kann.

2.3.2. Auf der positiven Seite sollte vermerkt werden, dass die Stabilitätsvoraussetzungen für die erfolgreiche Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion geschaffen werden konnten und dass die Einhaltung der haushaltspolitischen Regeln des Vertrages und des Stabilitäts- und Wachstumspaktes negative Rückwirkungen (spillovers) auf die Finanzpolitik der Partnerländer und auf die gemeinsame Geldpolitik der Währungsunion vermeiden hilft. Auch die im Vertrag nicht erwähnte Lohn- und Einkommenspolitik der Tarifvertragsparteien hat sich den Stabilitätserfordernissen der Währungsunion besser angepasst als viele erwartet hatten. Hieraus ergab sich ein Policy-mix für die Währungsunion insgesamt, das - trotz der gegenwärtigen Konjunkturschwäche, die im wesentlichen von externen Faktoren bestimmt war - wachstums- und beschäftigungsfreundlicher war als es ohne die Währungsunion möglich gewesen wäre.

2.3.3. Allerdings müssen auch eine Reihe negativer Faktoren hervorgehoben werden. In einigen wichtigen Mitgliedsländern ist die Haushaltskonsolidierung in Zeiten guter Konjunktur nicht genügend vorangetrieben worden, um in Zeiten schwächerer Konjunktur die automatischen Stabilisatoren voll zu nutzen bzw. eine aktive antizyklische Politik betreiben zu können. Hinzu kommt, dass in vielen Ländern die öffentlichen Investitionen und auch die Ausgaben für die Bildung bzw. Erhaltung von Humankapital unter der Haushaltskonsolidierung gelitten haben, was nicht nur derzeit die Binnennachfrage beeinträchtigt, sondern auch Grundlage künftiger Engpässe im Prozess des Wachstums und der Rückkehr zur Vollbeschäftigung zu sein droht. Insgesamt gesehen ist es in der Gemeinschaft und der Währungsunion noch nicht gelungen, ein von einem breiten Konsens getragenes Konzept einer vollkommen stetigen makroökonomischen Politik zu entwickeln, das auf der Ebene der Währungsunion ein Policy-mix zwischen Geld-, Haushalts- und Lohnpolitik realisiert, das - so weit als möglich - interne und externe Ursachen von inflationären Überhitzungen vermeidet und Konjunkturschwächungen entgegenwirkt, damit - im Einklang mit der Entwicklung der Produktionskapazitäten - eine möglichst stetige Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage erreicht werden kann. Nur in einem solchen Kontext können sich - bei hoher gesamtwirtschaftlicher Rentabilität - die Investitionen genügend entwickeln, um das große Wachstums- und Beschäftigungspotential der Gemeinschaft entsprechend der Zielvoranstellungen des Artikels 2 des Vertrages und des Europäischen Rates von Lissabon zu erschließen.

2.4. Anregungen des WSA zur Verbesserung

2.4.1. Seit der Verwirklichung der Währungsunion werden die Grunddaten der Wirtschaftspolitik und das makroökonomische Policy-mix noch stärker als vorher von der europäischen Ebene mitbestimmt. Auch auf europäischer Ebene wird die Wirtschaftspolitik als eine öffentliche Sache verstanden. Die pragmatische Weiterentwicklung des Maastricht-Ansatzes erscheint jedoch kompliziert, wenig effizient und nicht transparent, sie macht aber auch den Umfang des Handlungsbedarfs deutlich. Die Perspektive der Erweiterung der Gemeinschaft verstärkt diesen Handlungsbedarf. Der in Laeken beschlossene Konvent über die Weiterentwicklung der Gemeinschaft könnte eine Chance darstellen, nach eingehender Diskussion eine Verbesserung der Bestimmungen des Vertrages zu erreichen.

