5.9.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 301/24


EMPFEHLUNG DES RATES

vom 9. Juli 2019

zum nationalen Reformprogramm Deutschlands 2019 mit einer Stellungnahme des Rates zum Stabilitätsprogramm Deutschlands 2019

(2019/C 301/05)

DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION —

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 121 Absatz 2 und Artikel 148 Absatz 4,

gestützt auf die Verordnung (EG) Nr. 1466/97 des Rates vom 7. Juli 1997 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken (1), insbesondere auf Artikel 5 Absatz 2,

gestützt auf die Verordnung (EU) Nr. 1176/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2011 über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte (2), insbesondere auf Artikel 6 Absatz 1,

auf Empfehlung der Europäischen Kommission,

unter Berücksichtigung der Entschließungen des Europäischen Parlaments,

unter Berücksichtigung der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates,

nach Stellungnahme des Beschäftigungsausschusses,

nach Stellungnahme des Wirtschafts- und Finanzausschusses,

nach Stellungnahme des Ausschusses für Sozialschutz,

nach Stellungnahme des Ausschusses für Wirtschaftspolitik,

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1)

Am 21. November 2018 nahm die Kommission den Jahreswachstumsbericht an, mit dem das Europäische Semester für die wirtschaftspolitische Koordinierung 2019 eingeleitet wurde. Dabei wurde der am 17. November 2017 vom Europäischen Parlament, vom Rat und von der Kommission proklamierten Europäischen Säule sozialer Rechte gebührend Rechnung getragen. Die Prioritäten des Jahreswachstumsberichts wurden am 21. März 2019 vom Europäischen Rat gebilligt. Am 21. November 2018 nahm die Kommission auf der Grundlage der Verordnung (EU) Nr. 1176/2011 auch den Warnmechanismus-Bericht an, in dem sie Deutschland als einen der Mitgliedstaaten nannte, für die eine eingehende Überprüfung durchzuführen sei. Am selben Tag nahm die Kommission auch eine Empfehlung für eine Empfehlung des Rates zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets an, die am 21. März 2019 vom Europäischen Rat gebilligt wurde. Am 9. April 2019 nahm der Rat die Empfehlung zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets (3) (im Folgenden „Empfehlung für das Euro-Währungsgebiet 2019“) an, die die fünf Euro-Währungsgebiet-Empfehlungen enthält.

(2)

Als Mitgliedstaat, dessen Währung der Euro ist, und angesichts der engen Verflechtungen zwischen den Volkswirtschaften in der Wirtschafts- und Währungsunion sollte Deutschland die vollständige und fristgerechte Umsetzung der Empfehlung für das Euro-Währungsgebiet 2019, die in den unten genannten Empfehlungen 1 und 2 ihren Niederschlag findet, sicherstellen. Insbesondere Investitionsmaßnahmen und Förderung des Lohnwachstums werden zur Umsetzung der ersten Euro-Währungsgebiet-Empfehlung (Abbau von Ungleichgewichten) beitragen, während die steuerliche Entlastung der Arbeit bei der Umsetzung der dritten Euro-Währungsgebiet-Empfehlung (Funktionieren des Arbeitsmarkts) helfen wird.

(3)

