52001DC0715

Grünbuch zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft /* KOM/2001/0715 endg. */


GRÜNBUCH zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft

(von der Kommission vorgelegt)

Inhalt

INHALTSVERZEICHNIS

GRÜNBUCH zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft

1. Einleitung

1.1. Hintergrund des Vorschlags der Kommission

1.2. Warum legt die Kommission heute ein Grünbuch vor*

1.2.1. Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaften: ein Phänomen, das es zu bekämpfen gilt

1.2.2. Die Europäische Staatsanwaltschaft: eine noch nicht abgeschlossene Debatte

1.3. Die Ziele des Grünbuchs

1.3.1. Die Debatte auf alle interessierten Kreise ausweiten

1.3.2. Die Diskussion über die Durchführbarkeit dieses Vorhabens vertiefen

2. Prämissen der debatte

2.1. Mehrwert der europäischen Staatsanwaltschaft: Erinnerung an die Argumente, auf die die Kommission ihren Vorschlag vom Jahr 2000 gestützt hat

2.1.1. Die Zersplitterung des europäischen Strafrechtsraums überwinden

2.1.2. Die Schwerfälligkeit und Unzweckmäßigkeit der klassischen Verfahren justizieller Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten überwinden

2.1.3. Gerichtliche Folgemaßnahmen zu Verwaltungsuntersuchungen

2.1.4. Stärkung der Organisation und Effizienz der Ermittlungen innerhalb der Gemeinschaftsorgane und -einrichtungen

2.2. Wahrung der Grundrechte

2.3. Verknüpfung mit den Prioritäten der Europäischen Union auf dem Gebiet Justiz und Inneres

2.3.1. Komplementarität des Vorschlags und der Ziele von Tampere

2.3.2. Spezifität des Vorschlags gegenüber den Zielen des Europäischen Rates von Tampere

2.4. Rechtsgrundlage

3. Grundzüge

3.1. Eine auf Bereich des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaften begrenzte materiellrechtliche Zuständigkeit

3.1.1. Eine besondere Verantwortung der Gemeinschaften

3.1.2. Beibehaltung des derzeitigen Bereichs des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaft

3.2. Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Ermittlungs- und Strafverfolgungsraum

3.2.1. Die Befugnisse der Europäischen Staatsanwaltschaft : zentral geleitete Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen

3.2.2. Eine harmonische Einbindung in die nationalen Strafrechtsordnungen

4. Rechtsstellung und Struktur

4.1. Rechtsstellung des Europäischen Staatsanwalts

4.1.1. Grundsatz der Unabhängigkeit

4.1.2. Voraussetzungen für die Ernennung und Amtsenthebung

4.1.2.1. Ernennung des Europäischen Staatsanwalts

4.1.2.2. Amtsenthebung und sonstige Umstände, die die Tätigkeit des Europäischen Staatsanwalts beenden

4.1.3. Der Europäische Staatsanwalt als Dienstherr

4.2. Dezentrale Struktur der Europäischen Staatsanwaltschaft

4.2.1. Grundsatz der dezentralen Organisation der abgeordneten Europäischen Staatsanwälte

4.2.1.1. Rechtsstellung der abgeordneten Europäischen Staatsanwälte

4.2.1.2. Funktion der abgeordneten Europäischen Staatsanwälte

4.2.2. Grundsatz der Weisungsgebundenheit gegenüber dem Europäischen Staatsanwalt

4.3. Materielle und finanzielle Ausstattung der Europäischen Staatsanwaltschaft

5. Materielles Strafrecht

5.1. Wahl der Rechtsetzungsmethode: Eigenständiges Gemeinschaftsrecht oder Harmonisierung des einzelstaatlichen Rechts

5.2. Gemeinsame Straftatbestände

5.2.1. Gegen den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft gerichtete Straftatbestände, über die sich die Mitgliedstaaten bereits verständigt haben

5.2.1.1. Betrug

5.2.1.2. Bestechlichkeit und Bestechung

5.2.1.3. Geldwäsche

5.2.2. Weitere gegen den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft gerichtete Straftatbestände

5.2.2.1. Ausschreibungsbetrug

5.2.2.2. Kriminelle Vereinigung

5.2.2.3. Missbrauch von Amtsbefugnissen

5.2.2.4. Verletzung des Dienstgeheimnisses

5.2.3. Über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften hinausgehende mögliche Straftatbestände

5.3. Gemeinsame Sanktionen

5.4. Verantwortlichkeit juristischer Personen

5.5. Verjährung

6. Verfahren

6.1. Information und Befassung

6.2. Vorverfahren

6.2.1. Grundrechte

6.2.1.1. Verteidigungsrechte und Schutz des Angeklagten

6.2.1.2. Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt zu werden

6.2.2. Einleitung der Ermittlungen und der Strafverfolgung

6.2.2.1. Legalitätsprinzip oder Opportunitätsprinzip in der Strafverfolgung

6.2.2.2. Kompetenzverteilung zwischen dem Europäischen Staatsanwalt und den nationalen Strafverfolgungsbehörden

6.2.3. Ermittlungsverfahren

6.2.3.1. Ermittlungsmaßnahmen

6.2.3.2. Arbeitsbeziehung zu den nationalen Ermittlungsstellen

6.2.4. Abschluss des Ermittlungsverfahrens

6.2.4.1. Verfahrenseinstellung

6.2.4.2. Anklageerhebung

6.3. Hauptverfahren

6.3.1. Wahl des Mitgliedstaats für die Anklageerhebung

6.3.2. Anklageerhebung

6.3.3. Die Europäischen Gemeinschaften als Geschädigte im Strafverfahren

6.3.4. Beweisregeln

6.3.4.1. Zulassung der Beweise

6.3.4.2. Ausschluss rechtswidrig erhobener Beweise

6.3.5. Gründe für das Erlöschen der öffentlichen Anklage

6.3.6. Urteilsvollstreckung

6.4. Gewährleistung der richterlichen Kontrolle

6.4.1. Aufgaben des Richters

6.4.2. Benennung des Richters im Ermittlungsverfahren

6.4.3. Benennung des für die Kontrolle der Anklageerhebung zuständigen Richters

7. Beziehungen zu den anderen akteuren

7.1. Zusammenarbeit mit den Behörden der Mitgliedstaaten

7.2. Beziehungen zu den Akteuren der Zusammenarbeit in Strafsachen im Rahmen der Europäischen Union

7.2.1. Eurojust

7.2.2. Europol

7.2.3. Europäisches Justizielles Netz

7.3. Beziehungen zu den Organen, Einrichtungen sowie Ämtern und Agenturen der Gemeinschaft

7.3.1. Allgemeines

7.3.2. Künftige Rolle des OLAF

7.4. Beziehungen zu Drittländern

8. Richterliche Kontrolle der Handlungen des Europäischen Staatsanwalts

8.1. Angreifbare Handlungen des Europäischen Staatsanwalts

8.1.1. Ermittlungshandlungen, die eine Freiheitsbeschränkung oder -entziehung bewirken

8.1.2. Weitere Ermittlungshandlungen

8.1.3. Einstellung des Verfahrens

8.1.4. Anklageerhebung

8.2. Rechtsmittel/Rechtsbehelfe

8.2.1. Der innerstaatliche Rechtsweg

8.2.1.1. Im Vorverfahren

8.2.1.2. Im Hauptverfahren

8.2.2. Der Rechtsweg zum Gerichtshof

9. Schlussfolgerungen

ANHANG 1 Ergänzender Beitrag der Kommission zur Regierungskonferenz über die institutionellen Reformen Vom 29. September 2000 Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft: das Amt eines Europäischen Staatsanwalts

ANHANG 2 Vereinfachte Darstellung der Verfahren

Anhang 3 Fiktiver Betrugsfall Einschaltung der Europäischen Staatsanwaltschaft

ANHANG 4 Liste der in den einzelnen Kapiteln gestellten Fragen

1. Einleitung

Die Erkenntnis, dass kriminelle Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften effektiver geahndet werden müssen, veranlasste die Kommission, die Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft vorzuschlagen. Dieser Vorschlag verdient es, vertieft und eingehend erörtert zu werden. Deshalb legt die Kommission nunmehr ein Grünbuch zu diesem Thema vor.

Obwohl diesem Grünbuch ein Vorschlag über die Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft zugrunde liegt, den die Kommission bereits angenommen hat, dient es doch, wie alle Grünbücher, lediglich der Konsultation. Es soll Grundlage sein für weitergehende Überlegungen darüber, wie dieser Vorschlag umgesetzt werden könnte, und so ein fundierteres Urteil über den Grundsatz selbst ermöglichen.

1.1. Hintergrund des Vorschlags der Kommission

Die Kommission hat anlässlich der Regierungskonferenz von Nizza vorgeschlagen, eine Europäische Staatsanwaltschaft zu schaffen, um die Zersplitterung des europäischen Strafrechtsraums zu überwinden und so dem Phänomen des Betrugs zum Nachteil der EU-Finanzen zu begegnen [1]. Der Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften weist spezifische Merkmale auf, die eine besondere Antwort erfordern, damit die Grenzen der herkömmlichen Zusammenarbeit der Justizbehörden überwunden werden können.

[1] Ergänzender Beitrag der Kommission zur Regierungskonferenz über die institutionellen Reformen - Strafrechtlicher Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft: das Amt eines europäischen Staatsanwalts; 29.9.2000, KOM(2000)608. Siehe Anhang Nr. 1. Dieser Beitrag ergänzte die Stellungnahme der Kommission, die sie am 26.1.2000 gemäß Artikel 48 EU-Vertrag zur Einberufung der Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Änderung der Verträge angenommen hatte ("Institutionelle Reform - Für eine erfolgreiche Erweiterung", KOM (2000) 34 Abschnitt 5 b).

Der Gedanke eines strafrechtlichen Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaften drängte sich auf, nachdem beschlossen worden war, dass die Europäische Gemeinschaft über eigene Mittel verfügen müsse. So wurde am 6. August 1976 ein Entwurf für einen Vertrag zur Änderung der Verträge vorgelegt [2]. Die Überlegungen wurden dann fortgesetzt und führten zur Unterzeichnung von Übereinkommen, die, wie das Übereinkommen vom 26. Juli 1995 [3], im Rahmen der Zusammenarbeit im Bereich "Justiz und Inneres ("Dritte Säule") angenommen wurden, aber bislang noch nicht von allen Mitgliedstaaten ratifiziert sind. Dann wurde der strafrechtliche Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften mit dem Amsterdamer Vertrag in den EG-Vertrag festgeschrieben (Artikel 280), so dass der gemeinschaftliche Gesetzgeber nunmehr in begrenztem Umfang auf diesem Gebiet tätig werden kann. Die Kommission hat auf dieser Grundlage unlängst einen Vorschlag für eine Richtlinie zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften angenommen [4]. Gerade diese Spezifität des strafrechtlichen Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaften gab den Anstoß zur Ausarbeitung des Vorschlags zur Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft.

[2] Entwurf für einen Vertrag zur Änderung der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften zwecks gemeinsamer Regelung des strafrechtlichen Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaften sowie der Ahndung von Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften genannter Verträge, KOM (76) 418 ; ABl. C 222 vom 22.9.1976. (inzwischen zurückgezogen).

[3] Übereinkommen vom 26. Juli 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. C 316 vom 27.11.1995, Seite 48) mit seinen Protokollen (ABl. C 313 vom 23.10.1996, S. 1; ABl. C 221 vom 19.7.1997, S. 11; ABl. C 151 vom 20.5.1997, S. 1).

[4] Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften, von der Kommission am 23.5.2001 vorgelegt; KOM(2001) 272.

Dieser Vorschlag stützt sich auf eingehende Vorarbeiten. Seit nunmehr etwa zehn Jahren befassen sich Strafrechtsexperten aus allen Mitgliedstaaten auf Veranlassung des Europäischen Parlaments und der Kommission mit dem strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften [5]. Die Ergebnisse ihrer Arbeiten, die vom Parlament [6] und von der Kommission begrüßt wurden, bilden die Grundlage eines unter der Bezeichnung "Corpus Juris" veröffentlichten Entwurfs eines Regelwerks. Sie basieren auf einer umfassenden vergleichenden Studie der Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten, die die Durchführbarkeit des Projekts bestätigte [7].

[5] Vergleichende Analyse der Berichte der Mitgliedstaaten über die auf einzelstaatlicher Ebene getroffenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Verschwendung und des Missbrauchs von Gemeinschaftsmitteln sowie das entsprechende Synthesedokument, KOM (95) 556 vom 13.11.1995. Siehe auch mehrere von der Kommission in Auftrag gegebene Studien: Vergleichende Untersuchung zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften, 3 Bände, 1992-1994; Die straf- und verwaltungsrechtlichen Sanktionen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, 2 Bände, 1994; Der Vergleich in der Europäischen Union, 1995.

[6] Entschließung zur Schaffung eines europäischen Rechtsraums zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union vor internationaler Kriminalität, 12.6.1997; ABl. C 200 vom 30.6.1997, S. 157.

[7] Corpus juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union, herausgegeben von M. Delmas-Marty, Carl Heymanns Verlag, 1998. Die Strafrechtsexperten haben das Corpus juris unlängst überprüft (http://www.law.uu.nl/wiarda/corpus/index1.htm) und eine umfangreiche Vergleichsstudie zur Notwendigkeit, Legitimität und Durchführbarkeit des Corpus juris vorgelegt, in der sie auch die Auswirkungen einer Europäischen Staatsanwaltschaft auf die nationalen Strafverfolgungssysteme untersuchen ("La mise en oeuvre du Corpus juris dans les États membres", M. Delmas-Marty / J.A.E. Vervaele, Intersentia, Utrecht, 2000. Verweise auf das Corpus Juris im Grünbuch beziehen sich auf diese zweite Fassung (sogenannte Fassung von Florenz).

Diese Studien sind jedoch nicht der Weisheit letzter Schluss. Die Kommission hat im Jahre 2000 den vorgenannten Beitrag vorgelegt. Ihre eigenen Überlegungen orientieren sich an keinem nationalen System, sondern verstehen sich als Versuch, ein System zu schaffen, das den Besonderheiten des Ziels des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaft Rechnung trägt und gleichzeitig den höchsten Anforderungen des Grundrechtsschutzes genügt.

1.2. Warum legt die Kommission heute ein Grünbuch vor*

Der Beitrag der Kommission zur Regierungskonferenz 2000, der darauf abstellte, in den EG-Vertrag einen Artikel einzufügen, um die Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft zu ermöglichen [8], wurde vom Europäischen Rat von Nizza im Dezember 2000 nicht aufgegriffen. Zum einen verfügte die Regierungskonferenz nicht über die notwendige Zeit, um den Vorschlag zu prüfen, zum anderen wurde der Wunsch geäußert, dass seine praktischen Auswirkungen näher analysiert werden.

[8] KOM(2000)608.

Da die dem Beitrag zugrundeliegende Argumentation nichts an Aktualität eingebüßt hat und einige Reaktionen ermutigend waren, legt die Kommission nunmehr, wie in ihrem Aktionsplan zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften im Zeitraum 2001-2003 [9] vorgesehen, ein Grünbuch vor, das die Diskussion auf eine breitere Grundlage stellen und zu weiterführenden Überlegungen beitragen soll.

[9] KOM(2000)254.

Durch die Erläuterung der konkreten Umsetzungsmöglichkeiten möchte die Kommission dazu beitragen, die Skepsis abzubauen, mit der diesem ehrgeizigen und innovativen Vorschlag allzu oft begegnet worden ist.

1.2.1. Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaften: ein Phänomen, das es zu bekämpfen gilt

Heute werden auf internationaler Ebene große Anstrengungen unternommen, um die Wirtschafts- und Finanzkriminalität zu bekämpfen. Es mag in diesem Zusammenhang nützlich sein, sich zu vergegenwärtigen, wie groß der finanzielle Schaden ist, der den Europäischen Gemeinschaften durch Betrug entsteht.

Für 1999 haben die Mitgliedstaaten und die Kommission festgestellt, dass die Fälle, deren kennzeichnendes Merkmal der Vorsatz ist und für die ein Strafverfahren eingeleitet werden muss, schätzungsweise 20 % der insgesamt aufgedeckten Fälle und 50 % des gesamten Schadensvolumens ausmachten. Das Schadensvolumen dieser vom OLAF (Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung) und den Mitgliedstaaten aufgedeckten Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften betrug 413 Mio. EUR [10].

[10] Europäische Kommission, Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften, Betrugsbekämpfung, Jahresbericht 1999, KOM (2000) 718, Abschnitt 4 und 5.

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Die Aufschlüsselung des gesamten Schadensvolumens nach Bereichen ergibt folgendes Bild: 122 Mio. EUR bei den Einnahmen (0,9 % des Aufkommens an traditionellen Eigenmitteln); 291 Mio. EUR bei den Ausgaben (0,3 % des EU-Gesamthaushaltsplans), davon 170 Mio. EUR bei den Agrarausgaben, 73 Mio. EUR bei den direkten Ausgaben der Gemeinschaften und 48 Mio. EUR bei den Strukturfonds.

Die Kommission legt seit 1991 jedes Jahr einen Bericht über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften und der Betrugsbekämpfung vor, in dem sie das Betrugsphänomen anhand von Statistiken und Beispielen darstellt [11].

[11] Europäische Kommission, Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften, Betrugsbekämpfung, Jahresbericht 2000, KOM (2001) 255.

Die von der Gemeinschaft eingeführten verwaltungsrechtlichen Instrumente, um Betrugsfälle und Unregelmäßigkeiten aufzudecken, wurden im Laufe der Zeit zunehmend verbessert [12]. Ergänzt werden sie durch Präventionsbemühungen, die im Zuge der internen Verwaltungsreform der Kommission, zu der die Betrugsbekämpfungsstrategie des OLAF beiträgt, noch ausgebaut werden.

[12] Die Staats- und Regierungschefs haben im Juni 1999 in Köln begrüßt, dass die rechtlichen Grundlagen für die Einrichtung des OLAF entsprechend ihrem in Wien im Dezember 1998 geäußerten Wunsch in kurzer Zeit geschaffen werden konnten.

Doch Prävention und Aufdeckung allein reichen nicht aus. Es bedarf auch einer wirksamen Strafverfolgung bedarf. Die Verwicklung der organisierten Kriminalität ist in vielen Fällen erwiesen, mit denen sich die Kommissionsdienststellen, und insbesondere die UCLAF (diese 1988 eingerichtete Stelle wurde 1999 in das OLAF/Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung umgewandelt, das in voller Unabhängigkeit verwaltungsrechtliche Untersuchungen durchführt) befasst hat. Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaften ist in der Regel das Ergebnis breit angelegter Geschäfte, bei denen das Strafrecht mehrerer Mitgliedstaaten herausgefordert ist. Die Fälle sind komplex und länderübergreifend.

Ein derart gravierendes Problem erfordert angemessene Schritte. Es geht hier um eine besondere Erscheinungsform von Kriminalität, für die eine besondere Lösung gefunden werden muss. Teilweise liegt diese in einer Strafverfolgung entsprechend den Vorgaben von Artikel 280 EG-Vertrag, d.h. einer Strafverfolgung, die einen effektiven, abschreckenden und gleichwertigen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften in allen Mitgliedstaaten gewährleistet. Soll die Glaubwürdigkeit des europäischen Aufbauwerks keinen Schaden nehmen, muss die Gemeinschaft ihren Mitgliedstaaten und den europäischen Steuerzahlern die Gewähr bieten, dass Betrug und Korruption tatsächlich, und zwar auch strafrechtlich, verfolgt werden.

1.2.2. Die Europäische Staatsanwaltschaft: eine noch nicht abgeschlossene Debatte

Die Debatte über die Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft hat bereits im Vorfeld des Grünbuchs eine gewisse Dynamik entwickelt.

Auf europäischer Ebene beklagen Richter, Staatsanwälte, Polizisten, Rechtsanwälte und andere Strafrechtspraktiker seit Jahren die Hindernisse, auf die die nationalstaatlich begrenzten Strafverfolgungsbehörden im Kampf gegen grenzübergreifende Wirtschafts- und Finanzkriminalität stoßen. Der Genfer Appell (1.10.1996), das Straßburger Manifest vom 20.10.2000 und der Trierer Appell (15.9.2001), in dem mit Blick auf die Erweiterung der Europäischen Union die Neubelebung der Diskussion über die Europäische Staatsanwaltschaft gefordert wird, sind ein Zeichen dafür, dass sich die Fach- und Hochschulkreise in mehreren Mitgliedstaaten des Themas angenommen haben. Aber auch der breiten Öffentlichkeit ist die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität ein Anliegen, wenngleich dies nicht deutlich artikuliert wird [13].

[13] Im Dezember 2000 hat eine Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Louis-Harris in acht Mitgliedstaaten im Auftrag der französischen Zeitung Le Monde durchgeführt hat, ergeben, dass 68% der Befragten die Harmonisierung der Justizsysteme in den Mitgliedstaaten begrüßen würden.

Das Europäische Parlament war insoweit treibende Kraft, als es wiederholt die Hoffnung geäußert hat, dass dieses Projekt realisiert wird, damit die Prävention von Betrug sowie die verwaltungsrechtlichen Ermittlungen in eine wirksame Strafverfolgung münden [14].

[14] Siehe insbesondere folgende Entschließungen: zum Jahresbericht 1996 der Kommission (ABl. C 339 vom 10.11.1997, S. 68), zur strafrechtlichen Verfolgung in der Europäischen Union (Corpus Juris) (13.4.1999); zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Union (ABl. C 304 vom 24.10.2000, S. 126); zur Regierungskonferenz (13.4.2000); zum Jahresbericht der Kommission über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft im Jahr 1998 (16.5.2000); zur Betrugsbekämpfungsstrategie (ABl. C 232 vom 17.8.2001, S. 191), zum Jahresbericht der Kommission über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften im Jahr 1999 (14. März 2001).

Sowohl der Ausschuss unabhängiger Sachverständiger [15] als auch der Ausschuss der Weisen [16] und der OLAF-Überwachungsausschuss [17] haben 1999 die Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft mit Kompetenzen auf diesem Gebiet empfohlen.

[15] Zweiter Bericht über die Reform der Kommission , 10.9.1999, Empfehlung 59.

[16] Bericht der Herren Dehaene, Simon und Von Weizsäcker, 18.10.1999 (2.2.6).

[17] Stellungnahmen 5/99 und 2/2000 des OLAF- Überwachungsausschuss (in seinem Tätigkeitsbericht für den Zeitraum Juli 1999 - Juli 2000 (ABl. C 360 vom 14.12.2000).

Auf innerstaatlicher Ebene hat die Diskussion, zumindest in einigen Mitgliedstaaten, an politischer Substanz gewonnen und zu aufschlussreichen Stellungnahmen geführt, die hier nicht alle genannt werden können.

Im Vereinigten Königreich hat das Oberhaus die Ergebnisse der von seinem Ausschuss für Europaangelegenheiten durchgeführten Anhörung zu diesem Thema veröffentlicht [18]. Der Vorsitzende stimmt den Schlussfolgerungen des Corpus Juris nicht zu, räumt aber ein, dass die Einführung einer besonderen Regelung für den Fall einer Verzögerung oder eines Scheiterns der intergouvernementalen justiziellen Zusammenarbeit erwogen werden sollte.

[18] Prosecuting fraud on the Communities' finances - The Corpus juris, 8.5.1999, Select committee on the European Communities, House of Lords, London.

In Frankreich hat sich die Delegation für die Europäische Union der Nationalversammlung mit der Betrugsbekämpfung in Europa befasst und festgestellt, dass die Frage der Europäischen Staatsanwaltschaft eine der Optionen ist, über die es zu entscheiden gilt [19]. Der Berichterstatter weist auf das Problem der Wirksamkeit der Strafverfolgung hin und befürwortet in diesem Zusammenhang die Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft.

[19] Rapport d'information sur la lutte contre la fraude dans l'Union européenne, Délégation de l'Assemblée nationale pour l'Union européenne, Paris, 22.6.2000, n°2507.

Die deutsche Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Anfrage einer Gruppe von Bundestagsabgeordneten zu den möglichen Fortschritten beim Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft [20] große Vorbehalte gegen den allgemeinen Teil der Corpus-Juris-Studie geltend gemacht. Allerdings stellt sie fest, dass die Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit der Frage einer möglicherweise sektoralen Vereinheitlichung des Straf- und Prozessrechts zu sehen ist. Maßgeblich seien in diesem Zusammenhang auch die Erfahrungen mit dem Vorhaben "Eurojust", das die deutsche Bundesregierung als mögliche Keimzelle einer Europäischen Staatsanwaltschaft betrachtet.

[20] Bundestagsdrucksache 14/4911 vom 14.12.2000, S. 32 ff.

Der niederländische Justizminister hat die Auffassung vertreten, dass der Beitrag der Kommission zur Regierungskonferenz von Interesse ist und einen nützlichen Beitrag zu einer Diskussion über die Maßnahmen liefern kann, die zur Verbesserung der Bekämpfung von Betrug zum Nachteil der Gemeinschaft erforderlich sind - einer Diskussion, an der er bereit ist teilzunehmen. [21]

[21] Schreiben an den Ausschuss für Justiz des niederländischen Parlaments vom 5.7.2001 zur Zusammenarbeit der Justizbehörden in strafrechtlichen Angelegenheiten.

Im allgemeineren Rahmen der Bekämpfung von Kriminalität in der Europäischen Union sprechen einige Regierungschefs nunmehr von einer "Europäischen Staatsanwaltschaft", wenn sie ihre Entwürfe für die Zukunft Europas vorstellen, wobei der Begriff mit unterschiedlichen Inhalten gefuellt wird [22].

[22] Europapolitischer Leitantrag der SPD (von Bundeskanzler Schröder am 30.4.2001 eingebracht und im November 2001 angenommen); Rede von Premierminister Jospin über die Zukunft der Europäischen Union vom 28.5.2001.

Diese Stellungnahmen zeugen zumindest von der Aufmerksamkeit, mit der dieses Thema verfolgt wird, und von der Notwendigkeit, Überlegungen anzustellen über die Art und Weise, wie die Europäische Staatsanwaltschaft funktionieren könnte. Weil der Vorschlag der Kommission eine innovative Lösung für ein besonderes, gemeinsames und enger abgestecktes Problem darstellt, legt sie nunmehr dieses Grünbuch vor.

1.3. Die Ziele des Grünbuchs

Das Grünbuch verfolgt einen anderen Zweck als die bisherigen Vorarbeiten. Es versteht sich als Beitrag zur Erweiterung und Vertiefung der Debatte über den Vorschlag der Kommission, der dem mit der Vorbereitung der Vertragsreform beauftragten Konvent zur Prüfung vorgelegt werden soll.

1.3.1. Die Debatte auf alle interessierten Kreise ausweiten

Oberstes Ziel ist daher, während des Jahres 2002 mit allen interessierten Kreisen - Parlamente, Gemeinschafts- und nationalen Behörden, Richter, Staatsanwälte und Strafverteidiger, Hochschulkreise, Nichtregierungsorganisationen - möglichst breitangelegte Debatte über Aufgaben und Funktionsweise einer Europäischen Staatsanwaltschaft zu führen, die den Auftrag hätte, die finanziellen Interessen der Gemeinschaft zu schützen. Das Grünbuch soll dazu beitragen, dass in dieser Debatte bestimmte Schwerpunktthemen aufgegriffen werden, und dass sie - im Sinne guten Regierens - von möglichst vielen Menschen verfolgt wird.

Das Grünbuch hat folgende Schwerpunkte:

(1) Prämissen der Debatte (Kapitel 2)

(2) Grundzüge (Kapitel 3)

(3) Rechtsstellung und Struktur (Kapitel 4)

(4) Materielles Recht (Kapitel 5)

(5) Verfahrensrecht (Kapitel 6)

(6) Beziehungen zu den anderen Akteuren (Kapitel 7)

(7) Richterliche Kontrolle (Kapitel 8)

Zu jedem Thema erläutert die Kommission zunächst den Sachverhalt. Dann zeigt sie die Optionen auf und legt dar, welcher Option sie zum derzeitigen Stand ihrer Überlegungen den Vorzug gibt. Schließlich stellt sie die Fragen, auf die sie sich Antworten der beteiligten Kreise erhofft. Die Präferenzen der Kommission bilden ein kohärentes, aber selbstredend nicht das einzig denkbare System und sollen den Ergebnissen der Debatte nicht vorgreifen.

1.3.2. Die Diskussion über die Durchführbarkeit dieses Vorhabens vertiefen

Das Grünbuch ist Anlass für die Kommission, ihre bisherigen Überlegungen zu präzisieren und die Ansätze der umfassenden Vorarbeiten, die seit mehreren Jahren zu diesem Thema vorgelegt werden, weiterzuentwickeln. In ihrer Mitteilung vom 29. September 2000 hat sie vorgeschlagen, in den EG-Vertrag nur die wesentlichen Merkmale der Europäischen Staatsanwaltschaft festzuschreiben (Ernennung, Amtsenthebung, Aufgaben, Unabhängigkeit) und weitere Vorschriften und Modalitäten in sekundärrechtlichen Bestimmungen zu regeln.

Das Grünbuch skizziert den möglichen Inhalt dieser Bestimmungen, insbesondere die Straftatbestände (Betrug, Bestechung/Bestechlichkeit, Geldwäsche, usw.) und die Strafen. Außerdem wären die Verknüpfungspunkte zwischen dem gemeinschaftlichen System und insbesondere den nationalen Strafrechtssystemen zu regeln. Auch muss festgelegt werden, wie der Europäische Staatsanwalt befasst werden kann und welches seine Ermittlungsbefugnisse sind. Zu regeln wären des Weiteren die Einleitung und der Abschluss der Ermittlungen. Schließlich müsste die richterliche Kontrolle der Handlungen des Europäischen Staatsanwalts vorgesehen werden.

Im Jahr 2000 galt es, die Frage nach der Legitimität und der Begründung dieses Vorhabens zu beantworten. Heute wird im Grünbuch die Frage gestellt, ob eine Europäische Staatsanwaltschaft ein durchführbares Projekt ist, und wie gewährleistet werden kann, dass sie ordnungsgemäß funktioniert. Es geht also nicht mehr ums Prinzip, das die Kommission bereits in ihrer Mitteilung vom 29. September 2000 dargelegt hat. Vielmehr soll im Sinne einer transparenten Vorbereitung der Gesetzgebung erörtert werden, welche konkreten Voraussetzungen vorliegen müssen, damit der Vorschlag umgesetzt werden kann.

Stellungnahmen zum Grünbuch, insbesondere zu den einzelnen Fragen (siehe auch Liste im Anhang), sollten der Kommission bis zum 1. Juni 2002 zugehen.

Ihre Grünbuch-Webseite http://europa.eu.int/olaf/livre_vert enthält das Grünbuch und bietet nützliche Links.

Bemerkungen und Kommentare sind vorzugsweise per E-Mail an folgende Adresse zu übermitteln:

Olaf-livre-vert@cec.eu.int

Sie können auch auf dem Postweg an folgende Adresse gesandt werden:

Europäische Kommission

Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung (Referat A.2)

Grünbuch "Europäische Staatsanwaltschaft"

Rue Joseph II, 30

B-1049 Bruxelles/Brussel

Die Kommission wird die ihr zugegangenen Reaktionen auf ihrer Grünbuch-Internetseite veröffentlichen, sofern nicht ausdrücklich um vertrauliche Behandlung gebeten wird.

Sie wird 2002 eine öffentliche Anhörung mit den interessierten Akteuren durchführen und 2003 im Rahmen der Vorarbeiten zur Änderung der Verträge auf der Grundlage aller bei ihr eingegangenen Stellungnahmen Schlussfolgerungen vorlegen und gegebenenfalls einen neuen Beitrag einbringen.

2. Prämissen der debatte

In ihrem Beitrag zur Regierungskonferenz von Nizza hat die Kommission erstmals dargelegt, warum eine Europäische Staatsanwaltschaft ein wirksames strafrechtliches Instrument zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften wäre. Vier Vorbedingungen müssen erfuellt sein, bevor überhaupt über den Vorschlag diskutiert werden kann. Erstens bedarf es einer Revision der Verträge (2.4); zweitens muss der Vorschlag gegenüber der derzeitigen Lage einen Mehrwert aufweisen (2.1); drittens muss er im Einklang stehen mit den Grundrechten (2.2) und viertens muss er sich im Sinne einer spezifischen Ergänzung in die justizpolitischen Prioritäten der Europäischen Union einfügen (2.3).

2.1. Mehrwert der europäischen Staatsanwaltschaft: Erinnerung an die Argumente, auf die die Kommission ihren Vorschlag vom Jahr 2000 gestützt hat

Die Ansiedlung der Ermittlungs- und Verfolgungsfunktion auf der Gemeinschaftsebene ergäbe einen Mehrwert gegenüber der derzeitigen Situation. Solange es keine spezifische institutionelle Gemeinschaftsstruktur gibt, erlauben die derzeitigen Systeme, so legitim und unersetzlich sie auch sein mögen, keine hinreichend wirksame Strafverfolgung über die Grenzen hinweg. Einige Argumente sind bereits in der Mitteilung vom 29. September 2000 dargelegt worden, so dass sie hier nur kurz erwähnt werden [23].

[23] Siehe Anhang 1.

2.1.1. Die Zersplitterung des europäischen Strafrechtsraums überwinden

Weil Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaften auf die organisierte Kriminalität zurückzuführen ist, und diese länderübergreifend ist, bedarf es derzeit einer Zusammenarbeit zwischen siebzehn Rechtssystemen mit unterschiedlichen materiell- und verfahrensrechtlichen Regeln [24]. Im Zuge der Erweiterung dürfte sich die Lage noch komplizierter gestalten, da dann noch mehr Marktbeteiligte und Verwaltungen in die Bewirtschaftung der Gemeinschaftsmittel eingebunden sein werden.

[24] Einige Mitgliedstaaten haben mehrere Rechtsordnungen, beispielsweise das Vereinigte Königreich (England und Wales, Schottland sowie Nordirland).

Die Mängel des derzeitigen Systems sind im Wesentlichen die Folge der Zersplitterung des europäischen Strafrechtsraums. Zwar werden in den völkerrechtlichen Übereinkünften zwischen den Mitgliedstaaten immer mehr Ausnahmen vom Territorialitätsprinzip vorgesehen [25], doch nach wie vor können Polizei- und Justizbehörden im Prinzip nur im Gebiet ihres jeweiligen Mitgliedstaates handeln. Die Abschottung dieser Behörden hat zu konkurrierenden Ermittlungen und Strafverfolgungen bzw. dazu geführt, dass Ermittlungen und Strafverfolgungen nur teilweise oder gar nicht durchgeführt werden.

[25] z.B. Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 19. Juni 1990 (Artikel 39 ff Observation und Nacheile); Übereinkommen über gegenseitige Amtshilfe und Zusammenarbeit der Zollverwaltungen (Neapel II) vom 18. Dezember 1997; Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 29. Mai 2000 (kontrollierte Lieferungen, gemeinsame Ermittlungsgruppen, verdeckte Ermittlungen).

Ein Beispiel für konkurrierende und letztendlich erfolglose Ermittlungen findet sich in Abschnitt 1.1. der Mitteilung der Kommission an die Regierungskonferenz von Nizza (siehe Anhang 1).

Diese Entwicklung zeichnete sich bereits vor Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags ab, als mit der Unterzeichnung des Übereinkommens vom 26. Juli 1995 und seiner Protokolle ein erster bedeutsamer Schritt auf dem Weg zu einem strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften getan wurde. Doch diese Rechtsinstrumente sind immer noch nicht in Kraft, weil sie nicht von allen Mitgliedstaaten ratifiziert worden sind [26]. Das ist einer der Gründe, warum die Kommission am 23. Mai 2001 den weiter oben genannten Vorschlag für eine Richtlinie unterbreitet hat, der die Annahme der Bestimmungen dieser Instrumente des dritten Pfeilers auf der Grundlage von Artikel 280 EG-Vertrag vorsieht [27].

[26] Ende September 2001 hatten drei Mitgliedstaaten immer noch nicht die Ratifizierung des Übereinkommens zum Schutz der finanziellen Interessen und acht Mitgliedstaaten die Ratifizierung des Protokolls vom 19.6.1997 notifiziert.

[27] KOM(20001)272.

Doch mit diesen Bestimmungen allein wird es nicht gelingen, die Abschottung des europäischen Strafrechtsraums zu überwinden, da die Strafverfolgung nach wie vor nur in nationalen Grenzen erfolgen kann.

Das Grünbuch zeigt auf, dass mit einer Europäischen Staatsanwaltschaft und einer zentralisierten Leitung der Ermittlungen und Strafverfolgungen die Gemeinschaft auch mit ihren siebzehn unterschiedlichen Strafrechtsordnungen einen effektiven und gleichwertigen Schutz ihrer finanziellen Interessen in der gesamten Europäischen Union gewährleisten könnte, wie dies im EG-Vertrag festgeschrieben ist.

2.1.2. Die Schwerfälligkeit und Unzweckmäßigkeit der klassischen Verfahren justizieller Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten überwinden

Bereits heute gibt es Formen der strafrechtlichen Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg, die durch die Stärkung der justiziellen Zusammenarbeit im Rahmen des dritten Pfeilers künftig intensiviert werden soll. In keinem der Instrumente jedoch, die bereits gelten, vorgeschlagen worden sind oder noch ausgehandelt werden, wird das besondere Problem der strafrechtlichen Verfolgung von Taten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaften hinreichend geregelt.

Die Zunahme der gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft gerichteten organisierten Kriminalität hat indessen zur Folge, dass die klassischen Instrumente der Rechtshilfe nicht mehr greifen und die Fortschritte bei der justiziellen Zusammenarbeit begrenzt sind. Die Folgen sind Fristenverzögerungen, Prozessverschleppung und nicht zuletzt Straffreiheit. Ganz besonders wird dadurch die Rekonstruktion der Finanzkreisläufe erschwert, die dem Betrug vorgelagert sind.

Die Kommission führt in Abschnitt 1.2. ihrer Mitteilung an die Regierungskonferenz von Nizza (siehe Anhang 1) als Beispiel einen Fall an, in dem bis zu 60 Rechtsmittel nacheinander eingelegt wurden.

Wie weiter unten dargelegt, könnten diese Schwierigkeiten mit einer Europäischen Staatsanwaltschaft überwunden werden, denn sie wäre die Schnittstelle zwischen der Gemeinschaftsebene und den nationalen Justizbehörden. In Fällen von länderübergreifendem Finanzbetrug wäre es dann leichter, der Beweisvernichtung und der Tatverdächtigenflucht vorzubeugen, die derzeit durch die mangelnde vertikale justizielle Zusammenarbeit zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten noch gefördert werden.

2.1.3. Gerichtliche Folgemaßnahmen zu Verwaltungsuntersuchungen

Die Erfahrung zeigt, dass es schwierig ist, Verwaltungsuntersuchungen in eine gerichtliche Verfolgung münden zu lassen. Beim heutigen Stand des Gemeinschaftsrechts [28] ist die Strafverfolgung, so erfolgreich die administrative Koordinierung durch das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF), in dem nunmehr Richter und Staatsanwälte beratende Funktionen übernehmen, auch sein mag, nach wie vor ungewiss, denn die Gemeinschaft verfügt über keine Strafverfolgungskapazität, die die Prävention und die verwaltungsrechtliche Untersuchungstätigkeit ergänzen würde.

[28] Verordnung (EG) Nr. 1073/99 des Europäischen Parlaments und des Rates und Verordnung (Euratom) Nr.° 1074/99 des Rates vom 25.5.1999 über die Untersuchungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (ABl. L 136 vom 31.5.1999); Beschluss der Kommission vom 28.4.1999 zur Errichtung des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (ABl. L 136 vomdu 31.5.1999); Instituionelle Vereinbarung vom 25.5.1999 über die internen Untersuchungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (ABl. L 136 vom 31.5.1999); Verordnung (Euratom, EG) Nr.°2185/96 des Rates vom 11.11.1996 betreffend die Kontrollen und Überprüfungen vor Ort durch die Kommission zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vor Betrug und anderen Unregelmäßigkeiten (ABl L 292 vom 15.11.1996); Verordnung (EG, Euratom) n°2988/95 des Rates vom 18.12.1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 312 vom 23.12.1995).

