1.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

L 317/23


EMPFEHLUNG (EU) 2020/1365 DER KOMMISSION

vom 23. September 2020

zur Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bei Such- und Rettungsaktionen, für die im Eigentum privater Einrichtungen befindliche oder von solchen betriebene Schiffe eingesetzt werden

DIE EUROPÄISCHE KOMMISSION —

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 292,

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1)

Die Hilfeleistung für in Seenot geratene Personen ist eine rechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die sich aus dem Völkergewohnheitsrecht und internationalen Übereinkommen, insbesondere dem Internationalen Übereinkommen von 1974 zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (SOLAS-Übereinkommen), dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen von 1979 (UNCLOS), dem Internationalen Übereinkommen von 1979 über den Such- und Rettungsdienst auf See (SAR-Übereinkommen), sowie dem Unionsrecht ergibt. Die Europäische Union ist Vertragspartei des UNCLOS.

(2)

Seit 2014 versuchen Tausende Menschen, das Mittelmeer zu überqueren, um nach Europa zu gelangen. Um den Verlust von Menschenleben zu verhindern, das Migrationsmanagement zu verbessern, die Ursachen der irregulären Migration zu bekämpfen und organisierte kriminelle Gruppen von Schleusern und Menschenhändlern zu zerschlagen, ist eine vielschichtige Reaktion der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten erforderlich.

(3)

Die irreguläre Migration in die EU ist in den letzten zwei Jahren zwar zurückgegangen, und es waren weniger Todesfälle auf See zu beklagen, jedoch ist im Mittelmeer weiterhin der gefahrenreiche Einsatz kleiner, seeuntüchtiger Schiffe zu beobachten, was der organisierten Kriminalität weiter Vorschub leistet und Todesfälle verursacht, die vermieden werden könnten. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration sind im Mittelmeer im Jahr 2020 bislang über 500 Menschen zu Tode gekommen (im Jahr 2019 waren es über 1 880 und seit 2014 insgesamt über 20 300); die zentrale Mittelmeerroute nach Europa ist somit die mörderischste Migrationsroute der Welt.

(4)

Seit 2015 wurden als Reaktion auf die Migrationskrise die Kapazitäten, die Koordinierung und die Wirksamkeit der Such- und Rettungseinsätze im Mittelmeer beträchtlich verbessert, was unter anderem durch den erheblichen Beitrag der Küstenstaaten und den verstärkten Einsatz privater und gewerblich genutzter Schiffe ermöglicht wurde. Die EU und die Mitgliedstaaten haben ihre Kapazitäten im Mittelmeerraum ausgebaut, v. a. durch nationale Einsätze und Einsätze unter der Leitung der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) — wie z. B. die Operationen Themis (vormals Triton), Poseidon und Indalo und davor die EU-Marineoperation EUNAVFOR MED Sophia. So konnten seit 2015 mehr als 600 000 Menschen auf See gerettet werden.

(5)

Daneben betreiben auch mehrere Nichtregierungsorganisationen (NRO) private Schiffe, vor allem im zentralen Mittelmeerraum; diese tragen erheblich zur Rettung von in Seenot geratenen Personen bei, die anschließend zur sicheren Ausschiffung in das Hoheitsgebiet der EU gebracht werden. Wie bereits im EU-Aktionsplan gegen die Schleusung von Migranten 2015-2020 betont und in den Leitlinien der Kommission zum „Schleuser-Paket“ (C(2020) 6470) näher erläutert, muss dafür gesorgt werden, dass diejenigen, die humanitäre Hilfe für Menschen in Seenot leisten, nicht kriminalisiert werden, und gleichzeitig sind geeignete strafrechtliche Sanktionen gegen Schleuser einzuführen.