Der Länderbericht Deutschland 2019 wurde am 27. Februar 2019 veröffentlicht. Darin wurden die Fortschritte Deutschlands bei der Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen des Rates vom 13. Juli 2018 (4), bei der Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen der Vorjahre und bei der Verwirklichung seiner nationalen Ziele im Rahmen der Strategie Europa 2020 bewertet. Im Länderbericht wurde außerdem eine eingehende Überprüfung nach Artikel 5 der Verordnung (EU) Nr. 1176/2011 vorgenommen, deren Ergebnisse ebenfalls am 27. Februar 2019 veröffentlicht wurden. Die Kommission gelangte in ihrer Analyse zu dem Schluss, dass in Deutschland makroökonomische Ungleichgewichte bestehen. Insbesondere ist der nur langsam abnehmende Leistungsbilanzüberschuss nach wie vor auf hohem Stand und hat grenzübergreifende Auswirkungen. Bedingt durch die anziehende Binnennachfrage ging er 2018 leicht zurück und wird in den kommenden Jahren voraussichtlich auch weiterhin allmählich abnehmen, aber immer noch über der im Verfahren bei makroökonomischen Ungleichgewichten gesetzten Schwelle bleiben. Er spiegelt unter anderem die — gemessen an den Ersparnissen verhaltene — Investitionstätigkeit im privaten wie im öffentlichen Sektor wider. Dank Maßnahmen zur Förderung der privaten und öffentlichen Investitionen haben diese erheblich zugelegt. Das hat dazu beigetragen, dass das Wachstum nun in stärkerem Maße von der Binnennachfrage getragen wird Die günstigen Finanzierungsbedingungen, der Rückstand bei den öffentlichen Investitionen, insbesondere auf kommunaler Ebene, und der finanzpolitische Spielraum hätten allerdings ein kräftigeres Wachstum von Konsum und Investitionen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) erwarten lassen. Das Lohnwachstum zog aufgrund des angespannten Arbeitsmarkts geringfügig an, doch ist der Anstieg real nach wie vor bescheiden.

(4)

Am 16. April 2019 übermittelte Deutschland sein nationales Reformprogramm 2019 und am 17. April 2019 sein Stabilitätsprogramm 2019. Um wechselseitigen Zusammenhängen Rechnung zu tragen, wurden beide Programme gleichzeitig bewertet.

(5)

Bei der Programmplanung der Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (im Folgenden „ESI-Fonds“) für den Zeitraum 2014-2020 wurden die einschlägigen länderspezifischen Empfehlungen berücksichtigt. Nach Artikel 23 der Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (5) kann die Kommission einen Mitgliedstaat zur Überarbeitung seiner Partnerschaftsvereinbarung und der jeweiligen Programme sowie zur Unterbreitung von Änderungsvorschlägen auffordern, wenn das zur Förderung der Umsetzung der einschlägigen Ratsempfehlungen notwendig ist. In den Leitlinien für die Anwendung von Maßnahmen zur Schaffung einer Verbindung zwischen der Wirksamkeit der ESI-Fonds und der ordnungsgemäßen wirtschaftspolitischen Steuerung hat die Kommission erläutert, wie sie diese Bestimmung anzuwenden gedenkt.

(6)

Deutschland befindet sich derzeit in der präventiven Komponente des Stabilitäts- und Wachstumspakts. In ihrem Stabilitätsprogramm 2019 plant die Bundesregierung für den Zeitraum 2019-2023 einen Haushaltsüberschuss zwischen ½ und ¾ % des BIP. Dem neuberechneten strukturellen Saldo (6) zufolge wird das mittelfristige Haushaltsziel — ein strukturelles Defizit von 0,5 % des BIP — im gesamten Programmzeitraum auch weiterhin übertroffen. Nach dem Stabilitätsprogramm 2019 wird erwartet, dass die gesamtstaatliche Schuldenquote 2019 unter den im Vertrag festgelegten Referenzwert von 60 % des BIP absinkt und bis 2023 allmählich auf 51¼ % des BIP zurückgeht. Das makroökonomische Szenario, das diesen Haushaltsprojektionen zugrunde liegt, ist günstig. Nach der Frühjahrsprognose 2019 der Kommission wird voraussichtlich 2019 ein struktureller Überschuss von 1,1 % des BIP und 2020 ein struktureller Überschuss von 0,8 % des BIP erzielt — damit würde das mittelfristige Haushaltsziel übertroffen. Der gesamtstaatliche Schuldenstand wird voraussichtlich auch weiterhin auf festem Abwärtskurs bleiben. Alles in allem ist der Rat der Auffassung, dass Deutschland die Bestimmungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts in den Jahren 2019 und 2020 voraussichtlich einhält. Gleichzeitig wäre es wichtig, die Haushalts- und Strukturpolitik unter Einhaltung des mittelfristigen Haushaltsziels dazu zu nutzen, bei den privaten und öffentlichen Investitionen vor allem auf regionaler und auf kommunaler Ebene einen anhaltenden Aufwärtstrend herbeizuführen.