Die Weitergabe von Informationen zwischen den Mitgliedstaaten und durch das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung an die Mitgliedstaaten stößt auf Schwierigkeiten, die sich aus den unterschiedlichen Strafverfolgungsvorschriften der Mitgliedstaaten ergeben. Ist für Ermittlungen wegen derselben Tatbestände in einigen Mitgliedstaaten eine Staatsanwaltschaft und in anderen eine Verwaltungsbehörde zuständig, sind direkte Beziehungen zwischen den einen und den anderen rechtlich und tatsächlich meist unmöglich. Außerdem haben die Behörden der beteiligten Mitgliedstaaten nicht alle denselben Informationszugang, weil die Vorschriften, u.a. über das Steuergeheimnis [29], das Geschäftsgeheimnis und die Geheimhaltung strafrechtlicher Ermittlungen unterschiedlich sind. Die Vereinigung der Ermittlungsfunktion und der Strafverfolgungsfunktion in Gestalt einer Europäischen Staatsanwaltschaft würde dazu beitragen, diese Schwierigkeiten zu beseitigen.

[29] Schlussbericht über die erste Begutachtungsrunde: Rechtshilfe in Strafsachen, vom Rat am 28.5.2001 angenommen (ABl. C 216 vom 1.8.2001), Punkt III e): "Die Begutachtung zeigte, dass die Frage der Steuerdelikte weiterhin so heikel ist, dass die Rechtshilfe in diesem Bereich eingeschränkt und verlangsamt oder schlimmstenfalls verweigert werden kann".

Schließlich hat die Vielfalt der nationalen Vorschriften über die Beweisführung oft zur Folge, dass die in einem Mitgliedstaat gesammelten Beweise vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaates nicht verwendet werden können.

Ein beispielhafter Fall, in dem Beweise nicht zugelassen wurden, findet sich in Abschnitt 1.3 der Mitteilung der Kommission an die Regierunskonferenz von Nizza (siehe Anhang 1).

Die in der Sache entscheidenden Gerichte wenden, insbesondere in Bezug auf die Zulässigkeit der Beweismittel, die am Gerichtsort geltenden Rechtsvorschriften an (forum regit actum). Weichen ihre Regeln von denjenigen des Orts ab, an dem die Ermittlungshandlungen stattgefunden haben, erkennen sie letztere nicht immer an. Das hat zur Folge, dass die Beweismittel, die im Zuge dieser Handlungen erhoben wurden, nicht zulässig sind, und macht unter Umständen sämtliche Ermittlungen in länderübergreifenden Betrugsfällen zunichte.

Ein typischer Betrugsfall, bei dem die Beweismittel nicht anerkannt wurden

Ein Olivenölimporteur wurde verdächtigt, falsche Zollanmeldungen mit dem Ziel vorgelegt zu haben, die Zahlung von Agrarzöllen (Eigenmittel der Gemeinschaften) zu umgehen. Er hatte für den Transport, den Vertrieb, den Verkauf und die Finanzierung auf verschiedene, in den Mitgliedstaaten ansässige Unternehmen zurückgegriffen. Somit waren die Beweise über das gesamte Gebiet der Europäischen Gemeinschaften verstreut. Wenn die Ergebnisse von Verwaltungsuntersuchungen, die u.a. das OLAF eingeleitet hatte, sowie von Ermittlungen, einschließlich der Ergebnisse internationaler Rechtshilfeersuchen hätten verwendet werden können, wäre die Ermittlungsakte vollständig gewesen.

Bei der Verhandlung hat das Strafgericht des betreffenden Mitgliedstaats jedoch den größten Teil der Beweismittel für unzulässig erklärt, weil sie entweder von einer Verwaltungsbehörde (dem OLAF) oder von der Kriminalpolizei, statt einer Staatsanwaltschaft oder einem Ermittlungsrichter erlangt worden waren. Auch die Erklärungen von Privatpersonen (LKW-Fahrer), die von den Justizbehörden ordnungsgemäß aufgenommen worden waren, wurden zurückgewiesen.

Das ist nur ein Beispiel von vielen. Einige Mitgliedstaaten regeln den Urkundenbeweis noch strenger und verlangen eine mündliche Beweiserbringung im Hauptverfahren.

In diesem Grünbuch wird dargelegt, dass dieses letzte Hindernis sich durch die Schaffung eines gemeinsamen Ermittlungs- und Verfolgungsraums, in dem nach dem Prinzip der gegenseitigen Zulassung der Beweise vorgegangen würde [30], beseitigen ließe. Die Beweise, die im Zuge der Ermittlungshandlungen erhoben würden, die die Verwaltungs- und Justizbehörden unter Leitung der Europäischen Staatsanwaltschaft, gegebenenfalls mit Genehmigung des Richters im Ermittlungsverfahren durchführen würden, wären vor den Strafgerichten im gesamten Gebiet der Gemeinschaften zulässig.

[30] Siehe 6.3.4. (Beweisregeln)

2.1.4. Stärkung der Organisation und Effizienz der Ermittlungen innerhalb der Gemeinschaftsorgane und -einrichtungen

Es gibt derzeit keine Strafverfolgungsbehörde, die befugt wäre, zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften Ermittlungen innerhalb der Gemeinschaftsorgane und -einrichtungen vorzunehmen. Das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung OLAF kann zwar den Justizbehörden Hilfe anbieten, ist aber nach wie vor eine reine verwaltungsrechtliche Untersuchungsbehörde. Ob ein interner Fall vor die Gerichte gebracht wird, ist immer noch dem Ermessen der Strafverfolgungsbehörde des Landes überlassen, in dem das betreffende Organ oder die betreffende Einrichtung angesiedelt ist.

Ein Beispiel für Betrug innerhalb der Gemeinschaftsorgane

Nach einer internen Untersuchung des OLAF (die in mehreren Mitgliedstaaten zu Gerichtsverfahren geführt hat) wurden Beamte verdächtigt, Einfluss genommen zu haben auf die Gewährung von Finanzhilfen an Unternehmen, in denen sie Beteiligungen besaßen. Diese Unternehmen befanden sich in mehreren Mitgliedstaaten und in Finanzzentren außerhalb der Gemeinschaften.

Mehrere Hindernisse sind in diesem Fall aufgetreten. Die verwaltungsrechtlichen Befugnisse des OLAF reichten nicht aus, um den gesamten Sachverhalt zu erfassen, was Verhöre, Hausdurchsuchungen, Bankermittlungen und sogar Rechtshilfeersuchen erfordert hätte.

Die Bestimmung der innerstaatlichen Strafverfolgungsbehörden, die zu befassen sind, wenn mehrere zuständig sein könnten, wirft Probleme auf. Die Diskrepanzen zwischen den einzelstaatlichen Rechtsordnungen erschweren die Verwendung von Befragungsergebnissen des OLAF beträchtlich. So wurden in diesem Fall beispielsweise die in einem Mitgliedstaat vorgesehenen Verfahrensrechte der Betroffenen vom Strafgericht eines anderen Mitgliedstaats als unzureichend bewertet. Zudem haben die unterschiedlichen Verjährungsregelungen zur Folge, dass die Ermittlungsakte zu spät übergeben wird. Eine Justizbehörde hat das Verfahren mit der Begründung eingestellt, dass der betreffende Beamte entlassen worden sei und Disziplinarmaßnahmen ergriffen worden seien, so dass sich eine Strafverfolgung erübrige.

Organisation und Effizienz der innerhalb der Organe und Einrichtungen durchgeführten Untersuchungen würden durch die Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft erheblich verbessert [31]. Die Kommission kommt also mit ihrem Vorschlag auch der wiederholten Forderung des Europäischen Parlaments nach einer Initiative zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft für Ermittlungen innerhalb der Organe und Einrichtungen der EU nach [32].

[31] Siehe in diesem Sinne die Stellungnahme 3/2001 des OLAF-Überwachungsausschusses vom 6.9.2001 zur etwaigen Einsetzung eines für die internen Untersuchungen zuständigen europäischen Staatsanwalts.

[32] Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16.5.2000 zum Jahresbericht der Kommission über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften und die Betrugsbekämpfung 1998 (Ziff. 2); Entschließung vom 13.12.2000 zur Betrugsbekämpfungsstrategie der Kommission (Ziff. 12), (ABl. C 232 vom 17.8.2001, S. 192); Erwägungsgrund 14 des Vorschlags für eine Richtlinie zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften der Gemeinschaft (a.a.O), in der vom Europäischen Parlament am 29.11.2001 geänderten Fassung (PE 305.612).

2.2. Wahrung der Grundrechte

Der Europäische Staatsanwalt muss in Ausübung seines Amtes die Grundrechte achten, die insbesondere in Artikel 6 EU-Vertrag, in den vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) entwickelten Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts, in der Grundrechtecharta der Europäischen Union [33] und in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert sind.

[33] ABl. C 364 vom 18.12.2000.

So sollten insbesondere alle Zwangsmaßnahmen, die der Europäische Staatsanwalt ergreift, zuvor von einem Richter, der auf nationaler Ebene die Funktion eines Richters im Ermittlungsverfahren ("juge des libertés") ausübt, überwacht, ja sogar angeordnet werden [34].

[34] Siehe 6.4 (Gewährleistung der richterlichen Kontrolle)

Eine Europäische Staatsanwaltschaft würde es nicht nur ermöglichen, gegen Personen, die heute noch straffrei bleiben, Klage zu erheben; sie würde auch dazu beitragen, die Situation von Beschuldigten zu verbessern [35]. Sie würde das "Knäuel" verschiedener, sich überschneidender innerstaatlicher Strafverfolgungen entwirren. Sie würde das Vorverfahren und damit auch das Hauptverfahren beschleunigen. In dem Maße schließlich, wie die Effizienz der Strafverfolgung im gesamten Hoheitsgebiet der Europäischen Union verbessert würde, dürfte sie die nationalen Behörden veranlassen, weniger häufig auf Untersuchungshaft und freiheitsbeschränkende Maßnahmen zu dem Zweck zurückzugreifen, den Beschuldigten in ihrem Hoheitsgebiet zu halten.

[35] In diesem Grünbuch wird der Ausdruck "Beschuldigter" im weitesten Sinne verwendet und deckt die in den einzelnen Mitgliedstaaten geltenden terminologischen Unterschiede ab (Beschuldigter/Angeschuldigter /Angeklagter). Für die Zwecke dieses Grünbuchs ist ein Beschuldigter jemand, dem der Europäische Staatsanwalt die ihm zur Last gelegten Taten zur Kenntnis gebracht hat.

2.3. Verknüpfung mit den Prioritäten der Europäischen Union auf dem Gebiet Justiz und Inneres

"Die Erhaltung und Weiterentwicklung der Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in bezug auf (...) die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität, der freie Personenverkehr gewährleistet ist", ist eines der im EU-Vertrag festgeschriebenen Ziele der Union» [36].

[36] Artikel 2 EU-Vertrag.

Die Staats- und Regierungschefs haben am 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere die Errichtung eines derartigen Raums zu einer hohen politischen Priorität erklärt.

Der Beitrag der Kommission zur Regierungskonferenz 2000 stellt auf die Verwirklichung dieses Ziels ab. Er steht nicht im Widerspruch zum Geist von Tampere. Er ergänzt insoweit anderweitige Anstrengungen zur Intensivierung der allgemeinen Zusammenarbeit der Justizbehörden, die mit der vorgesehenen Einrichtung von Eurojust unlängst einen weiteren Schritt vollbracht hat [37], als er auf die Vertiefung der Integration in einem Bereich abstellt, in dem sowohl die Gemeinschaft als auch die Mitgliedstaaten Befugnisse haben (Artikel 280 EG-Vertrag).

[37] Siehe 7.2.1 (Eurojust).

2.3.1. Komplementarität des Vorschlags und der Ziele von Tampere

Der Vorschlag der Kommission entspricht in vielen Punkten den Orientierungen von Tampere.

So stützt die Kommission ihren Vorschlag auf eine Feststellung, die grundsätzlich auch die des Europäischen Rates ist: "Straftäter [dürfen] keine Möglichkeiten finden, die Unterschiede in den Justizsystemen der Mitgliedstaaten auszunutzen" [38].

[38] Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates von Tampere vom 15. und 16. Oktober 1999, Ziff. 5.

Auch die allgemeine Zielsetzung ist weitgehend die gleiche, denn es handelt sich immer darum, den im EU-Vertrag verankerten "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" zu errichten. Die vorgeschlagene Schaffung eines gemeinsamen Raums für Ermittlungen und Strafverfolgungen würde - für den besonderen Bereich des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaften - substanziell dazu beitragen. Gleichzeitig muss, wie in Tampere festgehalten, die durch die Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft gewonnene Steigerung der Effizienz der Strafverfolgungen mit dem Schutz der Grundrechte einhergehen, auf deren Bedeutung weiter oben hingewiesen wurde: "Es sollte eine ausgewogene Entwicklung unionsweiter Maßnahmen zur Kriminalitätsbekämpfung unter gleichzeitigem Schutz der Freiheit und der gesetzlich verbürgten Rechte der Einzelperson wie auch der Wirtschaftsteilnehmer erreicht werden [39]."

[39] ebd. Ziff.40.

Der Weg zur Errichtung eines Strafverfolgungssystems zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, bei dem die Rechtssprechungsfunktion auf der nationalen Ebene verbleibt, führt im Wesentlichen über den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von gerichtlichen Entscheidungen und Urteilen durch die Mitgliedstaaten. Die gegenseitige Anerkennung setzt gegenseitiges Vertrauen in die einzelstaatlichen Rechtsordnungen und einen gemeinsamen Sockel voraus. Sie bedeutet, dass es keines zusätzlichen Vollstreckungsurteils mehr bedarf. Dieser Grundsatz sollte nach Auffassung des Europäischen Rates "zum Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit" innerhalb der Union werden, wobei er präzisiert, dass dieser Grundsatz "auch für im Rahmen des Ermittlungsverfahrens ergangene Anordnungen - und zwar insbesondere für Anordnungen, die es den Behörden ermöglichen, Beweismaterial rasch sicherzustellen und leicht zu bewegende Vermögensgegenstände zu beschlagnahmen - gelten [sollte]" [40].

[40] ebd. Ziff.33 und 36.

Eines der Instrumente, das dem Handeln des Europäischen Staatsanwalts mehr Gewicht verleihen würde, wäre der Europäische Haftbefehl. Dieses Instrument, das in Tampere zu einer Priorität erklärt wurde, ist bereits Gegenstand eines allgemeineren Vorschlags für einen Rahmenbeschluss [41]. Alle Organe und Einrichtungen der Europäischen Union sind lebhaft daran interessiert, wie folgender Erklärung zu entnehmen ist: "Die Europäische Union wird den Aufbau eines echten gemeinsamen europäischen Rechtsraums beschleunigen; das bedeutet u.a .die Einführung eines europäischen Haft- und Auslieferungsbefehls entsprechend den Schlussfolgerungen von Tampere und die gegenseitige Anerkennung von Gerichtsbeschlüssen und Urteilen [42]. Der Vorschlag zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft fügt sich in diese Perspektive ein.

[41] Vorschlag der Kommission für einen Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, KOM(2001)522.

[42] Gemeinsame Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, der Präsidentin des Europäischen Parlaments, des Präsidenten der Europäischen Kommission sowie des Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, 14.9.2001.

2.3.2. Spezifität des Vorschlags gegenüber den Zielen des Europäischen Rates von Tampere

In einigen Punkten ergänzt der Vorschlag die politischen Orientierungen von Tampere. Er ist begrenzt und steht daher nicht in Konkurrenz zu den allgemeineren Initiativen im Rahmen der dritten Säule. Ganz im Gegenteil, er stellt darauf, dass diese mit den Mitteln der Gemeinschaftsmethode (erste Säule) erweitert und an die Besonderheiten des strafrechtlichen Schutzes der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften angepasst werden.

So werden beispielsweise die Zuständigkeiten von Eurojust entsprechend den Schlussfolgerungen von Tampere breit gefächert sein und unter die justizielle Zusammenarbeit fallen. Die Europäische Staatsanwaltschaft hingegen wäre eine Einrichtung der Gemeinschaft mit der Befugnis zur Strafverfolgung im spezifischen Bereich des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaft.

Außerdem hat der Europäische Rat den Rat und die Kommission generell ersucht, Arbeiten einzuleiten "über diejenigen verfahrensrechtlichen Aspekte, bei denen gemeinsame Mindeststandards für notwendig erachtet werden". [43] Was die Mittel betrifft, so geht die Kommission noch weiter: Für die Vorbereitung der Prozesse im Zusammenhang mit Straftaten zum Nachteil der Gemeinschaftsfinanzen schlägt sie eine teilweise Harmonisierung der Verfahren vor. Die Handlungen des Europäischen Staatsanwalts, die dieser unter der Kontrolle des zum Richter im Ermittlungsverfahren ernannten Richters vornimmt, würden in allen Mitgliedstaaten als Handlungen einer gemeinsamen Instanz gültig sein.

[43] Schlussfolgerungen, Ziff. 37.

Gleichwohl ist die Schaffung eines gemeinsamen Raums für Ermittlungen und Strafverfolgungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften kein Experiment, das die künftige Gestalt des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts vorwegnimmt. Vielmehr ist sie die logische Folge der Integration der Gemeinschaft. Die Realisierung des Binnenmarktes und die damit einhergehenden Gemeinschaftspolitiken haben dazu geführt, dass den Gemeinschaften eigene Mittel an die Hand gegeben werden. Um diese Mittel gegen Kriminalität zu schützen, muss nunmehr eine Strafverfolgungsfunktion auf Gemeinschaftsebene eingeführt werden. Fundamentale gemeinsame Interessen erfordern einen gemeinsamen Schutz.

Die Europäische Staatsanwaltschaft zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften fügt sich ein in das Konzept eines Europa des Rechts, wobei es sich hier nicht so sehr um das Recht in Europa, sondern vielmehr um das Recht für Europa handelt.

2.4. Rechtsgrundlage

Die Umsetzung dieses Vorschlags setzt eine geeignete Rechtsgrundlage voraus. Artikel 280 EG-Vertrag bestimmt, dass die Maßnahmen des gemeinschaftlichen Gesetzgebers zur Bekämpfung illegaler Tätigkeiten, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaften richten, "die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege [unberührt lassen]". Auf der Grundlage des EG-Vertrags, und somit auch des EAG-Vertrags, der in diesem Punkt seit Maastricht nicht mehr geändert wurde, kann heute also kein europäischer Strafrechtsraum mit einer gemeinsamen Behörde wie einer Staatsanwaltschaft eingerichtet werden.

Es bedarf also einer Vertragsreform, damit der Vorschlag auf eine legitime politische Grundlage gestellt werden kann. Deshalb hat die Kommission die Einfügung eines neuen Artikels 280 a in den EG-Vertrag vorgeschlagen. Nach diesem Vorschlag soll sich die notwendige Änderung des Vertrags auf die Formulierung von Bestimmungen über die Ernennung des Europäischen Staatsanwalts und sein Ausscheiden aus dem Amt sowie auf die Beschreibung seiner Aufgaben und der wichtigsten Merkmale dieses Amtes beschränken. Außerdem wäre es dann auch angezeigt, Artikel 183 a EAG-Vertrag entsprechend zu ergänzen.

Die Kommission hält es für angebracht, dass der Konvent, der mit der nächsten Vertragsreform beauftragt wird, diese Frage erörtert.

In den neuen Vertragsbestimmungen wäre auf das abgeleitete Recht für die Regelung des Status und der Funktionsweise der Europäischen Staatsanwaltschaft zu verweisen. Gemäß dem vorgeschlagenen Artikel 280 a wäre deshalb vorgesehen, dass das Europäische Parlament und der Rat im Mitentscheidungsverfahren folgende Vorschriften erlassen, wobei der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen müsste:

« 2. (...) Der Rat legt nach dem Verfahren des Artikels 251 das Statut des Europäischen Staatsanwalts fest.

3. Der Rat legt nach dem Verfahren des Artikels 251 die Bedingungen für die Ausübung des Amtes des Europäischen Staatsanwalts fest und erlässt insbesondere

(a) Vorschriften zur Festlegung der Tatbestandsmerkmale von Betrug und jeder anderen rechtswidrigen Handlung, die gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft gerichtet ist sowie der Strafen für alle Straftatbestände;

(b) Verfahrensvorschriften für die Tätigkeiten des Europäischen Staatsanwalts sowie Vorschriften für die Zulässigkeit von Beweismitteln;

(c) Vorschriften über die richterliche Kontrolle der vom Europäischen Staatsanwalt in Ausübung seines Amtes vorgenommenen Verfahrenshandlungen."

Diese sekundärrechtlichen Vorschriften sind Gegenstand dieses Grünbuchs. Sie werden maßgeblich sein für die Verknüpfung des Gemeinschaftssystems mit den nationalen Strafrechtsordnungen. Das Grünbuch muss in diesem Zusammenhang eine Diskussion über zwei zentrale Fragen ermöglichen: Erstens: Wie kann eine Europäische Staatsanwaltschaft geschaffen werden, ohne dass zu deren Kontrolle eine besondere Gerichtsinstanz auf Gemeinschaftsebene vorgesehen wird* Zweitens: Wie weit muss das materielle und formelle Strafrecht harmonisiert werden, damit diese Staatsanwaltschaft ordnungsgemäß funktionieren kann*

3. Grundzüge

Nach dem von der Kommission vorgeschlagenen Artikel 280 a hätte die Europäische Staatsanwaltschaft die Aufgabe "gegen Täter von Straftaten und Teilnehmer an Straftaten, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaften richten, zu ermitteln, sie strafrechtlich zu verfolgen und wegen dieser Straftaten vor den zuständigen Gerichten der Mitgliedstaaten öffentliche Anklage gemäß den [vom Gemeinschaftsgesetzgeber] festgelegten Vorschriften zu erheben."

Zum besseren Verständnis sollte der Vorschlag zunächst in seinen Grundzügen beleuchtet werden. Die Kommission hat dazu folgende Leitlinien aufgestellt. Der Europäischen Staatsanwaltschaft sollte nur eine auf den vorstehend definierten Bereich begrenzte Einzelermächtigung erteilt werden. Diese muss nach den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit auf das strikte Minimum beschränkt bleiben, das zur effektiven und gleichwertigen Verfolgung rechtswidriger, gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaften gerichteter Handlungen auf dem gesamten Gebiet der Europäischen Gemeinschaften erforderlich ist (Artikel 280 EGV).

In diesem Grünbuch schlägt die Kommission vor, im Gemeinschaftsrecht nur das zu regeln, was für ein reibungsloses Funktionieren der Europäischen Staatsanwaltschaft unbedingt notwendig ist. Grundsätzlich wäre also nationales Recht anwendbar; auf das Gemeinschaftsrecht soll nur in Ausnahmefällen zurückgegriffen werden, die ordnungsgemäß damit zu begründen sind, dass die Effizienz der Europäischen Staatsanwaltschaft gewährleistet werden muss.

In diesem Sinne wird hier eine Abgrenzung des potenziellen materiellrechtlichen Zuständigkeitsbereichs der Europäischen Staatsanwaltschaft (3.1) in einem gemeinsamen Ermittlungs- und Strafverfolgungsraum (3.2) vorgenommen. Insbesondere werden ihre wichtigsten Befugnisse (3.2.1.) sowie ihre Stellung gegenüber den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten (3.2.2.) umrissen.

3.1. Eine auf Bereich des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaften begrenzte materiellrechtliche Zuständigkeit

Die Zuständigkeiten, die die Kommission der Europäischen Staatsanwaltschaft zuzuweisen beabsichtigt, sind auf den Bereich des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaften begrenzt, wie er bereits in Artikel 280 EGV abgesteckt worden ist.

Zwar bestehen weitere, grundlegende gemeinsame Interessen wie die gemeinsame Währung, der europäische öffentliche Dienst, die Gemeinschaftsmarke usw.. Gleichwohl schlägt die Kommission entsprechend ihrem Beitrag vom September 2000 nicht vor, die Zuständigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft über den Bereich des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaften hinaus auf Tatbestände wie Zuwiderhandlungen, die Bedienstete der Gemeinschaft in Ausübung ihrer Tätigkeit begehen [44], oder auch den neuen, nicht weniger schwerwiegenden Tatbestand der Eurofälschung [45] auszuweiten. Im vorliegenden Grünbuch werden diese Themen lediglich als Hypothesen angeführt, um die Debatte zu erhellen.

[44] Siehe 5.2.3. (Über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften hinausgehende Straftatbestände)

[45] Artikel 3 und 4 des Rahmenbeschlusses des Rates vom 29.5.2000 über die Verstärkung des mit strafrechtlichen und anderen Sanktionen bewehrten Schutzes gegen Geldfälschung im Hinblick auf die Einführung des (ABl. L 140 vom 2.6.2000).

3.1.1. Eine besondere Verantwortung der Gemeinschaften

Die Europäischen Gemeinschaften tragen eine größere Verantwortung für den Schutz ihrer finanziellen Interessen. Der Vertrag von Amsterdam sieht ausdrücklich vor, dass sie diese Verantwortung gemäß Artikel 280 EG gemeinsam mit den Mitgliedstaaten ausüben.

Seit den Anfängen des europäischen Aufbauwerks verfügen die Europäischen Gemeinschaften über einen Haushalt. Gemäß den Artikeln 274 und 276 des EG-Vertrags ist die Kommission gegenüber der aus dem Europäischem Parlament und dem Rat der Europäischen Union gebildeten Haushaltsbehörde rechenschaftspflichtig.

Für den Bereich der finanziellen Interessen der Gemeinschaft stellt der EG-Vertrag hohe Anforderungen. Der Schutz muss abschreckend, effektiv und in allen Mitgliedstaaten gleichwertig sein. Effektivität des Schutzes impliziert, dass über die administrative Aufdeckung von Betrug hinaus, Sanktionen tatsächlich verhängt und durchgesetzt werden. Die Erfahrung zeigt, dass eine glaubwürdige Abschreckung darin besteht, dass den schwerwiegendsten Fällen nicht nur mit verwaltungsrechtlichen, sondern auch mit strafrechtlichen Maßnahmen, einschließlich Zwangsmaßnahmen und Strafen bis hin zum Freiheitsentzug, begegnet werden kann. Gleichwertigkeit des Schutzes schließlich bedeutet eine in der gesamten Gemeinschaft homogene strafrechtliche Ahndung.

Diese besonders hohen Anforderungen sind insofern vollkommen gerechtfertigt, als die Gemeinschaftsmittel seit den Anfängen des europäischen Aufbauwerks grundlegende gemeinsame Interessen darstellen.

Diese Interessen aber sind Zielscheibe der - in den schwerwiegendsten Fällen organisierten -Wirtschaftskriminalität, die sich modernster Kommunikationstechniken bedient. Diese über die Grenzen hinweg operierende Kriminalität besitzt einen stark ausgeprägten transnationalen Charakter. Die Gemeinschaften müssen daher sicherstellen, dass Betrug und Korruption strafrechtlich effektiv verfolgt werden. Die finanziellen Interessen der Gemeinschaft rechtfertigen besondere Schutzmaßnahmen.

3.1.2. Beibehaltung des derzeitigen Bereichs des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaft

Die Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft bedeutet keineswegs, dass die materiellrechtlichen Kompetenzen der Gemeinschaften erweitert werden. Der Bereich des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaft bliebe auch weiterhin auf den bereits in Artikel 280 des EG-Vertrag umschriebenen Bereich begrenzt.

Die zu schützenden finanziellen Interessen der Gemeinschaften umfassen den Gesamthaushalt, die von den bzw. für Rechnung der Gemeinschaften verwalteten Haushalte sowie bestimmte, nicht in den Haushaltsplan einbezogene Mittel [46], die von Gemeinschaftseinrichtungen, die nicht den Status eines Organs besitzen [47], auf eigene Rechnung verwaltet werden. Der Schutz der finanziellen Interessen betrifft allerdings nicht nur die Verwaltung von Haushaltsmitteln, sondern erstreckt sich auch auf jede Maßnahme, die das Vermögen der Gemeinschaften, z.B. ihre Immobilien, angeht oder angehen könnte [48].

[46] z. B. der Europäische Entwicklungsfonds, der von der Kommission und der Europäischen Investitionsbank verwaltet wird.

[47] Erläuternder Bericht zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, vom Rat am 26.5.1997 gebilligter Text, Teil III Abschnitt 1.1 (ABl. C 191 vom 23.6.1997, S. 1)

[48] Zweiter Erwägungsgrund der Verordnungen Nr. 1073/99 und Nr. 1074/9.

Bei den Ausgaben wären dies im wesentlichen die von den Mitgliedstaaten verwalteten Gelder: Beihilfen im Rahmen der Garantieausgaben für die Landwirtschaft [49] und Strukturfondshilfen [50], sowie die direkt von den Gemeinschaften verwalteten Mittel [51].

[49] Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft - Abteilung Garantie.

[50] Europäischer Sozialfonds, Europäischer Fonds für Regionalentwicklung, Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft, Abteilung Ausrichtung, Finanzinstrument für die Ausrichtung der Fischerei, Kohäsionsfonds.

[51] z.B. Politikbereiche Bildung, Jugend, Kultur, Information, Energie, Umwelt, Binnenmarkt, Transeuropäische Netze, Forschung, Maßnahmen im Außenbereich.

Beispiel für einen Fall mit internen Aspekten: Missbräuchliche Verwendung von Geldern für Programme im Bereich der Außenhilfen

Aufgrund eines Verdachts, dass die Gelder für vier vom Amt für humanitäre Hilfe (ECHO) verwalteten Verträgen (einer für das Gebiet der Großen Seen in Afrika und drei weitere für das ehemalige Jugoslawien im Zeitraum 1993-1995) missbräuchlich verwendet worden sein könnten, leitete die UCLAF eine Verwaltungsuntersuchung ein [52]. Der Betrag, der dem mit der Abwicklung dieser Verträge beauftragten Unternehmen X und den mit ihm verbundenen "Off-shore"-Unternehmen gezahlt worden war, belief sich auf 2,4 Mio. Ecu.

[52] Dieser Fall wurde bereits veröffentlicht. Siehe Europäische Kommission, Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften; Betrugsbekämpfung, Jahresbericht 1998, KOM (1999) 590, Abschn. 2.2.5.2.

Erste Nachprüfungen in den Mitgliedstaaten A und B im Jahre 1997 ergaben, dass ein Teil der Gelder vorschriftswidrig zur Bezahlung von externem Personal verwendet worden war, das für die Kommission innerhalb und außerhalb ihrer Dienstgebäude gearbeitet hatte.

Ende 1998 ergab ein Kontrollbesuch im ehemaligen Jugoslawien, dass die drei Verträge für diese Region nicht ausgeführt und weder die vorgesehenen Personen noch die Einrichtungen in der angegebenen Weise in Anspruch genommen worden waren.

Gegen mehrere Beamte der Gemeinschaft wurden Sanktionen verhängt, weil sie von Unternehmen, die direkt in diesen Fall verwickelt sind, Zahlungen für nicht bzw. nur teilweise ausgeführte Arbeiten erhalten hatten. Die Sanktionen reichten von der Rückstufung bis zur Entfernung aus dem Dienst bei teilweisem Verlust des Ruhegehaltsanspruchs.

Trotz der Versuche, die betreffenden Ausgaben aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren, reichten die im Rahmen der Verwaltungsuntersuchung eingesetzten Mittel nicht aus, um die Verwendung sämtlicher Fondsgelder aufzuklären. So konnten beispielsweise im Zuge einer 1998 gemäß Verordnung Nr.° 2185/96 beim Unternehmen X durchgeführten Kontrolle die zur Ausführung der Verträge gezahlten Beträge nicht belegt werden..

Die strafrechtlich möglicherweise relevanten Elemente wurden den Strafverfolgungsbehörden des Mitgliedstaats A und C übergeben. Das Gerichtsverfahren läuft noch..

Bei den Einnahmen würde sich die Zuständigkeit erstrecken auf die im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik im Handel mit Drittländern erhobenen Agrarzölle, die Zuckerabgaben [53] sowie auf die anderen im Handel mit Drittländer erhobenen Zölle. Was die von den Mitgliedstaaten abgeführten MwSt.-Einnahmen betrifft, müsste die Europäische Staatsanwaltschaft außerdem zuständig sein, wenn es sich um länderübergreifende Fälle handelt, in denen ein Vorgehen auf Gemeinschaftsebene besonders angezeigt erscheint. Hingegen würden die Einnahmen, die sich nach dem BSP der Mitgliedstaaten bestimmen, nicht in ihre Zuständigkeit fallen.

[53] d. h. die ersten beiden Arten von Eigenmitteln gemäß Artikel 2 Absatz 1 des Beschlusses 94/728/EG, Euratom des Rates vom 31. Oktober 1994 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften.

Beispiel für einen "externen" Fall: MwSt.-Betrug

Neben den üblichen Betrugsarten (bei Verkäufen hinterzogene MwSt. oder über fiktive Käufe erlangte MwSt.-Erstattungen) treten Betrugsmechanismen im Zusammenhang mit der vorläufigen gemeinschaftlichen MwSt.-Regelung zutage, die auf dem Bestimmungslandprinzip gründet Diese betrügerischen Transaktionen werden über Karussellgesellschaften oder über Scheinfirmen abgewickelt, die für einen begrenzten Zeitraum errichtet werden. Kriminelle Organisationen haben ausgefeilte Techniken entwickelt, um die MwSt.-Befreiungen bei innergemeinschaftlichen Lieferungen sowie die Ausnahmeregelungen bei Exporten auszunutzen und mit falschen Anmeldungen die Erstattung der - zuvor nicht entrichteten - MwSt. zu erwirken.

Die länderübergreifenden MwSt.-Betrugspraktiken sind bekannt. Dennoch ist es für eine nationale Behörde allein nach wie vor schwierig, diese Fälle aufzudecken, da die Rechnungen der einzelnen Mitgliedstaaten stets ordnungsmäßig erscheinen. Die meisten Mitgliedstaaten räumen ein, dass länderübergreifender MwSt.-Betrug ein zentrales Problem darstellt, auch wenn - gemessen an der Höhe der Einnahmenverluste - innerstaatlicher MwSt.-Betrug wesentlich signifikanter ist. Ersterer ist vor allem bei rasch und einfach zu befördernden Waren mit hohem Wertschöpfungsanteil (z. B.: Computerteile, Mobiltelefone, Edelmetalle) anzutreffen.

Derzeitige Schwierigkeiten

MwSt.-Betrug wird in den wenigsten Fällen rechtzeitig aufgedeckt und verfolgt. Das OLAF kann nur dann koordinierend tätig werden, wenn die nationalen Behörden für den jeweiligen Fall ausdrücklich darum ersuchen [54]. Es kommt häufiger vor, dass MwSt.-Betrug nicht weiter verfolgt wird, weil die erforderlichen länderübergreifenden Ermittlungen und Koordinierungsmaßnahmen auf europäischer Ebene aufwändig wären. Auch mit Eurojust wird sich keine ausreichende Koordinierung erreichen lassen, da Eurojust damit nicht systematisch befasst wird [55]. Die globale Unterrichtung und vorrangige Befassung der Europäischen Staatsanwaltschaft würde ein weitaus systematischeres Vorgehen ermöglichen.

[54] KOM (199)590, Abschnitt 2.3.

[55] Siehe 7.2.1 (Eurojust).

In diesem Bereich wurde die Zusammenarbeit zwischen dem OLAF und den Justizbehörden einiger Mitgliedstaaten verstärkt, um die zur Einleitung von Gerichtsverfahren erforderlichen Zeugenaussagen leichter zusammenstellen zu können. Die Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft wäre indessen insofern sinnvoll, als sie als Bindeglied zwischen Justiz- und Verwaltungsbehörden, insbesondere Steuerbehörden, fungieren könnte. Anders als eine nationale Justizbehörde könnte die Europäische Staatsanwaltschaft direkt mit allen Steuerbehörden der Mitgliedstaaten zusammenarbeiten.

Die so definierten finanziellen Interessen der Gemeinschaften erfordern einen effektiven strafrechtlichen Schutz. Mit der Schaffung des Amtes eines Europäischen Staatsanwalts schlägt die Kommission ein neues Instrument vor, damit die Gemeinschaft eine ihrer zentralen Verantwortlichkeiten in Rahmen eines bereits festgelegten materiellrechtlichen Geltungsbereichs effektiv wahrnehmen kann.

3.2. Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Ermittlungs- und Strafverfolgungsraum

Der Gedanke, eine Europäische Staatsanwaltschaft zu schaffen, entsprang der Notwendigkeit, den mittlerweile unhaltbaren Widerspruch zwischen der Zersplitterung des Gebiets der Europäischen Gemeinschaften in siebzehn nationale Strafrechtsräume und den schwerwiegenden Angriffen gegen gemeinsame, spezifisch gemeinschaftliche Interessen aufzulösen.

Die Kommission schlägt vor, dass die Europäische Staatsanwaltschaft die Befugnisse, die ihr übertragen werden könnten, im gesamten Gebiet der Gemeinschaften, wie es in Artikel 299 EG-Vertrag definiert ist, ausübt.

Innerhalb dieses Gebiets würde die Europäische Staatsanwaltschaft in einem gemeinsamen Ermittlungs- und Strafverfolgungsraum handeln, da ihre Handlungen in allen Mitgliedstaaten die gleiche Gültigkeit besäßen - eine für die Arbeit des Europäischen Staatsanwalts unerlässliche Mindestvoraussetzung. Die Schaffung eines solchen gemeinsamen Raums stellt gegenüber der einfachen Koordinierung zwischen abgeschotteten nationalen Räumen einen qualitativen Sprung dar.

Über diesen ersten unerlässlichen Schritt hinaus könnte dieser gemeinsame Raum je nach den Optionen des Grünbuchs unterschiedlich ausgestaltet werden. So hängt seine inhaltliche Ausgestaltung davon ab, welcher Grad der Harmonisierung für das Verfahren, insbesondere die Ermittlungsmaßnahmen, sowie für die Anerkennung der Beweismittel gewählt wird.

3.2.1. Die Befugnisse der Europäischen Staatsanwaltschaft : zentral geleitete Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen

Weil die Europäische Staatsanwaltschaft eine spezielle Zuständigkeit im Bereich des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaften hätte, die sich aber auf das gesamte Gebiet der Gemeinschaft erstrecken würde, sollte sie mit kohärenten Befugnissen ausgestattet werden. Bevor ausführlicher auf die möglichen Verfahren eingegangen wird, soll im Interesse der Klarheit die Rolle des Staatsanwalts in großen Zügen dargelegt werden [56]. Verfahrensschemata sind als Anhang beigefügt [57].

[56] Siehe Kapitel 6 zur Darstellung dieser Befugnisse unter verfahrensrechtlichen Gesichtspunkten.

[57] Siehe Anhang Nr. 2

Die Originalität des Vorschlags liegt darin, dass einer Gemeinschaftsinstanz die zentrale Leitung der Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen in einem gemeinsamen Raum übertragen werden soll. Die Handlungen des Europäischen Staatsanwalts wären im gesamten gemeinsamen Raum gültig. Das Hauptverfahren bliebe indessen vollständig auf der nationalen Ebene angesiedelt. Die Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft berührt nicht die Vertiefung der allgemeinen justiziellen Zusammenarbeit einerseits und die Prävention der internationalen Wirtschaftskriminalität auf Gemeinschaftsebene andererseits.