2.4.2. Im Zusammenhang mit der Ausarbeitung der Empfehlung der Kommission für die Grundzüge der Wirtschaftspolitik 2002 und im Hinblick auf die Vorbereitung des Konvents möchte der WSA folgende Anregungen geben:

a. Zur Förderung der Transparenz sollte die Kommission im Zusammenhang mit den Grundzügen der Wirtschaftspolitik 2002 einen systematischen Überblick über alle Verfahren und Konsultationen bei der Erstellung der Grundzüge und bei der Überwachung ihrer Umsetzung vorlegen. Ein solcher Überblick erscheint auch notwendig im Hinblick auf die Effizienz und Vereinfachung der Verfahren.

b. Die Diskussion über die Mitteilung der Kommission vom 7.2.2001 über die "Verstärkte wirtschaftspolitische Koordinierung im Euro-Gebiet"(3) sollte vertieft werden (vergl. auch die WSA-Stellungnahme "Die Koordinierung der Wirtschaftspolitik im Zuge der WWU"(4) und den von Frau Pervenche Bérès ausgearbeiteten Bericht des Parlaments(5).

c. Es sollte insbesondere geprüft werden, welche Verbesserungen der Koordination der Wirtschaftspolitik über eine sekundäre Gesetzgebung auf Grundlage von Artikel 99 § 5 erreicht werden könnten.

d. Im Hinblick auf die Arbeiten des Konvents sollte auch geprüft werden, welche Vertragsänderungen im Bereich des Kapitels Wirtschaftspolitik des Vertrages sinnvoll erscheinen. Die Prüfung folgender Punkte erscheint von besonderem Interesse: bessere Artikulation des Gemeinschaftsinteresses durch Wiederherstellung des Vorschlagrechts der Kommission bei der Erstellung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik (Art. 99 § 2); Einbindung von Parlament, WSA und Sozialpartnern in die Verfahren; bessere Definition der Rolle und der Zusammensetzung der Ausschüsse, bessere Abstimmung zwischen den Ausschüssen und zwischen den verschiedenen Ratsformationen; Verankerung der Euro-Gruppe im Vertrag; einige einfache inhaltliche Vorgaben im Bereich des makroökonomischen Policy-mix und der Strukturpolitiken.

3. Die wirtschaftliche Lage, die Perspektiven und die Herausforderungen für die Wirtschaftspolitik

3.1. Die Rolle des WSA

Der WSA sollte Anregungen geben in den Bereichen, die ihm besonders wichtig erscheinen oder in denen er eine besondere Kompetenz hat. Allerdings ist die Aufgabe nicht, die Grundzüge der Wirtschaftspolitik an Stelle von Kommission und Rat zu schreiben.

Für die Grundzüge 2002 möchte er sich auf vier Problemgruppen beschränken:

- die Beurteilung der wirtschaftlichen Lage und der Perspektiven,

- Beiträge zur Anpassung und Verbesserung des makroökonomischen Policy-mix,

- Anregungen zu einigen wichtigen strukturellen Problemen:

- die mittelfristige Entwicklung der privaten und öffentlichen Investitionen als Voraussetzung für Wachstum und Rückkehr zur Vollbeschäftigung,

- die Alterung der Bevölkerung und damit zusammenhängende längerfristige Herausforderungen für die Wirtschaftspolitik.

3.2. Die Beurteilung der wirtschaftlichen Lage und der Perspektiven

Prognoseirrtümer sind wohl unvermeidlich, trotzdem muss darüber nachgedacht werden

(i) wie die Qualität der Analyse verbessert werden kann und

(ii) wie schneller aus einer sich ändernden Wirtschaftslage und Perspektive wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen gezogen werden können.

3.2.1. Zu Punkt (i) sollte die Kommission sicherstellen, dass die für die Analyse- und Prognosearbeiten zur Verfügung stehenden Ressourcen auch wirklich ausreichend sind und dass sich ein intensiver und transparenter Dialog mit der Zentralbank, den Mitgliedstaaten, internationalen Organisationen (wie OECD und IWF) und vor allem auch den Wirtschaftsforschungsinstituten entwickelt. Die öffentliche Debatte über Wirtschaftslage, Perspektive und das angemessene Policy-mix in der WWU insgesamt sollte verstärkt werden. Dies ist auch von großer Bedeutung für die lohn- und einkommenspolitischen Überlegungen der Tarifvertragsparteien, die mit ihren Entscheidungen das Policy-mix in der WWU weitgehend mitbestimmen.