(7)

Wenngleich die öffentlichen und privaten Investitionen 2018 ein robustes Wachstum verzeichneten, liegt die Investitionsquote nach wie vor unter dem Durchschnitt des Euro-Währungsgebiets. So legten die öffentlichen Investitionen 2018 um nominal 7,7 % und real 3,8 % zu, doch sind weitere Anstrengungen erforderlich, um den hohen Investitionsrückstand aufzuholen, was insbesondere für die Investitionen in Infrastruktur und Bildung gilt. Nach einer Phase des Negativwachstums haben die öffentlichen Investitionen in den vergangenen drei Jahren real wieder zugenommen. Nominal haben die Investitionen auf kommunaler Ebene allein im Jahr 2018 um fast ein Fünftel zugenommen. Grund hierfür sind u. a. die Anstrengungen der Regierung zur Ankurbelung der Investitionen. Allerdings liegen die Investitionen auf kommunaler Ebene nach wie vor unter den Abschreibungen. Laut KfW-Kommunalpanel 2019 lag der bis 2018 aufgelaufene wahrgenommene Investitionsrückstand bei 4 % des BIP. Zusammen mit der günstigen Haushaltslage weist das darauf hin, dass auf allen Ebenen des Staates, insbesondere auf regionaler und kommunaler Ebene, Spielraum für eine Ausweitung der Investitionen vorhanden ist. Investitionen in die öffentliche Infrastruktur werden nach wie vor durch Kapazitäts- und Planungsengpässe auf kommunaler Ebene gebremst. Zu deren Überwindung sind Maßnahmen eingeleitet worden, die aber noch nicht zu dauerhaften, greifbaren Ergebnissen geführt haben. Auch bei den digitalen öffentlichen Diensten und dem öffentlichen Auftragswesen besteht Raum für Verbesserungen. Die privaten Investitionen haben sich merklich erhöht, wenngleich nicht in allen Bereichen. Bei den Ausrüstungsinvestitionen ist wegen der Kapazitätsauslastung in Rekordhöhe eine robuste Zunahme zu verzeichnen. Bei den Wohnbauinvestitionen setzt sich der Boom fort. Das Baugewerbe vermeldet inzwischen allerdings Kapazitätsengpässe und Preissteigerungen. Der Nichtwohnbau hat real nur schleppend zugelegt, was darauf hindeutet, dass wichtige Teile der Infrastruktur möglicherweise nicht mit den Anforderungen der Wirtschaft Schritt gehalten haben.

(8)

Die öffentlichen Bildungsausgaben betrugen 2017 4,1 % des BIP und blieben damit auch weiterhin hinter dem Unionsdurchschnitt (4,6 %) zurück. Von den Gesamtausgaben des Staates flossen 9,3 % in das Bildungswesen; auch dieser Wert liegt unter dem Unionsdurchschnitt von 10,2 %. Die Ausgaben für Bildung und Forschung blieben 2017 bei 9 % des BIP und lagen damit unter dem nationalen Zielwert von 10 %. Auch wenn die Bildungsausgaben real gestiegen sind, hat der hohe Investitionsrückstand aufgrund demographischer Entwicklungen weiter zugenommen. Änderungen der Rechtslage, die es der Bundesregierung ermöglichen, zusätzlich zu den von den Ländern bereitgestellten Mitteln direkt in die digitale Bildung zu investieren (Digitalpakt), sind vielversprechend, haben aber noch keine Ergebnisse gezeigt. Herausforderungen wie die wachsenden Studierendenzahlen, der Lehrkräftemangel, die Digitalisierung und der weitere Ausbau der frühkindlichen Bildung und Betreuung werden eine angemessene öffentliche Finanzierung erfordern. Zusätzliche Ausgaben für Bildung, Forschung und Innovation sind zur Steigerung des deutschen Potenzialwachstums und zur Anpassung an den technologischen Wandel von entscheidender Bedeutung.