* Die Europäische Staatsanwaltschaft hätte die Aufgabe, Be- und Entlastungsmaterial zu sammeln, damit zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften gegebenenfalls Strafverfolgungsmaßnahmen gegen die Urheber gemeinsam definierter Zuwiderhandlungen eingeleitet werden können [58]. Sie sollte also mit der Leitung und Koordinierung der Strafverfolgungsmaßnahmen beauftragt werden [59]. Die Europäische Staatsanwaltschaft besäße eine spezielle Zuständigkeit, die Vorrang vor den Zuständigkeiten der nationalen Strafverfolgungsbehörden hätte, aber dennoch mit diesen verzahnt wäre, um Überschneidungen zu vermeiden [60].

[58] Siehe Kapitel 5 (Materielles Strafrecht).

[59] Dieser Grundsatz, der im Rahmen des Gemeinschaftsrechts eine Neuerung darstellt, ist in der internationalen Rechtsordnung bereits fest verankert. Das am 17.7.1998 in Rom angenommene Statut des Internationalen Strafgerichtshofs sieht eine internationale Staatsanwaltschaft vor, die zum Zweck der strafrechtlichen Verfolgung auf dem Hoheitsgebiet der Vertragsstaaten mit Ermittlungsbefugnissen ausgestattet ist. Die fünfzehn Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben diese Übereinkunft unterzeichnet und der Rat hat in seinem gemeinsamen Standpunkt vom 11.6.2001 zum Internationalen Strafgerichtshof (JO L 155 du 12.6.2001 p. 19) sein Interesse an deren baldigen Inkrafttreten bekundet.

[60] Siehe 6.2.2.2 für die "gemischten" Rechtssachen.

* Die Europäische Staatsanwaltschaft würde mit Unterstützung der Ermittlungsbehörden (Polizei) die Leitung der Ermittlungen in den in ihre Zuständigkeit fallenden Angelegenheiten übernehmen [61]. Sie würde es ermöglichen, die richterliche Kontrolle der innerhalb der europäischen Organe und Einrichtungen durchgeführten Ermittlungen zu verstärken [62].

[61] Siehe 6.2.3.2 (Arbeitsbeziehung zu den nationalen Ermittlungsstellen).

[62] Siehe 7.3 (Künftige Rolle des OLAF).

* Die unter der Aufsicht der Europäischen Staatsanwaltschaft vorgenommenen Handlungen sollten, wenn sie die individuellen Freiheiten und Grundrechte berühren, der Kontrolle des nationalen Richters, der die Funktion eines Richters in der Ermittlungsphase hat, unterworfen sein [63]. Die in einem Mitgliedstaat ausgeübte Kontrolle würde in der gesamten Gemeinschaft anerkannt, sodass die genehmigten Handlungen in allen Mitgliedstaaten durchgeführt und alle Beweise in allen Mitgliedstaaten zulässig wären.

[63] Siehe 6.4 (Gewährleistung der richterlichen Kontrolle).

* Die Europäische Staatsanwaltschaft wäre befugt, unter richterlicher Kontrolle gegen die Straftäter Anklage vor einem nationalen Gericht zu erheben [64].

[64] Siehe 6.3.1 (Wahl des Mitgliedstaats für die Anklageerhebung).

* Der Europäische Staatsanwalt sollte während des Prozesses Anklage vor den nationalen Gerichten erheben, um die finanziellen Interessen der Gemeinschaften zu schützen. Die Kommission hält es für wichtig, dass die Entscheidungsfunktion der Strafjustiz auf der nationalen Ebene angesiedelt bleibt. Es ist nicht beabsichtigt, ein gemeinschaftliches Justizorgan zu schaffen, das in der Sache entscheidet [65].

[65] siehe 6.3.2 (Anklageerhebung).

3.2.2. Eine harmonische Einbindung in die nationalen Strafrechtsordnungen

Die nationalen Strafjustizsysteme bilden den Eckstein des strafrechtlichen Schutzes gegen transnationale Kriminalität und sind daher unerlässlich. Mit der vorgeschlagenen Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft soll lediglich eine bestimmte Lücke geschlossen werden. Es ist keinesfalls geplant, ein umfassendes und eigenständiges gemeinschaftliches Strafrechtssystem zu errichten.

Vielmehr geht es darum, ein zusätzliches Instrument einzuführen, das sich durch die Einsetzung abgeordneter Europäischer Staatsanwälte in den Mitgliedstaaten (siehe folgendes Kapitel) in die nationalen Rechtsordnungen einfügt und die nationalen Gerichte in die Lage versetzen soll, einen Teil der länderübergreifenden Kriminalität in einem Bereich strafrechtlich effektiv zu ahnden, in dem aufgrund der Integration (gemeinsame Mittel, Eigenmittel) einzelstaatliche Strafmaßnahmen immer weniger greifen. Auf diese Weise würden die einzelstaatlichen Gerichte als Vertreter des Gemeinschaftsrechts die in ihre nationale Rechtsordnung übernommenen Vorschriften auf diese besondere Kategorie von Straftatbeständen ebenso anwenden, wie sie es heute bereits in allen Bereichen des EG-Vertrags tun.

Eine zentral geleitete Strafverfolgung bedeutet keine Umwälzung der nationalen Justizsysteme. Zwischen den verschiedenen Rechtstraditionen in Europa ist seit mehreren Jahrzehnten eine deutliche Konvergenz festzustellen. In allen Mitgliedstaaten gibt es, aus dem gleichen Bedürfnis heraus, eine Ermittlungs- und eine Strafverfolgungsfunktion. Die Strukturen sind zwar nach wie vor unterschiedlich, haben sich aber angenähert. Für diese Konvergenz gibt es viele Gründe; doch verdankt sie sich in hohem Maße der Tatsache, dass für alle Mitgliedstaaten die in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Garantien für ein gerechtes Verfahren gelten. Das bestätigen die Arbeiten von Strafrechtlern aus sämtlichen kontinentaleuropäischen Strafrechtsordnungen und dem "common law" [66]. Der Vorschlag verfolgt allein das Ziel einer effizienteren Ausgestaltung der nationalen Strafrechtssysteme in einer mittlerweile absolut gemeinsamen Materie". Der Europäischen Staatsanwaltschaft würden also nicht so sehr bereits bestehende nationale Kompetenzen übertragen, sondern eher gemeinsame Zuständigkeiten zugewiesen.

[66] Siehe insbesondere La mise en oeuvre du Corpus juris dans les Etats Membres, Band I, S.42 ff: Diese Entwicklung hatte rechtlich eine deutlich größere Kompatibilität der nationalen Strafrechtsordnungen in Europa zur Folge. [...]. Die Quintessenz dessen ist der Vorschlag zur Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft, der den Grundsatz einer öffentlichen Anklage (nach der Inqusitionsmaxime) festschreibt, jedoch die Einschaltung eines Untersuchungsrichters ausschließt szugunsten eines "Richters im Ermittlungsverfahren", der die richterliche Kontrolle unparteiisch und neutral (nach dem Akkusationsprinzip)ausübt.

Allgemeine Frage: Wie beurteilen Sie die Grundzüge des Vorschlags zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft, insbesondere:

ihre (ausschließlich auf die finanzielle Dimension der Interessen der Gemeinschaft begrenzte) Zuständigkeit*

ihre Befugnisse*

ihre Einbindung in die nationalen Strafrechtsordnungen

4. Rechtsstellung und Struktur

Im Folgenden soll ausgeführt werden, wie die Rechtsstellung des Europäischen Staatsanwalts und die Struktur der Europäischen Staatsanwaltschaft beschaffen sein könnten. Unter der 'Europäischen Staatsanwaltschaft' ist die Institution als solche zu verstehen, an deren Spitze der Europäische Staatsanwalt steht (siehe 4.1). Es gilt somit zu unterscheiden zwischen der Institution 'Staatsanwaltschaft' mit ihrem Verwaltungspersonal (siehe 4.3) einerseits und dem Amt des Europäischen Staatsanwalts im Verhältnis zu den abgeordneten Europäischen Staatsanwälten andererseits (siehe 4.2).*

4.1. Rechtsstellung des Europäischen Staatsanwalts

Insoweit als der Europäische Staatsanwalt justizielle Befugnisse ausübt, muss er hierzu aufgrund seiner Rechtsstellung und insbesondere aufgrund der Voraussetzungen für seine Ernennung und gegebenenfalls für seine Amtsenthebung zur Ausübung seines Amts uneingeschränkt legitimiert sein.

4.1.1. Grundsatz der Unabhängigkeit

In Anlehnung an die Bestimmungen, die die Unabhängigkeit der Mitglieder des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften gewährleisten, hat die Kommission vorgeschlagen, folgenden Passus in den EG-Vertrag aufzunehmen: "Der Europäische Staatsanwalt wird unter Persönlichkeiten ausgewählt, die jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten und in ihrem Staat die für die Ausübung höchster richterlicher Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfuellen. Er darf bei der Erfuellung seiner Pflichten Weisungen weder anfordern noch entgegennehmen." [67]

[67] Artikel 280 a Absatz 2 (Entwurf).

Diese Unabhängigkeit ist ein wesentliches Merkmal des Amts des Europäischen Staatsanwalts. Sie ist insoweit gerechtfertigt, als es sich um ein spezielles Organ der Rechtspflege handelt. Seine Unabhängigkeit versteht sich sowohl gegenüber den Prozessparteien im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens [68] als auch gegenüber den Mitgliedstaaten und den Organen, Einrichtungen sowie Ämtern und Agenturen der Gemeinschaften.

[68] Siehe 6.2.1. (im Vorverfahren geltende Grundsätze).

Der Europäische Staatsanwalt muss hierzu anerkanntermaßen über die erforderliche Befähigung verfügen. Er hat seine Aufgaben unparteiisch wahrzunehmen und darf sich nur von der Sorge um die Wahrung von Recht und Gesetz leiten lassen.

4.1.2. Voraussetzungen für die Ernennung und Amtsenthebung

Sowohl bei der Ernennung als auch bei der eventuellen Amtsenthebung des Europäischen Staatsanwalts sind die Grundsätze der Unabhängigkeit und der Legitimität zu beachten.

4.1.2.1. Ernennung des Europäischen Staatsanwalts

Dem Vorschlag der Kommission zufolge soll der Europäische Staatsanwalt auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments vom Rat mit qualifizierter Mehrheit ernannt werden. [69] Dieses Verfahren lehnt sich an das im Vertrag von Nizza für die Ernennung der Kommission vorgesehene Verfahren an (qualifizierte Mehrheit im Rat und Abstimmung des Europäischen Parlaments). Damit dürfte die uneingeschränkte Legitimität des Europäischen Staatsanwalts gewährleistet sein.

[69] Artikel 280 a Absatz 1 (Entwurf).

Das Vorschlagsrecht der Kommission bei der Ernennung des Europäischen Staatsanwalts folgt aus ihrer besonderen Verantwortung für den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft.

Die Kommission hat ferner eine nicht verlängerbare Amtszeit von sechs Jahren vorgeschlagen. [70] Die Amtszeit des Europäischen Staatsanwalts wäre damit länger als die Legislaturperiode des Europäischen Parlaments oder die Amtszeit der Kommission. Die Nichtverlängerbarkeit der Amtszeit des Europäischen Staatsanwalts bietet eine zuverlässige Gewähr für seine Unabhängigkeit. [71]

[70] Artikel 280 a Absatz 1 (Entwurf).

[71] Aus denselben Gründen wurde die Amtszeit des Anklägers beim Internationalen Strafgerichtshof auf 9 Jahre festgesetzt ohne Verlängerungsmöglichkeit (Artikel 42 Statut des Internationalen Strafgerichtshofs).

Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob das Statut der Beamten und sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften auch für den Europäischen Staatsanwalt gelten sollte.

4.1.2.2. Amtsenthebung und sonstige Umstände, die die Tätigkeit des Europäischen Staatsanwalts beenden

Dem Vorschlag der Kommission zufolge haftet der Europäische Staatsanwalt für schwere Verfehlungen während der Ausübung seines Amts. Die Voraussetzungen für eine etwaige disziplinarische Amtsenthebung müssen allerdings der Unabhängigkeit des Europäischen Staatsanwalts Rechnung tragen. Die Amtsenthebung darf deshalb nur von einem auf Gemeinschaftsebene angesiedelten Gericht, d. h. vom EuGH, angeordnet werden.

Im Entwurf des Artikels 280 a EG-Vertrag heißt es dementsprechend: "Er kann auf Antrag des Parlaments, des Rats oder der Kommission vom Gerichtshof seines Amtes enthoben werden, wenn er die Voraussetzungen für die Ausübung seines Amtes nicht mehr erfuellt oder eine schwere Verfehlung begangen hat." [72]

[72] Artikel 280 a Absatz 2 (Entwurf).

Im Statut der Europäischen Staatsanwaltschaft sollten darüber hinaus drei weitere Umstände vorgesehen werden, die das Amt des Europäischen Staatsanwalts beenden: Tod, Rücktritt auf Wunsch des Europäischen Staatsanwalts und Ablauf der Amtsdauer.

4.1.3. Der Europäische Staatsanwalt als Dienstherr

Der Europäische Staatsanwalt steht der Europäischen Staatsanwaltschaft vor. Er leitet und koordiniert die Ermittlungen und Strafverfolgung bei allen in seine Zuständigkeit fallenden Vergehen im gesamten zu diesem Zweck definierten gemeinsamen Rechtsraum.

Ausdruck seiner Stellung als Dienstherr ist die Befugnis zur internen Organisation seines Dienstes, die Weisungsbefugnis gegenüber den abgeordneten Europäischen Staatsanwälten sowie die Vorgabe von Handlungsdirektiven für Ermittlungen und für die Strafverfolgung in den vom Gemeinschaftsgesetzgeber festgelegten Grenzen. [73]

[73] Siehe 6.2.2.1 (Legalitäts- oder Opportunitätsprinzip in der Strafverfolgung).

4.2. Dezentrale Struktur der Europäischen Staatsanwaltschaft

Die Aufgaben der Europäischen Staatsanwaltschaft werden zum einen vom Europäischen Staatsanwalt wahrgenommen, der ein Mindestmaß der erforderlichen Tätigkeiten auf Gemeinschaftsebene zentralisiert, und zum anderen von abgeordneten Europäischen Staatsanwälten, die den einzelstaatlichen Rechtsordnungen angehören und die Anklage vertreten.

4.2.1. Grundsatz der dezentralen Organisation der abgeordneten Europäischen Staatsanwälte

Im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip schlägt die Kommission eine dezentrale Organisation der Europäischen Staatsanwaltschaft vor, um deren Tätigkeit ohne Reibungsverluste in die innerstaatlichen Rechtsordnungen zu integrieren. Die Europäische Staatsanwaltschaft stützt sich hierzu in den Mitgliedstaaten auf abgeordnete Europäische Staatsanwälte, die als Bindeglieder zwischen der Gemeinschaftsrechtsordnung und den einzelstaatlichen Rechtsordnungen dienen. [74]

[74] KOM (2000) 608.

4.2.1.1. Rechtsstellung der abgeordneten Europäischen Staatsanwälte

In jedem Mitgliedstaat werden je nach Arbeitsanfall und entsprechend dem Aufbau der innerstaatlichen Gerichtsbarkeit ein oder mehrere abgeordnete Europäische Staatsanwälte eingesetzt. Diese werden vom Europäischen Staatsanwalt auf Vorschlag des Herkunftsmitgliedstaats unter den nationalen Beamten ausgewählt, die in ihrem Mitgliedstaat mit der Strafverfolgung betraut sind und einschlägige Erfahrungen nachweisen können. Je nach Mitgliedstaat können dies Staatsanwälte sein (ungeachtet ihrer Befähigung zur Ausübung eines Richteramts) oder, falls es in dem betreffenden Mitgliedstaat keine Staatsanwaltschaft gibt, Beamte, die mit den entsprechenden Aufgaben betraut worden sind.

Für die abgeordneten Europäischen Staatsanwälte ist ein eigenes Statut nicht unbedingt erforderlich. Für deren Einstellung, Ernennung, Beförderung, Vergütung, soziale Sicherheit und für sonstige personelle Angelegenheiten könnte weiterhin innerstaatliches Recht gelten. Nur in Bezug auf die Disziplinarordnung und ihre dienstrechtliche Stellung ergeben sich für die Dauer ihres Mandats die nachstehend erläuterten Änderungen. Diese Lösung dürfte sich am wenigsten auf das Recht der Mitgliedstaaten auswirken. Auf jeden Fall ist die statutarische Stellung der abgeordneten Europäischen Staatsanwälte im Benehmen mit den Mitgliedstaaten zu prüfen, damit insbesondere gewährleistet ist, dass sie ihr Amt in voller Abhängigkeit wahrnehmen können.

Die abgeordneten Europäischen Staatsanwälte üben ihr Amt befristet aus. Im Unterschied zum Europäischen Staatsanwalt ist ihre Amtszeit jedoch verlängerbar, um der Verfügbarkeit der in den Mitgliedstaaten für dieses Amt in Frage kommenden Personen Rechnung zu tragen. Auf diese Weise wird eine fachliche Spezialisierung im Bereich der Finanzinteressen der Gemeinschaft ermöglicht und gleichzeitig die Gewähr geboten, dass diese Personen im innerstaatlichen Strafverfahrensrecht auf dem neuesten Stand sind.

Was die mögliche Kumulierung dieses europäischen Mandats mit einem innerstaatlichen Amt anbelangt, so gibt es mehrere Lösungsansätze.

Erste Möglichkeit: Das Mandat der abgeordneten Europäischen Staatsanwälte schließt jede andere Tätigkeit aus. Damit wären eine umfassende fachliche Spezialisierung und effizientes Arbeiten gewährleistet. Außerdem könnten auf diese Weise alle Interessen- und Prioritätskonflikte im Strafrechtsbereich von vornherein ausgeschlossen werden.

Zweite Möglichkeit: Die abgeordneten Europäischen Staatsanwälte befassen sich in erster Linie mit der Verfolgung von Straftaten, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft richten, und gehen - subsidiär - ihrer gewohnten Tätigkeit nach. Im Falle eines Interessenkonflikts zwischen ihren beiden Ämtern würde das Gemeinschaftsinteresse vorgehen. Diese Lösung hat den Vorteil, dass die Strafverfolgung bei "gemischten" Fällen, bei denen sowohl Interessen der Gemeinschaft als auch der Mitgliedstaaten auf dem Spiel stehen (siehe weiter unten), einfacher ist. [75]

[75] Siehe 6.2.2.2 ("Gemischte" Fälle).

Dritte Möglichkeit: Die Wahl zwischen der ersten und der zweiten Möglichkeit könnte den Mitgliedstaaten freigestellt werden.

Für Verfehlungen, die abgeordnete Europäische Staatsanwälte bei oder anlässlich der Ausübung ihres Amts begehen, sollten sie sich wie der Europäische Staatsanwalt selbst vor dem EuGH als Disziplinargericht verantworten müssen. [76] Als Leiter der Europäischen Staatsanwaltschaft sollte der Europäische Staatsanwalt allerdings auch selbst Disziplinargewalt ausüben können. Als schwerste Disziplinarstrafe sollte bei einem abgeordneten Europäischen Staatsanwalt der Entzug seines europäischen Mandats vorgesehen werden.

[76] Siehe 4.1.2.2 (Amtsenthebung).

Im Falle der Ämterkumulierung unterlägen die abgeordneten Europäischen Staatsanwälte für ihr nationales Amt weiterhin der innerstaatlichen Disziplinarordnung, sofern ihre Unabhängigkeit garantiert ist. Das Verhältnis zwischen der nationalen und der gemeinschaftsrechtlichen Disziplinarordnung wäre somit zu klären. Der Verlust des europäischen Mandats hätte aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht keine Auswirkungen auf das nationale Mandat des abgeordneten Europäischen Staatsanwalt. Anders wäre es hingegen, wenn der abgeordnete Europäische Staatsanwalt seines nationalen Amts enthoben würde, da er dann die Voraussetzungen für die Ausübung seines europäischen Mandats nicht mehr erfuellen würde und ihm dieses Mandat somit automatisch entzogen würde.

4.2.1.2. Funktion der abgeordneten Europäischen Staatsanwälte

Die vom Europäischen Staatsanwalt bevollmächtigten abgeordneten Europäischen Staatsanwälte erfuellen eine wesentliche Funktion, da sie aufgrund ihrer Bevollmächtigung durch den Europäischen Staatsanwalt jede Handlung vornehmen dürfen, zu der der Europäische Staatsanwalt selbst berechtigt ist. In der Praxis dürften sie als Ausführungsorgan der Europäischen Staatsanwaltschaft auftreten, da ihnen in den meisten Fällen die konkrete Wahrnehmung der Ermittlungs- und Strafverfolgungsbefugnisse obliegen würde.

Der Einsatzbereich der abgeordneten Europäischen Staatsanwälte erstreckt sich selbstverständlich auf ihren Herkunftsmitgliedstaat. Der Europäische Staatsanwalt könnte sie jedoch anweisen, im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats in Zusammenarbeit mit dem dortigen abgeordneten Europäischen Staatsanwalt tätig zu werden. Die abgeordneten Europäischen Staatsanwälte würden auf diese Weise dazu angehalten, einander Amtshilfe zu leisten.

Die dezentrale Struktur entspricht dem Konzept, das schon bei der Vernetzung der justiziellen Ressourcen der Mitgliedstaaten (Verbindungsrichter und -staatsanwälte, Europäisches Justizielles Netz usw.) [77] zugrunde gelegt wurde. Weit davon entfernt, eine autonome Gemeinschaftsorganisation schaffen zu wollen, soll im Sinne der Gemeinschaftsintegration auf die justiziellen Ressourcen der Mitgliedstaaten zurückgegriffen werden.

[77] Siehe 7.2 (Akteure auf Ebene der Europäischen Union).

4.2.2. Grundsatz der Weisungsgebundenheit gegenüber dem Europäischen Staatsanwalt

Der Europäische Staatsanwalt sollte im Interesse eines kohärenten, einheitlichen Vorgehens weisungsbefugt sein. Als Leiter der Europäischen Staatsanwaltschaft obliegt ihm die Lenkung und Koordinierung des Einsatzes der abgeordneten Staatsanwälte entsprechend den erforderlichen Ermittlungs- und Strafverfolgungsmaßnahmen. Die abgeordneten Staatsanwälte sind für die Dauer ihres Mandats der Europäischen Staatsanwaltschaft unterstellt - je nach der oben gewählten Möglichkeit ausschließlich oder zusätzlich zu der für sie zuständigen Staatsanwaltschaft ihres Herkunftsmitgliedstaats - und haben den allgemeinen und speziellen Weisungen des Europäischen Staatsanwalts Folge zu leisten. Soweit es um den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft geht, dürfen sie keine Weisungen ihrer Heimatbehörden entgegennehmen.

Die Europäische Staatsanwaltschaft hat nach Auffassung der Kommission ähnlich den einzelstaatlichen Staatsanwaltschaften nach dem Grundsatz der Unteilbarkeit zu handeln, d. h. Handlungen eines abgeordneten Staatsanwalts binden die gesamte Europäische Staatsanwaltschaft. Jeder abgeordnete Europäische Staatsanwalt wird vom Europäischen Staatsanwalt ausdrücklich hierzu ermächtigt. Die der Aufsicht des Europäischen Staatsanwalts unterstehenden abgeordneten Europäischen Staatsanwälte wären damit rechtlich gesehen austauschbar.

Frage 1: Was halten Sie von der vorgeschlagenen Struktur und Organisation der Europäischen Staatsanwaltschaft* Sollten die abgeordneten Europäischen Staatsanwälte ausschließlich ihr europäisches Mandat wahrnehmen, oder kann dieses Mandat mit dem innerstaatlichen Amt kumuliert werden*

4.3. Materielle und finanzielle Ausstattung der Europäischen Staatsanwaltschaft

Das Statut der Europäischen Staatsanwaltschaft, d. h. insbesondere die Regelung ganz konkreter Fragen wie Budget, Personal usw., würde nach dem Verfahren des Artikels 251 EG-Vertrag durch eine sekundärrechtliche EG-Regelung (qualifizierte Mehrheit im Rat und Mitentscheidung des Europäischen Parlaments) festgelegt.

Angesichts der dezentralen Struktur der Europäischen Staatsanwaltschaft sollte sich die Organisation dieser neuen Einrichtung am Sitzort auf das für ihr reibungsloses Funktionieren erforderliche Minimum beschränken. Die zentralen Dienststellen der Europäischen Staatsanwaltschaft sollten im Vergleich zu den Dienststellen der abgeordneten Europäischen Staatsanwälte, auf die sich der Großteil des Personals sowie der materiellen und finanziellen Ausstattung konzentrieren sollte, schlank aufgebaut sein. Nicht zuletzt dürften auch die Synergien mit den auf nationaler Ebene bereits vorhandenen Mitteln zur Effizienz der neuen Einrichtung beitragen.

Dem Europäischen Staatsanwalt sollte die volle Dienstaufsicht über die Verwaltung des Personals und der Betriebsmittel am Sitz der Europäischen Staatsanwaltschaft übertragen werden. Bei diesen Aufgaben sollte er von einem oder mehreren Stellvertretern unterstützt werden. [78]

[78] Das Personal der Anklagebehörde beim Internationalen Gerichtshof wird vom Ankläger mit Unterstützung eines oder mehrerer Stellvertreter eingestellt, ernannt und verwaltet (Artikel 42 und 44 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs).

Die Europäische Staatsanwaltschaft sollte über ein eigenes Budget verfügen, das in den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften eingesetzt wird. Dieses Budget sollte völlig unabhängig vom Europäischen Staatsanwalt nach Maßgabe der EG-Verträge und der zu ihrer Durchführung erlassenen Haushaltsordnung verwaltet werden. Die abgeordneten Europäischen Staatsanwälte, die ihre nationale Rechtsstellung behalten, würden ihre Bezüge weiterhin von ihrem Mitgliedstaat erhalten. Der den Mitgliedstaaten eventuell zusätzlich entstehende Aufwand für den Betrieb der Europäischen Staatsanwaltschaft könnte aus dem Budget des Europäischen Staatsanwalts bestritten werden.

Für die Einstellung, Ernennung und Verwaltung des Personals der Europäischen Staatsanwaltschaft am Sitzort wäre der Europäische Staatsanwalt zuständig, während das in den Mitgliedstaaten tätige Personal von dem betreffenden Mitgliedstaat nach dessen eigenen Vorschriften beschäftigt würde. Der Europäische Staatsanwalt würde seine dienstrechtlichen Befugnisse im Einklang mit den einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften, insbesondere dem Statut der Beamten und sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften, ausüben.

Der Sitz des Europäischen Staatsanwalts sollte nach den für Einrichtungen der Gemeinschaft geltenden Verfahren bestimmt werden, während sich die Dienststellen der abgeordneten Europäischen Staatsanwälte nach Ermessen der Mitgliedstaaten in den Hauptstädten des jeweiligen Landes oder der jeweiligen Region oder an einem anderen Ort befinden könnten, der sich aufgrund des Sitzorts der zuständigen einzelstaatlichen Gerichte für die praktische Ausübung ihrer Tätigkeit anbieten würde.

5. Materielles Strafrecht

Die Kommission hat vorgeschlagen, im EG-Vertrag festzuschreiben, dass der Rat im Verfahren der Mitentscheidung mit dem Europäischen Parlament "die Bedingungen für die Ausübung des Amts des Europäischen Staatsanwalts fest[legt] und [...] insbesondere (a) Vorschriften zur Festlegung der Tatbestandsmerkmale von Betrug und jeder anderen rechtwidrigen Handlung, die gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft gerichtet ist, sowie der Strafen für alle Straftatbestände [erlässt];".

Zur Definition dieser Straftatbestände (siehe 5.2) und der entsprechenden Sanktionen (siehe 5.3) sind spezifische Vorschriften erforderlich. Ob für das reibungslose Funktionieren der Europäischen Staatsanwaltschaft allgemeinere materiellrechtliche Bestimmungen zur Regelung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit (siehe 5.4) oder der Verjährung (siehe 5.5) zweckmäßig sind, sollte unvoreingenommen geprüft werden. Für jeden dieser Regelungsbereiche ist zu entscheiden, welche Rechtsetzungsmethode am besten geeignet ist (siehe 5.1).

5.1. Wahl der Rechtsetzungsmethode: Eigenständiges Gemeinschaftsrecht oder Harmonisierung des einzelstaatlichen Rechts

Nach Auffassung der Kommission ist eine Vereinheitlichung des einzelstaatlichen Strafrechts für den Aufbau eines gemeinsamen Raums der Strafverfolgung im speziellen Bereich des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaften nicht erforderlich.

Zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben benötigt die Europäische Staatsanwaltschaft materiellrechtliche Regeln, wie sie von den einzelstaatlichen Strafverfolgungsbehörden angewandt werden.

Diese Regeln lassen sich theoretisch auf verschiedene Art und Weise bestimmen:

- durch einfachen Verweis auf das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten (ohne jede Harmonisierung)

- durch eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Teilharmonisierung bestimmter einzelstaatlicher Regelungen, ergänzt durch einen Verweis auf das innerstaatliche Recht

- durch eine vollständige Harmonisierung bestimmter einzelstaatlicher Regelungen, bei der das Gemeinschaftsrecht an die Stelle des einzelstaatlichen Rechts tritt

- durch die Schaffung eines vom Recht der Mitgliedstaaten unabhängigen europäischen Strafrechts.

Praktisch wurde bislang bei den Vorschriften zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften eine je nach den Bereichen mehr oder weniger weitgehende Harmonisierung angestrebt. Als Beispiele seien genannt das Übereinkommen vom 26. Juli 1995 und seine Zusatzprotokolle sowie der bereits erwähnte Richtlinienvorschlag vom 23. Mai 2001.

Die Frage, wie das für die Arbeit der Europäischen Staatsanwaltschaft notwendige gemeinsame materielle Recht am besten festgelegt werden kann, stellt sich im Rahmen dieses Grünbuchs unter neuen Vorzeichen.

Allgemein gilt es, zwei unterschiedliche Herangehensweisen miteinander in Einklang zu bringen. Auf der einen Seite steht die vollständige Harmonisierung oder gar die Neuschöpfung eines europäischen Strafrechts. Je einheitlicher das materielle Recht, um so leichter die Arbeit der Europäischen Staatsanwaltschaft. Außerdem wäre auf diese Weise die vom EG-Vertrag verlangte Gleichwertigkeit des Rechtsschutzes innerhalb der Gemeinschaft gewährleistet. Durch den einfacheren Zugang zum Recht würde sich zudem für die Betroffenen die Rechtssicherheit erhöhen. Dieser Ansatz lässt sich jedoch nur rechtfertigen, soweit er im Verhältnis zum angestrebten Ziel steht, d. h. zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft. Er ist um so überzeugender, als er sich auf die Bereiche bezieht, für die die Europäische Staatsanwaltschaft zuständig ist, z. B. Definition der Tatbestandsmerkmale von Vergehen, die in die Zuständigkeit des Europäischen Staatsanwalts fallen, oder Festsetzung der Verjährungsfristen.

Die zweite Methode besteht im vollständigen oder teilweisen Verweis auf das einzelstaatliche Recht. Dieses Verfahren dürfte sich am besten für die Festlegung allgemeiner Bestimmungen eignen, die über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft hinausgehen, wenn sich auch auf diese Weise die unterschiedlichen Vorgehensweisen zur Sicherstellung eines gleichwertigen Schutzes innerhalb der Gemeinschaft nicht vereinheitlichen lassen. Interferenzen mit den einzelstaatlichen Rechtsordnungen lassen sich jedoch in dem Maße vermeiden, in dem der Europäische Staatsanwalt gehalten ist, das Recht des Mitgliedstaats zu beachten, in dem er tätig ist.

Eine harmonische Anwendung beider Herangehensweisen setzt voraus, dass für jeden Bereich des materiellen Strafrechts entschieden wird, welche Bestimmungen Gegenstand einer eigenständigen gemeinschaftsrechtlichen Regelung oder einer Harmonisierung sein sollen. Im letzteren Fall wäre noch der Grad der Harmonisierung festzulegen. Auf diese Fragen wird im Folgenden näher eingegangen.

Die Verfasser des Corpus Juris haben sich für eine stärkere Strafrechtsangleichung ausgesprochen. Nach Auffassung der Kommission sollte die Harmonisierung allerdings in einem angemessenen Verhältnis zum angestrebten Ziel - dem strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft - erfolgen und je nach Bereich (siehe 5.2 bis 5.5) differenziert werden.

Zu bedenken ist auch, dass die Europäische Staatsanwaltschaft keine statische Einrichtung ist, sondern auf Entwicklung hin angelegt ist. Auf der Grundlage dieses Grünbuchs sollen zunächst die Mindestvoraussetzungen für das reibungslose Funktionieren der Europäischen Staatsanwaltschaft erörtert werden. Die Erfahrung wird nach Festlegung und Anwendung gemeinsamer Grundvorschriften zeigen, ob diese einer Ergänzung bedürfen.

Die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Strafrechtssystemen dürften sich allerdings in dem Maße verwischen, in dem die Arbeiten zum Aufbau des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts vorankommen, was wiederum die Tätigkeit des Europäischen Staatsanwalts erleichtern wird. Die Zuversicht, mit der sich die Kommission für das Harmonisierungskonzept ausspricht, findet hier ihre Grundlage, denn die für die Europäische Staatsanwaltschaft vorgeschlagene Harmonisierung in speziellen Rechtsbereichen wird durch die allgemeine Entwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen unter dem Einfluss des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung ergänzt.

5.2. Gemeinsame Straftatbestände

Bei der Definition der Straftatbestände neigt die Kommission dazu, einem hohen Harmonisierungsgrad den Vorzug geben, der ihrem Richtlinienvorschlag vom 23. Mai 2001 entspricht oder darüber hinausgeht.

Nach dem Gesetzlichkeitsprinzip darf der Europäische Staatsanwalt nur bestimmte, genau festgelegte Straftaten verfolgen. Da der Europäische Staatsanwalt für das gesamte Gemeinschaftsgebiet zuständig ist, erscheint eine einheitliche Definition der Straftatbestände für die Ausübung seines Amts somit unabdingbar.

In Anbetracht des besonderen Auftrags des Europäischen Staatsanwalts sollten sich die gemeinsamen Straftatbestände ausschließlich auf den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft richten, auch wenn darüber hinaus weitere Straftatbestände denkbar wären (siehe 5.2.3). Über manche Straftatbestände haben sich die Mitgliedstaaten bereits verständigt (siehe 5.2.1). Darüber hinaus könnte nach dem Vorbild des Corpus Juris die Aufnahme weiterer Straftatbestände in Erwägung gezogen werden (siehe 5.2.2).

5.2.1. Gegen den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft gerichtete Straftatbestände, über die sich die Mitgliedstaaten bereits verständigt haben

Zwischen den Mitgliedstaaten besteht bereits eine grundlegende Einigung über das, was einmal der Kern eines materiellen Strafrechts in diesem speziellen Bereich werden könnte. Die materiellrechtlichen Bestimmungen des Brüsseler Übereinkommens vom 26. Juli 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und seiner Zusatzprotokolle, [79] die vollständig in den Richtlinienvorschlag vom 23. Mai 2001 [80] übernommen worden sind, sind als Referenz für die Definition der Straftatbestände, die in die Zuständigkeit des Europäischen Staatsanwalts fallen könnten, unverzichtbar. Im einzelnen geht es um die Straftatbestände Betrug, Bestechlichkeit und Bestechung und die damit verbundene Geldwäsche.

[79] ABl. C 316 vom 27.11.1995. S. 48; ABl. C 313 vom 23.10.1996, S. 1; ABl. C 221 vom 19.7.1997, S. 11; ABl. C 151 vom 20.5.1997, S. 1. Siehe auch die erläuternden Berichte zum Übereinkommen (ABl. C 191 vom 23.6.1997, S. 1) und zum Zweiten Protokoll (ABl. C 91 vom 31.3.1999, S. 8).

[80] KOM (2001) 272.

5.2.1.1. Betrug

Artikel 3 des vorerwähnten Richtlinienvorschlags, der die Bestimmungen von Artikel 1 des Übereinkommens vom 26. Juli 1995 übernimmt, definiert den Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften im Zusammenhang mit Ausgaben als "jede vorsätzliche Handlung oder Unterlassung betreffend die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften oder aus den Haushalten, die von den Europäischen Gemeinschaften oder in deren Auftrag verwaltet werden, unrechtmäßig erlangt oder zurückbehalten werden, das Verschweigen einer Information unter Verletzung einer spezifischen Pflicht mit derselben Folge, die missbräuchliche Verwendung solcher Mittel zu anderen Zwecken als denen, für die sie ursprünglich gewährt worden sind".

Dieselben Texte definieren den Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften im Zusammenhang mit Einnahmen als "jede vorsätzliche Handlung oder Unterlassung betreffend die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften oder aus den Haushalten, die von den Europäischen Gemeinschaften oder in deren Auftrag verwaltet werden, rechtswidrig vermindert werden, das Verschweigen einer Information unter Verletzung einer spezifischen Pflicht mit derselben Folge, die missbräuchliche Verwendung eines rechtmäßig erlangten Vorteils mit derselben Folge".

Solche Handlungen müssen entweder als selbständige Straftat, als Beihilfe oder Anstiftung dazu oder als Versuch strafbar sein.

Darüber hinaus könnte die Definition für Ausgaben und Einnahmen zusammengefasst und erweitert werden. In Anlehnung an den Corpus Juris könnte beispielsweise für den Betrugstatbestand unabhängig von seinem Gegenstand, d. h. unabhängig davon, ob es sich um Ausgaben oder Einnahmen der Gemeinschaften handelt, eine einheitliche Definition vorgesehen werden. [81] Die Straftat könnte zudem als Gefährdungsdelikt ausgestaltet werden, um zu vermeiden, dass der Erfolg der Verletzungshandlung Voraussetzung für die Strafverfolgung ist. Ferner könnte zusätzlich zum Tatbestandsmerkmal Vorsatz als Strafbarkeitsvoraussetzung auch grobe Fahrlässigkeit berücksichtigt werden.

[81] Artikel 1 Corpus Juris.

5.2.1.2. Bestechlichkeit und Bestechung

Gemäß Artikel 4 Absatz 1 des Richtlinienvorschlags, der die Bestimmungen von Artikel 2 des Protokolls vom 27. September 1996 zum Übereinkommen von 1995 übernimmt, [82] ist der Tatbestand der Bestechlichkeit dann gegeben, "wenn ein Beamter vorsätzlich unmittelbar oder über eine Mittelsperson für sich oder für einen Dritten Vorteile jedweder Art als Gegenleistung dafür fordert, annimmt oder sich versprechen lässt, dass er unter Verletzung seiner Dienstpflichten eine Diensthandlung oder eine Handlung bei der Ausübung seines Dienstes vornimmt oder unterlässt, wodurch die finanziellen Interessen der Gemeinschaft geschädigt werden oder geschädigt werden können."

[82] Der Begriff des Beamten ist in Artikel 2 des Richtlinienvorschlags definiert, der wiederum auf Artikel 1 des Protokolls vom 27. September 1996 zum Übereinkommen von 1995 zurückgreift.

Der Tatbestand der Bestechung hingegen liegt nach Artikel 4 Absatz 2 des Richtlinienvorschlags (wortgleich mit Artikel 3 des oben genannten Protokolls) dann vor, "wenn eine Person vorsätzlich einem Beamten unmittelbar oder über eine Mittelsperson einen Vorteil jedweder Art für ihn selbst oder für einen Dritten als Gegenleistung dafür verspricht oder gewährt, dass der Beamte unter Verletzung seiner Dienstpflichten eine Diensthandlung oder eine Handlung bei der Ausübung seines Dienstes vornimmt oder unterlässt, wodurch die finanziellen Interessen der Gemeinschaft geschädigt werden oder geschädigt werden können.

Passive und aktive Bestechungshandlungen müssen entweder als selbständige Straftat oder als Beihilfe oder Anstiftung dazu strafbar sein (Artikel 5 des vorgenannten Protokolls).