(6)

In seiner Entschließung vom 18. April 2018 zu den Fortschritten bei den globalen Pakten der Vereinten Nationen für eine sichere, geordnete und reguläre Migration und für Flüchtlinge (2018/2642 (RSP)) forderte das Europäische Parlament größere Kapazitäten für die Suche und Rettung von Menschen in Not und forderte weiterhin, dass alle Staaten größere Kapazitäten zur Verfügung stellen und dass die Unterstützung, die von privaten Akteuren und NRO geleistet wird, die Rettungsaktionen auf See und an Land durchführen, anerkannt wird.

(7)

Such- und Rettungseinsätze in Notsituationen erfordern Koordinierung und rasche Ausschiffung an einem sicheren Ort sowie die Achtung der Grundrechte der geretteten Personen im Einklang mit den Verpflichtungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, dem Grundsatz der Nichtzurückweisung sowie den völkerrechtlich und in internationalen Übereinkommen verankerten Menschenrechtsnormen und dem internationalen Seerecht, einschließlich der Leitlinien des Schiffssicherheitsausschusses (MSC) der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) für die Behandlung von aus Seenot geretteten Personen.

(8)

In den letzten Jahren hat sich in Europa eine neue Form von Such- und Rettungseinsätzen auf See herausgebildet, bei denen von NRO betriebene Schiffe unter der Koordinierung nationaler Seenotleitstellen oder auch in Eigeninitiative im zentralen Mittelmeerraum hauptsächlich für Such- und Rettungsaktionen eingesetzt werden. In vielen Fällen führen diese Schiffe mehrere Rettungseinsätze durch, bevor sie die Geretteten an einem sicheren Ort ausschiffen.

(9)

Die Schleusung von Migranten auf dem Seeweg ist eine Straftat, die Menschenleben gefährden kann und sowohl nach europäischem als auch internationalem Recht geahndet wird. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten sind Vertragsparteien des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität (UNTOC) und der zugehörigen Protokolle, einschließlich seines Zusatzprotokolls gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg. In diesem Zusammenhang ist unbedingt zu verhindern, dass Schleuser- oder Menschenhändlernetze, einschließlich krimineller Organisationen, die Menschenhandel oder der Sklaverei gleichgestellte Formen der Ausbeutung betreiben, die von privaten Schiffen im Mittelmeer durchgeführten Rettungseinsätze ausnutzen.

(10)

Im SAR-Übereinkommen haben sich die Vertragsparteien verpflichtet, sich an der Entwicklung von Such- und Rettungsdiensten zu beteiligen und unverzüglich dafür zu sorgen, dass jede Person, die sich in Seenot befindet oder zu befinden scheint, die notwendige Hilfe erhält; dabei sollten sie sich untereinander abstimmen und zusammenarbeiten, damit die Geretteten vom Schiff, das sie gerettet hat, so schnell es geht an einen sicheren Ort gebracht werden. Im Einklang mit den IMO-Leitlinien für die Behandlung von aus Seenot geretteten Personen sollten bei der Auswahl eines sicheren Ortes für die Ausschiffung mehrere wichtige Faktoren und die besonderen Umstände jedes Einzelfalls berücksichtigt werden. Unter anderem sollten aus Seenot gerettete Asylsuchende und Flüchtlinge, die begründete Furcht vor Verfolgung geltend machen, auf keinen Fall in Gebieten ausgeschifft werden, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht sind. Darüber hinaus verpflichten die IMO-Leitlinien die zuständigen staatlichen Behörden dazu, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um gerettete Personen zügig auszuschiffen, wobei eingeräumt wird, dass die erforderliche Koordinierung in einigen Fällen zu unvermeidlichen Verzögerungen führen kann.

(11)

Die regelmäßige Präsenz von NRO-Schiffen, die Such- und Rettungsaktionen im Mittelmeer durchführen, erfordert insbesondere eine verstärkte Koordinierung und operative Zusammenarbeit zwischen den Schiffen, die gerettete Personen befördern, und nationalen Behörden, wobei die Mitgliedstaaten auf unterschiedliche Weise betroffen sind: einige Staaten koordinieren die Such- und Rettungseinsätze, einige Staaten nehmen die geretteten, in ihrem Hoheitsgebiet ausgeschifften Personen auf, einige Staaten sind Sitzstaaten der betreffenden Nichtregierungsorganisationen und einige Staaten sind die Flaggenstaaten der für die Such- und Rettungsaktionen eingesetzten Schiffe.