(9)

Deutschland hat in den vergangenen Jahren Fortschritte bei der Steigerung seiner Forschungs- und Entwicklungs (FuE)-Intensität erzielt, die in erster Linie auf die Erhöhung der FuE-Ausgaben großer Unternehmen, insbesondere im Medium-High-Tech-Segment des verarbeitenden Gewerbes und hier vor allem der Automobilindustrie zurückzuführen sind. Bei den kleinen und mittleren Unternehmen liegt die FuE-Intensität deutlich unter dem Unionsdurchschnitt und fällt weiter zurück. Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) profitieren tendenziell seltener von der Zusammenarbeit mit öffentlichen Forschungseinrichtungen als Großunternehmen. Diese beiden Faktoren bremsen die Innovationsraten der Unternehmen, die einen langfristigen Abwärtstrend verzeichnen. Zusätzliche Investitionen in Forschung und Entwicklung sind nicht nur zur wirtschaftsweiten Erhöhung der Innovationskapazität und zur Steigerung der Produktivität von zentraler Bedeutung, sondern auch zur Erleichterung des Übergangs zu einer emissionsarmen Kreislaufwirtschaft insbesondere in den Bereichen nachhaltiger Verkehr, umweltfreundliche Energietechnologien, Öko-Innovationen und Recycling, sowie zur weiteren Steigerung der Leistungsfähigkeit des öffentlichen Forschungssektors und des Beitrags, den dieser zu den genannten Zielsetzungen leistet.

(10)

Die Digitalisierung der deutschen Wirtschaft kommt nur schleppend voran, und kleine und mittlere Unternehmen stellen nach wie vor nur langsam auf digitale Technologien um. Beim flächendeckenden Ausbau von Breitbandnetzen mit sehr hoher Kapazität (Gigabit-Geschwindigkeiten) kommt Deutschland insbesondere in ländlichen Gebieten, wo mehr Investitionen das Produktivitätswachstum steigern könnten, nicht wie geplant voran. Mitte 2018 verfügten nur 9 % der deutschen Haushalte über einen hochleistungsfähigen Glasfaseranschluss, während der Unionsdurchschnitt 30 % betrug. Stattdessen setzte der etablierte Anbieter als bevorzugte technische Lösung weiterhin auf den Ausbau der vorhandenen Kupferkabelnetze („Vectoring“). Auch wenn viele Dienstleistungen auf Hochgeschwindigkeitsverbindungen angewiesen sind, waren 2017 23 700 Gewerbegebiete nicht an ein Glasfasernetz und 28 % aller Unternehmen nicht an ein Netz mit einer Übertragungsgeschwindigkeit von mindestens 50 Megabit/s angeschlossen. Das Fehlen schneller Verbindungen bremst die Investitionen, insbesondere kleiner und mittlerer Unternehmen, die häufig in ländlichen und halbländlichen Gebieten angesiedelt sind. In ländlichen Gebieten hängt der Ausbau ultraschneller Breitbandinfrastrukturen (≥ 100 Mbps) nach wie vor entscheidend von Interventionen der öffentlichen Hand ab; hier könnten verschiedene, über Subventionen hinausgehende Optionen geprüft werden. Bei den digitalen öffentlichen Diensten und bei elektronischen Gesundheitsdiensten liegt Deutschland weit unter dem Unionsdurchschnitt. Nur 43 % der deutschen Internetnutzer machten 2018 von elektronischen Behördendiensten Gebrauch (gegenüber einem Unionsdurchschnitt von 64 %). Bei den elektronischen Gesundheitsdiensten haben 7 % der Deutschen auf online angebotene Behandlungs- und Versorgungsangebote zurückgegriffen (gegenüber einem Unionsdurchschnitt von 18 %). Elektronische Rezepte werden von 19 % der Allgemeinmediziner ausgestellt (gegenüber einem Unionsdurchschnitt von 50 %).

(11)