5.2.1.3. Geldwäsche

Artikel 6 des Richtlinienvorschlags, der Artikel 1 des Protokolls vom 19. Juni 1997 zum Übereinkommen von 1995 entspricht, verweist zur Definition der Geldwäsche im Zusammenhang mit Erträgen, die aus Betrug, zumindest in schweren Fällen, sowie aus Bestechung und Bestechlichkeit herrühren, auf den Geldwäschebegriff, wie er in der geänderten Richtlinie vom 10. Juni 1991 verwendet wird. [83]

[83] Artikel 1 dritter Gedankenstrich der geänderten Richtlinie 91/308/EWG des Rates vom 10. Juni 1991 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche (ABl. L 166 vom 28. 6. 1991, S. 77).

In dieser Richtlinie wird die Geldwäsche definiert als folgende vorsätzlich begangene Handlungen: "der Umtausch oder Transfer von Vermögensgegenständen in Kenntnis der Tatsache, dass diese Vermögensgegenstände aus einer kriminellen Tätigkeit oder der Teilnahme an einer solchen Tätigkeit stammen, zum Zwecke der Verheimlichung oder Verschleierung des illegalen Ursprungs der Vermögensgegenstände oder der Unterstützung von Personen, die an einer solchen Tätigkeit beteiligt sind, damit diese den Rechtsfolgen ihrer Tat entgehen," oder "das Verheimlichen oder Verschleiern der wahren Natur, Herkunft, Lage, Verfügung oder Bewegung von Vermögensgegenständen oder des tatsächlichen Eigentums an Vermögensgegenständen oder entsprechender Rechte in Kenntnis der Tatsache, dass diese Gegenstände aus einer kriminellen Tätigkeit oder aus der Teilnahme an einer solchen Tätigkeit stammen," oder "der Erwerb, der Besitz oder die Verwendung von Vermögensgegenständen, wenn dem Betreffenden bei der Übernahme dieser Vermögensgegenstände bekannt war, dass diese Gegenstände aus einer kriminellen Tätigkeit oder aus der Teilnahme an einer solchen Tätigkeit stammen". Der Tatbestand der Geldwäsche liegt überdies auch dann vor, wenn die Handlungen, die den Vermögensgegenständen zugrunde liegen, die Gegenstand der Geldwäsche sind, im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats oder in einem Drittland vorgenommen wurden.

Strafbar sind ferner die Beteiligung an einer der vorstehenden Handlungen, die Vereinigung zur Begehung der betreffenden Handlung, der Versuch sowie die Beihilfe, Anstiftung oder sonstige Unterstützung zur Begehung der Straftat.

5.2.2. Weitere gegen den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft gerichtete Straftatbestände

Die Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft bedeutet einen qualitativen Sprung auf dem Weg zur Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, so dass sich die hier angestellten Überlegungen nicht einfach auf die Fortschreibung des bisher Erreichten beschränken dürfen. Der Europäische Staatsanwalt sollte auch für die Verfolgung anderer Straftaten (wie unten ausgeführt) zuständig sein, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaften richten.

Bei der Definition der gemeinsamen Straftatbestände könnten die Ergebnisse, die im Rahmen der "dritten Säule" des EG-Vertrags (Justiz und Inneres) erzielt worden sind, und die Vorschläge des Corpus Juris herangezogen werden, um die vorstehenden Straftatbestände weiter auszugestalten oder durch neue Bestimmungen zu ergänzen. Die Kommission hält diesen Ansatz für sehr interessant.

5.2.2.1. Ausschreibungsbetrug

Die Aufnahme des Ausschreibungsbetrugs als Straftatbestand erscheint zweckmäßig angesichts der hohen Geldbeträge, die auf dem Spiel stehen, und den in mehreren Mitgliedstaaten festgestellten Regelungslücken. [84] Der Betrugstatbestand als solcher erweist sich hier als wenig hilfreich, da der materielle Schaden nur schwer nachzuweisen ist.

[84] La mise en oeuvre du Corpus juris dans les États membres, Bd. 1, Teil II, Kapitel 1, I-2.

Als gemeinsamer Straftatbestand ausgestaltet werden könnte daher der Umstand, dass die Vergabestelle mit Mitteln, die gegen die gemeinschaftsrechtlichen Vergabevorschriften verstossen (z.B. eine rechtswidrige Vereinbarung), zur Annahme eines bestimmten Angebots, das die finanziellen Interessen der Gemeinschaften schädigt oder schädigen könnte, bewegt wird, oder dass der entsprechende Versuch unternommen wird.

5.2.2.2. Kriminelle Vereinigung

Wie Untersuchungen der Kommission und der Mitgliedstaaten seit mehreren Jahren zeigen, geht die Schädigung der finanziellen Interessen der Gemeinschaft sehr häufig auf das Konto der organisierten Kriminalität. Es könnte sich daher als wichtig erweisen, die Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung gesondert zu erfassen, um auf diese Weise der Begehung anderer auf Gemeinschaftsebene definierter Straftaten vorzubeugen. [85]

[85] Siehe insbesondere Artikel 4 Corpus Juris.

Um die Machenschaften derjenigen verfolgen zu können, die eine Schädigung der finanziellen Interessen der Gemeinschaften planen und sich in organisierter Form hierzu die geeigneten Mittel verschaffen, bräuchte nicht abgewartet zu werden, bis ein finanzieller Schaden eingetreten ist. Ein solcher Straftatbestand könnte überdies zur Aufdeckung einer kriminellen Vereinigung bis hin zu ihren führenden Köpfen beitragen. Auf diese Weise könnte der vom Europäischen Rat in Tampere zum Ausdruck gebrachte Wille, "entschieden für eine Verstärkung des Kampfes gegen schwere organisierte und grenzüberschreitende Kriminalität ein[zutreten]", [86] in einem bestimmten Bereich konkrete Gestalt annehmen.

[86] Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Ziff. 40.

Die Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, unter der ein auf längere Dauer angelegter organisierter Zusammenschluss von mindestens drei Personen mit dem Ziel zu verstehen ist, gemeinsam Straftaten wie Betrug, Korruption, Geldwäsche oder andere auf Gemeinschaftsebene definierte Straftaten zu begehen, könnte entweder als eigener Straftatbestand oder als strafverschärfender Umstand der bisher aufgeführten gemeinsamen Straftatbestände eingeführt werden. [87]

[87] Gemeinsame Maßnahme vom 21. Dezember 1998 - vom Rat aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union angenommen - betreffend die Strafbarkeit der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. L 351 vom 29.12.1998).

5.2.2.3. Missbrauch von Amtsbefugnissen

Eine Schädigung der finanziellen Interessen der Gemeinschaft durch Beamte bedeutet nicht immer, dass letzteren hieraus ein Vorteil erwächst wie bei den Korruptionstatbeständen. Deshalb könnte die Aufnahme des allgemeineren, subsidiären Straftatbestands des Amtsmissbrauchs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaften ins Auge gefasst werden. [88]

[88] Siehe insbesondere Artikel 7 Corpus Juris.

Der Umstand, dass ein Beamter, der mit der Verwaltung der finanziellen Interessen der Gemeinschaften betraut worden ist, diese vorsätzlich unter Missbrauch der ihm hierzu übertragenen Befugnisse schädigt, würde demnach als Straftatbestand ausgestaltet.

5.2.2.4. Verletzung des Dienstgeheimnisses

In der Begründung des Vertragsentwurfs von 1976 zur Regelung der Verantwortlichkeit und des Schutzes der Beamten und sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften auf dem Gebiet des Strafrechts wies die Kommission bereits darauf hin, dass weder die einzelstaatlichen Behörden noch private Einrichtungen vertrauliche Informationen, die für die Gemeinschaften von Nutzen sind, mit der Begründung zurückhalten dürfen, dass die Preisgabe von Dienstgeheimnissen strafrechtlich nicht verfolgt wird. [89]

[89] Entwurf für einen Vertrag zur Änderung des Vertrages zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften zwecks gemeinsamer Regelung der Verantwortlichkeit und des Schutzes der Beamten und sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften auf dem Gebiet des Strafrechts, ABl. C 222 vom 22.9.1976 (inzwischen zurückgezogen).

Als gemeinschaftsrechtlicher Straftatbestand könnte daher die Verletzung eines Dienstgeheimnisses durch einen Amtsträger definiert werden, der eine in Ausübung oder aufgrund seiner dienstlichen Tätigkeit erlangte Information offenbart, wenn durch diese Offenbarung die finanziellen Interessen der Gemeinschaften geschädigt werden oder geschädigt werden könnten. [90]

[90] Siehe insbesondere Artikel 8 Corpus Juris.

5.2.3. Über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften hinausgehende mögliche Straftatbestände

Der Vollständigkeit halber sei daran erinnert, dass der Kommissionsvorschlag über den strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften hätte hinausgehen und einen seit Anfang der 70er Jahre erwogenen allgemeinen Strafrechtsschutz für den europäischen öffentlichen Dienst hätte vorsehen können. [91] Dies hätte zu einer allgemeinen, d. h. von den finanziellen Interessen der Gemeinschaften unabhängigen Regelung der Tatbestände Amtsmissbrauch und Verletzung des Dienstgeheimnisses führen können, was unter Umständen den Zuständigkeitsbereich des Europäischen Staatsanwalts auf die Verfolgung so unterschiedlicher Straftaten wie Diebstahl persönlicher Gegenstände in EG-Gebäuden, Verletzung des Datenschutzes oder Begünstigung bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts erweitert hätte.

[91] ABl. C 222 vom 22.9.1976.

Die Kommission beschränkt sich in ihrem Vorschlag jedoch auf den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften (vgl. Entwurf des Artikels 280 a).

Frage 2: Für welche Straftatbestände sollte der Europäische Staatsanwalt zuständig sein* Sind die auf Ebene der Europäischen Union festgelegten Definitionen der Straftatbestände ergänzungsbedürftig*

5.3. Gemeinsame Sanktionen

Für die Vergehen, für die der Europäische Staatsanwalt zuständig ist, sollten auf Gemeinschaftsebene auch die entsprechenden Strafen vorgesehen werden.

Eine in diesem Bereich vorrangige Harmonisierung erscheint gerechtfertigt und steht keinesfalls im Widerspruch zu den Schlussfolgerungen von Tampere, wonach "sich in Bezug auf das nationale Strafrecht die Bemühungen zur Vereinbarung gemeinsamer Definitionen, Tatbestandsmerkmale und Sanktionen zunächst auf eine begrenzte Anzahl von besonders relevanten Bereichen, wie Finanzkriminalität (Geldwäsche, Bestechung, Fälschung des Euro), [...] konzentrieren sollten." [92]

[92] Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Ziff. 48.

Die Wahrung des gemeinschaftlichen Besitzstands hat in Bezug auf den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften zur Folge, dass das Strafmaß nicht hinter dem Richtlinienvorschlag vom 23. Mai 2001 und den darin enthaltenen Übereinkommensbestimmungen zurückbleiben darf. Danach müssen Betrug, aktive und passive Bestechung und Geldwäsche mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen belegt werden, die zumindest in schweren Fällen auch Freiheitsstrafen umfassen, die zur Ausweisung führen können. Vorgesehen ist ferner die Einziehung der Tatinstrumente und Erträge aus den Straftaten.

Artikel 3 des Richtlinienvorschlags, der Artikel 2 des Übereinkommens vom 26. Juli 1995 übernimmt, präzisiert darüber hinaus, dass als schwerer Betrug jeder Betrug gilt, der sich auf einen 50 000 EUR nicht unterschreitenden Mindestbetrag bezieht. Artikel 11 des Richtlinienvorschlags, der Artikel 4 des Protokolls vom 19. Juni 1997 folgt, sieht ferner Sanktionen - auch strafrechtlicher Natur - gegen juristische Personen vor, die wegen Betrugs, Bestechung oder Geldwäsche zur Rechenschaft gezogen werden.

Die Kommission ist der Ansicht, dass die Harmonisierung der den definierten Straftatbeständen entsprechenden strafrechtlichen Sanktionen unter Wahrung des Gesetzlichkeitsprinzips sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit von Strafe und Straftat nach Maßgabe der Grundrechtscharta der Europäischen Union [93] weiter vorankommen muss. Auch wenn aufgrund der gemeinschaftsweiten Definition der betreffenden Straftatbestände eine weitergehende Harmonisierung erforderlich ist, muss sie sich doch in die allgemeine Debatte über die Strafangleichung innerhalb der Europäischen Union einfügen.

[93] Artikel 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

Das Hoechstmaß sowohl der Freiheits- als auch der Geldstrafen sollte der Gemeinschaftsgesetzgeber bestimmen. Inwieweit das Strafmaß im Einzelfall ausgeschöpft wird, entscheidet dann das einzelstaatliche Gericht. Auch die Möglichkeit alternativer oder Zusatzstrafen sollte in Erwägung gezogen werden. Es könnte ein gemeinschaftsrechtlicher Typus von Zusatzstrafen festgelegt werden, der beispielsweise die Möglichkeit eröffnet, eine Entfernung aus dem öffentlichen Dienst der Europäischen Gemeinschaften anzuordnen, Subventionen zu streichen oder den Ausschluss von Vergabeverfahren, mit denen eine Gemeinschaftsfinanzierung verbunden ist, anzuordnen. [94]

[94] Siehe insbesondere Artikel 14 Corpus Juris.

Auf Gemeinschaftsebene könnte festgelegt werden, inwieweit sich strafverschärfende oder strafmildernde Umstände auf die Strafzumessung auswirken, während die Definition dieser Umstände dem innerstaatlichen Recht überlassen werden könnte. Außerdem sollte eine Strafenregelung für den Fall konkurrierender Straftaten vorgesehen werden.

Der Europäische Staatsanwalt sollte ferner entsprechend den einschlägigen Gemeinschaftsbestimmungen die Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten, die in seine Zuständigkeit fallen, beantragen können. [95] Darüber hinaus könnte eine Regelung für die Veröffentlichung rechtskräftiger Entscheidungen vorgesehen werden.

[95] Rahmenbeschluss des Rates vom 26. Juni 2001 über Geldwäsche sowie Ermittlung, Einfrieren, Beschlagnahme und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten, ABl. L 182 vom 5.7.2001, S.1.

5.4. Verantwortlichkeit juristischer Personen

Bei der Regelung der strafrechtlichen Verantwortung wird dem Verhältnismäßigkeitsprinzip nach Ansicht der Kommission am besten Rechnung getragen, wenn dem Gemeinschaftsacquis und dem in ihrem Richtlinienvorschlag vom 23. Mai 2001 empfohlenen Harmonisierungsgrad gefolgt würde. Mit Ausnahme der dort bereits vorgesehenen Bestimmungen über die Verantwortlichkeit der Unternehmensleiter und juristischen Personen würde somit generell auf das innerstaatliche Recht verwiesen. Diese von der Kommission bevorzugte Lösung erscheint ausreichend, um das für das Funktionieren der Europäischen Staatsanwaltschaft erforderlich Minimum sicherzustellen. [96]

[96] Zugunsten einer stärkeren Harmonisierung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit siehe Artikel 9 bis 13 Corpus Juris, die eine Ergänzung der Übereinkommensbestimmungen zur Verantwortlichkeit der juristischen Personen vorschlagen und die Grundlage für eine gemeinschaftsrechtliche Definition des Schuldprinzips, des Irrtums, der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit und des Versuchs schaffen.

Die Artikel 8 und 9 des Richtlinienvorschlags vom 23. Mai 2001, die die Bestimmungen des Artikels 3 des Übereinkommens vom 26. Juli 1995 und des Protokolls vom 19. Juni 1997 übernehmen, sehen in diesem Bereich bereits eine gewisse Harmonisierung der Vorschriften über die Verantwortlichkeit der Unternehmensleiter einerseits und der juristischen Personen andererseits vor.

Danach soll ein Unternehmensleiter oder jede andere Person mit Entscheidungs- oder Kontrollgewalt in einem Unternehmen nach den für sie geltenden innerstaatlichen Grundsätzen für strafrechtlich verantwortlich erklärt werden können, wenn sich eine weisungsgebundene Person zugunsten des Unternehmens des Betrugs, der Korruption oder der Geldwäsche mit den Erlösen aus den vorgenannten Straftaten schuldig macht.

In gleicher Weise sollten auch juristische Personen als Täter oder Teilnehmer (Anstifter oder Gehilfe) an einem vollendeten oder versuchten Betrug, einer vollendeten oder versuchten Bestechung oder Geldwäsche zur Rechenschaft gezogen werden, wenn diese Handlungen von einer Person mit Entscheidungsgewalt innerhalb des Unternehmens für dessen Rechnung begangen worden sind. [97] Gleiches sollte für den Fall gelten, dass mangelnde Überwachung oder Kontrolle seitens der oben genannten Person die Begehung einer der vorstehenden Handlungen durch eine weisungsgebundene Person zugunsten der juristischen Person ermöglicht hat.

[97] Unabhängig davon, ob die Person individuell oder als Mitglied eines Organs der juristischen Person handelt. Unter Entscheidungsgewalt ist hier u. a. die Befugnis zur Vertretung der juristischen Person, die Befugnis, Entscheidungen im Namen der juristischen Person zu treffen, oder die Kontrollbefugnis innerhalb des Unternehmens zu verstehen.

Diese strafrechtliche Verantwortlichkeit der juristischen Person schließt die strafrechtliche Verantwortung natürlicher Personen als Täter, Anstifter oder Gehilfe in dem Betrugs-, Bestechungs- oder Geldwäschefall nicht aus.

5.5. Verjährung

Die Verjährung der Straftaten, die in die Zuständigkeit des Europäischen Staatsanwalts fallen, stellt einen Einstellungsgrund dar. Die Verjährung ist in den Mitgliedstaaten allerdings sehr unterschiedlich geregelt, was nach der Erweiterung der Europäischen Union noch deutlicher zutage treten dürfte. Der Gleichbehandlungsgrundsatz verlangt daher eine konsequente Harmonisierung der Verjährungsvorschriften.

Die Beibehaltung zu stark abweichender Verjährungsvorschriften wäre eine ständige Quelle von Schwierigkeiten, auch wenn Straftaten zum Schaden der finanziellen Interessen der Gemeinschaften effizienter verfolgt würden. Wird beispielsweise gegen mehrere Personen in mehreren Mitgliedstaaten in derselben Sache ermittelt, könnte dies zu einer Ungleichbehandlung führen, wenn die in einem Mitgliedstaat wegen Verjährung eingestellten Ermittlungen in derselben Sache gegen dieselbe Person in einem anderen Mitgliedstaat noch zulässig sind. Auf diesen Mitgliedstaat könnte sich dann allein aus diesem Grund das ganze Verfahren konzentrieren.

Die Ermittlungen des Europäischen Staatsanwalts sollten nicht durch zu kurze Verjährungsfristen behindert werden. Die Erfahrungen, die die Kommission und die Mitgliedstaaten bei der Aufdeckung von Betrugsfällen in der Verwaltung gemacht haben, zeigen, wie langwierig die Ermittlungen sind. Erschwert werden die Ermittlungen bei Finanzstraftaten überdies durch die Komplexität der Materie, die Ausdehnung der strafbaren Handlungen auf andere Mitgliedstaaten und durch die Schwere der Vergehen, die in manchen Fällen die Handschrift der organisierten Kriminalität trägt. Im Corpus Juris wird beispielsweise dafür plädiert, für alle dort erfassten Straftatbestände eine Verjährungsfrist von fünf Jahren und eine absolute Verjährungsfrist von zehn Jahren vorzusehen.

Die Kommission spricht sich dafür aus, zumindest die Verjährungsfristen für Straftaten, die in die Zuständigkeit des Europäischen Staatsanwalts fallen, auf Gemeinschaftsebene zu regeln. Da noch keine einheitliche Regelung besteht, muss über die Dauer der Verjährungsfrist für die einzelnen in Frage kommenden Straftaten entschieden werden. Es ist nicht ersichtlich, warum für alle Straftatbestände eine einheitliche Verjährungsfrist vorgesehen werden sollte. Zur Regelung aller anderen Fragen im Zusammenhang mit der Verjährung - z. B. Unterbrechung der Verjährung - wäre zu prüfen, ob hierzu auf das innerstaatliche Recht verwiesen werden könnte, sofern die Mitgliedstaaten bereit sind, nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zu verfahren.

Frage 3: Sollten parallel zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft gemeinsame ergänzende Regelungen erlassen werden auf dem Gebiet

- der Sanktionen

- der strafrechtlichen Verantwortlichkeit

- der Verjährung

- oder auf anderen Gebieten*

Wenn ja, in welchem Umfang*

6. Verfahren

Die Kommission hat vorgeschlagen, in den EG-Vertrag eine Bestimmung einzufügen, nach der der Rat der Europäischen Union nach dem Verfahren des Artikels 251, d.h. in Mitentscheidung mit dem Europäischen Parlament, "die Bedingungen für die Ausübung des Amtes des Europäischen Staatsanwalts fest[legt] und insbesondere [...] b) Verfahrensvorschriften über die Tätigkeiten des Europäischen Staatsanwalts sowie Vorschriften für die Zulässigkeit von Beweismitteln; c) Vorschriften über die richterliche Kontrolle der vom Europäischen Staatsanwalt in Ausübung seines Amtes vorgenommenen Verfahrenshandlungen [erlässt]."

Die Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft erfordert eine besondere verfahrensrechtliche Regelung, die sich in die nationalen Justizsysteme einfügt. Die Verfahrensvorschriften sollten nach Maßgabe der Grundsätze der Subsidiarität und Effizienz auf der geeignetsten Ebene, die auf europäischer oder nationaler Stufe liegen kann, festgelegt werden.

Dazu können die in Kapitel 5 genannten Methoden verbunden werden. Wenn es das reibungslose Funktionieren der Europäischen Staatsanwaltschaft erfordert, kann wohl nicht auf eine eigene Grundlage an europäischen Verfahrensvorschriften verzichtet werden. Genügt es hingegen für das Funktionieren der Europäischen Staatsanwaltschaft, dass die Regelungen der einzelnen Mitgliedstaaten vergleichbar sind, könnte es auch ausreichen, die nationalen Verfahren ganz oder teilweise anzugleichen. Darüber hinaus müsste es genauso möglich sein, auf das nationale Recht zu verweisen. Hinsichtlich des Strafverfahrens stützt sich die Kommission im Rahmen des Grünbuchs insbesondere auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung.

Nun sollen die oben in allgemeiner Form angeführten Befugnisse des Europäischen Staatsanwalts [98] und die entsprechenden Garantien in Bezug auf die Grundrechte in den einzelnen Verfahrensabschnitten näher erläutert werden. Die Frage der Rechtsmittel wird in Kapitel 8 behandelt.

[98] Siehe 3.3 (Befugnisse des Europäischen Staatsanwalts).

Der Europäische Staatsanwalt sollte die Ermittlungen und die Strafverfolgung zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften leiten und koordinieren. Dazu sollte er aus reichend informiert (Punkt 6.1) unmittelbar oder auf Ermächtigung Ermittlungshandlungen durchführen können (Punkt 6.2). Darüber hinaus sollte er über die Anklageerhebung gegen den Beschuldigten entscheiden und bestimmen, welches nationale Gericht mit dem Fall befasst wird (Punkt 6.3). Einige dieser Handlungen müssten wegen ihres Eingriffs in die Grundrechte des einzelnen jedoch zuvor von einem Richter genehmigt werden, damit insbesondere die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit, der richterlichen Kontrolle und der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben (Punkt 6.4).

6.1. Information und Befassung

Im Unterschied zur Information, die allen offen steht und nicht beantwortet werden muss, versteht man im Rahmen dieses Grünbuchs unter der Befassung des Europäischen Staatsanwalts die offizielle Information des Europäischen Staatsanwalts durch eine Behörde zum Zweck der Strafverfolgung. Die Befassung verpflichtet den Europäischen Staatsanwalt somit, eine begründete Antwort - in welcher Form auch immer - auf den an ihn gerichteten Antrag zu erstellen.

Der Europäische Staatsanwalt sollte über jede Handlung, die einen gemeinschaftlichen Straftatbestand erfuellen könnte [99], informiert oder mit dem Fall befasst werden. Dabei stellt sich die Frage, wer dazu befugt wäre und ob die Befassung verpflichtend oder freiwillig sein soll.

[99] Siehe Kapitel 5 (materielles Recht).

Die europäischen Bürger können mit Recht ein hohes Maß an Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften fordern. Jede natürliche oder juristische Person unabhängig von ihrem Wohnort oder ihrem Sitz könnte den Europäischen Staatsanwalt auf jedem Weg über ihr bekannte Tatsachen informieren. Der Europäische Staatsanwalt könnte so alle an ihn herangetragenen Informationen berücksichtigen [100].

[100] Siehe Artikel 17 des Statuts des Internationalen Strafgerichts für Ruanda und Artikel 18 des Internationalen Strafgerichts für das ehemalige Jugoslawien.

Darüber hinaus sollte bestimmten nationalen oder gemeinschaftlichen Behörden, die über besondere Befugnisse verfügen, eine Pflicht zur Befassung des Europäischen Staatsanwalts auferlegt werden [101].

[101] Unbeschadet der Pflichten zur Mitteilung der Fälle von Unregelmäßigkeiten an die Kommission nach Maßgabe der Gemeinschaftsrechtsnormen im Bereich der administrativen und finanziellen Abwicklung und Kontrolle.

In Anlehnung an ähnliche Pflichten, die sich häufig im Strafprozessrecht der Mitgliedstaaten finden, würde es die Kommission vorziehen, dass Gemeinschaftsbedienstete [102] und nationale Behörden gleich welcher Art - Verwaltungsbedienstete, vor allem in den Bereichen Zölle und Steuern [103], Polizeibeamte und Justizbehörden - in Ausübung ihres Amtes den Europäischen Staatsanwalt befassen oder informieren müssen.

[102] Siehe insbesondere Punkt 7.3 zur Rolle des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung.

[103] Für Steuerbehörden gilt eine erweiterte Vertraulichkeitspflicht. Dazu bestehen jedoch stets Ausnahmen, die ergänzt werden müssten, um die Information des Europäischen Staatsanwalts zu ermöglichen.

Der Idee der Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft liegt der Gedanke zugrunde, dass für ureigene Gemeinschaftsinteressen die Möglichkeit bestehen soll, Zuwiderhandlungen gegen diese Interessen auf europäischer Ebene zu verfolgen. Eine freiwillige Befassung des Europäischen Staatsanwalts würde diesem Grundsatz zuwiderlaufen. Die nationalen Strafverfolgungsbehörden verfügen in den ihnen vorgelegten Fällen nicht über eine gemeinschaftliche Gesamtschau. Ein auf ihrer Ebene nicht relevantes Element kann global betrachtet Teil eines komplexen Sachverhalts mit einem gewissen Schweregrad sein. Die Kommission hält es daher für wichtig, dass der Europäische Staatsanwalt in Fällen, in denen die finanziellen Interessen der Gemeinschaften betroffen sind, systematisch befasst wird.

Der Europäische Staatsanwalt könnte somit entweder von den zuständigen nationalen oder gemeinschaftlichen Behörden befasst werden oder von Amts wegen aufgrund der Informationen, über die er verfügt, tätig werden [104].

[104] Siehe Anhang 2, erstes Schaubild.

Frage 4: Wann und von wem sollte der Europäische Staatsanwalt zwingend befasst werden*

6.2. Vorverfahren

Entsprechend dem von der Kommission vorgeschlagenen Artikel 280 a EG-Vertrag hätte der Europäische Staatsanwalt "die Aufgabe, gegen Täter von Straftaten und Teilnehmer an Straftaten, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft richten, zu ermitteln, sie strafrechtlich zu verfolgen und [...] Anklage gemäß den [...] Vorschriften zu erheben", die vom Gemeinschaftsgesetzgeber festgelegt wurden. Das Vorverfahren beginnt mit den ersten Ermittlungshandlungen durch den Europäischen Staatsanwalt und endet mit der Entscheidung zur Einstellung des Verfahrens oder zur Erhebung der Anklage [105].

[105] Siehe Anhang 2, zweites Schaubild.

6.2.1. Grundrechte

Der Europäische Staatsanwalt müsste seine Tätigkeit selbstverständlich unter voller Wahrung der Grundrechte ausüben, wie sie insbesondere in Artikel 6 EU-Vertrag, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind. Diese Grundsätze umfassen insbesondere das Recht auf Eigentum, auf Achtung des Privatlebens, des Schriftverkehrs und der Kommunikation. Der Europäische Staatsanwalt müsste seine Aufgaben ferner nach Maßgabe der Verträge, insbesondere des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen, unter Wahrung des Statuts der Beamten und sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften ausführen.

6.2.1.1. Verteidigungsrechte und Schutz des Angeklagten

Ohne sie abschließend nennen zu können, wird auf die Bedeutung bestimmter allgemeiner Grundsätze im Vorverfahren verwiesen. In diesem Verfahrensabschnitt würde der Europäische Staatsanwalt die notwendigen Ermittlungen zur Feststellung des Sachverhalts führen, wobei er alle sachdienlichen Elemente zur Offenlegung des Falles einholt. Seine Ermittlungen würden ohne Verzug über die zugunsten und zulasten des Beschuldigten sprechenden Tatsachen geführt [106].

[106] Artikel 6 Absatz 1 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und Artikel 47 Absatz 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (angemessene Frist).

Stößt der Europäische Staatsanwalt auf Elemente, die den Beschuldigten belasten, so würden ab diesem Zeitpunkt die Unschuldsvermutung [107] und der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens gelten. Dieser Grundsatz bezeichnet im Sinne des Grünbuchs das Recht der Parteien und ihres Rechtsbeistands auf Einsicht in die Akten des Europäischen Staatsanwalts. Im Hinblick auf den Beschuldigten umfasst dieser Grundsatz ferner die Wahrung der Verteidigungsrechte und insbesondere das Recht des Beschuldigten, sich umfassend zu den ihn betreffenden Umständen zu äußern [108]. Die Tätigkeit des Europäischen Staatsanwalts müsste ferner dem Grundsatz des fairen Verfahrens und dem Gesetzmäßigkeitsprinzip genügen, so dass nur Elemente mit Beweiskraft in seine Schlussfolgerungen einfließen.

[107] Artikel 6 Absatz 2 EMRK und Artikel 48 Absatz 1 der Charta der Grundrechte.

[108] Artikel 6 Absatz 3 EMRK und Artikel 48 Absatz 2 der Charta der Grundrechte.

6.2.1.2. Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt zu werden

Artikel 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union lautet wie folgt: "Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden." Dieser Grundsatz des "ne bis in idem" wird in zahlreichen internationalen Übereinkommen anerkannt [109].

[109] Siehe insbesondere Artikel 7 des bereits genannten Übereinkommens vom 25. Juli 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und Artikel 54 des Schengener Durchführungs übereinkommens.

Die Bedeutung der Anwendung dieses Grundsatzes auf die Tätigkeiten des Europäischen Staatsanwalts steht außer Zweifel. Es stellt sich jedoch die Frage, ab welchem Zeitpunkt im Laufe des Vorverfahrens der Grundsatz angewandt wird. Zur Frage des Anwendungs zeitpunkts dieses Grundsatzes gibt es noch keine ständige Rechtsprechung [110].

[110] Rechtssache C 187/01, beim Gerichtshof anhängig.

Im Rahmen dieses Grünbuchs kann jedoch folgende Überlegung angestellt werden: Der Europäische Staatsanwalt dürfte keine Ermittlungen gegen eine Person wegen einer Straftat einleiten, derentwegen sie bereits freigesprochen oder durch ein rechtskräftiges Strafurteil verurteilt worden ist. Er müsste sich jedoch davon überzeugen können, dass es sich tatsächlich um dieselbe Person und dieselbe Tat handelt. Daher könnte festgelegt werden, dass der Europäische Staatsanwalt eine Vorerhebung anordnen kann, die nicht als Einleitung der Strafverfolgung einzustufen ist, um sich von der Wahrung des Grundsatzes "ne bis in idem" zu überzeugen. Sollte die Erhebung ergeben, dass die Sache bereits entschieden worden ist, muss der Europäische Staatsanwalt auf die weitere Behandlung des Falles verzichten. Der Grundsatz des "ne bis in idem" sollte auch für andere abschließende Entscheidungen gelten, die einer späteren Strafverfolgung entgegenstehen, beispielsweise den Vergleich. Stellt sich bei der Erhebung jedoch heraus, dass die Untersuchung von den nationalen Strafverfolgungsbehörden mangels ausreichender Beweise eingestellt worden ist, kann der Europäische Staatsanwalt den Fall auf seiner Ebene weiterverfolgen, wenn er über neue Elemente verfügt.

6.2.2. Einleitung der Ermittlungen und der Strafverfolgung

Die Ermittlungen könnten erst nach der Einleitung der Strafverfolgung auf Weisung des Europäischen Staatsanwalts aufgenommen werden. Die Einleitung der Strafverfolgung würde voraussetzen, dass die vorliegenden Tatsachen auf eine Verletzung des Gemeinschaftsrechts, die in den Zuständigkeitsbereich des Europäischen Staatsanwalts fällt, hinweisen oder eine solche zumindest vermuten lassen.

6.2.2.1. Legalitätsprinzip oder Opportunitätsprinzip in der Strafverfolgung

Bei Vorliegen dieser Bedingungen stellt sich eine wesentliche Frage: Hätte der Europäische Staatsanwalt sodann lediglich die Möglichkeit oder aber die Pflicht zur Strafverfolgung* Im ersten Fall würde das "Opportunitätsprinzip", im zweiten Fall das "Legalitätsprinzip" in der Strafverfolgung angewandt werden. In den Mitgliedstaaten bestehen dazu unterschiedliche Lösungen, die jedoch immer Elemente beider Prinzipien enthalten.

Die Regelung in Bezug auf den Europäischen Staatsanwalt muss auf europäischer Ebene getroffen werden. Die Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft soll zur Stärkung und Vereinheitlichung des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaften führen. Dies erfordert grundsätzlich eine einheitliche Strafverfolgung im gesamten europäischen Rechtsraum und lässt somit keinen Platz für ein Ermessen des Europäischen Staatsanwalts. Darüber hinaus stellt die zwingende Anwendung des Rechts den Ausgleich zur Unabhängigkeit des Europäischen Staatsanwalts dar. Die Kommission würde es daher in diesem Fall vorziehen, das Legalitätsprinzip in der Strafverfolgung versehen mit bestimmten Ausnahmen zu seiner Abschwächung anzuwenden.

Die bereits jetzt festzustellende Annäherung der nationalen Systeme dürfte eine solche Lösung erleichtern. Die Mitgliedstaaten wenden Elemente des Legalitäts- und des Opportunitätsprinzips an. Das Opportunitätsprinzip gilt nur eingeschränkt, etwa in Form der Pflicht zur Begründung von Entscheidungen über die Verfahrenseinstellung und der Gewährleistung eines Rechtsbehelfs gegen solche Entscheidungen. Zugleich wird auch die Anwendung des Legalitätsprinzips durch verschiedene Möglichkeiten der Verfahrens einstellung unter bestimmten Bedingungen abgeschwächt.

Der Europäische Staatsanwalt würde somit dem Legalitätsprinzip in der Strafverfolgung unterliegen und hätte zugleich die Möglichkeit, Fälle nicht nur aus zwingenden technischen Gründen [111], sondern auch aus beispielsweise den nachstehend genannten Opportunitäts erwägungen einzustellen.

[111] Siehe 6.2.4.1 (Verfahrenseinstellung).

Die Ausnahmen zum Legalitätsprinzip könnten erstens insbesondere darauf abzielen, den Europäischen Staatsanwalt entsprechend dem Leitsatz "de minimis non curat praetor" nicht mit Fällen zu belasten, die mit Blick auf den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften unbedeutend sind. Dazu sind verschiedene Methoden möglich. So könnte es dem Ermessen des Europäischen Staatsanwalts unter richterlicher Kontrolle überlassen bleiben, ein Kriterium etwa der "geringen Bedeutung im Hinblick auf die finanziellen Interessen der Gemeinschaften" anzuwenden. Als genauere Regelung könnte auch eine finanzielle Schwelle festgelegt werden; liegt der Betrag der Straftat unter dieser Schwelle, könnte der Staatsanwalt nach seinem Ermessen entscheiden, ob er die Strafverfolgung einleitet oder das Verfahren einstellt. Die erste Möglichkeit böte am meisten Spielraum; die zweite, strengere Möglichkeit birgt die Gefahr einer automatischen Anwendung der Schwelle, die jedoch durch das Ermessen des Europäischen Staatsanwalts gebannt wäre.

Zweitens könnten Ausnahmen vom Legalitätsprinzip in der Strafverfolgung nach Maßgabe der Nützlichkeit strafrechtlicher Ermittlungen für die Urteilsfindung festgelegt werden. Der Europäische Staatsanwalt könnte die Möglichkeit erhalten, eine Person nur hinsichtlich eines ausreichenden Teiles an belastenden Umständen zu verfolgen. Dies könnte dann sinnvoll sein, wenn die bereits durchgeführten Ermittlungen über einzelne belastende Umstände für ein Urteil ausreichend erscheinen und anzunehmen ist, dass weitere Ermittlungen das Urteil nicht wesentlich beeinflussen würden.

Drittens könnten Ausnahmen vom Legalitätsprinzip in der Strafverfolgung vorgesehen werden, um die der Schädigung der finanziellen Interessen entsprechende Summe möglichst effizient zurückzuerlangen. Es handelt sich dabei um die in einigen Mitgliedstaaten vorgesehene Möglichkeit eines Vergleichs, die zumindest diskutiert werden sollte. In diesem Fall könnte der Beschuldigte, sofern er in Übereinstimmung mit dem Anweisungsbefugten den verursachten Schaden durch Rückzahlung der zu Unrecht erhaltenen Beträge wiedergutmacht oder die hinterzogenen Steuern und Zölle entrichtet, eine Vereinbarung mit dem Europäischen Staatsanwalt treffen, nach der jede bestehende Anklage gegen ihn niedergelegt und auch später nicht neuerlich Anklage erhoben wird. Nach freiwilliger Zahlung eines bestimmten Betrags hätte der Beschuldigte den Vorteil, dass kein Urteil gegen ihn ergeht. Diese Möglichkeit könnte dann nützlich sein, wenn die Aussicht auf eine Verurteilung der betreffenden Person gering ist. Sie kann allerdings nur für Straftaten in Aussicht genommen werden, die einen geringen Geldbetrag betreffen. Die Bedingungen für einen Vergleich müssten jedenfalls so festgelegt werden, dass sich daraus keine Ausweichmöglichkeit oder Ungleichbehandlung ergibt.

Welche Ausnahmen vom Legalitätsprinzip in der Strafverfolgung auch gemacht werden, könnte jedenfalls vorgesehen werden, dass bei bestimmten, durch einen Verweis auf das nationale Recht bezeichneten erschwerenden Umständen keine Ausnahme greifen darf.

Sollte der Europäische Staatsanwalt den Fall nicht weiterverfolgen wollen, müsste er das Verfahren beenden und, wenn die Strafverfolgung bereits aufgenommen wurde, eine Entscheidung zur Einstellung des Verfahrens treffen [112]. Sodann würde er die Unterlagen zur Information an die nationalen Strafverfolgungsbehörden weiterleiten, damit diese prüfen können, ob der Fall, der auf Gemeinschaftsebene vom Legalitätsprinzip in der Strafverfol gung ausgenommen wurde, nicht auf nationaler Ebene zur Verfolgung anderer Straftaten von Interesse ist (siehe nachstehend) [113]. Unter Wahrung des Grundsatzes "ne bis in idem" könnte dies insbesondere dann der Fall sein, wenn die Strafverfolgungsbehörden wissen, dass der Beklagte darüber hinaus andere Straftaten auf nationaler Ebene begangen hat.

[112] Siehe 6.2.4.1 (Verfahrenseinstellung).