3.2.2. Zu Punkt (ii) erscheint es nicht notwendig, die Periodizität der Prognosen zu ändern (2mal im Jahr), jedoch wäre z. B. ein vierteljährlicher Bericht über die Entwicklung der Wirtschaftslage von Vorteil. Die bessere Information über die kurzfristige Wirtschaftsentwicklung sollte jedoch nicht zu einem haushaltspolitischen "Fine-tuning" verleiten. Unter normalen Umständen sollte die Haushaltspolitik nach mittelfristigen Kriterien geführt werden, wobei jedoch genügend Spielraum für das Wirken der automatischen Stabilisatoren vorhanden sein sollte. Das strukturelle Defizit sollte entsprechend dem Stabilitäts- und Wachstumspakt zurückgeführt werden, während die Veränderung des konjunkturellen Defizits konjunkturstabilisierend wirken sollte. Die Geldpolitik kann feinfühliger auf die Veränderung der gesamten Wirtschaftslage reagieren, wobei jedoch die Wirkungsverzögerung der geldpolitischen Instrumente berücksichtigt werden muss. In dem sich jetzt vollziehenden Lernprozess der makroökonomischen Politik in der europäischen WWU sollten die Erfahrungen der erfolgreichen makroökonomischen Steuerung vor allem durch die US-Geldpolitik in den 90er Jahren besser erforscht und so weit als möglich berücksichtigt werden. Über diese Fragen des Policy-mix für die Währungsunion insgesamt hinaus muss natürlich auch die spezifische Wirtschaftslage in den einzelnen Mitgliedsländern berücksichtigt werden. Dieses ist vor allem eine Aufgabe für die wirtschaftspolitischen Akteure der betreffenden Länder, wobei alle Bereiche der Wirtschaftspolitik gefordert sind.

3.2.3. Die gegenwärtige Lage (Januar 2002) erscheint gekennzeichnet durch eine Stagnation bei mangelnder Inlandsnachfrage, leicht steigender Arbeitslosigkeit und mangelndem Vertrauen der Verbraucher und Unternehmer. Allerdings hat sich das Policy-mix bei sinkender Inflationserwartung deutlich entspannt und wichtige Faktoren wie zum Beispiel die gesamtwirtschaftliche Rentabilität im Innern und die kostenmäßige Wettbewerbsfähigkeit nach außen bleiben relativ günstig. Da auch außerhalb der Gemeinschaft ein sich in Richtung auf 2003 Aufschwung erwartet wird, erscheint nach Auffassung des WSA die Rückkehr auf einen Wachstumspfad von 3 % im Jahre 2003 plausibel, allerdings nur bei entsprechendem politischen Ehrgeiz und Anstrengungen. Dieses Wachstum würde von einer sich beschleunigenden Inlands- und Auslandsnachfrage getragen; die erforderlichen Produktionskapazitäten stuenden in ausreichendem Maße zur Verfügung.

3.3. Beiträge zur Anpassung und Verbesserung des makroökonomischen Policy-mix

In der gegenwärtigen Situation ist es Aufgabe der makroökonomischen Politik, den erwarteten Aufschwung zu stützen und in einen sich selbst tragenden, dauerhaften Wachstumsprozess zu überführen, der die Verwirklichung der Beschäftigungs- und Produktivitätsziele von Lissabon ermöglicht.