Um die Probleme bei Mobilität und Luftqualität in Angriff zu nehmen und den Klimaschutz und die Anpassung an den Klimawandel zu fördern, muss Deutschland mehr in die Verkehrsinfrastruktur und in saubere Mobilitätslösungen investieren. Die durch den Straßenverkehr verursachten Treibhausgasemissionen sind in den letzten fünf Jahren gestiegen. Die Luftqualität in Deutschland, insbesondere in städtischen Gebieten, in denen rund 60 % der schädlichen Stickoxidemissionen durch den Straßenverkehr verursacht werden, gibt Anlass zu ernsthafter Sorge. Stärker entwickelte intermodale Lösungen könnten dem Güterverkehr nutzen. Im täglichen Pendlerverkehr ist der PKW nach wie vor das mit Abstand am häufigsten genutzte Verkehrsmittel, und die Menschen verbringen im Durchschnitt rund 30 Stunden pro Jahr im Stau. Schätzungen zufolge verursachen Staus und die Suche nach Parkplätzen Kosten in Höhe von 110 Mrd. EUR jährlich, was etwa 4 % des BIP Deutschlands entspricht. Obwohl Fahrzeuge mit Alternativantrieb den höchsten Anstieg bei den Neuzulassungen verzeichnen, sind die Zahlen insgesamt noch immer niedrig. Car-Sharing und Fahrgemeinschaften werden nach wie vor viel zu wenig genutzt. Auch für neue Lieferketten für Batterien und kritische Rohstoffe wird es erheblicher öffentlicher und privater Investitionen bedürfen.

(12)

Die deutschen Stromnetze passen sich nur langsam an die Produktion aus erneuerbaren Quellen an und nach wie vor sind signifikante Investitionen in Übertragungs- und Verteilungsnetze erforderlich. Die erheblichen Verzögerungen bei der Durchführung vieler Projekte haben deutschen und europäischen Elektrizitätsnetzen und -märkten beträchtliche Kosten verursacht. So waren bis zum zweiten Quartal 2018 nur etwa 800 Kilometer der im Energieleitungsausbaugesetz von 2009 vorgesehenen 1 800 Kilometer Netzprojekte realisiert, was zu einem Teil auf Widerstände in der Öffentlichkeit zurückzuführen war. Verzögerungen beim Netzausbau werden sowohl in Deutschland als auch über die deutschen Grenzen hinweg die durch Netzüberlastung verursachten Kosten erhöhen und die Märkte zunehmend verzerren. Mit Blick auf die Erreichung der Energie- und Klimaziele sind Investitionen in Energienetze, die die Sektorkopplung, die Diversifizierung und eine angemessene Netzinfrastruktur fördern, für die Flexibilität des Energiesystems und für eine bessere Verzahnung der verschiedenen Wirtschaftsbereiche von zentraler Bedeutung.

(13)

Bezahlbarer Wohnraum hat sich in Deutschland verknappt. Seit 2015 steigen sowohl die Mieten als auch die Haus- und Wohnungspreise schneller als ihr langfristiger Durchschnitt, was insbesondere für Großstädte gilt. In der Altersgruppe der über 65-Jährigen sahen sich 2017 20 % mit übermäßig hohen Wohnkosten konfrontiert (d. h. die Wohnkosten machten insgesamt mehr als 40 % des verfügbaren Einkommens aus), gegenüber 10 % dieser Altersgruppe im restlichen Europa. In der Bevölkerungsgruppe mit dem niedrigsten Einkommen lag die Überbelastung durch Wohnkosten zehn Prozentpunkte über dem Unionsdurchschnitt von 35,3 %. Reagiert hat die Bundesregierung hierauf mit Maßnahmen wie der Mietpreisbremse, dem Baukindergeld sowie einer Grundgesetzänderung, die Bundesfinanzhilfen im sozialen Wohnungsbau ermöglicht. Dennoch bleibt die Zahl der Wohnungsneubauten erheblich hinter der Nachfrage und deutlich hinter dem von der Bundesregierung gesetzten Ziel von 375 000 Neubauten jährlich zurück. Weitere Maßnahmen wie die Beschleunigung des Baus von Sozialwohnungen, die Verbesserung der Transportmöglichkeiten sowie die Reformierung von Flächennutzung und Bauvorschriften könnten sich deshalb als notwendig erweisen.