[113] Diese Information durch den Europäischen Staatsanwalt ist von der Verweisung an die nationalen Strafverfolgungsbehörden bei der Aufteilung gemeinschaftlicher Fälle zu unterscheiden. Siehe 6.2.2.2 a.

Frage 5: Sollte der Europäische Staatsanwalt bei der Strafverfolgung entsprechend dem Vorschlag der Kommission an das Legalitätsprinzip, oder sollte er an das Opportunitätsprinzip gebunden sein* Welche Ausnahmen sollten in jedem der beiden Fälle vorgesehen werden*

6.2.2.2. Kompetenzverteilung zwischen dem Europäischen Staatsanwalt und den nationalen Strafverfolgungsbehörden

Da die materielle Zuständigkeit auf beiden Seiten begrenzt ist, sollte klar geregelt sein, wie die Kompetenzverteilung zwischen dem Europäischen Staatsanwalt und den nationalen Strafverfolgungsbehörden in der Praxis aussieht. Im Interesse der Kohärenz sollte vermieden werden, dass eine bestimmte Handlung auf beiden Ebenen verfolgt wird. Auch aus Gründen der Wirtschaftlichkeit sollte einem doppelten Ressourceneinsatz vorgebeugt werden. Schließlich gilt es auch, den Grundsatz "ne bis in idem" zu wahren und zu verhindern, dass der konträre Fall eintritt und sich bei einem negativen Kompetenzkonflikt niemand für die Strafverfolgung zuständig hält. Die Klärung dieser Frage erleichtert darüber hinaus die spätere Entscheidung darüber, wer die Anklage vor dem erkennenden Gericht vertreten muss.

a) Gemeinschaftliche Fälle

Der Europäische Staatsanwalt soll für Straftaten gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaften zuständig sein. Offen bleibt dabei, inwieweit diese materielle Zuständigkeit zu einer Übertragung von Rechtssachen an den Europäischen Staatsanwalt in alleiniger oder geteilter Verantwortung mit den nationalen Strafverfolgungsbehörden führen soll.

Mehr als eine alleinige Zuständigkeit des Europäischen Staatsanwalts müssten zwei Grundsätze anerkannt werden, damit dieser seine Aufgaben erfuellen kann: die systematische Befassung und der Vorrang der Befassung des Europäischen Staatsanwalts. Wie bereits dargelegt, müsste der Europäische Staatsanwalt systematisch befasst werden, wenn Elemente vorliegen, die auf eine Straftat gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaften hinweisen. In zweiter Linie müsste seine Befassung bewirken, dass die nationalen Behörden in Anwendung des Grundsatzes "ne bis in idem" auf das Ermittlungsverfahren nicht mehr für den Fall zuständig sind.

Vorbehaltlich der Grundsätze der systematischen Befassung des Europäischen Staatsanwalts und des Vorrangs seiner Tätigkeit vor der nationalen Strafverfolgung könnte die Zuständigkeit zwischen dem Europäischen Staatsanwalt und den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten geteilt sein. Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip könnten bestimmte Fälle in Bezug auf den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften den nationalen Behörden vorbehalten bleiben:

- Anhand einer zuvor vom Gesetzgeber festgelegten Schwelle etwa in Form eines bestimmten Betrags der Straftat, wobei der Europäische Staatsanwalt jedenfalls informiert werden müsste, um eine Gesamtschau über die betreffende Straftat zu bewahren.

- Aufgrund einer Befugnis des Europäischen Staatsanwalts zur Verweisung von Fällen an die nationalen Strafverfolgungsbehörden; diese Befugnis könnte er anhand der praktischen Erfahrungen im Rahmen von Leitlinien anwenden, nach denen etwa in Fällen, die sich auf das Hoheitsgebiet eines einzigen Mitgliedstaats beschränken, grundsätzlich eine Verweisung vorgesehen ist.

- In allen diesen Fällen aufgrund der Anwendung einer der oben beschriebenen Ausnahmen zum Legalitätsprinzip in der Strafverfolgung ausgenommen des Vergleichs.

b) Gemischte Fälle

Davon unterscheiden sich "gemischte" Fälle, bei denen zugleich ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht und innerstaatliches Recht vorliegt. Dabei stellt sich die Frage, wie solche Fälle, in denen der Europäische Staatsanwalt tätig wird, die jedoch über seinen Zuständigkeitsbereich hinausgehen, zu behandeln sind.

In der Praxis kommen oft gemischte Fälle vor, da die meisten Gemeinschaftsmittel von den nationalen Behörden eingehoben und verwaltet werden.

Es gibt zahlreiche Beispiele für gemischte Fälle, etwa die missbräuchliche Verwendung einer Finanzhilfe der Gemeinschaft durch Bestechung eines nationalen Beamten oder der Schmuggel von Waren, wodurch die Verbrauchsteuer (Steuereinnahme der Mitgliedstaaten), die Mehrwertsteuer und die Zölle (Eigenmittel) umgangen werden.

Der einfachste Fall ist jener, bei dem die Verstöße und damit die öffentliche Anklage getrennt werden können. Der Europäische Staatsanwalt, der von sämtlichen Umständen des Falles unterrichtet und mit dem Fall befasst wurde, würde nur den Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht verfolgen und die Ahndung der anderen Straftaten den nationalen Strafverfolgungsbehörden überlassen.

Die Verknüpfung kann jedoch bei echten gemischten Fällen komplexer sein. Dabei können zwei Situationen unterschieden werden: a) eine Handlung erfuellt zwei Straftatbestände, einen auf nationaler und einen auf gemeinschaftlicher Ebene, die dasselbe geschützte Rechtsgut betreffen; b) zwei konnexe Handlungen (die zwar getrennt, aber eng miteinander verbunden sind) erfuellen zwei Straftatbestände, einen auf nationaler und einen auf gemeinschaftlicher Ebene. In beiden Fällen kann eine einheitliche Strafverfolgung verfahrenstechnisch von Interesse sein.

Will man die Funktion des Europäischen Staatsanwalts nicht aushöhlen, können gemischte Fälle nicht ausschließlich den nationalen Strafverfolgungsbehörden überlassen werden. Die Einrichtung abgeordneter Europäischer Staatsanwälte sollte die Bearbeitung solcher Fälle erleichtern, insbesondere, wenn diese zugleich europäische und nationale Funktionen erfuellen. Eine Erleichterung ist auch von der Einrichtung von Eurojust zu erwarten, soweit diese Stelle betroffen ist [114]. Dennoch müssen mögliche Konflikte zwischen den Ansätzen der Gemein schaft im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung bzw. zwischen dem Gemeinschaftsverfahren, das bei einem Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht angewandt wird, und dem Verfahren in dem betreffenden Mitgliedstaat zur Sanktionierung des Verstoßes gegen das nationale Recht vermieden werden.

[114] Siehe 7.2.1 (Eurojust).

c) Regelung des Dialogs zwischen dem Europäischen Staatsanwalt und den nationalen Strafverfolgungsbehörden

Nicht nur um das vorstehende Problem zu lösen, sondern auch generell, empfiehlt sich ein Konsultationsmechanismus zwischen dem Europäischen Staatsanwalt und den nationalen Strafverfolgungsbehörden, der auf praktische Erfahrungen zurückgreifen und damit schrittweise das gegenseitige Vertrauen stärken würde. Die Verpflichtung zur Befassung des Europäischen Staatsanwalts, insbesondere durch die nationalen Strafverfolgungsbehörden, sollte das Grundgerüst dieses Dialogs bilden [115]. Der Dialog zwischen den europäischen und den nationalen Staatsanwälten sollte der Rechtssicherheit verpflichtet sein. In jedem Fall hätten die abgeordneten Europäischen Staatsanwälte Zugang zu den Strafregistern [116].

[115] Siehe insbesondere Artikel 18 Absatz 5 Corpus Juris (CJ). Im Unterschied zur Pflicht der Staaten zur Zusammenarbeit mit den Anklagebehörden der jüngsten internationalen Strafgerichte bei den Ermittlungen (Artikel 29 des Statuts des Internationalen Strafgerichts für das ehemalige Jugoslawien; Artikel 28 des Statuts des Internationalen Strafgerichts für Ruanda und Artikel 93 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs), würde die Unterstützung hier direkt zwischen dem Europäischen Staatsanwalt und den nationalen Strafverfolgungsbehörden erfolgen.

[116] Siehe Titel VI ("Verfahrensregister der ermittelten Betrugsfälle" ) des Vorschlags der Kommission an den Rat im Hinblick auf die Annahme des Protokolls vom 19.6.1997 zu dem Übereinkommen vom 26.7.1995, a.a. O (ABl. C 83 vom 20.3.1996, S. 10).

Da der Europäische Staatsanwalt mit jedem Fall befasst werden müsste, in dem die finanziellen Interessen der Gemeinschaften betroffen sind, würde er gegebenenfalls entscheiden, jene Straftaten, die "im Wesentlichen" nationale Interessen betreffen, an die nationalen Behörden abzutreten [117]. Zur Erläuterung des Begriffs "im Wesentlichen" könnte der Gemeinschaftsgesetzgeber genauere Hinweise geben, und der Europäische Staatsanwalt könnte in diesem Rahmen Leitlinien annehmen. Darin müssten die Grundsätze des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts und des Vorrangs der lex specialis vor der allgemeinen Norm berücksichtigt werden.

[117] Siehe insbesondere Artikel 19 Corpus Juris in der sogenannten "Fassung von Florenz".

Sollte der Europäische Staatsanwalt einen gemischten Fall jedoch nicht an die nationalen Behörden abtreten, könnten gemeinsame Ermittlungen mit dem abgeordneten Europäischen Staatsanwalt und den nationalen Strafverfolgungsbehörden unter der Leitung des Europäischen Staatsanwalts erfolgen.

Sobald aber eine Strafverfolgungsbehörde, sei es nun auf nationaler oder europäischer Ebene, einen gemischten Fall insgesamt an die andere Strafverfolgungsbehörde abtritt, müsste die befasste Behörde die Ermittlungen jedenfalls unter Wahrung der Interessen der übertragenden Behörde führen.

In letzter Instanz könnte der Europäische Gerichtshof bei einer gleichzeitigen Befassung unterschiedlicher Gerichte Kompetenzkonflikte lösen (siehe nachstehend) [118].

[118] Siehe insbesondere Artikel 28 Absatz 1 Corpus Juris und Kapitel 8 (richterliche Kontrolle).

Frage 6: Wie sollte angesichts der Überlegungen in diesem Grünbuch die Zuständigkeit zwischen dem Europäischen Staatsanwalt und den nationalen Strafverfolgungsbehörden insbesondere in gemischten Fällen aufgeteilt werden*

6.2.3. Ermittlungsverfahren

6.2.3.1. Ermittlungsmaßnahmen

Der Europäische Staatsanwalt wäre in seinem Kompetenzbereich für die Leitung und Koordinierung der Ermittlungen zuständig. Angesichts der Unschuldsvermutung hätte er die Aufgabe, den Beweis für die Schuld der einer Straftat verdächtigten Person zu erbringen, wobei er alle Elemente zu deren Be- und Entlastung berücksichtigt. Nachdem sich seine Zuständigkeit auch auf schwerwiegende Straftaten erstrecken würde, sollte der Europäische Staatsanwalt soweit notwendig alle Ermittlungsmaßnahmen ergreifen können, die auf Ebene der Mitgliedstaaten zur Verfolgung ähnlicher Finanzdelikte zur Verfügung stehen [119].

[119] Zum Zwecke dieses Grünbuchs bezeichnet der Ausdruck "Ermittlungsmaßnahme" eine allgemeine Kategorie individueller "Ermittlungshandlungen".

Dazu könnte er unter Einbeziehung eines Richters in den Fällen, in denen die Grundrechte betroffen sind, sachdienliche Informationen sammeln und mitnehmen, Zeugen befragen und Verdächtige vernehmen sowie diese verpflichten, vor ihm zu erscheinen, Durchsuchungen vornehmen, Beschlagnahmen einschließlich des Schriftverkehrs durchführen, Vermögens gegenstände sicherstellen, eine Telefonabhörung und andere Formen der Überwachung der Kommunikation unter Anwendung der modernen Informationstechnologien vornehmen, spezielle Ermittlungstechniken anwenden, die zur Aufdeckung von Finanzdelikten nützlich und in Übereinkommen anerkannt sind [120] (verdeckte Ermittlung und kontrollierte Lieferung), die Ausstellung eines Haftbefehls, die Unterstellung unter richterliche Kontrolle oder die vorläufige Festnahme beantragen.

[120] Übereinkommen vom 18.12.1997 über gegenseitige Amtshilfe und Zusammenarbeit der Zollverwaltungen (Neapel II); Übereinkommen vom 29.5.2000 über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. C 197 vom 12.7.2000, S. 1).

Im Rahmen dieses Grünbuchs sollten in diesem Zusammenhang vertiefte Überlegungen über die richterliche Kontrolle im Vorverfahren und darüber angestellt werden, auf welcher Ebene - auf nationaler oder gegebenenfalls gemeinschaftlicher Stufe - solche Maßnahmen geregelt und kontrolliert werden sollten.

Der Europäische Staatsanwalt könnte seine Tätigkeit nicht angemessen ausüben, wenn er nur auf nationaler Ebene bestimmte Zwangsmaßnahmen anwenden könnte, die nicht gegenseitig anerkannt würden. In diesem Fall könnten die mit der internationalen Rechtshilfe und der Auslieferung verbundenen Grenzen nicht überwunden werden. Der Zusammenhalt des gemeinsamen Raumes der Ermittlung und Strafverfolgung würde deutlich geschwächt werden.

Es soll aber auch kein "europäisches Strafrecht" geschaffen werden; dies würde zu dem angestrebten Ziel nicht im Verhältnis stehen. Es gilt, die Verfolgung von Straftaten gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaften effizient zu gestalten, und nicht, ein komplettes europäisches Justizsystem zu schaffen.

Sobald eine ausreichende gemeinsame Basis zwischen den Mitgliedstaaten besteht, könnte die gegenseitige Anerkennung nationaler Zwangsmaßnahmen genügen, damit der Europäische Staatsanwalt seine Tätigkeit angemessen ausüben kann. Neben der gemeinsamen Wahrung der Grundrechte durch die Mitgliedstaaten weisen die im Rahmen der dritten Säule angenom menen oder in Vorbereitung befindlichen Rechtsakte (Sicherstellung von Vermögens gegenständen [121], zeitweilige Überstellung inhaftierter Personen zu Ermittlungszwecken, Vernehmung per Video- oder Telefonkonferenz, kontrollierte Lieferungen, Überwachung des Telekommunikationsverkehrs [122], Europäischer Haftbefehl [123], ...) darauf hin, dass sich diese gemeinsame Basis konsolidiert, auch wenn ihre genaue Ausgestaltung noch nicht feststeht.

[121] Initiative der Französischen Republik, des Königreichs Schweden und des Königreichs Belgien im Hinblick auf die Annahme eines Rahmenbeschlusses des Rates über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der Europäischen Union (ABl. C 75 vom 7.3.2001, S. 3).

[122] Siehe das bereits genannte Übereinkommen vom 29.5.2000.

[123] KOM(2000)52.

Die automatische gegenseitige Anerkennung der vom Europäischen Staatsanwalt unter der Kontrolle des nationalen Richters im Ermittlungsverfahren durchgeführten Zwangsmaßnah men durch die Mitgliedstaaten würde es erlauben, die Grenzen der internationalen Rechtshilfe und der Auslieferung zu überwinden, da diesen Zwangsmaßnahmen im gesamten Hoheitsgebiet der Gemeinschaften im Rahmen eines gemeinsamen Raumes Gültigkeit verliehen würde.

Im Hinblick auf die vom Europäischen Staatsanwalt angewandten nationalen Ermittlungs maßnahmen [siehe Buchstaben b und c] würde die gegenseitige Anerkennung konkret bedeuten, dass eine vom Richter im Ermittlungsverfahren eines Mitgliedstaats genehmigte Ermittlungshandlung in einem anderen Mitgliedstaat vollstreckt wird, ohne dass der Europäische Staatsanwalt eine neue Genehmigung einholen muss.

Als Beispiel kann die Durchsuchung von drei Zweigstellen eines Unternehmens in den Mitglied staaten A, B und C herangezogen werden (Für dieses Beispiel wird angenommen, dass die Durchsuchung des Unternehmens nur in den ersten beiden Mitgliedstaaten nach Maßgabe ihres nationalen Rechts zuvor von einem Richter genehmigt werden muss.). Der Europäische Staatsanwalt könnte den Richter im Ermittlungsverfahren des Mitgliedstaats A um eine Genehmigung ersuchen, die ohne eine zweite Genehmigung auch im Mitgliedstaat B gelten würde. Damit könnte er die Durchsuchung in den drei Zweigstellen in den Mitgliedstaaten A, B und C gleichzeitig durchführen.

Darüber hinaus würde der Gedanke der gegenseitigen Zulassung der durch solche Ermittlungshandlungen gewonnenen Beweise umgesetzt [siehe nachstehend] [124].

[124] Siehe 6.3.4 (Beweisregeln).

Die gemeinschaftlichen Ermittlungsmaßnahmen, d.h. die Handlungen des Europäischen Staatsanwalts [siehe den nachstehenden Buchstabe a)] hätten hingegen aufgrund ihres gemeinschaftlichen Charakters im gesamten gemeinsamen Ermittlungs- und Strafverfolgungsraum dieselbe Rechtswirkung.

a) Die gemeinschaftlichen Ermittlungsmaßnahmen im Ermessen des Europäischen Staatsanwalts: Sammlung oder Mitnahme von Informationen, Befragung oder Vernehmung von Personen, ...

Die gemeinschaftlichen Ermittlungsmaßnahmen des Europäischen Staatsanwalts - Kopie oder Mitnahme von Informationen, Zeugenbefragung oder Vernehmung des Beschuldigten mit seiner Zustimmung - sind nicht mit der Ausübung von Zwangsgewalt verbunden. Sie sollten daher in seinem Ermessen stehen. Gegebenenfalls könnte darin ferner das Aufsuchen von Unternehmen eingeschlossen werden, da diese Maßnahme nicht in allen Mitgliedstaaten von einem Richter genehmigt werden muss.

Solche Ermittlungsmaßnahmen sollten jedenfalls in ein genau geregeltes Gemeinschafts verfahren eingegliedert werden. Die Verteidigungsrechte müssten dabei vollständig gewahrt werden. Bei der Festlegung der Rechte des Beschuldigten könnte man sich an den analogen Bestimmungen der Statuten der jüngsten internationalen Gerichtshöfe orientieren: Unterstützung durch einen Rechtsbeistand, Beiziehung eines Dolmetschers, Recht auf Aussageverweigerung, kein Zwang zur Ablegung eines Geständnisses, vorherige Information über seine Rechte (rechtmäßige Verwendung seiner Erklärungen, Mitteilung der Anklagepunkte, ...).

b) Die vom Richter im Ermittlungsverfahren zu genehmigenden Ermittlungsmaßnahmen: Zwangsvorführung, Hausdurchsuchung, Beschlagnahme, Sicherstellung von Vermögens gegenständen, Überwachung der Kommunikation, verdeckte Ermittlung, kontrollierte oder überwachte Lieferung, ...

Der Europäische Staatsanwalt müsste auch Zwangsmaßnahmen treffen können, die im gemeinsamen Ermittlungs- und Straverfolgungsraum gültig und vollstreckbar sind. Diese Handlungen müssten jedoch vom nationalen Richter im Ermittlungsverfahren genehmigt werden [125]. Daraufhin würden sie von den zuständigen Behörden unter der Leitung des Europäischen Staatsanwalts durchgeführt [126].

[125] Siehe 6.4 (Gewährleistung der richterlichen Kontrolle).

[126] Siehe 6.2.3.2 (Arbeitsbeziehungen zu den nationalen Ermittlungsstellen) und 7.3 (Künftige Rolle des OLAF).

Für die Genehmigung wäre das nationale Recht des Mitgliedstaats maßgeblich, in dem der Richter im Ermittlungsverfahren seinen Dienstsitz hat, für die Vollstreckung das Recht des Mitgliedstaats, in dem die Ermittlungshandlung vollstreckt wird, sofern es sich dabei um einen anderen Mitgliedstaat handelt. Die Mitgliedstaaten müssten die Genehmigung gegenseitig anerkennen; die auf dieser Grundlage erlangten Beweise müssten gegenseitig zugelassen werden.

Vorweg ist sicherzustellen, dass im nationalen Recht der Mitgliedstaaten dieselben Zwangsmaßnahmen vorgesehen sind. Die gegenseitige Anerkennung setzt ein Mindestmaß an Einheitlichkeit der nationalen Rechtsvorschriften über Ermittlungsmaßnahmen voraus. Es geht nicht darum, die verschiedenen Regelungen der Mitgliedstaaten in diesem Bereich zu harmonisieren, sondern sicherzustellen, dass in jedem Mitgliedstaat zumindest eine nationale Regelung für die Ermittlungsmaßnahmen besteht, die der Europäische Staatsanwalt anwenden könnte. So müsste es etwa, damit im Sekundärrecht der Gemeinschaft die Möglichkeit der Überwachung der Kommunikation durch den Europäischen Staatsanwalt vorgesehen werden kann, in jedem Mitgliedstaat zumindest eine einschlägige nationale Rechtsvorschrift geben.

Die Modalitäten der Genehmigung durch den Richter im Ermittlungsverfahren (vorherige oder nachträgliche Genehmigung, normales Verfahren oder Eilverfahren usw.) richten sich nach dem anzuwendenden nationalen Recht. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung würde hier für die Form und nicht das Prinzip der Kontrolle durch den nationalen Richter im Ermittlungsverfahren gelten.

Im vorigen Beispiel könnte die Genehmigung durch den Richter im Ermittlungsverfahren des Mitgliedstaats A, die im Rahmen eines vereinfachten Verfahrens erteilt wurde, das im Mitgliedstaat B nicht vorgesehen ist, gemäß dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung anerkannt werden. Der Europäische Staatsanwalt könnte jedoch nicht auf eine Genehmigung in den Mitgliedstaaten A und B mit dem Argument verzichten, dass im Mitgliedstaat B die Durchsuchung eines Unternehmens in seinem Hoheitsgebiet ohne richterliche Genehmigung möglich ist.

c) Die vom Richter im Ermittlungsverfahren auf Antrag des Europäischen Staatsanwalts verfügten Ermittlungsmaßnahmen: Haftbefehl, Unterstellung unter richterliche Kontrolle oder vorläufige Festnahme

Die voranstehenden Überlegungen gelten umso mehr für jene Ermittlungsmaßnahmen, die mit einer Freiheitsbeschränkung oder einem Freiheitsentzug verbunden sind. Solche Maßnahmen sind jedoch im Unterschied zu den zuvor genannten Maßnahmen keine Handlungen des Europäischen Staatsanwalts, sondern werden aufgrund der Eingriffsschwere vom Richter im Ermittlungsverfahren verfügt.

Um die Ausstellung eines Haftbefehls, die Unterstellung unter richterliche Kontrolle oder eine vorläufige Festnahme zu erreichen, müsste der Europäische Staatsanwalt daher einen Antrag an den Richter stellen.

Nach Ansicht der Kommission sollte der Europäische Staatsanwalt bei jeder zuständigen nationalen Justizbehörde die Ausstellung eines Haftbefehls beantragen können. Dies sollte zu den Bedingungen erfolgen, die mutatis mutandis im Vorschlag der Kommission für einen Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl vorgesehen sind [127].

[127] KOM(2001)522.

Der Europäische Haftbefehl, der im gesamten gemeinsamen Ermittlungs- und Strafverfolgungsraum vollstreckbar ist, würde dem Europäischen Staatsanwalt die Möglichkeit geben, die Ermittlung des Aufenthalts, die Festnahme und die Übergabe der gesuchten Person zu beantragen, wenn Gründe zur Annahme vorliegen, dass sie eine Straftat begangen hat. Jeder Europäische Haftbefehl sollte im Schengener Informationssystem (SIS) vermerkt werden. Zur Wahrung ihrer Rechte könnte die festgenommene Person vor dem Richter im Ermittlungsverfahren des Vollstreckungsmitgliedstaats Einspruch gegen die Vollstreckung des Haftbefehls erheben.

Durch den Europäischen Haftbefehl würde das Auslieferungsverfahren im Zuständigkeits bereich des Europäischen Staatsanwalts wegfallen. Insbesondere sollten dann das Verbot der doppelten Strafbarkeit und der Grundsatz der Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger nicht mehr zur Anwendung kommen. Diese Entwicklung entspricht den Schlussfolgerungen von Tampere, in denen der Europäische Rat dazu aufgerufen hatte, die Auslieferungsverfahren abzuschaffen und einen Europäischen Vollstreckungstitel zu erstellen [128].

[128] Schlussfolgerungen 35 und 37.

- Frage 7: Reicht die Liste der für den Europäischen Staatsanwalt vorgesehenen Ermittlungsmaßnahmen Ihrer Ansicht nach aus, um insbesondere die Zersplitterung des Europäischen Rechtsraums in Strafsachen zu überwinden* Welche Regelung (anzuwendendes Recht, Kontrolle - Siehe 6.4) sollte für solche Ermittlungsmaßnahmen getroffen werden*

6.2.3.2. Arbeitsbeziehung zu den nationalen Ermittlungsstellen

Der Vorschlag zur Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft bedeutet nicht, auf Gemeinschaftsebene eine Hilfsbehörde zu schaffen, die alle nützlichen Ermittlungs handlungen in den Mitgliedstaaten durchführt [129]. Der Europäische Staatsanwalt sollte sich auf die nationalen Ermittlungsstellen in Polizei und Justiz, die gegebenenfalls gemeinsame Ermittlungsgruppen bilden [130], stützen können, damit diese die vom Richter im Ermittlungsverfahren genehmigten oder verfügten Handlungen konkret durchführen [131].

[129] Hinsichtlich der Frage von Ermittlungshandlungen innerhalb der Gemeinschaftsorgane siehe 7.3.

[130] Artikel 13 des Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 29.5.2000.

[131] Es handelt sich dabei zwar nicht um den Gegenstand dieses Grünbuchs, doch könnte in einigen, vom Subsidiaritätsprinzip eng begrenzten Fällen die Ausübung von Ermittlungsbefugnissen auf europäischer Ebene die Effizienz der Europäischen Staatsanwaltschaft erhöhen. Dabei handelt es sich vor allem um grenzüberschreitende Fälle im Zusammenhang mit direkten Ausgaben (von der Kommission verwaltete Ausgaben ohne Zutun der Behörden der Mitgliedstaaten), wenn sich etwa die betreffenden Vertragspartner oder Untervertragsnehmer der Kommission in mehreren Mitgliedstaaten befinden. Siehe auch Punkt 7.3 (Künftige Rolle des OLAF).

Ihre Arbeitsbeziehung kann auf verschiedene Weise gestaltet werden:

Erstens könnte der Europäische Staatsanwalt in der Ausübung seiner Befugnisse eine direkte Weisungsbefugnis gegenüber den Ermittlungsbehörden der Mitgliedstaaten erhalten.

Eine zweite Möglichkeit bestuende darin, allgemein eine Pflicht der nationalen Ermittlungs behörden zur Unterstützung des Europäischen Staatsanwalts festzulegen. Der Europäische Staatsanwalt hätte somit das Recht, z.B. der Polizei des betreffenden Mitgliedstaats aufzutragen, eine Durchsuchung vorzunehmen, wobei die Polizei diesen Auftrag nicht ablehnen könnte.

Drittens könnte man in jedem Mitgliedstaat der Regelung folgen, die für die Beziehungen zwischen den nationalen Strafverfolgungs- und den nationalen Ermittlungsbehörden gilt.

Unter dieser Annahme könnte etwa der abgeordnete Europäische Staatsanwalt im Mitgliedstaat A wie jeder nationale Staatsanwalt dieses Mitgliedstaats direkt polizeiliche Unterstützung beantragen, während der abgeordnete Europäische Staatsanwalt im Mitgliedstaat B, in dem die nationalen Strafverfolgungsbehörden über keine Weisungsbefugnis gegenüber der Polizei verfügen, nur Vorschläge an die Polizei richten könnte.

Die Kommission würde eher die dritte Lösung bevorzugen, sofern die damit gegebene Freiheit bei der internen Organisation die Grundsätze der Effizienz und der Gleichwertigkeit nicht in Frage stellt. Die abgeordneten Europäischen Staatsanwälte hätten dabei dieselben Befugnisse gegenüber den nationalen Ermittlungsbehörden wie die nationalen Strafverfolgungsbehörden.

- Frage 8: Welche Lösungen sollten getroffen werden, um die Durchführung der vom Europäischen Staatsanwalt veranlassten Ermittlungshandlungen sicherzustellen*

6.2.4. Abschluss des Ermittlungsverfahrens

6.2.4.1. Verfahrenseinstellung

Will der Europäische Staatsanwalt auf die Verfolgung verzichten, müsste er eine förmliche Entscheidung zur Verfahrenseinstellung treffen. Dies sollte im Vorverfahren jederzeit möglich sein. Ein vom Willen des Europäischen Staatsanwalts unabhängiger Grund für das Erlöschen der öffentlichen Anklage kann zudem jederzeit, auch im Vorverfahren, auftreten [132].

[132] Siehe 6.3.5 (Gründe für das Erlöschen der öffentlichen Anklage im Hauptverfahren).

In diesem Zusammenhang wird nicht auf den bereits dargelegten Fall [133] eingegangen, dass der Europäische Staatsanwalt in Anwendung des Opportunitätsprinzips und einer der Ausnahmen zum Legalitätsprinzip in der Strafverfolgung das Verfahren noch vor der Einleitung der Strafverfolgung einstellt.

[133] Siehe 6.2.2.1 (Legalitäts- oder Opportunitätsprinzip).

Der Europäische Staatsanwalt kann jedoch auch eine Entscheidung zur Verfahrenseinstellung treffen wollen, wenn die Strafverfolgung bereits aufgenommen wurde.

- Die Verfahrenseinstellung wäre zwingend, wenn ein Grund für das Erlöschen der öffentlichen Anklage vorliegt: die Verjährungsfrist ist abgelaufen [134], der Täter ist verschollen oder stirbt, oder es wird eine allgemeine nationale Maßnahme wie Amnestie oder Begnadigung erlassen.

[134] Siehe 5.5 (Verjährungsfrist).

- Die Einstellung sollte in abschließend aufgezählten Fällen möglich sein: der Verstoß ist nicht erwiesen, es liegen keine ausreichenden Beweise vor, und der Täter kann nicht ermittelt werden.

Die Form dieser Entscheidung sollte anhand eines Gemeinschaftsverfahrens festgelegt werden. Der Europäische Staatsanwalt könnte dazu verpflichtet werden, seine Entscheidung zu begründen. Die Entscheidung würde dem Beschuldigten, dem Geschädigten - in diesem Fall der Kommission als Vertreterin der Gemeinschaften - und den nationalen Strafverfolgungsbehörden im Rahmen des oben beschriebenen Dialogs mitgeteilt.

Wie bereits dargelegt, würde, sofern es der Grundsatz "ne bis in idem" erlaubt, die Einstellung des Verfahrens durch den Europäischen Staatsanwalt aus Opportunitätserwägungen die nationalen Behörden nicht daran hindern, den Fall ihrerseits in Bezug auf Verstöße gegen das nationale Recht weiterzuverfolgen [135]. Im Gegensatz dazu stellt sich die Frage, welche Wirkung die Einstellung der Strafverfolgung durch den Europäischen Staatsanwalt für die nationalen Behörden hätte. Es könnte jedenfalls vorgesehen werden, dass die nationalen Behörden den Europäischen Staatsanwalt bei Auftreten einer neuen Tatsache informieren.

[135] Siehe 6.2.2.2 Buchstaben b und c (Kompetenzverteilung zwischen dem Europäischen Staatsanwalt und den nationalen Strafverfolgungsbehörden).

6.2.4.2. Anklageerhebung

Bei Abschluss der Ermittlungen könnte der Europäische Staatsanwalt auch eine Entscheidung zur Anklageerhebung treffen. Dazu müsste er, nachdem er die Ermittlungen unparteiisch und umsichtig geführt hat, über genügend Beweise dafür verfügen, dass der Beschuldigte eine Straftat begangen hat, die in seinen Zuständigkeitsbereich fällt. Angesichts der erhobenen Beweise sollte eine Verurteilung wahrscheinlicher sein als ein Freispruch.

Hinsichtlich der Form der Anklageerhebung müsste sich der abgeordnete Europäische Staatsanwalt an alle Vorschriften des nationalen Strafverfahrens halten. Eine Anklageschrift hat nach den Strafprozessnormen den Namen des Angeschuldigten, eine Sachverhalts darstellung und eine Aufzählung der ihm zur Last gelegten Taten zu enthalten [136]. Die Form, der Inhalt und die Kontrolle der Anklageschrift durch den Richter würden ausschließlich nach nationalem Recht bestimmt [137]. Dies würde auch für das gesamte Hauptverfahren gelten.

[136] Siehe etwa Artikel 58 Absatz 3 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs.

[137] Siehe 6.4 (Richter, der für die Kontrolle der Anklageerhebung zuständig ist ).

Frage 9: Unter welchen Bedingungen sollte der Europäische Staatsanwalt eine Entscheidung zur Verfahrenseinstellung treffen oder Anklage erheben können*

6.3. Hauptverfahren

Gemäß dem von der Kommission vorgeschlagenen Artikel 280 a EG-Vertrag hätte der Europäische Staatsanwalt "die Aufgabe, [...] wegen [der Straftaten, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft richten,] vor den zuständigen Gerichten der Mitgliedstaaten öffentliche Anklage [..] zu erheben", nach Maßgabe der vom Gemeinschaftsgesetzgeber festgelegten Bedingungen [138].

[138] Vgl. Anhang 2, drittes Schaubild.

6.3.1. Wahl des Mitgliedstaats für die Anklageerhebung

Da es sich um komplexe Fälle handelt, an denen mehreren Mitgliedstaaten beteiligt sind, müsste der Europäische Staatsanwalt entscheiden, in welchem Staat oder in welchen Staaten die Anklage erhoben werden soll.

Selbst nach der Ratifizierung des genannten Übereinkommens vom 25. Juli 1995 und seiner Protokolle [139] könnte die gerichtliche Zuständigkeit für einen Fall, in dem ein Verstoß gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaften vorliegt, von mehreren Mitgliedstaaten beansprucht werden. Die von den Mitgliedstaaten im Rahmen der dritten Säule beschlossenen Kriterien für die gerichtliche Zuständigkeit sollen vor allem sicherstellen, dass zumindest ein Mitgliedstaat für die gerichtliche Verhandlung der Straftaten zuständig ist [140]. Diese Kriterien führen jedoch nicht dazu, dass ein einziger Mitgliedstaat bestimmt wird, in dem der Europäische Staatsanwalt die Anklage erheben könnte.

[139] In dem genannten Richtlinienvorschlag vom 23.5.2001 werden die Bestimmungen des Übereinkommens und seiner Protokolle, die unter die Ausnahme gemäß Artikel 280 Absatz 4 EGV betreffend die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihrer Strafrechtspflege fallen, nicht übernommen. Diese Bestimmungen werden erst nach ihrer Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten in Kraft treten.

[140] Artikel 4 des Übereinkommens vom 25.7.1995 und Artikel 6 des Zusatzprotokolls vom 27.9.1996.

Der Grundsatz der zentralen Leitung der Ermittlungen bedingt, dass der Europäische Staatsanwalt unter den nach Maßgabe der bestehenden Übereinkommen zuständigen Mitgliedstaaten einen für die Anklageerhebung auswählen muss. Damit wäre jeder positive Kompetenzkonflikt ausgeschlossen, bei dem mehrere Mitgliedstaaten unabhängig voneinander Gerichtsverfahren einleiten. Der Europäische Staatsanwalt müsste die Verhandlung des Falles auf einen Mitgliedstaat beschränken können. Er müsste jedoch auch die Möglichkeit haben, einen komplexen Fall zu trennen, um voneinander unabhängige Elemente in so vielen Mitgliedstaaten wie nötig anzuklagen.

In einem teilweise harmonisierten Rechtsraum ist es jedoch nicht einerlei, in welchem Mitgliedstaat die Anklage erhoben wird. Die Wahl des Gerichtsstands bestimmt die Verfahrenssprache, die Durchführbarkeit des Verfahrens (Befragung der Zeugen, Anreise,...), das zuständige Gericht, aber auch, über die gemeinsame Grundlage hinaus, welches nationale Recht anzuwenden ist. Daher sind zwei Fragen besonders wichtig: die Frage nach den Zuständigkeitskriterien und die Frage nach der Kontrolle der Wahl des Mitgliedstaats für die Anklageerhebung.

Die Wahl des Gerichtsstands muss anhand bestimmter Kriterien erfolgen, wobei dem Europäischen Staatsanwalt ein Ermessensspielraum verbleiben soll, damit er die Besonder heiten des Falles berücksichtigen kann. Diese Kriterien sind vom Gemeinschaftsgesetzgeber festzulegen und könnten insbesondere am Begehungsort, der Staatsangehörigkeit des Beschuldigten, seinem Wohnort (bei einer natürlichen Person), dem Geschäftssitz (bei einer juristischen Person), dem Staat, in dem sich die Beweismittel befinden, oder dem Haftort des Beschuldigten anknüpfen. Die Wahl des nationalen Richters im Ermittlungsverfahren sollte jedoch die Wahl des Gerichtsstands nicht präjudizieren [141].

[141] Siehe 6.4 (Gewährleistung der richterlichen Kontrolle).

Diese Kriterien müssten gewichtet werden, da ein Kriterium auf mehrere Orte verweisen kann. Sie sollten jedoch nicht in eine Rangordnung gestellt, sondern in Kombination wie ein Bündel an Hinweisen behandelt werden. Grundsätzlich müsste eine Beziehung zwischen der Straftat und dem Gerichtsstand bestehen, wobei der Europäische Staatsanwalt flexibel das Gericht auswählen kann, das zur Wahrung der ordnungsgemäßen Rechtspflege am geeignetsten erscheint [142].

[142] Der Grundsatz der ordnungsgemäßen Rechtspflege geht in Hand mit der Anwendung der Grundsätze einer angemessenen Frist, der Wahrung der Verteidigungsrechte und der Wirksamkeit des Verfahrens.

Hinsichtlich der Kontrolle der Wahl des Mitgliedstaats für die Anklageerhebung könnte als erste Möglichkeit dem Europäischen Staatsanwalt die alleinige Verantwortung für die Wahl des Gerichtsstands überlassen werden. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung stützt sich mittlerweile in der Europäischen Union auf Vertrauen in alle nationalen Justizsysteme. Diese haben eine solide Basis an gemeinsamen Grundsätzen; dazu gehören insbesondere der Grundsatz "ne bis in idem", der in diesem Fall auf das Hauptverfahren angewandt wird, das Legalitätsprinzip, das Verbot der Rückwirkung und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Delikt und Strafe [143].

[143] Artikel 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Artikel 7 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK).

Die Grundlagen des kontradiktorischen Verfahrens sind in allen Mitgliedstaaten anerkannt. Das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel und auf Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht ist gesichert [144]. Zu den Grundrechten, die bereits bei der Darstellung des Vorverfahrens aufgezählt wurden, kommen im Hauptverfahren insbesondere die Grundsätze "im Zweifel für den Angeklagten" und die Anforderung hinzu, dass als Voraussetzung für die Verurteilung die Schuld des Angeklagten ohne jeden vernünftigen Zweifel feststehen muss.

[144] Artikel 47 Absätze 1 und 2 der Charta der Grundrechte und Artikel 6 Absatz 1 EMRK.

Die Rechte des Angeklagten, des Geschädigten und der Zeugen werden in allen Mitgliedstaaten gewahrt. Besonders geschützt sind das Recht des Angeklagten zu schweigen, um sich nicht selbst zu belasten [145], sowie das Recht, sich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen [146].