Der WSA ist schon in seiner Stellungnahme von November 2001(6) darauf eingegangen wie in der Währungsunion das Zusammenspiel von Haushaltspolitik der nationalen Regierungen, Lohnpolitik der Sozialpartner und Geldpolitik der EZB sein sollte, um bei Wahrung der Stabilität ein für Wachstum und Beschäftigung möglichst günstiges Policy-mix zu erreichen. In der Währungsunion ist dies eine Sache des Gemeinschaftsinteresses. Die Kommission als Vertreter des Gemeinschaftsinteresses sollte in den Grundzügen der Wirtschaftspolitik 2002 - bei Respektierung der Autonomie der einzelnen Akteure bzw. Gruppen von Akteuren - konkret darlegen, welche Beiträge von den einzelnen Akteuren für die kurz- und mittelfristige Perspektive geleistet werden sollten. Generell gilt: je besser die Haushaltspolitik und die Lohnpolitik die kurz- und mittelfristigen Stabilitäts- und Wachstumsbedingungen berücksichtigen, desto besser kann die Geldpolitik - bei Wahrung ihres Stabilitätsziels - die allgemeine Wirtschaftspolitik im Hinblick auf Wachstum und Beschäftigung unterstützen; der so geschaffene Spielraum sollte von der Geldpolitik, gemäss Artikel 105 § 1, 2. Satz, auch effektiv genutzt werden.

Die Beziehung zwischen dem makroökonomischen Policy-mix in der Währungsunion einerseits, und dem konjunkturellen Aufschwung sowie dem für die Verwirklichung der Lissabon-Ziele erforderlichen langfristigen Wachstumsprozess andererseits, ist ein Thema par excellence für den makroökonomischen Dialog (Köln-Prozess). Die Kommission als Vertreterin des Gemeinschaftsinteresses sollte dem makroökonomischen Dialog ein Diskussionspapier zu dieser Frage vorlegen. Der WSA ist bereit hierzu einen substantiellen Beitrag zu leisten.

3.4. Anregungen des WSA zu einigen wichtigen strukturellen Problemen

3.4.1. Die mittelfristige Entwicklung der privaten und öffentlichen Investitionen als Vorrausetzung für Wachstum und Rückkehr zur Vollbeschäftigung

Wenn die Produktivitäts- und Beschäftigungsziele des Europäischen Rats von Lissabon realisiert werden sollen, ist über eine längere Periode (+/- 10 Jahre) ein kräftiges BIP-Wachstum (mehr als 3 % p. a.) erforderlich, das den Produktivitätstrend (im Vergangenheitstrend durchschnittlich EG knapp 2 % p. a.) deutlich übersteigt. Ein solches Wachstum ist nur möglich, wenn die gesamtwirtschaftliche Investitionsquote schrittweise um mehrere Prozentpunkte des BIP ansteigt (z. B. von derzeit etwa 21 bis 22 % auf etwa 25 bis 26 % - in den USA ist in den 90er Jahren die Investitionsquote um etwa 4 Prozentpunkte des BIP angestiegen).

Die darin enthaltenen Unternehmensinvestitionen schaffen die für das inflationsfreie Wachstum erforderlichen Produktionskapazitäten und physischen Arbeitsplätze, sie inkorporieren den technischen Fortschritt in den Wirtschaftsprozess (Produktivität) und stellen zugleich einen wichtigen Nachfragefaktor für das sich selbst tragende Wachstum dar. Es wäre nützlich, die erforderlichen Größenordungen für die EU insgesamt, für die Währungsunion und für die Mitgliedstaaten in einem "makrostrukturellen Benchmarking" abzuschätzen. Noch wichtiger wäre es jedoch, die wichtigsten Bestimmungsfaktoren für einen solchen Investitionsanstieg im Bereich der Nachfrage- und Rentabilitätsentwicklung sowie bei der Realisierung eines gesunden Gleichgewichts von Ersparnis und Investition darzulegen und die Implikationen hiervon für die Entwicklung der öffentlichen Haushalte, die Lohnentwicklung und die Leistungsbilanz darzulegen und im makroökonomischen Dialog mit den Akteuren des Policy-mix zu diskutieren.

Die in der gesamtwirtschaftlichen Investitionsquote enthaltenen öffentlichen Investitionen(7) haben unter der Haushaltskonsolidierung gelitten (durchschnittlich EG 1970: 4,2 %; 1980: 3,2 %; 2001: 2,3 % des BIP); um in Zukunft ein spannungsfreies Wachstum (insbesondere im Infrastrukturbereich) zu gewährleisten, ist ein gewisser Anstieg der öffentlichen Investitionsquote erforderlich (als Faustregel z. B. in die Größenordung der angestrebten Wachstumsrate von 3 %). Da die Haushaltskonsolidierung im Wachstumsprozess noch eine Zeit lang fortgesetzt werden muss, wäre es sinnvoll, in den nationalen mehrjährigen Stabilitätsprogrammen entsprechende Referenzwerte festzulegen. Ein ähnliches Vorgehen könnte auch für die immateriellen Investitionen im Bildungsbereich gewählt werden.