(14)

Deutschland hat von der Integration in den Binnenmarkt besonders profitiert und spielt für dessen Weiterentwicklung eine wichtige Rolle. Bei den Unternehmensdienstleistungen sind die Wettbewerbsschranken in Deutschland allerdings im Vergleich mit anderen Mitgliedstaaten nach wie vor hoch. Das betrifft mehrere Bereiche, die auch die reglementierten Berufe einschließen, wie Architektur, Ingenieurwesen und juristische Dienstleistungen, in denen rechtliche Beschränkungen wie Exklusivitätsrechte und Preis- und Gebührenordnungen den Wettbewerb behindern. Doch auch bei den nicht reglementierten Unternehmensdienstleistungen bestehen bei den allgemeinen Rahmenbedingungen für die Ausübung der Tätigkeit zahlreichere Beschränkungen als in anderen Mitgliedstaaten. Auf erhöhten Wettbewerb gerichtete Änderungen bei der Regulierung der Unternehmensdienstleistungen würden die Effizienz und Wirksamkeit von Investitionen und Wirtschaftstätigkeit steigern.

(15)

Nach einigen Verbesserungen in den vergangenen Jahren hat es im zurückliegenden Jahr nur wenige Fortschritte dabei gegeben, durch Steuerreformen die inländischen Privatinvestitionen und das Wachstum anzukurbeln. Das Steuersystem ist nach wie vor komplex, verzerrt den Entscheidungsprozess (beispielsweise bei Erwerbsbeteiligung, Investitionen und Finanzierung) und könnte wirkungsvollere Investitions- und Konsumanreize bieten. Die meisten Fortschritte sind bei der Besteuerung von Arbeit zu verzeichnen, was sich allerdings noch nicht in den Daten niedergeschlagen hat. Es gibt nach wie vor Spielraum, um die verzerrende Besteuerung der Arbeit durch eine Verlagerung der Besteuerung auf andere, einem inklusiven und nachhaltigen Wachstum förderlichere Einnahmequellen zu verringern. Die Besteuerung der Erwerbseinkommen (d. h. die Steuer- und Abgabenbelastung) von Durchschnitts- und Geringverdienern war 2018 auch weiter eine der höchsten in der Union. Die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitnehmer sind im Vergleich zu anderen Ländern besonders hoch und machen etwa zwei Drittel der Steuer- und Abgabenbelastung aus, während die Einkommensteuer ein Drittel ausmacht. Demgegenüber gehört das Umweltsteueraufkommen in Relation zum BIP zu den niedrigsten in der Union. Die Kapitalkosten und der durchschnittliche effektive Körperschaftsteuersatz, die regional unterschiedlich sind, gehören zu den höchsten in der Union. Während der durchschnittliche effektive Steuersatz 28,8 % (nationaler Gesamtwert) betrug, belief er sich im Unionsdurchschnitt auf 20 %. Durch das Zusammenspiel von Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer und Solidaritätszuschlag ist die Unternehmensbesteuerung komplex, verursacht hohe Kosten für die Steuerverwaltung und wirkt sich verzerrend auf Höhe und Standort von Investitionen aus. Außerdem verzerrt die Körperschaftsteuer Finanzierungsentscheidungen, da sie tendenziell die Fremdfinanzierung begünstigt, die den Daten von 2017 zufolge schätzungsweise die dritthöchste in der Union ist. Würden die Kosten für die Aufnahme von Eigenkapital gesenkt, könnte das die privaten Investitionen steigern und den vergleichsweise unterentwickelten Risikokapitalmarkt stärken.

(16)

Der Arbeitsmarkt bleibt robust, während das Arbeitskräftepotenzial bestimmter Gruppen nicht voll ausgeschöpft wird. In der Altersgruppe der 20-64- Jährigen erreichte die Beschäftigungsquote im vierten Quartal 2018 79,9 % und ist damit eine der höchsten in der Union. Die Arbeitslosigkeit ging Anfang 2019 auf ein Rekordtief von 3,2 % zurück. Immer mehr Stellen bleiben unbesetzt, sodass der Arbeitskräftemangel, der die Produktion in einigen Regionen und Branchen signifikant drosselt, zunehmend sichtbar wird. Dennoch wird das Arbeitsmarktpotenzial bestimmter Gruppen wie von Frauen und von Menschen mit Migrationshintergrund nicht voll ausgeschöpft. Mit 46,7 % ist der Anteil teilzeitbeschäftigter Frauen in Deutschland sehr hoch. Erwerbseinkommen — auch von Geringverdienern — werden in Deutschland nach wie vor relativ hoch besteuert. Die besonderen Vorschriften des Ehegattensplittings mindern für Zweitverdiener insbesondere den Anreiz, die Zahl ihrer Arbeitsstunden aufzustocken. Bei Menschen mit Migrationshintergrund ist die Beschäftigungsquote deutlich niedriger als bei Einheimischen, wobei der Unterschied bei Frauen besonders groß ausfällt. Es wurden Maßnahmen zur Eingliederung für Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt getroffen, doch bleiben Herausforderungen bestehen, darunter unzureichende Deutschkenntnisse, fehlende oder nicht übertragbare Qualifikationen, Fürsorgepflichten gegenüber Kindern und Verwandten und fehlende Erfahrung mit ungeschriebenen Regeln am deutschen Arbeitsmarkt.