[145] Das Recht des Angeklagten auf Aussageverweigerung setzt voraus, dass der Europäische Staatsanwalt kein Beweiselement verwendet, das durch Zwang oder Druck gegen den Willen des Angeklagten zustande gekommen ist (EGMR, Rs. Funke gegen Frankreich vom 25.2.1993, Rn. 44). Der Europäische Staatsanwalt könnte jedoch Daten verwenden, die er unter Ausübung von Zwangsgewalt erlangt hat, die unabhängig vom Willen des Angeklagten besteht (EGMR, Rs. Saunders gegen Vereinigtes Königreich vom 17.12.1996, Rn. 69).

[146] Artikel 47 Absatz 2 der Charta der Grundrechte und Artikel 6 Absatz 3 EMRK.

Bestimmte Argumente könnten jedoch für eine Kontrolle der Wahl des Mitgliedstaats für die Anklageerhebung sprechen. Der Europäische Staatsanwalt dürfte, soweit das allgemeine Strafrecht nicht harmonisiert ist und er über einen notwendigen Ermessensspielraum verfügt, keine missbräuchliche Wahl des Gerichtsstands treffen, indem er es systematisch vermeidet, in Mitgliedstaaten Anklage zu erheben, deren Justizsystem ihm weniger praktikabel erscheint. Sollte daher eine Kontrolle der Wahl des Gerichtsstands für notwendig erachtet werden, so könnte diese nur einem Gericht übertragen werden.

Die zweite Möglichkeit bestuende darin, die Wahl des Mitgliedstaats für die Anklageerhebung durch den Europäischen Staatsanwalt einer Kontrolle zu unterwerfen und diese Funktion einem nationalen Gericht zu übertragen. Der Richter, dem die Kontrolle der Klageschrift obliegt, würde selbstverständlich die Rechtmäßigkeit in Bezug auf das nationale Recht insbesondere hinsichtlich der Zuständigkeit kontrollieren. Dabei stellt sich die Frage, ob diese Kontrolle auf offensichtliche Fehler bei der Wahl des Mitgliedstaats für die Anklageerhebung nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts (die oben angeführten Kriterien) ausgedehnt werden sollte. Ohne dem nationalen Gericht die Möglichkeit einer Zensur der Wahl des geeignetsten Gerichtsstands durch den Europäischen Staatsanwalt zu geben, könnte die Kontrolle eines Missbrauchs oder eines offensichtlichen Fehlers eventuell dazu führen, dass ein Mitgliedstaat oder mehrere Mitgliedstaaten die Behandlung der Rechtssache vollständig oder teilweise ablehnen. Die im Übereinkommen vom 25. Juli 1995 festgelegten Kriterien für die gerichtliche Zuständigkeit sollten eine solche Situation theoretisch ausschließen. Mit dieser zweiten Möglichkeit wären jedoch in der Praxis Fälle einer Ablehnung der Zuständigkeit bis hin zu einem negativen Kompetenzkonflikt möglich. Sie sollten von einem auf Gemeinschaftsebene angesiedelten Gericht gelöst werden; dafür käme nur der Europäische Gerichtshof in Frage [147].

[147] Vgl. Kapitel 8 (Richterliche Kontrolle).

Eine dritte Möglichkeit wäre, ein eigenes Gericht auf Gemeinschaftsebene einzurichten, das nachprüft, ob die Wahl des Mitgliedstaats für die Anklageerhebung durch den Europäischen Staatsanwalt dem Vorschlag der Kommission entspricht. Diese Hypothese wird nachstehend gemeinsam mit der Frage der Kontrolle der Klageschrift selbst diskutiert, um diese Fragen umfassend zu behandeln [148].

[148] Siehe 6.4.3 (Benennung des für die Kontrolle der Anklageerhebung zuständigen Richters).

Frage 10: Anhand welcher Kriterien sollte der Mitgliedstaat oder sollten die Mitgliedstaaten für die Anklageerhebung ausgewählt werden* Sollte die Wahl des Gerichtsstands durch den Europäischen Staatsanwalt kontrolliert werden* Wem sollte diese Kontrolle in diesem Fall übertragen werden*

6.3.2. Anklageerhebung

Der Europäische Staatsanwalt hätte die Aufgabe, die öffentliche Anklage bei den Gerichten der Mitgliedstaaten nach dem jeweiligen nationalen Recht zu erheben.

Genauso wenig wie der Vorschlag der Kommission auf die Einrichtung einer Europäischen Gerichtsbarkeit abstellt, zielt er auf die Schaffung einer eigenen europäischen Anklage. Darüber hinaus lässt er die Gerichtsorganisation völlig unberührt. Aufgrund der Komplexität grenzüberschreitender Finanzdelikte könnte zwar bezweifelt werden, dass Laiengerichte die geeignete Rechtsprechungsinstanz dafür sind [149]. Nach Ansicht der Kommission obliegt es gemäß dem Subsidiaritätsprinzip jedoch den Mitgliedstaaten, diese Frage zu beantworten.

[149] Vgl. die Entwicklung des Wortlauts von Artikel 26 Absatz 1 Corpus Juris.

Der Europäische Staatsanwalt bzw. in der Praxis der abgeordnete Europäische Staatsanwalt in dem Mitgliedstaat des Gerichtsstands würde die öffentliche Anklage entsprechend der nationalen Gerichtsorganisation und dem nationalen Verfahren erheben. Obwohl das Strafprozessrecht der Mitgliedstaaten unterschiedlich ist, bestehen im Hauptverfahren weit weniger Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten als im Vorverfahren.

Im Hauptverfahren ist daher eine zentrale Leitung aus Gründen der Wirksamkeit nicht erforderlich. Das nationale Recht würde somit vorbehaltlich bestimmter Änderungen zur Regelung der Erhebung der öffentlichen Anklage durch den Europäischen Staatsanwalt in Fällen, in denen die finanziellen Interessen der Gemeinschaften betroffen sind, grundsätzlich anwendbar bleiben.

6.3.3. Die Europäischen Gemeinschaften als Geschädigte im Strafverfahren

Die Stellung des Geschädigten im Strafverfahren weist in den Mitgliedstaaten deutliche Unterschiede auf. In einigen Mitgliedstaaten kann der Geschädigte dem Verfahren als Neben kläger beitreten, um Schadensersatz geltend zu machen, wobei dies so weit gehen kann, dass er selbst das Verfahren in Gang setzen kann. Der Beitritt als Nebenkläger hat den Vorteil, kein zweites Verfahren nach Zivilrecht einleiten zu müssen. In anderen Mitgliedstaaten wiederum kann der Geschädigte bei der Verhandlung als "amicus curiae" seine Rechtsmeinung darlegen.

Wenn nur der Europäische Staatsanwalt, der in völliger Unabhängigkeit handelt, für die Einleitung der Strafverfolgung zuständig wäre, könnten die Europäischen Gemeinschaften dennoch ein Interesse an einer Teilnahme am Verfahren haben. Der Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften könnte auf verschiedene Art sichergestellt werden, etwa durch einen Verfahrensbeitritt der Gemeinschaften vertreten durch die Kommission als Nebenklägerin, oder durch die Übernahme der Rolle eines Sachverständigen oder Zeugen durch Bedienstete des OLAF oder anderer Gemeinschaftsstellen.

Die Kommission besteht nicht auf einer einheitlichen Rolle der Gemeinschaften als Geschädigte in allen Verfahren, in denen die finanziellen Interessen der Gemeinschaften betroffen sind. Sie wünscht lediglich, dass den Gemeinschaften in jedem Mitgliedstaat dieselben Rechte zugestanden werden, die einem Geschädigten im nationalen Verfahren zustehen.

6.3.4. Beweisregeln

Die fehlende automatische Anerkennung von Beweisen, die rechtmäßig in einem Mitgliedstaat erhoben worden sind, in der gesamten Union vereitelt viel zu oft eine wirksame Strafverfolgung in grenzüberschreitenden Fällen. Aufgrund dieser Situation können Ermittlungsergebnisse in Gerichtsverfahren nicht verwendet werden. Ihre Beibehaltung würde den Bemühungen um eine zentrale Leitung der Strafverfolgung durch die Einrichtung einer Europäischen Strafverfolgungsbehörde zuwiderlaufen. Da die Wirksamkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft ja gerade darin bestuende, dass die von ihr erhobenen Beweismittel im Verfahren verwendet werden können, müssen diese Schwierigkeiten überwunden werden.

6.3.4.1. Zulassung der Beweise

Ein einfacher Verweis auf das nationale Recht kann die Frage der Zulässigkeit von Beweisen im Rahmen eines europäischen Raums der Ermittlung und Strafverfolgung per definitionem nicht klären. Die in einem Mitgliedstaat erhobenen Beweise müssen von den Gerichten der anderen Mitgliedstaaten der Union zugelassen werden, damit die Strafverfolgung in dem für die Anklageerhebung ausgewählten Mitgliedstaat konzentriert werden kann. Die Beweis regeln basieren zwar auf gemeinsamen Grundsätzen, sind aber im Detail zu unterschiedlich, um für die Tätigkeit des Europäischen Staatsanwalts herangezogen zu werden.

Darüber hinaus würde man den Europäischen Staatsanwalt damit zwingen, zwischen einer missbräuchlichen Wahl des Gerichtsstands (Anklagerhebung in dem Mitgliedstaat oder in den Mitgliedstaaten, in dem bzw. in denen die Vorschriften über die Zulässigkeit von Beweismitteln am weitesten gefasst sind) oder der Straflosigkeit der Tat und Ungerechtigkeit der Strafverfolgung (zahlreiche unwirksame Verfolgungshandlungen nach Maßgabe der Beweisregeln) zu wählen.

Diese missliche Lage könnte durch eine gemeinschaftsweite Angleichung der Beweisregeln überwunden werden. Diese Möglichkeit, die auf eine allgemeine europäische Strafgesetz gebung hinauslaufen würde, wäre jedoch unverhältnismäßig zu dem konkreten Ziel einer wirksamen Strafverfolgung bestimmter Delikte gegen wesentliche gemeinsame Interessen. Darüber hinaus bestuende die Gefahr einer großen Komplexität, wenn zugleich zwei Beweissysteme, eines auf gemeinschaftlicher und eines auf nationaler Ebene, vorhanden sind.

Daher scheint weder die Angleichung in Form umfassender Beweisregeln, noch der einfache Verweis auf nationales Recht, sondern die gegenseitige Zulassung von Beweisen die realistischste und zufriedenstellendste Lösung für diesen Fall darzustellen. Demgemäss wäre jedes nationale Gericht, das mit einem Strafverfahren befasst wird, dem eine Beeinträchtigung der finanziellen Interessen der Gemeinschaften zugrunde liegt, verpflichtet, jedes Beweismittel zuzulassen, das nach dem nationalen Recht eines anderen Mitgliedstaats rechtmäßig erhoben wurde. Gemäß dem vom Europäischen Rat in Tampere vorgebrachten Gedanken der gegenseitigen Zulassung "[sollten v]on den Behörden eines Mitgliedstaats rechtmäßig erhobene Beweise vor den Gerichten anderer Mitgliedstaaten zugelassen sein, wobei den dort geltenden Normen Rechnung zu tragen ist" [150].

[150] Schlussfolgerung 36 des Vorsitzes des Europäischen Rates von Tampere.

Ergänzend sollte geprüft werden, ob es sinnvoll wäre, ein Europäisches Befragungs- oder Vernehmungsprotokoll zu schaffen, das dem Europäischen Staatsanwalt in Fällen, in denen er selbst solche Maßnahmen ohne Befassung der nationalen Ermittlungsbehörden durchführen würde, als Modell dienen könnte. Im Gemeinschaftsrecht müsste dazu unter Wahrung der Rechte des Beschuldigten vorgesehen werden, dass der Europäische Staatsanwalt zu besonderen Bedingungen grenzüberschreitende Ermittlungen durchführen kann: er könnte aufgrund einer Zeugenaussage ein Europäisches Befragungsprotokoll und aufgrund der Angaben des Beschuldigten ein Europäisches Vernehmungsprotokoll erstellen, auch wenn die Befragung oder Vernehmung per Videokonferenz erfolgt ist [151].

[151] Siehe Artikel 32 Corpus Juris.

6.3.4.2. Ausschluss rechtswidrig erhobener Beweise

Die gegenseitige Zulassung der Beweise setzt voraus, dass diese in dem Mitgliedstaat, in dem sie sich befinden, rechtmäßig erhoben wurden. Damit stellt sich die Frage des Ausschlusses von Beweisen, die rechtswidrig erhoben wurden.

Sollen Beweise zulässig sein, muss vor allem das nationale Recht des Ortes eingehalten werden, in dem sich die Beweise befinden. Dieses Recht umfasst in allen Mitgliedstaaten die Prinzipien der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Einzuhalten wären auch bestimmte Gemeinschaftsrechtsnormen etwa über den Europäischen Haftbefehl oder das Europäische Befragungs- oder Vernehmungsprotokoll, die Beweisregeln enthalten.

Die Entscheidung über den Ausschluss von Beweisen würde entsprechend der genannten Präferenzen der Kommission von dem Richter getroffen werden, der für die Kontrolle der Anklageerhebung zuständig ist (je nach Mitgliedstaat der ad hoc benannte Richter, der mit der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung befasst ist, oder der Richter im Haupt verfahren) [152]. Die Beweisverwertungsverbote würden sich nach dem Recht des Mitgliedstaats der Beweiserhebung richten. Jedes für den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften zuständige nationale Gericht würde damit die Beweisregeln der anderen beteiligten Mitgliedstaten anwenden. Diese Situation gibt es bereits im Internationalen Privatrecht. Die damit verbundenen praktischen Schwierigkeiten sollten durch den Fortschritt bei der Vernetzung der Justizsysteme der Mitgliedstaaten (Verbindungsrichter und -staatsanwälte, Europäischen Justizielles Netz) verringert werden.

[152] Siehe 6.4.3 (Benennung des für die Kontrolle der Anklageerhebung zuständigen Richters).

Gleichermaßen dürfen Beweise, die bei einem Verwaltungsverfahren nach Gemeinschafts recht gewonnen wurden, im Strafverfahren nur dann verwendet werden, wenn ab dem Zeitpunkt der Einleitung verwaltungsrechtlicher Untersuchungen, sobald Indizien für das Vorliegen einer Straftat vorhanden sind, die Erfordernisse eines Strafverfahrens (Verteidigungsrechte) eingehalten wurden. So müssten Beweise, die bei einer internen verwaltungsrechtlichen Untersuchung der Gemeinschaftsorgane gewonnen wurden, bei den Gerichten der Mitgliedstaaten zugelassen werden, sofern sie unter Wahrung der Grundrechte erhoben wurden [153].

[153] So stellt etwa die Pflicht der Gemeinschaftsbediensteten zur Zusammenarbeit mit OLAF im Rahmen interner verwaltungsrechtlicher Untersuchungen kein Hindernis für die Anwendung des bereits dargelegten Grundrechts dar, nicht am Nachweis seiner eigenen Schuld mitzuwirken (EGMR Rs. Saunders, a.a.O.).

Die Bewertung der Beweiskraft von Beweismitteln, d.h. ihre Eignung, das Gericht von einer Tatsache zu überzeugen, obliegt selbstverständlich der freien Würdigung des Gerichts nach Maßgabe des anzuwendenden nationalen Rechts.

Frage 11: Ist der Grundsatz, nach dem in einem Mitgliedstaat rechtmäßig erhobene Beweise vor den Gerichten der anderen Mitgliedstaaten zugelassen werden sollten, Ihrer Ansicht nach geeignet, in Bezug auf den Europäischen Staatsanwalt die Hindernisse aufgrund der unterschiedlichen Regeln der Mitgliedstaaten über die Zulässigkeit von Beweisen zu überwinden*

6.3.5. Gründe für das Erlöschen der öffentlichen Anklage

Abgesehen von der Verfahrenseinstellung durch den Europäischen Staatsanwalt [154] würden die eingeleiteten Strafverfahren logischerweise mit der Entscheidung des zuständigen Gerichts, bei der es sich um eine Verurteilung oder um einen Freispruch handeln kann, beendet.

[154] Siehe 6.2.4.1. (Verfahrenseinstellung).

Im Hauptverfahren kann die öffentliche Anklage jedoch auch stets aus den Gründen beendet werden, die bereits im Rahmen des Vorverfahrens aufgezählt wurden. So kann die Verjährungsfrist abgelaufen sein [155]. Der Angeklagte kann, wenn es sich um eine natürliche Person handelt, sterben oder untertauchen. Eine allgemeine nationale Maßnahme wie Amnestie oder Begnadigung kann die Strafverfolgung beenden. Die Gründe für das Erlöschen der öffentlichen Anklage im Hauptverfahren richten sich nach dem nationalen Verfahrensrecht.

[155] Siehe 5.5 (Verjährungsfrist).

6.3.6. Urteilsvollstreckung

Die Kommission beabsichtigt nicht, dem Europäischen Staatsanwalt eine Rolle bei der Urteilsvollstreckung zu übertragen, wie sie die nationalen Staatsanwälte im allgemeinen in diesem Bereich ausüben [156]. Der Verweis in dieser Frage auf das nationale Recht dürfte durch die Fortschritte in Folge des Europäischen Rates von Tampere erleichtert werden.

[156] Für eine gegenteilige Möglichkeit siehe insbesondere Artikel 23 Corpus Juris.

6.4. Gewährleistung der richterlichen Kontrolle

Handlungen des Europäischen Staatsanwalts, die einen Eingriff in die Grundrechte des einzelnen darstellen, sollten nur nach vorheriger Genehmigung durch einen Richter, dessen Rolle noch zu definieren ist, zulässig sein. Die Kommission hat vorgeschlagen, in den EG-Vertrag eine Bestimmung aufzunehmen, wonach der Gemeinschaftsgesetzgeber "die Bedingungen für die Ausübung des Amtes des Europäischen Staatsanwalts fest[legt] und insbesondere [...] c) Vorschriften über die richterliche Kontrolle der vom Europäischen Staatsanwalt in Ausübung seines Amtes vorgenommenen Verfahrenshandlungen [erlässt]."

6.4.1. Aufgaben des Richters

Jeder Richter, der Handlungen des Europäischen Staatsanwalts überprüft, müsste alle Garantien eines gerichtlichen Organs erfuellen. Es müsste sich gemäß den von allen Mitgliedstaaten anerkannten allgemeinen Grundsätzen um einen fachkundigen, unabhängigen und unparteiischen Richter handeln [157].

[157] Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union; Artikel 6 Absatz 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten.

Der Richter, der Handlungen des Europäischen Staatsanwalts überprüft, hat die Aufgabe, die richterliche Kontrolle sicherzustellen. Dabei sind zwei Funktionen zu unterscheiden:

- Im Vorverfahren obliegt dem Richter, der die Kontrolle über Handlungen wahrnimmt, die mit der Ausübung von Zwangsgewalt verbunden sind, d.h. dem "Richter im Ermittlungsverfahren" die Kontrolle der Wahrung der Grundsätze der Gesetz- und Verhältnismäßigkeit, wenn er die Handlungen genehmigt, die der Europäische Staatsanwalt ergreift, bzw. die Handlungen selbst durchführt, die der Europäische Staatsanwalt beantragt, die einen Eingriff in die Grundrechte darstellen (siehe Punkt 6.4.2).

- Am Ende des Vorverfahrens bestätigt der Richter, der die Kontrolle der Anklageerhebung ausübt, aufgrund der Entscheidung des Europäischen Staatsanwalts die Anklagepunkte, aufgrund derer der Europäische Staatsanwalt Anklage vor Gericht erheben will, sowie die Gültigkeit der Befassung des erkennenden Gerichts. Er prüft, ob die Beweise ausreichend und zulässig sind, ob das Verfahren ordnungsgemäß abgelaufen ist, damit nicht zu Unrecht Klage erhoben und der Beschuldigte stigmatisiert wird (siehe Punkt 6.4.3).

6.4.2. Benennung des Richters im Ermittlungsverfahren

Aus organisatorischer Sicht wäre es theoretisch möglich, die Einrichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft mit der Schaffung eines Gemeinschaftsgerichts zu verbinden, das die Aufgaben des Richters im Ermittlungsverfahren ausübt. Aber anhand welchen Rechts sollte das erfolgen, wenn nicht nach Gemeinschaftsrecht* Diese Lösung würde die Festlegung gemeinsamer Rechtsvorschriften im Bereich der Ermittlungsmaßnahmen voraussetzen, d.h. ein komplettes europäisches Recht über die Durchsuchung, die Beschlagnahme, die Überwachung der Kommunikation, die Zwangsvorführung, die Verhaftung, die richterliche Kontrolle, die vorläufige Festnahme usw. Dies entspricht nicht den Vorstellungen der Kommission.

Der Richter im Ermittlungsverfahren könnte auf nationaler Ebene angesiedelt werden [158]. Unter dieser Bedingung braucht keine Europäische Vorverfahrenskammer eingerichtet werden. Die Mitgliedstaaten könnten die Zahl der Richter im Ermittlungsverfahren und ihre Arbeitsweise regeln. Die Richter im Ermittlungsverfahren könnten von den Mitgliedstaaten aus den Gerichten ernannt werden, an deren Ort die abgeordneten Europäischen Staatsanwälte ihren Dienstsitz haben. Nach Maßgabe der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müsste die Funktion des Richters im Ermittlungsverfahren von der Funktion des Richters im Hauptverfahren getrennt werden [159].

[158] Vorbehaltlich von Artikel 234 EG-Vertrag sowie der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C-314/85, "Foto-Frost", Slg. 1987, S. 4199.

[159] Siehe insbesondere das Urteil des EGMR vom 24.5.1989 in der Rs. Hauschildt gegen Dänemark, Reihe A, Nr. 54 sowie das Urteil des EGMR vom 24.8.1993 in der Rs. Nortier gegen Niederlande, Reihe A , Nr. 267.

Aus funktionaler Sicht würde der nationale Richter im Ermittlungsverfahren des Mitgliedstaats befasst werden, dem der zuständige abgeordnete Europäische Staatsanwalt angehört. Damit könnten mehrere nationale Richter im Ermittlungsverfahren an derselben Sache arbeiten, wenn sich die Tätigkeit des Europäischen Staatsanwalts auf mehrere Mitgliedstaaten erstreckt.

Dabei bestehen drei Möglichkeiten. Der Europäische Staatsanwalt könnte sich als erste Möglichkeit in jedem Mitgliedstaat, in dem eine Ermittlungshandlung durchgeführt werden soll, an den Richter im Ermittlungsverfahren wenden.

Als zweite Möglichkeit könnte sich der Europäische Staatsanwalt nur an einen nationalen Richter im Ermittlungsverfahren wenden, der alle notwendigen Ermittlungshandlungen anordnet oder genehmigt, die gemäß dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung im gesamten Hoheitsgebiet der Gemeinschaften vollstreckbar sind.

Als dritte Möglichkeit könnte es dem Europäischen Staatsanwalt überlassen werden, nach Maßgabe des Sekundärrechts die beiden vorstehend genannten Möglichkeiten zu verbinden. Soll der Richter im Ermittlungsverfahren Handlungen anordnen oder genehmigen, deren Vollstreckungsort bereits bekannt ist, sollte sich der Europäische Staatsanwalt an den nationalen Richter im Ermittlungsverfahren wenden, der seinen Dienstsitz im Vollstreckungsmitgliedstaat hat. Ist der Vollstreckungsort der Maßnahmen hingegen nicht von vornherein bekannt, könnte er sich an einen einzigen nationalen Richter im Ermittlungsverfahren wenden, dessen Entscheidung im gesamten Hoheitsgebiet der Gemeinschaften anerkannt wird.

Der Europäische Staatsanwalt könnte zum Beispiel die Durchsuchung des Fahrzeugs und der Wohnung des Beschuldigten im Mitgliedstaat A und die Abhörung bestimmter Telefongespräche, die dieser über sein Mobiltelefon geführt hat, vornehmen wollen. Dazu könnte der Staatsanwalt den Richter im Ermittlungsverfahren des Mitgliedstaats A um Genehmigung aller dieser Maßnahmen ersuchen und die im Mitgliedstaat A befindliche Wohnung durchsuchen. Auf diese gegenseitig anerkannte Genehmigung könnte es sich ebenso stützen, um das Fahrzeug des Beschuldigten zu durchsuchen und seine Telefon gespräche abzuhören, auch wenn sich dieser in der Zwischenzeit in den Mitgliedstaat B begeben hat.

Die Kommission würde eine der beiden letztgenannten Möglichkeiten vorziehen, da nur diese dem Grundsatz der Schaffung eines gemeinsamen Raums der Ermittlung und Strafverfolgung gerecht werden. Um die Wirksamkeit der Ermittlungen sicherzustellen, sollten die Entscheidungen des Richters im Ermittlungsverfahren eines Mitgliedstaats überall in diesem Raum anerkannt werden. Die Effizienz der Tätigkeit des nationalen Richters im Ermittlungsverfahren beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung. Um den Ermittlungshandlungen des Europäischen Staatsanwalts in der gesamten Union Wirkung zu verleihen, müssten die von den nationalen Richtern im Ermittlungsverfahren angeordneten oder genehmigten Handlungen im gesamten europäischen Raum vollstreckbar sein.

Auch in diesem Fall wird die gegenseitige Anerkennung durch die allen Mitgliedstaaten gemeinsame Basis an Rechtsgrundsätzen ermöglicht. Die hier angestrebten Ermittlungsmaßnahmen sind in den Strafprozessordnungen aller Mitgliedstaaten vorgesehen. Sie unterliegen in allen Mitgliedstaaten den in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten anerkannten Grundsätzen. Die einzelnen nationalen Rechtsvorschriften stellen damit kein Hindernis für die gegenseitige Anerkennung der Entscheidungen der nationalen Richter im Ermittlungsverfahren dar.

Das internationale Rechtshilfeersuchen hätte damit im Bereich des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaften keine Funktion mehr. Das europäische Recht würde sich darauf beschränken, die Gültigkeit der Handlungen des nationalen Richters im Ermittlungsverfahren auf die gesamte Union auszudehnen. Ansonsten würde sich das Verfahren zur Genehmigung und Kontrolle der Handlungen nach internem Recht richten.

Soll beispielsweise im Mitgliedstaat A aufgrund der Verfügung des Richters im Ermittlungsverfahren des Mitgliedstaats B eine Durchsuchung vorgenommen werden, so dürfte sie nicht abgelehnt werden können, sondern müsste zwingend nach Maßgabe des Rechts des Mitgliedstaats A durchgeführt werden.

Frage 12: Wem sollte die Kontrolle der unter der Leitung des Europäischen Staatsanwalts durchgeführten Ermittlungshandlungen übertragen werden*

6.4.3. Benennung des für die Kontrolle der Anklageerhebung zuständigen Richters

Aus organisatorischer Sicht stehen mehrere Optionen für die richterliche Kontrolle der Anklageerhebung offen. Nach Maßgabe der Ansiedlung der Instanz auf europäischer oder nationaler Ebene können zwei Möglichkeiten in Aussicht genommen werden.

Die erste Möglichkeit zur Regelung der Kontrolle der Anklagerhebung besteht darin, eine Europäische Vorverfahrenskammer einzurichten. Auf diese Möglichkeit wurde bereits hinsichtlich der Kontrolle der Wahl des Mitgliedstaats verwiesen [160]. Sie könnte sich an der Regelung orientieren, die im Rahmen bestimmter internationaler Strafgerichte getroffen wurde (dem mit der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung befassten Richter ("pre-trial judge") des Internationalen Gerichts für das ehemalige Jugoslawien [161] und, mehr noch, der "Vorverfahrenskammer" des künftigen Internationalen Strafgerichtshofs [162]).

[160] Siehe 6.3.1 (Wahl des Mitgliedstaats für die Anklageerhebung).

[161] Artikel 65 b der Verfahrensordnung und Beweisregeln des Internationalen Gerichts für das ehemalige Jugoslawien vom 11.2.1194, geändert am 10.7.1998.

[162] Artikel 56 ff. des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs.

Eine solche Kammer hätte die Aufgabe, die Entscheidung des Europäischen Staatsanwalts zur Anklageerhebung zu überprüfen. Die Kontrolle der Europäischen Vorverfahrenskammer könnte sich nicht nur auf die Wahl des Gerichtsstands, sondern auch auf das Vorliegen ausreichender Beweise erstrecken. Sie könnte von Amts wegen oder nur auf Antrag des Angeschuldigten tätig werden.

Die Schaffung einer gerichtlichen Instanz auf Gemeinschaftsebene zur Vorbereitung des Hauptverfahrens möglicherweise in Form einer eigenen Kammer des Gerichtshofs hätte den Vorteil, die Kontrolle der Anklageerhebung einem einzigen, spezialisierten Gericht zu übertragen und direkt eine einheitliche Rechtsanwendung sicherzustellen. Die Einrichtung einer solchen Kammer würde aber eine Vertragsänderung voraussetzen, die über den Beitrag der Kommission zur Regierungskonferenz hinausgeht, weshalb eine andere Lösung gefunden werden muss.

Nach der zweiten Möglichkeit würde ein nationaler Richter, der von jedem Mitgliedstaat dazu benannt wird, die Kontrolle der Anklageerhebung ausüben. Diese Lösung würde somit nicht die Schaffung einer neuen gerichtlichen Instanz voraussetzen. Die einzelnen Mitgliedstaaten könnten unterschiedliche Arten von Instanzen auswählen. Je nach Mitgliedstaat kann es sich bei dem Richter, der die Anklageschrift allgemein prüft und das Verfahren von Nichtigkeitsgründen reinigt, um einen ad hoc benannten Richter oder den Richter im Hauptverfahren handeln. Bei dieser Lösung werden die Unterschiede der Justizsysteme gewahrt, und es besteht die Möglichkeit, in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Instanzen für die Kontrolle der Anklageerhebung zu benennen.

Die Kommission würde die zweite Lösung vorziehen. Die Einrichtung einer neuen gerichtlichen Instanz auf Gemeinschaftsebene könnte somit verhindert werden, sofern, wie bereits dargelegt wurde, der Gerichtshof Kompetenzkonflikte, die allerdings in der Praxis selten vorkommen würden, entscheiden könnte. Jedenfalls gilt es, eine gewisse Flexibilität bei der Wahl des Richters zu bewahren, dem die Kontrolle der Anklageerhebung zukommen soll. Es muss möglich sein, dass dieser Richter einem anderen Mitgliedstaat angehört als jenem, in dem der zuständige Richter im Ermittlungsverfahren seinen Dienstsitz hat.

Aus funktionaler Sicht würde der Europäische Staatsanwalt den für die Kontrolle der Anklageerhebung zuständigen Richter jenes Mitgliedstaats befassen, in dem er ein Urteil erlangen möchte. Dabei muss er die oben angeführten Gemeinschaftskriterien für die Wahl des Mitgliedstaats des Gerichtsstands anwenden, die gegebenenfalls durch das nationale Recht ergänzt werden. Der Gerichtshof wäre befugt, diese Wahl a posteriori zu kontrollieren [163].

[163] Siehe Kapitel 8 (richterliche Kontrolle).

Frage 13: Wem sollte die Kontrolle der Anklageerhebung übertragen werden*

***

Frage 14: Sind Sie der Ansicht, dass die Grundrechte des einzelnen im Zuge des für den Europäischen Staatsanwalt vorgeschlagenen Verfahrens ausreichend geschützt werden* Wird insbesondere das Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt zu werden (Punkt 6.2.1), hinreichend garantiert*

7. Beziehungen zu den anderen akteuren

Die Stellung der Europäischen Staatsanwaltschaft im derzeitigen institutionellen Gefüge sollte insbesondere vor dem Hintergrund der derzeitigen Entwicklungen in der Europäischen Union genau geprüft werden.

7.1. Zusammenarbeit mit den Behörden der Mitgliedstaaten

Die Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft würde die Ermittlungs- und Strafverfolgungssysteme der Mitgliedstaaten nicht tiefgreifend verändern. Nach wie vor auf der nationalen Ebene angesiedelt wären

- die Kriminalpolizei,

- die richterliche Kontrolle (Richter im Ermittlungsverfahren und gegebenenfalls Richter, dem die Kontrolle über die Anklageerhebung obliegt),

- das Hauptverfahren,

- die Vollstreckung der Urteile.

Über die weiter oben dargelegte Kompetenzabgrenzung hinaus müsste also die ständige Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Staatsanwaltschaft und den Behörden der Mitgliedstaaten vorgesehen werden. Die Beziehungen zwischen der Europäischen Staatsanwaltschaft und den nationalen Polizei- und Justizbehörden wären in sekundärrechtlichen Gemeinschaftsvorschriften zu regeln.

Zum einen müsste der bereits erwähnte Dialog zwischen der Europäischen Staatsanwaltschaft und den Strafverfolgungsbehörden formal und inhaltlich ausgestaltet werden, um die gegenseitigen Konsultationen, den Informationsaustausch und die Amtshilfe zu erleichtern [164] Das gilt insbesondere für die Behandlung der "gemischten" Fälle.

[164] Vgl. 6.2.2.2 (Kompetenzverteilung zwischen dem Europäischen Staatsanwalt und den nationalen Strafverfolgungsbehörden)

Zum anderen ist die Durchführung der vom "Richter im Ermittlungsverfahren" angeordneten oder genehmigten Ermittlungshandlungen zu regeln. Dazu sind weiter oben mehrere Optionen aufgezeigt worden [165]. Ziel ist in jedem Fall, dass die Europäische Staatsanwaltschaft von den nationalen Strafverfolgungsbehörden unterstützt wird.

[165] Vgl. 6.2.3.2 (Arbeitsbeziehung zu den nationalen Ermittlungsstellen).

7.2. Beziehungen zu den Akteuren der Zusammenarbeit in Strafsachen im Rahmen der Europäischen Union

Die Europäische Staatsanwaltschaft wird ausschließlich für den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften zuständig sein. Es dürfte daher nicht schwierig sein, die funktionale Komplementarität zwischen den Stellen, die für die Zusammenarbeit in Strafsachen zuständig sind, und der Staatsanwaltschaft, deren Aufgaben einen höheren Integrationsgrad aufweisen und auch spezieller sind, zu gewährleisten. In Anbetracht der derzeitigen Entwicklungen im Rahmen der dritten Säule kann hier lediglich aufgezeigt werden, wo die Überlegungen ansetzen könnten. Insbesondere sollte über ausgewogene und kohärente Beziehungen der Europäischen Staatsanwaltschaft mit folgenden Partnern nachgedacht werden.

7.2.1. Eurojust

In Kürze wird im Rahmen der dritten Säule eine Europäische Stelle für justizielle Zusammenarbeit geschaffen (Eurojust), die insbesondere die Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden der Mitgliedstaaten erleichtern und zu einer gut funktionierenden Koordinierung der Strafverfolgung bei schweren Verbrechen, insbesondere der organisierten Kriminalität beitragen soll. Die Schaffung dieser Einrichtung ist in den Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates von Tampere [166] und im Vertrag von Nizza [167] vorgesehen. Der Rat hat mit Entscheidung vom 14. Dezember 2000 eine vorläufige Stelle ("Pro-Eurojust") eingerichtet [168], die am 1. März 2001 ihre Arbeit aufgenommen hat. Das Grünbuch will den künftigen Aufgaben von Eurojust nicht vorgreifen, sondern lediglich einige Denkansätze liefern.

[166] Schlussfolgerung 46.

[167] Geänderte Artikel 29 und 31 EU-Vertrag (ABl. C 80 vom 10.3.2001).

[168] ABl. L 324 vom 21.12.2000, S. 2.

Während die Europäische Staatsanwaltschaft eine Einrichtung der Gemeinschaft sein soll, die mit einer spezifischen Strafverfolgungsbefugnis auf dem Gebiet des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaften ausgestattet wäre, sollen Eurojust breit gefächerte und unter die justizielle Zusammenarbeit fallende Zuständigkeiten übertragen werden [169]. Wird die Europäische Staatsanwaltschaft geschaffen, wäre es gegebenenfalls durchaus logisch, die Zuständigkeit von Eurojust für Finanzkriminalität aufrechtzuerhalten, sofern die vorrangige Zuständigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft für den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften vorgesehen wird. In den Fällen, in denen die Verstöße sowohl die Bestimmungen des EG-Vertrags über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften, als auch die dritte Säule, d.h. den EU-Vertrag, betreffen [170], müsste diese klare Kompetenzabgrenzung mit einer aktiven Zusammenarbeit einhergehen. Die Funktionen beider Stellen würden einander also ergänzen: Beide würden - nach der Methode der ersten Säule für die eine und der dritten Säule für die andere - zur Verwirklichung des Ziels eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beitragen.

[169] Mitteilung der Kommission zur Einrichtung von Eurojust vom 22.11.2000, KOM(2000)746); Entwurf einer Entscheidung des Rates vom 19.10. 2001 zur Einsetzung von Eurojust (Dokument EUROJUST 12 Nr. 12727)

[170] Im Sinne dieses Grünbuchs wird unterschieden zwischen den "gemischten Fällen", bei denen es um Straftatbestände geht, die mit Blick auf den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften definiert wurden, als auch um Delikte nach nationalem Recht, und den der ersten und dritten Säule zuzuordnenden Fällen, bei denen es um die finanziellen Interessen der Gemeinschaften als auch um Straftatbestände geht, die der dritten Säule zuzuordnen sind und für die Eurojust zuständig wäre. Die "säulenübergreifenden" Fälle sind somit eine Unterkategorie der gemischten Fälle: Beide Arten von Fällen erfordern die Zusammenarbeit mit den nationalen Strafverfolgungsbehörden; die säulenübergreifenden Fälle erfordern darüber hinaus eine Zusammenarbeit im Rahmen von Eurojust.

Diese Komplementarität bedeutet, dass beide Stellen im Rahmen ihrer Kompetenzen eng und regelmäßig zusammenarbeiten, u.a. zur Übermittlung aller zweckdienlichen Informationen. Der Informationsaustausch wird unter Beachtung der Datenschutzvorschriften zu erfolgen haben.

Es werden zweifellos Fälle abzuwickeln sein, die beiden Säulen zuzuordnen sind, beispielsweise eine Kombination von Drogenhandel (dritte Säule) und Zigarettenschmuggel zum Nachteil der Eigenmittel der Gemeinschaften (erste Säule).

Bei "säulenübergreifenden" Fällen, die den Rahmen des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaften sprengen, wird jede Stelle auf der Grundlage eines Informationsaustauschs den ihr eigenen Mehrwert erbringen müssen, wobei Eurojust in den Dialog zwischen der Europäischen Staatsanwaltschaft und die nationalen Strafverfolgungsbehörden einbezogen wird. [171]

[171] Siehe 6.2.2.2 Buchstabe c (Dialog zwischen der Europäischen Staatsanwaltschaft und den nationalen Strafverfolgungsbehörden)

7.2.2. Europol

Das Europäische Polizeiamt Europol wurde am 26. Juli 1995 durch ein Übereinkommen der dritten Säule geschaffen [172] und hat am 1. Juli 1999 den Betrieb aufgenommen. Es hat den Auftrag, u.a. durch Informationsaustausch und Analyse der von den mitgliedstaatlichen Polizeibehörden übermittelten Informationen zur Prävention und Bekämpfung von organisierter Kriminalität beizutragen. Derzeit werden Überlegungen über eine Ausweitung seiner Zuständigkeiten um operative Aufgaben angestellt. Auch für diese Einrichtung kann heute noch nicht gesagt werden, welches genau ihre Aufgaben sein werden.

[172] ABl. C 316 vom 27.11.1995, Seite 1.

Gegenwärtig ist eine Zusammenarbeit zwischen Europol und der Kommission, einschließlich des OLAF mit Blick auf den Informationsaustausch und die Komplementarität ihrer jeweiligen Aufgaben vorgesehen. Die Komplementarität von Europol und Europäischer Staatsanwaltschaft müsste ebenfalls vorgesehen werden.