(12)

Private Schiffe, die für Rettungsaktionen im Mittelmeer eingesetzt werden, sind Teil komplexer, oftmals wiederholter Such- und Rettungseinsätze, wobei die Zahl der beförderten Menschen im Verhältnis zur Kapazität der Schiffe groß sein und von der Rettung bis zur Ausschiffung eine Vielzahl von Akteuren beteiligt sein können. Es ist daher im Interesse der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, dass diese Schiffe ordnungsgemäß registriert und entsprechend ausgerüstet sind, sodass sie die Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen im Zusammenhang mit dieser Tätigkeit erfüllen und keine Gefahr für die Besatzung oder die geretteten Personen darstellen. Ihre Tätigkeiten bedürfen eines koordinierten Rahmens in Form einer verstärkten Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen privaten Betreibern und nationalen Behörden.

(13)

Die Küstenmitgliedstaaten sind aufgrund der fortgesetzten Ausschiffungen geretteter Personen einem erhöhten und unmittelbaren Druck auf ihre Migrationsmanagement- und Asylsysteme ausgesetzt, u. a. im Hinblick auf ihre Aufnahme- und Bearbeitungskapazitäten.

(14)

Neben anderen Initiativen nahm die Kommission am 4. Juli 2017 einen „Aktionsplan mit Maßnahmen zur Unterstützung Italiens, zur Verringerung des Drucks entlang der zentralen Mittelmeerroute und zur Erhöhung der Solidarität“ an, in dessen Rahmen Italien beauftragt wurde, im Einvernehmen mit der Kommission und auf der Grundlage eines Dialogs mit NRO einen Verhaltenskodex für NRO, die Such- und Rettungsaktionen im Mittelmeerraum durchführen, auszuarbeiten.

(15)

Trotz der bisherigen Koordinierungsbemühungen, z. B. im Rahmen des von der EU-Marineoperation Sophia eingerichteten SHADE-MED-Mechanismus (Shared Awareness and De-confliction in the Mediterranean — Gemeinsames Lageverständnis und Abstimmung im Mittelmeer), bedarf es angesichts der Besonderheiten der in den letzten Jahren im Mittelmeer durchgeführten Such- und Rettungsaktionen nach wie vor eines strukturierteren, zuverlässigeren und nachhaltigeren Rahmens im Einklang mit den Zuständigkeiten der EU und einschlägigen internationalen Normen. Dieser Rahmen sollte spezifische Regeln für die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten und eine verstärkte Zusammenarbeit insbesondere zwischen Flaggenstaaten und Küstenstaaten vorsehen. Ebenso ist es erforderlich, mit den privaten Einrichtungen, die Eigentümer oder Betreiber der Schiffe sind, die für Such- und Rettungsaktionen und die Verbringung geretteter Personen in das Hoheitsgebiet der EU eingesetzt werden, zusammenzuarbeiten; ein solcher Rahmen sollte daher auch darauf abzielen, im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union geeignete Informationen über die Tätigkeit und die Verwaltungsstruktur dieser Einrichtungen bereitzustellen und gemäß dem geltenden internationalen Recht die Sicherheit im Interesse aller an Bord befindlichen Personen zu erhöhen.