(17)

Das Ausscheiden der geburtenstarken Jahrgänge aus dem Erwerbsleben trifft Deutschland stärker als andere Mitgliedstaaten. Langfristig wird diese demografische Entwicklung die öffentlichen Finanzen Deutschlands belasten, könnte die Angemessenheit der Renten infrage stellen und könnte den derzeit begrenzten Anteil der älteren Bevölkerung (Menschen ab 65) erhöhen, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht ist. Bis zum Jahr 2040 dürften die Ausgaben Deutschlands für die gesetzlichen Renten im Verhältnis zum BIP unionsweit mit am steilsten ansteigen (um 1,9 BIP-Prozentpunkte), während das Rentenniveau bei der gesetzlichen Rentenversicherung dem Bericht über die Bevölkerungsalterung 2018 zufolge (Europäische Kommission, 2018d) um 4,4 Prozentpunkte auf 37,6 % sinken wird. Die jüngsten Rentenreformen sind für bestimmte Gruppen mit einer Rentenerhöhung einhergegangen, doch ist nicht klar, ob der damit erzielte soziale Nutzen in einem angemessenen Verhältnis zur beachtlichen Belastung der Staatskasse steht. Auch hat die Bundesregierung eine doppelte Haltelinie gezogen: Deckelung des Rentenversicherungsbeitragssatzes auf 20 % und Mindestsicherungsniveau von 48 % bis 2025. Die Einhaltung dieser Grenzwerte dürfte erhebliche Finanztransfers erfordern, was die jüngeren Generationen noch weiter belasten wird. Die Angemessenheit der Rentenbezüge von Geringverdienern bleibt ebenfalls ein Problem.

(18)

Trotz zunehmenden Arbeitskräftemangels ist das Reallohnwachstum nach wie vor bescheiden, während die Nominallöhne 2018 um 3,1 % gestiegen sind. Das allgemeine Lohnwachstum 2018, das auch leicht über dem Produktivitätswachstum lag, ist u. a. auch darauf zurückzuführen, dass vor allem bei den besser bezahlten Vollzeitstellen die Beschäftigung zunahm und der Anteil der geringfügigen Beschäftigung an der Gesamtbeschäftigung zurückgegangen ist. So hat sich die Tarifbindung weiter verringert (von 2016 bis 2017 um 2 Prozentpunkte) und liegt nun im Westen bei 49 % und im Osten bei 34 %. Es bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Sektoren, wobei die Tarifbindung im öffentlichen Sektor und in der Industrie erheblich höher ist als im Dienstleistungssektor. Die Beschäftigten im Niedriglohnsektor haben allgemein von dem 2015 eingeführten Mindestlohn profitiert. Am unteren Ende der Lohnskala, insbesondere bei den zwei untersten Lohndezilen, sind die Stundenlöhne erheblich gestiegen. Dennoch liegt der Anteil der Geringverdiener mit 22,5 % im Jahr 2017 nach wie vor erheblich über dem Unionsdurchschnitt. Die Zahl der reinen Minijobber ging im Zeitraum 2010-2018 um 6,8 % zurück, während die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zugleich um rund 18,1 % zunahm. Würden die Voraussetzungen für die Förderung des Lohnwachstums gestärkt, würde das die Binnennachfrage stützen und zum Abbau der Ungleichgewichte im Euro-Währungsgebiet beitragen.