Für den Informationsaustausch bedarf es eines geeigneten Konzepts. Auch hier werden die Datenschutzregelungen zu beachten sein. Die Zusammenarbeit sollte es der Europäischen Staatsanwaltschaft ermöglichen, Zugang zu allen für den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften relevanten Informationen zu erhalten.

Wenn beispielsweise eine von Europol identifizierte kriminelle Gruppierung sowohl Menschenhandel als auch Alkoholschmuggel betreibt, müsste die Europäische Staatsanwaltschaft über die Aspekte des Falls informiert werden, bei denen Eigenmittel der Gemeinschaften auf dem Spiel stehen.

Umgekehrt müsste die Europäische Staatsanwaltschaft Europol alle Informationen, die seinen Zuständigkeitsbereich betreffen, übermitteln.

In einem Fall, bei dem es gleichzeitig um Schmuggel von Agrarerzeugnissen und einem Mechanismus zum Einsammeln und Waschen von Erlösen aus illegalen Geschäften geht, müsste die Europäische Staatsanwaltschaft Europol von der Existenz dieses Mechanismus informieren, wenn der Verdacht besteht, dass er auch im Rahmen anderer illegaler Praktiken, beispielsweise einer europaweiten Verschiebung gestohlener Fahrzeuge eingesetzt wird.

7.2.3. Europäisches Justizielles Netz

Die Europäische Staatsanwaltschaft müsste über die abgeordneten Europäischen Staatsanwälte ein spezialisiertes justizielles Netz aufbauen, das sie für seine eigenen Zwecke einsetzen kann. Doch sollten Synergien mit allen allgemeinen Instrumenten angestrebt werden, die es bereits gibt. Die Europäische Staatsanwaltschaft könnte von Fall zu Fall mit den Verbindungsrichtern/-staatsanwälten zusammenarbeiten, für die durch die gemeinsame Maßnahme vom 22. April 1996 eine Rahmenregelung aufgestellt wurde [173].

[173] Gemeinsame Maßnahme des Rates vom 22. April 1996, mit der ein Rahmen für die Entsendung und die Aufnahme von Richtern/Staatsanwälten, Beamten und Sachverständigen auf der Grundlage bi- oder multilateraler Vereinbarungen aufgestellt wurde (ABl. L 105 vom 27.4.1996, Seite 1.).

Erforderlichenfalls könnte sich eine Annäherung an das Europäische Justizielle Netz als noch sinnvoller erweisen. Hauptaufgabe dieses Netzes ist, die Kontakte und die Zusammenarbeit zwischen den örtlich und unmittelbar zuständigen Behörden zu erleichtern, indem es sich an der Verbreitung der Informationen beteiligt, die die auf länderübergreifende Fälle anwendbaren Rechtsvorschriften und Verfahren betreffen. Es wurde am 29. Juni 1998 mit einem Instrument der dritten Säule - einer Gemeinsamen Maßnahme des Rates - eingerichtet [174] und besteht aus Kontaktstellen. Diese unterstehen den zuständigen Behörden in den Mitgliedstaaten und decken deren jeweiliges Hoheitsgebiet ganz oder zum Teil ab.

[174] ABl. L 191 vom 7.7.1998, S. 4.

Das Europäische Justizielle Netz wirkt in erster Linie auf Ebene der direkten bilateralen Beziehungen zwischen den zuständigen Behörden. Seine Aufgaben sind daher anders angelegt als die der Europäischen Staatsanwaltschaft, ergänzen sie aber auch. Die Kontaktstellen des Europäischen Justiziellen Netzes könnten Ansprechpartner der Europäischen Staatsanwaltschaft sein, insbesondere bei "gemischten" Fällen, bei denen es um die Interessen sowohl der Gemeinschaft als auch der Mitgliedstaaten geht [175]. So wäre es denkbar, dass die abgeordneten Europäischen Staatsanwälte auf Einladung des Netzes an bestimmten von diesem einberufenen Sitzungen teilnehmen.

[175] Siehe 6.2.2.2. (Kompetenzverteilung zwischen dem Europäischen Staatsanwalt und den nationalen Strafverfolgungsbehörden)

Frage 15: Welche Regeln sind vorzusehen, damit sich die Beziehungen zwischen der Europäischen Staatsanwaltschaft und den Akteuren der Zusammenarbeit in Strafsachen im Rahmen der EU reibungslos gestalten*

7.3. Beziehungen zu den Organen, Einrichtungen sowie Ämtern und Agenturen der Gemeinschaft

7.3.1. Allgemeines

Die Organe, Einrichtungen, Ämter und Agenturen, die auf der Grundlage des EG-Vertrags und des Euratom-Vertrags errichtet worden sind, sowie ihre Bediensteten sollten gehalten sein, die Europäische Staatsanwaltschaft über jede Ihnen bekannten Tatsache zu informieren, die eine in die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft fallende Straftat darstellen könnte, beziehungsweise sie damit zu befassen [176].

[176] Die Organe sind das Europäische Parlament, der Rat, die Kommission, der Gerichtshof und der Rechnungshof (Artikel 7 EG-Vertrag).

Die Frage stellt sich, ob das OLAF, wie derzeit in den Rechtsvorschriften vorgesehen, dann noch über diese Tatsachen in Kenntnis gesetzt werden muss [177].

[177] Artikel 7 der Verordnungen Nr. 1073/99 und Nr. 1074/99; Artikel 2 des Standardbeschlusses im Anhang zur vorgenannten Interinstitutionellen Vereinbarung vom 25.5.1999.

7.3.2. Künftige Rolle des OLAF

Die Zuständigkeit des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung umfasst nach dem Willen des Gesetzgebers die Wahrung der Interessen der Gemeinschaft gegenüber rechtswidrigen Handlungen, die verwaltungs- oder strafrechtlich geahndet werden könnten. Bei seiner Schaffung wurde ihm die Befugnis übertragen, verwaltungsrechtliche Untersuchungen durchzuführen; gleichzeitig liegt es in seiner Natur, den nationalen Justizbehörden einen Teil seiner operativen Ergebnisse zu übermitteln. Im Beschluss zur Errichtung des OLAF ist festgeschrieben, dass es "direkter Ansprechpartner der Polizei- und Justizbehörden" ist [178]

[178] Artikel 2 Absatz 6 des vorgenannten Beschlusses der Kommission vom 28.4.1999.

Die Einrichtung einer für den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften zuständigen Europäischen Staatsanwaltschaft würde sich insoweit auf die derzeitige Rolle des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) auswirken, als Ermittlungen und Strafverfolgung dann durch die Gemeinschaftsebene veranlasst würden. Da die materiellrechtlichen Zuständigkeitsbereiche beider Stellen ("Zusammentragung von Tatbeständen") sich überschneiden werden, wird darauf zu achten sein, dass die Verknüpfungspunkte zwischen beiden angemessen geregelt sind. [179]

[179] Siehe 6.1 (Information und Befassung).

Die Pflicht zur Unterrichtung des OLAF sollte an die Regeln zur Befassung der Europäischen Staatsanwaltschaft angepasst werden. Um unnötige Ermittlungsarbeit zu vermeiden, müsste die Europäische Staatsanwaltschaft zudem die Ergebnisse der Untersuchungstätigkeit des OLAF für seine eigene Zwecke verwenden können [180]. Das bedeutet, dass die Pflicht des OLAF zur Übermittlung der Informationen an die Europäische Staatsanwaltschaft vorzusehen wäre.

[180] Siehe 6.3.4 (Beweisregeln)

Status und Aufgaben des OLAF müssten also im Lichte der Befugnisse der Europäischen Staatsanwaltschaft neu überdacht werden, wobei der Acquis communautaire auf dem Gebiet der verwaltungsrechtlichen Kontrolle nicht angetastet werden darf. Es bieten sich mehrere Optionen an, die hier allerdings nicht im Einzelnen dargelegt werden sollen, da die Kommission zunächst, wie in den Rechtsvorschriften vorgesehen, das derzeitige System einer Bewertung unterziehen wird [181]. Hier wird daher lediglich aufgezeigt, in welchen Punkten grundsätzliche Entscheidungen zu treffen sein werden.

[181] Dieses Grünbuch berührt nicht den Bewertungsbericht gemäß Artikel 15 der Verordnungen Nr. 1073/99 und 1074/99, den die Kommission unter Berücksichtigung der möglichen Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft erstellen wird.

Zunächst ist die Frage zu stellen, inwieweit dem OLAF die Befugnis übertragen werden könnte, strafrechtliche Ermittlungen innerhalb der EU-Organe, Einrichtungen, Ämter und Agenturen durchzuführen, da die Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft, die der Kontrolle eines nationalen Richters im Ermittlungsverfahren oder einer besonderen Kammer des Europäischen Gerichtshofs unterläge, den Weg ebnen würde für eine richterliche Kontrolle des Amtes.

In diesem Zusammenhang könnte geprüft werden, ob die funktionelle Dualität des OLAF, das eine Dienststelle der Kommission ist, aber über Untersuchungsautonomie verfügt, aufrechterhalten werden sollte, oder ob es nicht angezeigt wäre, einen Teil des OLAF völlig aus der Kommission auszugliedern. Diese Frage wird sich allerdings erst dann beantworten lassen, wenn die Kommission ihre Bewertung des derzeitigen Systems des OLAF vorgelegt hat.

Frage 16: Was ist, mit Blick auf die von der Kommission vorzunehmende Bewertung der Stellung des OLAF, hinsichtlich der Verknüpfungspunkte zwischen der Europäischen Staatsanwaltschaft und dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) zu beachten*

7.4. Beziehungen zu Drittländern

Im Bereich ihrer Zuständigkeit sollte die Europäische Staatsanwaltschaft der direkte Ansprechpartner der zuständigen Behörden der Drittländer für Fragen im Zusammenhang mit der Rechtshilfe sein.

Bislang haben jedoch nur die Mitgliedstaaten bilaterale Rechtshilfeabkommen mit Drittländern geschlossen. Es ist durchaus denkbar, dass die Gemeinschaften eines Tages solche Abkommen schließen werden, die es der Europäischen Staatsanwaltschaft erlauben werden, Rechtshilfeersuchen an die Justizbehörden der Staaten zu richten, die diese Übereinkommen unterzeichnet haben.

Die zurzeit einfachste Lösung wäre, vorzusehen, dass die Europäische Staatsanwaltschaft die zuständigen Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten bitten kann, gemäß den anwendbaren völkerrechtlichen Regeln ein Rechtshilfeersuchen direkt an das betreffende Drittland zu richten. Diese Behörden könnten verpflichtet werden, diesem Ersuchen mit der gebotenen Eile nachzukommen.

Findet mit bestimmten Drittländern eine regelmäßige Zusammenarbeit statt, wäre es für die Europäische Staatsanwaltschaft zudem von Vorteil, sich in diesen Ländern für alle Fragen im Zusammenhang mit dem Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften an eine zentrale Kontaktstelle wenden können.

Unter den Drittländern kommt den Beitrittsländern eine besondere Bedeutung zu. Sie sind - und werden es auch in Zukunft sein - Empfänger umfangreicher Hilfen aus dem Gemeinschaftshaushalt. Daher wurden Sachverständige aus den derzeitigen Beitrittsanwärterstaaten in die Vorarbeiten zum Corpus juris eingebunden [182].

[182] Étude sur les sanctions pénales et administratives, le recouvrement, la dénonciation et le Corpus juris dans les pays candidats [Verwaltungs- und strafrechtliche Sanktionen, Einziehung, Strafanzeige und der Corpus juris in den Bewerberländern], rapport général, Ch. Van den Wingaert, 19.9.2001, (noch nicht veröffentlicht).

Frage 17: Wie sollten sich die Beziehungen der Europäischen Staatsanwaltschaft zu Drittländern, insbesondere den Beitrittsländern, mit Blick auf eine bessere Bekämpfung von Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaften gestalten*

8. Richterliche Kontrolle der Handlungen des Europäischen Staatsanwalts

Die Kommission hat die Aufnahme eines Passus in den EG-Vertrag vorgeschlagen, wonach der Gemeinschaftsgesetzgeber die "Bedingungen für die Ausübung des Amts des Europäischen Staatsanwalts fest[legt] und [...] insbesondere [...] c) Vorschriften über die richterliche Kontrolle der vom Europäischen Staatsanwalt in Ausübung seines Amts vorgenommenen Verfahrenshandlungen [erlässt]."

Wie weiter oben ausgeführt, sollen die Handlungen des Europäischen Staatsanwalts einer mehrfachen Kontrolle unterzogen werden. Diese Kontrolle soll unter anderem durch den nationalen Richter im Ermittlungsverfahren vorgenommen werden bzw. durch den Richter, der die Überweisung an das erkennende Gericht überprüft. [183] Daneben soll der Europäische Staatsanwalt auch für sein Verhalten disziplinarisch zur Rechenschaft gezogen werden können. [184] Gegenstand der folgenden Ausführungen ist die richterliche Kontrolle der Handlungen des Europäischen Staatsanwalts.

[183] Siehe 6.4.2 (Richter im Ermittlungsverfahren).

[184] Siehe 4.1.2.2 und 4.2.1.1 (Disziplinarregelung für den Europäischen Staatsanwalt bzw. die abgeordneten Europäischen Staatsanwälte).

Gegen jede Maßnahme des Europäischen Staatsanwalts, die eine Einschränkung der Grundrechte des Einzelnen beinhaltet, sollte der Rechtsweg gegeben sein.

8.1. Angreifbare Handlungen des Europäischen Staatsanwalts

8.1.1. Ermittlungshandlungen, die eine Freiheitsbeschränkung oder -entziehung bewirken

Der Rechtsweg sollte gegen Ermittlungshandlungen des Europäischen Staatsanwalts gegeben sein, die eine Freiheitsbeschränkung oder -entziehung zur Folge haben. Es handelt sich dabei um Handlungen, die der Richter im Ermittlungsverfahren auf Antrag des Europäischen Staatsanwalts vornimmt: Ausstellung des Haftbefehls, Anordnung der Untersuchungshaft, Unterstellung unter richterliche Kontrolle.

In allen Mitgliedstaaten hat jeder Beschuldigte bereits heute das Recht, gegen solche Handlungen ein Rechtsmittel nach innerstaatlichem Recht entsprechend den Vorgaben von Artikel 5 Absatz 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention einzulegen. Die Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft lässt diese Rechte unberührt, so dass der Verweis auf das innerstaatliche Recht genügen dürfte.

8.1.2. Weitere Ermittlungshandlungen

Was die Ermittlungshandlungen anbelangt, die der Europäische Staatsanwalt nach Genehmigung durch den Richter im Ermittlungsverfahren vornimmt (Durchsuchung, Beschlagnahme, Einfrieren von Guthaben, Telefonüberwachung, verdeckte Ermittlungen, Überwachung von Lieferungen usw.), sollte die Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft nach Dafürhalten der Kommission nicht zum Anlass genommen werden, die durch die Bereitstellung neuer Rechtsmittel geschaffenen Möglichkeiten der Prozessverschleppung zu erhöhen oder bestehende innerstaatliche Rechtsmittel/Rechtsbehelfe aufzuheben.

Der innerstaatliche Rechtsweg gegen die hier genannten Ermittlungshandlungen unterscheidet sich von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat. Soweit innerstaatliche Rechtsmittel/Rechtsbehelfe vorhanden sind, sollten sie auch gegen den Europäischen Staatsanwalt einsetzbar sein. Soll beispielsweise in Mitgliedstaat A auf Anordnung des Europäischen Staatsanwalts eine Durchsuchung durchgeführt werden, die ein Richter im Ermittlungsverfahren in Mitgliedstaat B genehmigt hat, könnten die in B und A vorhandenen Rechtsmittel/Rechtsbehelfe gegen die Genehmigung (Anfechtung des Durchsuchungsrechts) und gegen die Durchführungsmaßnahmen (Uhrzeit und Modalitäten der Durchsuchung) in Anspruch genommen werden. Im Interesse eines effizienten Handelns des Europäischen Staatsanwalts wäre es jedoch wünschenswert, im Sinne einer Mindestharmonisierung der innerstaatlichen Rechtsmittel/Rechtsbehelfe auf deren Suspensivwirkung zu verzichten.

Eigenständige Ermittlungshandlungen des Europäischen Staatsanwalts (Sammlung von Dokumenten, Anhörungen, Vernehmungen usw.) sollten hingegen im Prinzip nicht anfechtbar sein.

8.1.3. Einstellung des Verfahrens

Die Entscheidung, das Verfahren einzustellen, sollte rechtlich dem Europäischen Staatsanwalt überlassen bleiben. Es ist jedoch zu überlegen, ob die Gemeinschaft als Geschädigte zumindest in bestimmten Fällen nicht das Recht erhalten sollte, gegen einen Einstellungsbeschluss des Europäischen Staatsanwalts, bei dem es sich um eine Ermessensentscheidung handelt, vorzugehen.

Der Europäische Staatsanwalt beschließt völlig unabhängig, was dazu führen kann, dass die Gemeinschaft entgegen der Auffassung des Europäischen Staatsanwalts zu dem Schluss gelangen kann, dass eine Angelegenheit weiter verfolgt werden sollte. Eine unterschiedliche Beurteilung ist beispielsweise in der Frage möglich, ob die vorhandenen Beweismittel ausreichen. Möglich ist dies auch in den Fällen, in denen ein Verfahren durch Vergleich beendet werden kann, [185] wenn sich der Europäische Staatsanwalt nach Dafürhalten der Gemeinschaft missbräuchlich auf einen Vergleich eingelassen hat.

[185] Siehe 6.2.2.1 (Vergleich).

Da sich die Rechte der Gemeinschaft als Geschädigte theoretisch [186] nach dem Strafrecht des Mitgliedstaats bestimmen, in dem über das Verfahren in der Hauptsache entschieden wird, stellt sich die Frage, welche Rechte die Gemeinschaft hat, wenn in keinem Mitgliedstaat ein Strafverfahren eingeleitet wird. Für den Fall, dass der Gemeinschaft ein berechtigtes Interesse an der Anfechtung eines Einstellungsbeschlusses des Europäischen Staatsanwalts zuerkannt wird, ist außerdem zu bedenken, in welcher Form eine Anfechtung möglich sein soll: durch eine außergerichtliche Beschwerde, durch Einlegung eines Rechtsmittels vor Gericht und wenn ja, vor welchem Gericht*

[186] Siehe 6.3.3 (Die Europäischen Gemeinschaften als Geschädigte im Strafverfahren).

8.1.4. Anklageerhebung

Gegen die Anklageerhebung sind dieselben Rechtsmittel/Rechtsbehelfe gegeben, die das einzelstaatliche Recht bei der Anklageerhebung durch eine innerstaatliche Strafverfolgungsbehörde vorsieht. Grundsätzlich prüft jedes in der Sache erkennende Gericht vorab seine Zuständigkeit nach den einschlägigen völkerrechtlichen Bestimmungen.

Bei der Anklageerhebung durch die Europäische Staatsanwaltschaft stellt sich ansonsten nur die Frage, ob der Beschuldigte gegen die Ermessensentscheidung des Europäischen Staatsanwalts, welcher von mehreren in Frage kommenden Mitgliedstaaten über die Hauptsache entscheiden soll, ein Rechtsmittel vor einem Gericht einlegen kann. Er könnte nämlich insofern ein Interesse an einem solchen Rechtsmittel geltend machen, als die Wahl des Mitgliedstaats für den Ort der Verhandlung, das geltende Recht und die Verfahrenssprache ausschlaggebend ist. [187]

[187] In diesem Sinne auch Artikel 28 Absatz 1 Buchstabe d Corpus Juris.

Diese Argumente lassen sich jedoch widerlegen. Soweit es sich um die räumliche Entfernung handelt, kann mit Recht darauf verwiesen werden, dass der Beschuldigte dies selbst zu verantworten hat, da er in mehreren Mitgliedstaaten tätig war. Die Frage des anwendbaren Rechts stellt ebenfalls angesichts des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung und des gemeinsamen Grundrechtesockels, der dem Strafprozessrecht der Mitgliedstaaten zugrunde liegt, kein unlösbares Problem dar. Gegen das Argument der Sprachenwahl schließlich lässt sich einwenden, dass jeder Angeklagte gemäß Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe e der Menschenrechtskonvention das Recht auf einen Dolmetscher hat.

Die Eröffnung des Rechtswegs für den Beschuldigten gegen die Ermessensentscheidung des Europäischen Staatsanwalts in Bezug auf die Wahl des Mitgliedstaats der Hauptsache ist demgegenüber in mehrerer Hinsicht problematisch. So müsste hierfür der zuständige Richter bestimmt werden, was erneut die Frage nach einer speziellen Gemeinschaftsgerichtsbarkeit aufwirft. Die Annahme, dass die Anklageerhebung den Angeklagten unmittelbar und individuell betrifft, was eine allgemeine Voraussetzung für die Zulässigkeit eines individuellen einklagbaren Rechtsanspruchs ist, ist ebenfalls nicht selbstverständlich. Dem Angeklagten ein solches Rechtsmittel zuzugestehen, würde den gemeinsamen Raum der Strafverfolgung grundlegend schwächen. Der Verteidigung würde auf diese Weise Gelegenheit geboten, systematisch Rechtsmittel einzulegen und so den Prozess zu verschleppen. Aus diesen Gründen ist die Einlegung von Rechtsmitteln im vorliegenden Fall nur unter strengen rechtlichen Voraussetzungen denkbar.

Frage 18: Welche Rechtsmittel/Rechtsbehelfe sollten gegen Handlungen zulässig sein, die der Europäische Staatsanwalt in Ausübung seines Amts vornimmt oder die unter seiner Leitung durchgeführt werden*

8.2. Rechtsmittel/Rechtsbehelfe

Die Funktionen des Europäischen Staatsanwalts, des Richters im Ermittlungsverfahren, des Richters, der die Überweisung an das erkennende Gericht überprüft, und des Richters in der Hauptsache müssen in die auf einzelstaatlicher und Gemeinschaftsebene bestehenden Rechtssysteme integriert werden.

8.2.1. Der innerstaatliche Rechtsweg

8.2.1.1. Im Vorverfahren

Gegen die Entscheidungen des einzelstaatlichen Richters im Ermittlungsverfahren muss logischerweise der innerstaatliche Rechtsweg gegeben sein. Gleiches gilt für die Zwangsmaßnahmen des Europäischen Staatsanwalts, wenn auch nicht für die vom Richter genehmigten Maßnahmen als solche, sondern für die Art und Weise ihrer Durchführung durch den Europäischen Staatsanwalt. Der Rechtsweg sollte auch Dritten offen stehen, die von solchen Maßnahmen betroffen sind und vorab keine Gelegenheit hatten, sich vor dem Richter im Ermittlungsverfahren zu äußern (wie z. B. der Verfasser der beschlagnahmten Korrespondenz).

Gegen die Entscheidungen des Richters, der die Überweisung an das erkennende Gericht überprüft, wäre bei der Option des einzelstaatlichen Richters der innerstaatliche Rechtsweg gegeben bzw. bei der Option der europäischen Vorverfahrenskammer der Rechtsweg zu den Gemeinschaftsgerichten.

Die Kommission hat sich in diesem Zusammenhang grundsätzlich für den Verweis auf das innerstaatliche Recht ausgesprochen.

8.2.1.2. Im Hauptverfahren

Der Vorschlag zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft darf nicht zu Konflikten mit den einzelstaatlichen Rechtssystemen führen. In den innerstaatlichen Rechtsweg sollte daher nach Ansicht der Kommission nicht eingegriffen werden.

Die Forderung eines gleichwertigen Rechtsschutzes für die finanziellen Interessen der Gemeinschaft könnte natürlich eine Annäherung der in diesem Bereich in den Mitgliedstaaten bestehenden Rechtsmittel/Rechtsbehelfe rechtfertigen. Auf europäischer Ebene könnten beispielsweise eine Reihe gemeinsamer Grundsätze formuliert werden. [188] Die Mitgliedstaaten könnten sich unter anderem dazu verpflichten, die Möglichkeit einer Berufung gegen jedes erstinstanzliche Urteil vorzusehen oder, wenn es sich um die Berufung des Verurteilten handelt, ein Verschlechterungsverbot vorzusehen. Für das reibungslose Funktionieren der Europäischen Staatsanwaltschaft ist dies jedoch nicht unbedingt erforderlich. Die Kommission möchte ihre Vorschläge daher in erster Linie auf das Vorverfahren konzentrieren.

[188] Siehe insbesondere Artikel 27 Corpus Juris.

Die Tätigkeit des Europäischen Staatsanwalts sollte sich in die einzelstaatlichen Rechtssysteme einfügen. Hieraus folgt, dass ihm die gleichen Rechtsmittel/Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen sollten wie den einzelstaatlichen Anklagebehörden. Insbesondere sollte der Europäische Staatsanwalt grundsätzlich das Recht haben, gegen jeden Freispruch Berufung einzulegen.

8.2.2. Der Rechtsweg zum Gerichtshof

Um das derzeitige Gleichgewicht zwischen den Kompetenzen der Gemeinschaft und denen der Mitgliedstaaten zu wahren, sollte der Gerichtshof nach Auffassung der Kommission nicht als Berufungsinstanz über strafrechtliche Entscheidungen der einzelstaatlichen Gerichte entscheiden. Allerdings ist zu klären, in welchem Verhältnis das hier vorgeschlagene Strafverfolgungssystem zur EU-Gerichtsbarkeit steht, da beide nicht unabhängig voneinander zu betrachten sind. [189]

[189] KOM (2000) 34, "5. Gerichtsbarkeit der Union".

Nach dem EG-Vertrag sichert der Gerichtshof die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts. Für die Europäische Staatsanwaltschaft folgt hieraus, dass der Gerichtshof nach Maßgabe von Artikel 234 EG-Vertrag in Vorabentscheidungsverfahren für die Auslegung des Artikels 280 a EG-Vertrag sowie der einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Durchführungsbestimmungen zuständig wäre.

Die Gründung einer Europäischen Staatsanwaltschaft wird sich auf Vertragsverletzungsklagen (Artikel 226 bis 228 EG-Vertrag) oder Untätigkeitsklagen (Artikel 232 EG-Vertrag) nicht auswirken, da die Europäische Staatsanwaltschaft zum einen nicht als Gemeinschaftsorgan, sondern als Einrichtung gilt und die Kommission zum anderen die Hüterin der Verträge bleibt. Der Gerichtshof könnte daher bei Streitigkeiten über die Anwendung des Artikels 280 a EG-Vertrag und dessen Durchführungsbestimmungen nur von der Kommission oder den Mitgliedstaaten nach den allgemein geltenden Bestimmungen angerufen werden.

Gemäß Artikel 178 und 288 EG-Vertrag über die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft muss die Gemeinschaft den Schaden ersetzen, den der Europäische Staatsanwalt und seine Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursacht haben. [190]

[190] Urteil des EuGH vom 2.12.1992, Rs. C-370/89, SGEEM und Etroy/EIB, Slg. 1992, 6211.

Bei der Nichtigkeitsklage gemäß Artikel 230 EG-Vertrag ist zu bedenken, dass es einer Vertragsänderung bedarf, wenn auch Handlungen des Europäischen Staatsanwalts erfasst werden sollen. Nach Ansicht der Kommission sollte die richterliche Kontrolle, soweit möglich, auf Ebene der Mitgliedstaaten wahrgenommen werden. Es sollte daher dafür gesorgt werden, dass gegen Handlungen des Europäischen Staatsanwalts der Rechtsweg zu den einzelstaatlichen Gerichten offen steht. [191]

[191] Siehe 6.4.2 (Richter im Ermittlungsverfahren).

Die Zuständigkeit des Gerichtshofs könnte allerdings je nach den verschiedenen Optionen auf bestimmte Streitsachen erweitert werden. Wie bereits erwähnt, sieht eine Option vor, dass der Beschuldigte das Recht erhält, die vom Europäischen Staatsanwalt getroffene Wahl des Mitgliedstaats, in dem über die Hauptsache entschieden wird, anzufechten. Hierzu wäre eine Direktklage vor dem Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften vorzusehen.

Nach einer zweiten Option würde der Gerichtshof auf Antrag des Europäischen Staatsanwalts oder der nationalen Gerichte über Zuständigkeitsfragen entscheiden, unabhängig davon, ob es sich um Konflikte zwischen Mitgliedstaaten oder zwischen Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft handelt. Insbesondere dann, wenn der nationale Richter, der die Überweisung an das erkennende Gericht nachprüft, für die Überprüfung eines offenkundigen Gerichtsstandsirrtums zuständig wäre, müsste der Europäische Staatsanwalt den Gerichtshof wegen negativer Kompetenzkonflikte oder Unzuständigkeitseinreden anrufen können, um Prozessverschleppungen zu vermeiden.

Der Grundsatz, wonach die einzelstaatlichen Gerichte für strafrechtliche Entscheidungen in der Hauptsache zuständig sind, wird allerdings durch keine dieser Optionen in Frage gestellt.

* *

9. Schlussfolgerungen

Die Kommission wird die Stellungnahmen zu den Optionen für die Umsetzung ihres Vorschlags prüfen, bevor sie gegebenenfalls beschließt, im Zuge der Vorbereitung der nächsten Vertragsreform einen neuen Beitrag einzubringen.

Ihr Vorschlag aus dem Jahr 2000 gewinnt in diesem Grünbuch insoweit an Kontur, als die Optionen aufgezeigt werden, denen sie gegenwärtig den Vorzug gibt und die unter Umständen in den Vorschlag münden könnten, in den EG-Vertrag eine Rechtsgrundlage einzufügen, die Folgendes ermöglicht:

* die Ernennung eines Europäischen Staatsanwalts, der im Bereich des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaften in aller Unabhängigkeit die Ermittlungen und die Strafverfolgung zentral leitet und vor den zuständigen Gerichten der Mitgliedstaaten Klage erhebt;

* die Annahme von Vorschriften über

- die Struktur der Europäischen Staatsanwaltschaft als stark dezentralisierte Organisation, die sich auf die abgeordneten Europäischen Staatsanwälte und auf die Mitwirkung der einzelstaatlichen Ermittlungsbehörden stützt;

- das für die Europäische Staatsanwaltschaft geltende materielle Strafrecht, wobei einige Bereiche (die unter ihre Zuständigkeit fallenden Delikte, die Strafen und die Verjährung) eher gemeinschaftsrechtlich geregelt, andere (die Verantwortlichkeit juristischer Personen) lediglich harmonisiert würden und bei allen übrigen (die den größten Teil ausmachen) auf das nationale Recht verwiesen würde;

- das von der Europäischen Staatsanwaltschaft unter Beachtung der Grundrechte anzuwendende Strafverfahren, das im Wesentlichen auf der gegenseitigen Anerkennung der im nationalen Recht vorgesehenen Ermittlungsmaßnahmen (Durchsuchung usw.) beruht (gegebenenfalls mit einer Harmonisierung auf europäischer Ebene, z.B. der Europäische Haftbefehl usw.), der Kontrolle durch den Richter im Ermittlungsverfahren unterliegt und sich subsidiär auf bestimmte gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen (Einleitung, Einstellung, Europäisches Protokoll usw.) stützt;

- die Ausnahmen vom Legalitätsprinzip und die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Staatsanwaltschaft und den nationalen Strafverfolgungsbehörden, insbesondere bei den "gemischten" Rechtssachen;

- die Zulässigkeit von Beweismitteln nach dem Grundsatz, dass die in einem Mitgliedstaat erlangten Beweise vor den Gerichten der anderen Mitgliedstaaten zugelassen werden müssen;

- die Beziehungen der Europäischen Staatsanwaltschaft zu den anderen Akteuren auf europäischer und internationaler Ebene, insbesondere den unter Beachtung des Datenschutzes möglichen Informationsaustausch;

- die Rechtsmittel, die gegen die unter der Leitung des Europäischen Staatsanwalts vorgenommenen Handlungen eingelegt werden können, d.h. im Wesentlichen die in den Mitgliedstaaten vorgesehenen Rechtsmittel und subsidiär, die - gegebenenfalls einzuführenden - Rechtsmittel, die beim Europäischen Gerichtshof eingelegt werden können.

Die Gerichtsorganisation (Richter im Ermittlungsverfahren, Richter, dem die Kontrolle der Anklageerhebung obliegt, erkennender Richter), das Hauptverfahren und die Strafvollstreckung würden uneingeschränkt durch nationales Recht geregelt, vorbehaltlich des Grundsatzes, dass der Europäische Staatsanwalt die öffentliche Anklage erhebt.

Der Vorschlag, im begrenzten Bereich des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaften die Leitung der Ermittlungen und der Strafverfolgung auf der Gemeinschaftsebene zu zentralisieren, um eine wirksame und gleichwertige Ahndung in einem gemeinsamen Raum zu gewährleisten steht nunmehr zur Diskussion. Nur zwei Einschränkungen sind der Debatte gesetzt: Der Schutz der Grundrechte, das Subsidiaritätsprinzip sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sind unantastbar.

ANHANG 1 Ergänzender Beitrag der Kommission zur Regierungskonferenz über die institutionellen Reformen Vom 29. September 2000 Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft: das Amt eines Europäischen Staatsanwalts [192]

[192] KOM (2000) 608.

Einleitung

In ihrer Stellungnahme vom 26. Januar 2000 zur "Institutionellen Reform für eine erfolgreiche Erweiterung" [193] hat die Kommission vorgeschlagen, im Zusammenhang mit dem Schutz der finanziellen Interessen in den Vertrag eine Rechtsgrundlage aufzunehmen, damit ein Regelwerk über strafbare Handlungen und Strafdrohungen, Verfahrensbestimmungen für die Verfolgung strafbarer Handlungen und Vorschriften für die Befugnisse und Aufgaben eines europäischen Staatsanwalts eingeführt werden kann, der im gesamten Gemeinschaftsgebiet in Betrugsfällen ermittelt und diese vor den Gerichten der Mitgliedstaaten verfolgt. In ihrer neuen Betrugsbekämpfungsstrategie hat sie ihren Wunsch bekräftigt, den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft in diesem Punkt zu stärken.

[193] KOM (2000) 34, http://europa.eu.int/comm/igc2000/offdoc/opin_igc_de.pdf

Betrugsfälle und andere Unregelmäßigkeiten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaft verursachten 1998 einen Schaden, der von den Mitgliedstaaten und der Kommission auf insgesamt über eine Milliarde Euro geschätzt wird [194]. Die Verwicklung der organisierten Kriminalität in grenzübergreifende Betrugshandlungen gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft erfordert eine Zusammenarbeit mit Justizbehörden aus fünfzehn Ländern, die unterschiedliche materiell- und verfahrensrechtliche Vorschriften anwenden. Mit den derzeitigen Kooperationsverfahren lassen sich die Schwierigkeiten der Justiz- und Polizeibehörden bei ihrem Kampf gegen diese Betrugshandlungen häufig nicht überwinden.

[194] Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft, Betrugsbekämpfung, Jahresbericht 1998, Abschnitt 1.3, KOM(99) 590 endg.

Diese Schwierigkeiten werden mit der Zahl der an der Bewirtschaftung von Gemeinschaftsgeldern beteiligten Mitgliedstaaten, Unternehmen und Verwaltungen erheblich zunehmen.

In dieser Mitteilung wird vorgeschlagen, dem europäischen Staatsanwalt Befugnisse zu übertragen, die strikt auf den Bereich des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaft begrenzt sind, wie er bereits in Artikel 280 Absatz 1 EGV festgelegt und abgesteckt worden ist.

Außerdem wird darin vorgeschlagen, in den Vertrag nur die wesentlichen Merkmale des europäischen Staatsanwalts (Ernennung, Entlassung, Aufgabe, Unabhängigkeit) aufzunehmen und für die erforderlichen Vorschriften und Modalitäten hinsichtlich seiner Arbeitsweise auf das abgeleitete Recht zu verweisen.

1. Schwierigkeiten, die es zu überwinden gilt angesichts der besonderen Verantwortung der Gemeinschaft für den Schutz ihrer finanziellen Interessen

Die Unzulänglichkeiten des heutigen Regelwerks sind im wesentlichen auf die Zersplitterung des europäischen Rechtsraums zurückzuführen, da die Polizei- und Justizbehörden der Mitgliedstaaten nur im Hoheitsgebiet ihres eigenen Landes tätig werden dürfen. Die klassischen Rechtshilfeverfahren und die Zusammenarbeit zwischen den Polizeidienststellen sind nach wie vor schwerfällig und für eine erfolgreiche Bekämpfung von grenzübergreifendem Betrug häufig ungeeignet. Die Erfahrung zeigt, wie schwierig es ist, Verwaltungsuntersuchungen in ein Strafverfahren zu überführen.

Der Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft muss jedoch auf einem besonders hohen Niveau und auf eine in allen Mitgliedstaaten gleichwertige Art und Weise erfolgen, da es sich um gemeinsame Gelder handelt. Hinzu kommt, dass die Gemeinschaft genauso für den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft verantwortlich ist wie die Mitgliedstaaten. Daher muss die Europäische Union den Mitgliedstaaten und ihren Bürgern die Gewähr bieten, dass Betrug und Korruption tatsächlich strafrechtlich verfolgt werden.

1.1. Zersplitterung des europäischen Strafrechtsraums

Nach Artikel 280 EGV bleiben "die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege" von den nach dem Mitentscheidungsverfahren beschlossenen Maßnahmen zur Bekämpfung rechtswidriger Handlungen gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft "unberührt". Der EG-Vertrag ermöglicht daher in seiner heutigen Fassung nicht die Schaffung eines europäischen Strafrechtsraums mit einem gemeinsamen Justizorgan wie einem Staatsanwalt.

Die Unterzeichnung des Übereinkommens über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vom 26. Juli 1995 und seiner Zusatzprotokolle sind ein erster Schritt zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft. Diese im Rahmen der Regierungszusammenarbeit der "dritten Säule" erarbeiteten Instrumente sind eine wichtige Errungenschaft, da sie Betrug, Unterschlagung und Korruption als rechtswidrige Handlungen definieren, die in jedem Mitgliedstaat strafrechtlich verfolgt werden.

Allerdings sind das Übereinkommen und seine Protokolle immer noch nicht in Kraft, da sie nicht von allen Vertragsparteien ratifiziert worden sind. Und wenn sie anwendbar sind, wird die Ungewissheit fortbestehen, wie die Vertragsparteien sie in ihr eigenes Strafrecht umsetzen werden. Zudem werden diese Instrumente allein nicht ausreichen, um der Zersplitterung des europäischen Strafrechtsraums entgegenzuwirken, da eine öffentliche Klage weiterhin nur auf mitgliedstaatlicher Ebene erhoben werden kann.

Angesichts fünfzehn verschiedener Strafrechtsordnungen verfügt die Gemeinschaft nur über sehr begrenzte Möglichkeiten, den im Vertrag verankerten Grundsatz eines effektiven und gleichwertigen Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaft in den Mitgliedstaaten durchzusetzen. Unter den heutigen Umständen ist die Strafverfolgung, so erfolgreich die administrative Koordinierung durch das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung auch sein mag, nach wie vor ungewiss, da der Gemeinschaft die Instrumente fehlen, die die Präventionsmaßnahmen und Verwaltungsuntersuchungen durch die Möglichkeit einer strafrechtlichen Verfolgung ergänzen würden.

Beispiel:

Die Abschottung zwischen den Justizbehörden der Mitgliedstaaten führt zu konkurrierenden, teilweisen oder überhaupt keinen Verfolgungen.

Das wegen der sogenannten Rinderseuche (BSE) gegen Rindfleisch verhängte Ausfuhrverbot für bestimmte Gebiete der Gemeinschaft wurde von Unternehmen dreier Mitgliedstaaten durch die Ausfuhr in ein Drittland umgangen. Die Untersuchungen der Kommission und die Aufdeckung dieses Agrarsubventionsbetrugs haben dazu geführt, dass in mehreren Mitgliedstaaten wegen derselben Tatbestände gegen dieselben Personen parallel Gerichtsverfahren eingeleitet wurden. Obwohl die Gerichtsverfahren Mitte 1997 eingeleitet wurden, steht nur in einem Mitgliedstaat das Verfahren kurz vor dem Abschluss.