(16)

Die Kommission wird eine interdisziplinäre Kontaktgruppe einrichten, in der die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Umsetzung dieser Empfehlung zusammenarbeiten und ihre Tätigkeiten koordinieren können. Die Gruppe hat die Aufgabe, einen Überblick über die nationalen Vorschriften und Verfahren zu erarbeiten, gewonnene Erkenntnisse zusammenzustellen, zu prüfen, wie die Zusammenarbeit zwischen den Flaggen- und Küstenstaaten im Hinblick auf deren Aufgaben und Zuständigkeiten verbessert werden kann, und bewährte Verfahren zu entwickeln, die den Bedürfnissen der in den vergangenen Jahren entstandenen Such- und Rettungseinsätze gerecht werden. Sie wird regelmäßige Kontakte mit einschlägigen Interessenträgern, wie EU-Agenturen — insbesondere Frontex —, und gegebenenfalls Nichtregierungsorganisationen, die Such- und Rettungsaktionen im Mittelmeer durchführen, sowie mit Wissenschaftlern und internationalen Organisationen wie der IMO pflegen, um Erkenntnisse auszutauschen und sicherzustellen, dass die Aktionen im Einklang mit dem internationalen rechtlichen und operativen Rahmen durchgeführt werden. Die Mitgliedstaaten sollten der Kommission alle relevanten Informationen über die Umsetzung dieser Empfehlung übermitteln. Die Kontaktgruppe wird die Umsetzung der Empfehlung überwachen und der Kommission einmal jährlich einen Bericht vorlegen.

(17)

Die Kommission wird die Arbeit der Kontaktgruppe und die Umsetzung dieser Empfehlung gegebenenfalls bei der Ausarbeitung der Europäischen Strategie für Asyl- und Migrationsmanagement und der jährlichen Migrationsmanagementberichte gemäß der Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement berücksichtigen. Auf dieser Grundlage wird die Kommission bei Bedarf auch künftige Initiativen bewerten und empfehlen.

(18)

Diese Empfehlung lässt die Kooperationspflichten und sonstigen Verpflichtungen, die sich aus dem einschlägigen Völkerrecht und dem Unionsrecht ergeben, unberührt —

HAT FOLGENDE EMPFEHLUNG ABGEGEBEN:

1.

Die Mitgliedstaaten sollten bei Such- und Rettungsaktionen, für die im Eigentum privater Einrichtungen befindliche oder von solchen betriebene Schiffe eingesetzt werden, untereinander zusammenarbeiten, um die Zahl der Todesfälle auf See zu verringern, die Schiffsverkehrssicherheit zu gewährleisten und ein wirksames Migrationsmanagement im Einklang mit den einschlägigen rechtlichen Verpflichtungen sicherzustellen.

Insbesondere sollten Flaggen- und Küstenmitgliedstaaten im Einklang mit dem Völkerrecht und dem Unionsrecht, einschließlich der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Vorschriften für den Schutz personenbezogener Daten, regelmäßig und zeitnah Informationen über die an bestimmten Rettungseinsätzen beteiligten Schiffe und über deren Eigentümer und Betreiber austauschen.

2.

Die Mitgliedstaaten sollten insbesondere im Rahmen der Kontaktgruppe untereinander und mit der Kommission zusammenarbeiten und sich mit allen einschlägigen Interessenträgern, gegebenenfalls auch privaten Einrichtungen, die Eigentümer oder Betreiber von Schiffen sind, die für Such- und Rettungsaktionen eingesetzt werden, austauschen, um bewährte Verfahren zu ermitteln, und mittels geeigneter Maßnahmen dafür sorgen, dass

a)

die Sicherheit auf See erhöht wird und

b)

die zuständigen Behörden über alle Informationen verfügen, die sie für die Überwachung und Prüfung der Einhaltung der Sicherheitsnormen auf See sowie der einschlägigen Migrationsmanagementvorschriften benötigen .

3.

Die Mitgliedstaaten sollten der Kommission mindestens einmal jährlich und spätestens am 31. März des auf das Bezugsjahr folgenden Jahres alle relevanten Informationen über die Umsetzung dieser Empfehlung übermitteln.

Brüssel, den 23. September 2020

Für die Kommission

Ylva JOHANSSON

Mitglied der Kommission