3.4.2. Die Alterung der Bevölkerung und die damit zusammenhängenden längerfristigen Herausforderungen für die Wirtschaftspolitik

Die sich im Zusammenhang mit der Alterung der Bevölkerung ergebenden längerfristigen Herausforderungen für die Wirtschaftspolitik sollten in den Grundzügen der Wirtschaftspolitik 2002 angemessen berücksichtigt werden. Der WSA hat in letzter Zeit mehrfach zu diesen Problemen Stellung genommen(8), so dass es nicht notwendig erscheint, in dieser Stellungnahme noch einmal auf die einzelnen Punkte einzugehen. Darüber hinaus wurde der Ausschuss von Kommissionspräsident Prodi(9) ersucht, in einer sondierenden Stellungnahme die Frage einer Rentenreform näher zu erörtern. Allerdings sollte ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass ein Anstieg der Erwerbstätigenquote wie er in der Lissabon-Strategie vorgesehen ist, den Anstieg der Altenquote innerhalb der nächsten 20 Jahre weitgehend kompensieren würde. Dies unterstreicht die Bedeutung der Umsetzung der Lissabon-Strategie für das Gleichgewicht der Rentensysteme, auch wenn das langfristige Problem der Alterung der Bevölkerung in den nächsten 50 Jahren damit nicht gelöst ist.

4. Schlussfolgerung

Die Ausarbeitung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik für 2002 erfolgt zu einem Zeitpunkt, in dem der Verfassungskonvent der Gemeinschaft zusammentritt und in dem der Übergang zu den Euro-Billets und -Münzen erfolgreich abgeschlossen ist.

Der Erfolg der Währungsunion und der bisherige Misserfolg der Gemeinschaft, ihr gewaltiges Beschäftigungs- und Wachstumspotential zu nutzen, stellt ein Missverhältnis dar, das eine grundsätzliche und neue Überlegung über die Prozeduren und den Inhalt der Wirtschaftspolitik erforderlich macht. Die bevorstehende Erweiterung der Gemeinschaft lässt es ebenfalls dringlich erscheinen, die wirtschaftspolitischen Koordinierungsprozeduren neu zu überdenken. Aus diesem Grunde gibt der WSA in dieser Stellungnahme erste Anregungen sowohl was die Koordinierungsprozeduren als auch was den Inhalt der Wirtschaftspolitik betrifft.

Brüssel, den 20. März 2002.

Der Präsident

des Wirtschafts- und Sozialausschusses

Göke Frerichs

(1) Dieser Artikel enthält unter anderem auch die Ziele Wachstum und Beschäftigung.

(2) Keine monetäre Finanzierung der Staatsdefizite, kein bevorrechtigter Zugang des Staates zu den Kapitalmärkten, keine Haftung für die Schulden anderer Staaten oder öffentlicher Körperschaften; Vermeidung übermäßiger öffentlicher Defizite (Artikel 101-104 des Vertrages).

(3) KOM(2001) 82 endg.

(4) ABl. C 139 vom 11.5.2001, S. 60.

(5) A5-0307/2001.

(6) ABl. C 48 vom 21.2.2002: "Veränderte weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen: neue wirtschaftliche Herausforderungen für die EU" (ECO/086), S. 4, 5, 6.

(7) Die statistischen Fragen, die sich bei der Erstellung öffentlicher Investitionen in öffentlich/privater Partnerschaft ergeben, sollten dargelegt werden.

(8) ABl. C 48 vom 21.2.2002; ABl. C 36 vom 8.2.2002; ABl. C 14 vom 16.1.2001.

(9) Brief vom 10.1.2002.