Vor allem in subventionierten Bereichen wie der Gemeinsamen Agrarpolitik ist das inakzeptabel.

1.2. Schwerfälligkeit und Unzweckmäßigkeit der klassischen Verfahren justizieller Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten

Das Regelwerk der Mitgliedstaaten ist die unverzichtbare Grundlage des strafrechtlichen Schutzes gegen grenzübergreifende Kriminalität. Bereits heute gibt es Formen der strafrechtlichen Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg, die durch die Stärkung der justiziellen Zusammenarbeit im Rahmen des dritten Pfeilers nunmehr intensiviert werden kann.

Doch die Zunahme der gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft gerichteten organisierten Kriminalität hat zur Folge, dass die klassischen Instrumente der Rechtshilfe nicht mehr greifen und die bisherigen Fortschritte bei der verstärkten justiziellen Zusammenarbeit nicht ausreichen. Der heutige Vertrag sieht keine Schnittstelle zwischen der Gemeinschaftsebene und den Justizbehörden der Mitgliedstaaten vor.

Beispiel:

Die Unzulänglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bei der Strafverfolgung führen zu Verzögerungen, Prozessverschleppungen und Straflosigkeit. In grenzüberschreitenden Betrugsfällen begünstigen sie allzu oft die Vernichtung von Beweismitteln und die Flucht von Verdächtigen. Die Rekonstruktion von Geldströmen im Vorfeld von Betrugshandlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaft wird dadurch ganz besonders erschwert

So wies der Staatsanwalt eines Mitgliedstaats bei einer öffentlichen Anhörung im Europäischen Parlament darauf hin, dass er es in ein und derselben Rechtssache zum mutmaßlichen Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaft mit bis zu 60 Rechtsmitteln zu tun hatte. Die Rechtsmittel wurden nacheinander eingelegt, um die Frist auszunutzen, die der Richter bis zu deren Ablehnung brauchte. Unter solchen Umständen ist ein internationales Rechtshilfeersuchen nach seiner Erledigung in der Regel wertlos.

1.3. Schwierige Strafverfolgung im Anschluss an Verwaltungsuntersuchungen

Die Erfahrungen in den letzten Jahren haben gezeigt, dass in einem Bereich Hemmnisse fortbestehen, in dem die besondere Verantwortung der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten es erfordert, dass die zu schützenden Interessen der Gemeinschaft klar erkannt und Betrugsfälle effizienter strafrechtlich verfolgt werden.

Beispiel:

Die Weitergabe von Informationen zwischen den Mitgliedstaaten und durch das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) an die Mitgliedstaaten stößt auf Schwierigkeiten, die sich aus den unterschiedlichen Strafverfolgungsvorschriften der Mitgliedstaaten ergeben. Ist für Ermittlungen wegen derselben Tatbestände in einigen Mitgliedstaaten eine Staatsanwaltschaft und in anderen eine Verwaltungsbehörde zuständig, erweisen sich direkte Beziehungen zwischen den einen und den anderen rechtlich und tatsächlich meist als unmöglich. Wegen der unterschiedlichen Vorschriften insbesondere über das Steuergeheimnis, das Geschäftsgeheimnis und die Geheimhaltung strafrechtlicher Ermittlungen haben auch die Behörden der beteiligten Mitgliedstaaten nicht alle denselben Informationszugang

Beispiel:

Der Versuch, die Hintermänner eines umfangreichen grenzübergreifenden Betrugs zum Nachteil der Eigenmittel der Gemeinschaft in den Mitgliedstaaten A und B zu verfolgen, liefert dafür ein konkretes Beispiel. Der Richter eines dritten Mitgliedstaats (C), der von den Zollbehörden dieses Mitgliedstaats mit dem Fall befasst worden war, weil der Beschuldigte dort seinen Wohnsitz hatte, erklärte die Klage u.a. deshalb für unzulässig, weil die von den Behörden des Mitgliedstaats A vorgelegte Bescheinigung für Verfolgungen im Mitgliedstaat C unzureichend war. Diese Bescheinigung enthielt indessen nicht nur die Bestätigung, dass die festgestellte Straftat nach dem Recht des Mitgliedstaats A strafbar war, sondern auch einen Hinweis auf die Strafen, die den Straftätern in diesem Mitgliedstaat drohten. Nach den Vorschriften des Mitgliedstaats C konnte der Richter die Bescheinigung der Zollbehörden des Mitgliedstaats A nicht anerkennen.

***

2. Vorgeschlagenes Regelwerk

So berechtigt und unersetzlich die bestehenden Regelwerke auch sein mögen - solange ein spezifischer institutioneller Rahmen auf Gemeinschaftsebene fehlt, behindern sie Polizeibeamte und Richter bei der strafrechtlichen Verfolgung und sind zudem vorteilhaft für Straftäter. Unter Berücksichtigung des EG-Vertrags in seiner derzeitigen Fassung empfiehlt die Kommission daher als Antwort auf die heutige Situation eine Ergänzung des Primärrechts dahingehend, dass das Amt eines europäischen Staatsanwalts geschaffen wird, wobei zu dessen Ausgestaltung und Arbeitsweise auf das abgeleitete Recht verwiesen werden kann. Diese Änderung soll auf den Bereich des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaft begrenzt sein.

2.1. Ausgereifte und eingehende Vorüberlegungen

Der Vorschlag der Kommission an die Regierungskonferenz beruht auf einer eingehenden Vorarbeit. Seit bald zehn Jahren arbeitet auf Wunsch des Europäischen Parlaments und der Kommission eine Gruppe von Strafrechtssachverständigen aller Mitgliedstaaten an Fragen betreffend den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft. Die Ergebnisse ihrer Arbeit sind zu einem Entwurf für ein Regelwerk über den strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft zusammengefasst worden, das als "Corpus juris" bekannt geworden ist [195]. Darin wird zur Schaffung eines gemeinschaftlichen europäischen Rechtsraums in einer ersten Phase die harmonische Einbindung des Amtes eines europäischen Staatsanwalts in die Gerichtssysteme der Mitgliedstaaten empfohlen, die allerdings jegliche Vergemeinschaftung der Rechtsprechungsfunktion der Strafjustiz ausschließt. [196]

[195] Corpus juris portant dispositions pénales pour la protection des intérêts financiers de l'Union européenne, sous la direction de Mireille Delmas-Marty, Economica, Paris, 1997. Der Text des Corpus juris ist auch im Internet zugänglich (http://www.law.uu.nl/wiarda/corpus/index1.htm).

[196] Aufgrund dieser Empfehlungen haben die Strafrechtssachverständigen in der letzten Zeit eine umfangreiche vergleichende Studie über die Notwendigkeit, die Legitimität und die Machbarkeit des "Corpus juris" abgeschlossen, mit der untersucht wurde, welche Bedeutung das Amt eines europäischen Staatsanwalts für die Strafverfolgungssysteme der Mitgliedstaaten haben kann.

Die Autoren des "Corpus juris" haben dargelegt, wie eine unabhängige europäische Staatsanwaltschaft, die auf dem Gebiet des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaft die Ermittlungen leiten und vor den Gerichten der Mitgliedstaaten Anklage erheben würde, ausgestaltet werden könnte, und wie sich ihre Tätigkeit mit den Verfahren der Mitgliedstaaten verknüpfen ließe.

Die europäische Staatsanwaltschaft sollte eine sehr dezentralisierte Struktur sein. Der europäische Staatsanwalt würde in den Mitgliedstaaten von bevollmächtigten europäischen Staatsanwälten unterstützt, damit eine Verzahnung zwischen der Gemeinschaftsebene und den Gerichtssystemen der Mitgliedstaaten gewährleistet wird.

2.2. Gegenstand der Reform

In diesem Sinne empfiehlt die Kommission die Schaffung des Amtes eines europäischen Staatsanwalts, um die finanziellen Interessen der Gemeinschaft zu schützen.

Damit soll die Reform des Gerichtssystems der Gemeinschaft, wie sie im ergänzenden Beitrag der Kommission an die Regierungskonferenz vom 1. März 2000 [197] vorgeschlagen wurde, durch ein Justizorgan ergänzt werden, das vor den zuständigen Gerichten der Mitgliedstaaten Anklage erheben und im Gebiet der Gemeinschaft ständig eine strafrechtliche Kontrolle der Ermittlungen ausüben kann, um das Gemeinschaftsrecht durchzusetzen und die Finanzmittel der Gemeinschaft zu schützen. Eine Vergemeinschaftung der Rechtsprechungsfunktion der Strafjustiz, die weiterhin in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, ist damit jedoch nicht beabsichtigt.

[197] Ergänzender Beitrag der Kommission an die Regierungskonferenz über die institutionellen Reformen - Die Reform des Gerichtssystems der Gemeinschaft (KOM/2000/0109 endg.).

2.3. Einzelheiten der Reform

Nach Ansicht der Kommission kann sich die notwendige Änderung des Vertrags auf die Formulierung von Bestimmungen über die Ernennung, die Entlassung und die Beschreibung der Aufgaben des europäischen Staatsanwalts und der wichtigsten Merkmale dieses Amtes in einem neuen Artikel 280 a beschränken. Der Vertrag würde auf das abgeleitete Recht für die Vorschriften über das Statut und die Arbeitsweise des europäischen Staatsanwalts verweisen.

2.3.1. Ernennung des Europäischen Staatsanwalts (neuer Artikel 280 a Absätze 1 und 2)

Die Kommission schlägt vor, dass der Rat den europäischen Staatsanwalt auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments mit qualifizierter Mehrheit ernennt. Der Vorschlag, welcher der Kommission aufgrund ihrer besonderen Verantwortung für den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft zustehen dürfte, sollte beispielsweise auf der Grundlage einer Bewerberliste vorgelegt werden, aus welcher der Rat den europäischen Staatsanwalt auswählen könnte. Außerdem hält es die Kommission für zweckmäßig, die Bedingungen für eine etwaige Amtsenthebung festzulegen (neuer Artikel 280 a Absatz 2). Die Kommission schlägt eine nicht verlängerbare Amtszeit von sechs Jahren vor (neuer Artikel 280 a Absatz 1). Als wesentliches Merkmal des europäischen Staatsanwalts besonders erwähnenswert ist dessen Unabhängigkeit als Justizorgan (neuer Artikel 280 a Absatz 2). Außer diesen unerlässlichen Merkmalen sollte im revidierten Vertrag für die Festlegung seines Statuts auf das abgeleitete Gemeinschaftsrecht verwiesen werden (Zusammensetzung, Sitz usw.), wobei das Verfahren gemäß Artikel 251 anzuwenden wäre (qualifizierte Mehrheit im Rat und Mitentscheidung des Parlaments).

2.3.2. Ausübung des Amtes eines Europäischen Staatsanwalts (neuer Artikel 280 a Absatz 3)

Die reibungslose Ausübung des Amtes eines europäischen Staatsanwalts erfordert ein besonderes Regelwerk, das materiell- und verfahrensrechtlich auf Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaft begrenzt ist. Diese Vorschriften sollten vom Rat nach dem Mitentscheidungsverfahren erlassen werden.

Damit der Staatsanwalt über klare Befugnisse verfügt, sollten auf einer genaueren Grundlage und auf Gemeinschaftsebene die Tatbestände (Betrug, Korruption, Geldwäsche usw.) und die Strafen im Zusammenhang mit Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaft festgelegt werden. Die strenge Logik des Strafrechts lässt sich kaum mit den in der Gemeinschaft bestehenden Unterschieden vereinbaren, wenn es darum geht, die finanziellen Interessen der Gemeinschaft effektiv und gleichwertig zu schützen. Die gemeinsamen Tatbestände müssten daher in den innerstaatlichen Rechtsordnungen von den als nach dem Gemeinschaftsrecht urteilenden Strafgerichten einheitlich angewendet werden können, was den Erlass besonderer Vorschriften voraussetzt. Dazu bietet der Inhalt des Übereinkommens vom 26. Juli 1995 und seiner Zusatzprotokolle bereits heute eine gute Grundlage, über die sich die Mitgliedstaaten einig sind.

Außerdem sollten Verfahrensvorschriften (z.B.: Verfahren für die Befassung des europäischen Staatsanwalts, Ermittlungsbefugnisse, Aufnahme und Abschluss der Ermittlungen) und Vorschriften für die richterliche Kontrolle der Ausübung der Tätigkeit des europäischen Staatsanwalts (z.B.: Kontrolle der Handlungen des Staatsanwalts, die er entweder mit oder ohne Genehmigung des einzelstaatlichen Ermittlungsrichters vornimmt) erlassen werden. Der "Corpus juris" skizziert einige mögliche Optionen für Verfahrensvorschriften und Vorschriften für die Koordinierung mit den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten. Zur Festlegung der einschlägigen Bestimmungen werden auf jeden Fall Vorschläge für sekundärrechtliche Vorschriften unter Beachtung der rechtlichen Systeme und Traditionen der Mitgliedstaaten zu unterbreiten sein. Daher sollte die Annahme folgender Vorschriften nach dem Verfahren gemäß Artikel 251 EGV vorgesehen werden:

- Vorschriften über die Straftaten (neuer Artikel 280 a Absatz 3 Unterabsatz a);

- Verfahrensvorschriften für die Tätigkeit des Staatsanwalts sowie über die Zulässigkeit von Beweismitteln (neuer Artikel 280 a Absatz 3 Unterabsatz b);

- Vorschriften über die richterliche Kontrolle von Handlungen des Staatsanwalts; derartige Vorschriften sind für die Erfuellung seiner Aufgaben unerlässlich (neuer Artikel 280 a Absatz 3 Unterabsatz c),

In diesen sekundärrechtlichen Vorschriften sollten auch die Modalitäten der Anbindung der Gemeinschaftsebene an die Gerichtssysteme der Mitgliedstaaten festgelegt werden.

***

Abschließend schlägt die Kommission der Regierungskonferenz vor, die derzeitigen Bestimmungen des Vertrags über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft durch eine Rechtsgrundlage zu ergänzen, um folgendes zu ermöglichen:

* Ernennung eines unabhängigen europäischen Staatsanwalts, der im Bereich des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaft auf der Grundlage besonders zu diesem Zweck angenommener Regeln öffentliche Anklage vor den zuständigen Gerichten der Mitgliedstaaten erhebt;

* und - zu einem späteren Zeitpunkt - Annahme sekundärrechtlicher Vorschriften zwecks Festlegung:

- des Statuts des Staatsanwalts,

- der materiellrechtlichen Regeln hinsichtlich des Schutzes der finanziellen Interessen durch den europäischen Staatsanwalt (Delikte, Strafen),

- der Verfahrensregeln und der Regeln über die Zulässigkeit von Beweismitteln,

- der Bestimmungen über die richterliche Kontrolle der Handlungen des Staatsanwalts bei der Ausübung seines Amtes.

Heutige Fassung des EG-Vertrags

Artikel 280

1. Die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten bekämpfen Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft gerichtete rechtswidrige Handlungen mit Maßnahmen nach diesem Artikel, die abschreckend sind und in den Mitgliedstaaten einen effektiven Schutz bewirken.

2. Zur Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft richten, ergreifen die Mitgliedstaaten die gleichen Maßnahmen, die sie auch zur Bekämpfung von Betrügereien ergreifen, die sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richten.

3. Die Mitgliedstaaten koordinieren unbeschadet der sonstigen Vertragsbestimmungen ihre Tätigkeit zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft vor Betrügereien. Sie sorgen zu diesem Zweck zusammen mit der Kommission für eine enge, regelmäßige Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden.

4. Zur Gewährleistung eines effektiven und gleichwertigen Schutzes in den Mitgliedstaaten beschließt der Rat gemäß dem Verfahren des Artikels 251 nach Anhörung des Rechnungshofs die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft richten. Die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege bleiben von diesen Maßnahmen unberührt.

5. Die Kommission legt in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten dem Europäischen Parlament und dem Rat jährlich einen Bericht über die Maßnahmen vor, die zur Durchführung dieses Artikels getroffen wurden.

// Vorgeschlagene Fassung

Neuer Artikel 280

1. Die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten bekämpfen Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft gerichtete rechtswidrige Handlungen mit Maßnahmen vor, die abschreckend sind und in den Mitgliedstaaten einen effektiven Schutz bewirken.

2. Zur Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft richten, ergreifen die Mitgliedstaaten die gleichen Maßnahmen, die sie auch zur Bekämpfung von Betrügereien ergreifen, die sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richten.

3. Die Mitgliedstaaten koordinieren unbeschadet der sonstigen Vertragsbestimmungen ihre Tätigkeit zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft vor Betrügereien. Sie sorgen zu diesem Zweck zusammen mit der Kommission für eine enge, regelmäßige Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden.

4. Zur Gewährleistung eines effektiven und gleichwertigen Schutzes in den Mitgliedstaaten beschließt der Rat gemäß dem Verfahren des Artikels 251 nach Anhörung des Rechnungshofs die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft richten. Die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege bleiben von diesen Maßnahmen unbeschadet der Bestimmungen des Artikels 280 a unberührt.

5. Die Kommission legt in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten dem Europäischen Parlament und dem Rat jährlich einen Bericht über die Maßnahmen vor, die zur Durchführung dieses Artikels getroffen wurden.

Artikel 280 a

1. Um einen Beitrag zur Verwirklichung der Ziele des Artikels 280 Absatz 1 zu leisten, ernennt der Rat, der auf Vorschlag der Kommission mit qualifizierter Mehrheit und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments beschließt, für eine nicht verlängerbare Amtszeit von sechs Jahren einen Europäischen Staatsanwalt. Der Europäische Staatsanwalt hat die Aufgabe, gegen Täter von Straftaten und Teilnehmer an Straftaten, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft richten, zu ermitteln, sie strafrechtlich zu verfolgen und wegen dieser Straftaten vor den zuständigen Gerichten der Mitgliedstaaten öffentliche Anklage gemäß den in Absatz 3 genannten Vorschriften zu erheben.

2. Der Europäische Staatsanwalt wird unter Persönlichkeiten ausgewählt, die jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten und in ihrem Staat die für die Ausübung höchster richterlicher Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfuellen. Er darf bei der Erfuellung seiner Pflichten Anweisungen weder anfordern noch entgegennehmen. Er kann auf Antrag des Parlaments, des Rats oder der Kommission vom Gerichtshof seines Amtes enthoben werden, wenn er die Voraussetzungen für die Ausübung seines Amtes nicht mehr erfuellt oder eine schwere Verfehlung begangen hat. Der Rat legt das Statut des Europäischen Staatsanwalts nach dem Verfahren des Artikels 251 fest.

3. Der Rat legt nach dem Verfahren des Artikels 251 die Bedingungen für die Ausübung des Amtes des Europäischen Staatsanwalts fest und erlässt insbesondere

(a) Vorschriften zur Festlegung der Tatbestandsmerkmale von Betrug und jeder anderen rechtswidrigen Handlung, die gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft gerichtet ist, sowie der Strafen für alle Straftatbestände;

(b) Verfahrensvorschriften über die Tätigkeiten des Europäischen Staatsanwalts sowie Vorschriften für die Zulässigkeit von Beweismitteln;

(c) Vorschriften über die richterliche Kontrolle der vom Europäischen Staatsanwalt in Ausübung seines Amtes vorgenommenen Verfahrenshandlungen.

ANHANG 2 Vereinfachte Darstellung der Verfahren

In den folgendenden Schaubildern werden einige wesentliche Elemente des Verfahrens dargestellt, das der Europäische Staatsanwalt anwenden könnte. Sie enthalten jedoch nicht alle Möglichkeiten und alle in diesem Grünbuch dargelegten Optionen. Sie sollen das Verständnis des Textes erleichtern, können ihn jedoch nicht ersetzen.

>VERWEIS AUF EIN SCHAUBILD>

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Anhang 3 Fiktiver Betrugsfall Einschaltung der Europäischen Staatsanwaltschaft

Der folgende Betrugsfall ist einschließlich aller Namen und des Tatbestands frei erfunden und soll lediglich die Thesen des Grünbuchs illustrieren.

Tatbestand

Die in London ansässige Firma "Meat International" ist seit Jahren im Import und Export von Fleisch tätig. Aufgrund einer Krise beim Rindfleischangebot hat sie ihre Einfuhren von hochwertigem Fleisch aus Lateinamerika, insbesondere aus Brasilien und Argentinien, erheblich gesteigert, gleichzeitig aber auch ihre Fleischausfuhren aus der Gemeinschaft nach Russland erheblich ausgeweitet. Die Einfuhren liefen über die Häfen Antwerpen und Lissabon, die Ausfuhren über Rotterdam.

Fleischeinfuhren

Die "Meat International" hat ein trickreiches Verfahren entwickelt, um sich der Zahlung von Zöllen (Gemeinschaftseinnahmen) möglichst zu entziehen.

* Das Unternehmen arbeitete vor allem mit falschen Warenbezeichnungen. 20 % des hochwertigen Importfleischs wurden als "Schlachtabfall" bezeichnet, der einem sehr niedrigen Zollsatz unterliegt.

* Außerdem gab das Unternehmen falsche Ursprungsbezeichnungen an, um ungerechtfertigt Präferenzzollvergünstigungen nutzen zu können. Argentinien darf ein Kontingent von hochwertigem "Hilton Beef" zu einem Präferenzzoll (zollfrei bzw. einem sehr niedrigen Zollsatz) in die Gemeinschaft einführen. Um diesen Zollvorteil nutzen zu können, braucht das Unternehmen Echtheitsbescheinigungen des argentinischen Landwirtschaftsministeriums. Anstelle von "Hilton Beef" hat "Meat International" systematisch Fleisch minderer Qualität aus Paraguay eingeführt. Dazu benutzte sie Gefälligkeitsbescheinigungen, die der zuständige Beamte in Argentinien für 5.000 USD je Container ausstellte.

* Die entsprechenden Containerladungen sind über die Häfen Antwerpen und Lissabon in die Europäische Union eingeführt und dort in den freien Verkehr überführt worden. "Meat International Antwerp" und "Meat International Lisboa" haben die Zollanmeldungen als Versender eingereicht. Die Madrider Speditionsfirma "Transeurope" belieferte von Antwerpen und Lissabon aus Kunden in ganz Europa.

Fleischausfuhren

Bei den Ausfuhren hat sich "Meat International" Subventionen (Gemeinschaftsausgaben) erschlichen.

* Das Unternehmen hat im Vereinigten Königreich britisches Fleisch, das wegen des Embargos weder auf den Gemeinschaftsmarkt verbracht noch in Drittländer ausgeführt werden darf, in großen Mengen zu Spottpreisen aufgekauft. Dieses Fleisch wurde tiefgefroren und illegal nach Antwerpen transportiert, wo es von der Firma "Label International" als Fleisch belgischen Ursprungs etikettiert und anschließend nach Russland exportiert wurde, wofür die Gemeinschaft Ausfuhrerstattungen gewährte.

* Der Versender "Meat International Antwerp" gab die Zollanmeldungen ab. Ein Teil des Fleisches wurde auf dem Seeweg über Rotterdam, der andere Teil von "Transeurope" auf dem Landweg befördert.

Finanzieller Schaden

Das Unternehmen hat durch Zollhinterziehung und Subventionsbetrug erhebliche Gewinne erzielt. Um diese Gewinne zu verschleiern, gründete das Unternehmen in Argentinien, Europa und der Karibik eine Reihe von Firmen, die keiner eigenen Geschäftstätigkeit nachgingen, sondern nur dazu dienten, Rechnungen ohne Gegenleistung auszustellen. Über diese Firmen kaufte das Unternehmen Aktien an der Londoner Börse und Gebäude in Lugano. Auf diese Weise wurden Körperschaftsteuern in erheblicher Höhe hinterzogen.

Strafrechtliche folgen ohne Einschaltung der europäischen Staatsanwaltschaft

* Die Zollbeamten entdecken in Antwerpen einen Container, der anstelle der angegebenen Schlachtabfälle Fleisch mit Ursprung in Argentinien enthält, und vermuten, dass mit den falschen Angaben Zölle hinterzogen werden sollen. Eine Betriebsprüfung beim Versender "Meat International Antwerp" bringt zutage, dass derartige Transaktionen schon seit einiger Zeit im Gange sind.

* Die Zollverwaltung leitet den Fall an den belgischen Untersuchungsrichter weiter, der die Kriminalpolizei beauftragt, den Direktor von "Meat International" in London sowie den Direktor und die Fahrer von "Transeurope" in Madrid zu verhören. Außerdem möchte er diese Unternehmen durchsuchen lassen und stellt internationale Rechtshilfeersuchen. Fünf Monate später erhält der Untersuchungsrichter die Ergebnisse. Er stellt fest, dass "Transeurope" und "Meat International Antwerp (Versender) der "Meat International" gehören und dass mit diesem Firmennetz ständig Straftaten begangen werden.

* Die belgischen Justizbehörden leiten ein Strafverfahren gegen "Meat International Antwerp und "Meat International" ein. Das Strafgericht Antwerpen verurteilt die Direktoren der beiden Unternehmen zu hohen Geldstrafen und Gefängnisstrafen mit Bewährung.

* Die Vollstreckung der Strafen erweist sich als schwierig, wenn nicht gar als unmöglich. "Meat International", durch die Ermittlungen aufgeschreckt, verkauft ihre Wertpapiere an der Londoner Börse und legt den Erlös über Offshore-Unternehmen in Gebäuden in Lugano an. Der Direktor, der auch die Schweizer Staatsangehörigkeit besitzt, hat sich nach der Durchsuchung seiner Geschäftsräume in Lugano niedergelassen. Der Direktor von "Meat International Antwerp" ist mit dem Bargeld des Unternehmens gefluechtet.

* Um die gleiche Zeit stellen niederländische Polizeibeamte bei einer Routinekontrolle fest, dass ein LKW von "Transeurope" mit Fleisch nach Russland unterwegs ist. Die Ware ist mit belgischen Etiketten versehen, die ihnen suspekt vorkommen. Daher beschlagnahmen sie das Fleisch. Bei den Analysen stellt sich heraus, dass es sich in Wirklichkeit um britisches Fleisch handelt, für das ein Ausfuhrverbot besteht.

* Die niederländischen Justizbehörden richten internationale Rechtshilfeersuchen an Belgien und Spanien, um bei "Meat International", "Meat International Antwerp" und "Transeurope" weiteres Beweismaterial sicherstellen zu lassen. Dabei stellt sich heraus, dass "Transeurope" mit "Meat International Lisboa" in Verbindung steht und die falschen Etiketten von "Label International" angebracht worden waren.

* Das Beweismaterial wird den portugiesischen Justizbehörden übermittelt. Über das Europäische Justitielle Netz oder Eurojust werden die portugiesischen Justizbehörden von dem Fall unterrichtet. Die niederländischen Behörden beschließen, die Ermittlungen einzustellen, weil nur geringfügige Verbindungen zu den Niederlanden bestehen und gegen die Betreffenden bisher nichts vorliegt.

* Die portugiesische Staatsanwaltschaft stellt leider fest, dass die Beweismittel im Zuge des internationalen Rechtshilfeverfahrens nicht entsprechend den portugiesischen Strafverfahrensvorschriften erhoben worden sind. Sie wurden nicht von der Staatsanwaltschaft oder einem Untersuchungsrichter, sondern von einem Kriminalbeamten sichergestellt und sind daher in Portugal nicht zulässig.

* Die britischen Polizei- und Justizbehörden begnügen sich mit der Erledigung der internationalen Rechtshilfeersuchen und verzichten auf Ermittlungen gegen "Meat International".

Strafrechtliche Folgen bei Einschaltung der europäischen staatsanwaltschaft (nach den von der Europäischen Kommission bevorzugten Optionen)

* Der Verdacht, dass die Unternehmen falsche Zollanmeldungen vorgelegt haben, um Zölle hinterziehen zu können, veranlassen die belgischen Zollbehörden die Europäische Staatsanwaltschaft einzuschalten. Zur gleichen Zeit teilen die niederländischen Behörden der Europäischen Staatsanwaltschaft ihre Feststellungen mit, die auf einen Exportsubventionsbetrug schließen lassen. In beiden Fällen tauchen die Speditionsfirma "Transeurope", der Versender "Meat International Antwerp" und das Unternehmen "Meat International" auf.

* Die Europäische Staatsanwaltschaft kann sich die bei ihm eingehenden Informationen zu einem Gesamtbild zusammenfügen und stellt so fest, dass es sich um ein und denselben Betrugsfall handelt. Es besteht schon allein deshalb ein Zusammenhang, weil es dieselben Unternehmen verwickelt sind. Es handelt sich also um einen großen länderübergreifenden Betrugsfall zum Nachteil der Gemeinschaft. Angesichts der Verzweigungen dieses Falls nach mehreren Mitgliedstaaten ist es gerechtfertigt, dass er den Fall nicht an die Justizbehörden der Mitgliedstaaten weiterleitet, sondern selbst übernimmt.

* Als Erstes holt der Europäische Staatsanwalt bei den abgeordneten Europäischen Staatsanwälten der betreffenden Mitgliedstaaten zusätzliche Informationen über die verdächtigen Unternehmen ein. Die von den Polizei- und Justizbehörden erteilten Informationen werden in die Akte aufgenommen. Damit steht eindeutig fest, dass "Meat International" auch Einfuhren über den Hafen Lissabon tätigt und dort "Meat International Lisboa" als Versender nutzt. Aus den eingegangenen Informationen geht außerdem hervor, dass "Meat International Antwerp", "Meat International Lisboa" und "Transeurope" der "Meat International" gehören.

* Die Europäische Staatsanwaltschaft vermutet daher eine kriminelle Organisation für Wirtschaftsstraftaten zum Nachteil des Haushalts der Gemeinschaft. Um ihren Verdacht erhärten zu können, beschließt sie, den Telefon-, Fax- und E-Mail-Verkehr dieser Organisation überwachen zu lassen. Da das Hauptunternehmen seinen Sitz im Vereinigten Königreich hat, legt sie seinen Überwachungsbeschluss dem britischen Richter im Ermittlungsverfahren zur Genehmigung vor. Nach der Genehmigung dieses Beschlusses beginnt in den betreffenden Ländern die Überwachung der verdächtigen Unternehmen unter Leitung des Europäischen Staatsanwalts. Die Genehmigung des britischen Richters im Ermittlungsverfahren wird im gemeinsamen Ermittlungs- und Strafverfolgungsraum gegenseitig anerkannt. Die Überwachung liefert schnell schlüssige Beweise dafür, dass es sich um eine kriminelle Vereinigung handelt, die umfangreiche Straftaten begeht, Gelder verschiebt und vom Direktor der "Meat International" als Drahtzieher gesteuert wird.

* Die Europäische Staatsanwaltschaft, die für die Koordinierung und die Leitung der Ermittlungen verantwortlich ist, beantragt grenzüberschreitende Ermittlungen, damit 1. die Schlüsselfiguren der verdächtigen Unternehmen verhört, 2. ihre Buchhaltung beschlagnahmt, 3. ihre Guthaben gesperrt und 4. die leitenden Angestellten von "Meat International" verhaftet werden können. Die abgeordneten Europäischen Staatsanwälte führen die entsprechenden Ermittlungshandlungen durch.

* Der britische Richter im Ermittlungsverfahren wird gebeten, die Sperrung der Guthaben zu genehmigen und einen Haftbefehl auszustellen. Er genehmigt die Sperrung und stellt einen europäischen Haftbefehl gegen den Direktor der "Meat International" aus. Genehmigung und Haftbefehl gelten unabhängig davon, wo die Guthaben und der Verdächtige sich befinden, im gesamten Ermittlungs- und Strafverfolgungsraum.

* Die Ermittlungen in mehreren Mitgliedstaaten liefern konkrete Beweise dafür, dass betrügerische Ein- und Ausfuhrgeschäfte vorliegen, die Unternehmen arbeitsteilig arbeiten, die leitenden Angestellten die Gewinne untereinander aufteilen und dass Gelder gewaschen werden. In London werden bedeutende Guthaben, in Antwerpen und in Lissabon bescheidenere Beträge eingefroren. Das Beweismaterial zeigt, dass "Meat International" die Eigentümerin der Gebäude in Lugano ist. Auf der Grundlage des Europarat-Übereinkommens über Rechtshilfe in Strafsachen und seines Zusatzprotokolls oder auf der Grundlage eines europäischen Übereinkommens über Rechtshilfe zwischen der Europäischen Staatsanwaltschaft und der Schweiz (Hypothese) richtet der abgeordnete Europäische Staatsanwalt in London ein Amtshilfeersuchen an die schweizerischen Behörden, um diese Gebäude beschlagnahmen zu lassen.

* Nach Abschluss der Ermittlungen beschließt der Europäische Staatsanwalt, gegen "Meat International", "Meat International Antwerp", "Meat International Lisboa", "Transeurope" und "Label International" und einige ihrer leitenden Angestellten Anklage wegen Betrugs zum Nachteil der Gemeinschaft und wegen Geldwäsche zu erheben. Die Bildung einer kriminellen Vereinigung kommt erschwerend hinzu.

* Da der Drahtzieher sich im Vereinigten Königreich in Untersuchungshaft befindet, die Muttergesellschaft ihren Sitz in diesem Land hat und die meisten Vermögensgegenstände dort gesperrt worden sind, beschließt die Europäische Staatsanwaltschaft nach den Kriterien der vorrangigen Gerichtsbarkeit, die Anklage vor dem Strafgericht London zu erheben. Ein britischer Richter, dem es obliegt, die Anklageerhebung zu kontrollieren, prüft diese anhand folgender Fragen: 1. Sind die Beweismittel rechtmäßig erhoben worden* 2. Reichen die rechtmäßig sichergestellten Beweismittel für eine Anklage vor dem Strafgericht aus* 3. Ist das Londoner Gericht zuständig* In dem vorliegenden Fall bejaht der für die Kontrolle der Anklageerhebung zuständige Richter alle drei Fragen. Da es einen gemeinsamen Ermittlungs- und Strafverfolgungsraum gibt, kann die Europäische Staatsanwaltschaft den gesamten Fall dem Londoner Strafgericht übergeben.

* Bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht übernimmt die Europäische Staatsanwaltschaft die Anklageerhebung. Die nationale Strafverfolgungsbehörde kann wegen der Hinterziehung von Körperschaftsteuern Klage erheben. Das britische Gericht verurteilt die beteiligten Unternehmen zu hohen Geldstrafen und zieht ihre Guthaben ein. Außerdem verurteilt es die leitenden Angestellten der "Meat International" zu vier Jahren und die leitenden Angestellten der übrigen Unternehmen zu zwei Jahren Freiheitsstrafe.

* Die Strafurteile des Londoner Gerichts gelten im gesamten gemeinsamen Ermittlungs- und Strafverfolgungsraum. Sie werden im Vereinigten Königreich sowie in Belgien, Portugal und Spanien nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung vollstreckt. Zwecks Einziehung der Gebäude in Lugano wird aufgrund internationaler Übereinkommen ein Vollstreckungsantrag an die Schweiz gerichtet.

ANHANG 4 Liste der in den einzelnen Kapiteln gestellten Fragen

Allgemeine Frage: Wie beurteilen Sie die Grundzüge des Vorschlags zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft, insbesondere:

ihre (ausschließlich auf die finanzielle Dimension der Interessen der Gemeinschaft begrenzte) Zuständigkeit*

ihre Befugnisse*

ihre Einbindung in die nationalen Strafrechtsordnungen

Frage 1: Was halten Sie von der vorgeschlagenen Struktur und Organisation der Europäischen Staatsanwaltschaft* Sollten die abgeordneten Europäischen Staatsanwälte ausschließlich ihr europäisches Mandat wahrnehmen, oder kann dieses Mandat mit dem innerstaatlichen Amt kumuliert werden*

Frage 2: Für welche Straftatbestände sollte der Europäische Staatsanwalt zuständig sein* Sind die auf Ebene der Europäischen Union festgelegten Definitionen der Straftatbestände ergänzungsbedürftig*

Frage 3: Sollten parallel zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft gemeinsame ergänzende Regelungen erlassen werden auf dem Gebiet

- der Sanktionen

- der strafrechtlichen Verantwortung

- der Verjährung

- oder auf anderen Gebieten*

Wenn ja, in welchem Umfang*

Frage 4: Wann und von wem sollte der Europäische Staatsanwalt zwingend befasst werden*

Frage 5: Sollte der Europäische Staatsanwalt bei der Strafverfolgung entsprechend dem Vorschlag der Kommission an das Legalitätsprinzip, oder sollte er an das Opportunitätsprinzip gebunden sein* Welche Ausnahmen sollten in jedem der beiden Fälle vorgesehen werden*

Frage 6: Wie sollte angesichts der Überlegungen in diesem Grünbuch die Zuständigkeit zwischen dem Europäischen Staatsanwalt und den nationalen Strafverfolgungsbehörden insbesondere in gemischten Fällen aufgeteilt werden*

Frage 7: Reicht die Liste der für den Europäischen Staatsanwalt vorgesehenen Ermittlungsmaßnahmen Ihrer Ansicht nach aus, um insbesondere die Zersplitterung des Europäischen Rechtsraums in Strafsachen zu überwinden* Welche Regelung (anzuwendendes Recht, Kontrolle) sollte für solche Ermittlungsmaßnahmen getroffen werden*

Frage 8: Welche Lösungen sollten getroffen werden, um die Durchführung der vom Europäischen Staatsanwalt veranlassten Ermittlungshandlungen sicherzustellen*

Frage 9: Unter welchen Bedingungen sollte der Europäische Staatsanwalt eine Entscheidung zur Verfahrenseinstellung treffen oder Anklage erheben können*

Frage 10: Anhand welcher Kriterien sollte der Mitgliedstaat oder sollten die Mitgliedstaaten für die Anklageerhebung ausgewählt werden* Sollte die Wahl des Gerichtsstands durch den Europäischen Staatsanwalt kontrolliert werden* Wem sollte diese Kontrolle in diesem Fall übertragen werden*

Frage 11: Ist der Grundsatz, nach dem in einem Mitgliedstaat rechtmäßig erhobene Beweise vor den Gerichten der anderen Mitgliedstaaten zugelassen werden sollten, Ihrer Ansicht nach geeignet, in Bezug auf den Europäischen Staatsanwalt die Hindernisse aufgrund der unterschiedlichen Regeln der Mitgliedstaaten über die Zulässigkeit von Beweisen zu überwinden*

Frage 12: Wem sollte die Kontrolle der unter der Leitung des Europäischen Staatsanwalts durchgeführten Ermittlungshandlungen übertragen werden*

Frage 13: Wem sollte die Kontrolle der Anklageerhebung übertragen werden*

Frage 14: Sind Sie der Ansicht, dass die Grundrechte des einzelnen im Zuge des für den Europäischen Staatsanwalt vorgeschlagenen Verfahrens ausreichend geschützt werden* Wird insbesondere das Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt zu werden (Punkt 6.2.1), hinreichend garantiert*

Frage 15: Welche Regeln sind vorzusehen, damit sich die Beziehungen zwischen der Europäischen Staatsanwaltschaft und den Akteuren der Zusammenarbeit in Strafsachen im Rahmen der EU reibungslos gestalten*

Frage 16: Was ist, mit Blick auf die von der Kommission vorzunehmende Bewertung der Stellung des OLAF, hinsichtlich der Verknüpfungspunkte zwischen der Europäischen Staatsanwaltschaft und dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) zu beachten*

Frage 17: Wie sollten sich die Beziehungen der Europäischen Staatsanwaltschaft zu Drittländern, insbesondere den Beitrittsländern, mit Blick auf eine bessere Bekämpfung von Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaften gestalten*

Frage 18: Welche Rechtsmittel/Rechtsbehelfe sollten gegen Handlungen zulässig sein, die der Europäische Staatsanwalt in Ausübung seines Amts vornimmt oder die unter seiner Leitung durchgeführt werden*