(19)

Soziale Mobilität nach oben ist im deutschen Bildungssystem selten. Auch nationalen Quellen zufolge sind nur wenige Fortschritte dabei erzielt worden, den Einfluss des sozioökonomischen Hintergrunds auf die Bildungsergebnisse zu verringern. Bei der Eingliederung der unlängst aufgenommenen Migranten und Flüchtlinge in die schulische und berufliche Aus- und Weiterbildung schneidet Deutschland gut ab. Menschen mit Migrationshintergrund sehen sich in der Regel allerdings vor größere Herausforderungen gestellt als einheimische Lernende (was beispielsweise der Prozentsatz der frühen Schulabgänger und die Schwierigkeit, eine Lehrstelle zu finden, zeigen). Da ohnehin schon beträchtlicher Lehrermangel herrscht, müssen angesichts der zunehmend heterogenen Klassenverbände große Anstrengungen zur Verstärkung des Lehrkörpers unternommen werden. Die Beteiligung von Arbeitnehmern an der Erwachsenenbildung ist ein Problem für deren künftigen Erfolg am Arbeitsmarkt, was ganz besonders für die 6,2 Mio. Menschen ohne grundlegende Lese- und Schreibkompetenzen gilt.

(20)

Wenngleich die Zahl der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen seit ihrem Höchststand von 2014 zurückgegangen ist, stellt die mangelnde Chancengleichheit nach wie vor eine Herausforderung dar. So lag das Armuts- oder Ausgrenzungsrisiko bei Kindern geringqualifizierter Eltern 2017 67 Prozentpunkte über dem entsprechenden Risiko bei Kindern hochqualifizierter Eltern. Dieser Abstand liegt deutlich über dem Unionsdurchschnitt (53,9 Prozentpunkte).

(21)

Einige der in den Empfehlungen festgestellten Lücken, insbesondere in den in Anhang D des Länderberichts für 2019 aufgeführten Bereichen, könnten bei entsprechender Programmplanung für den Zeitraum 2021-2027 auch im Rahmen der Unionsfonds angegangen werden. Das würde es Deutschland ermöglichen, diese Mittel unter Berücksichtigung der regionalen Unterschiede optimal für die ermittelten Sektoren zu nutzen.

(22)

Im Rahmen des Europäischen Semesters 2019 hat die Kommission die Wirtschaftspolitik Deutschlands umfassend analysiert und diese Analyse im Länderbericht 2019 veröffentlicht. Sie hat auch das Stabilitätsprogramm 2019 und das Nationale Reformprogramm 2019 sowie die Maßnahmen zur Umsetzung der an Deutschland gerichteten Empfehlungen der Vorjahre bewertet. Dabei hat die Kommission nicht nur deren Relevanz für eine auf Dauer tragfähige Haushalts-, Sozial- und Wirtschaftspolitik in Deutschland berücksichtigt, sondern angesichts der Notwendigkeit, die wirtschaftspolitische Steuerung der Union insgesamt durch auf Unionsebene entwickelte Vorgaben für künftige nationale Entscheidungen zu verstärken, auch deren Übereinstimmung mit Unionsvorschriften und -leitlinien bewertet.

(23)

Vor dem Hintergrund dieser Bewertung hat der Rat das Stabilitätsprogramm 2019 geprüft und ist zu der Auffassung (7) gelangt, dass Deutschland den Stabilitäts- und Wachstumspakt voraussichtlich einhalten wird.

(24)

Vor dem Hintergrund der eingehenden Überprüfung durch die Kommission und dieser Bewertung hat der Rat das nationale Reformprogramm 2019 und das Stabilitätsprogramm 2019 geprüft. Seine Empfehlungen gemäß Artikel 6 der Verordnung (EU) Nr. 1176/2011 spiegeln sich in den nachstehenden Empfehlungen 1 und 2 wider. Diese Empfehlungen tragen auch zur Umsetzung der Empfehlung für das Euro-Währungsgebiet 2019, insbesondere der ersten Euro-Währungsgebiet-Empfehlung bei. Die nachstehend in der Empfehlung Nr. 1 genannte Haushaltspolitik trägt unter anderem zur Verringerung der Ungleichgewichte im Zusammenhang mit dem Leistungsbilanzüberschuss bei —

EMPFIEHLT, dass Deutschland 2019 und 2020 Maßnahmen ergreift, um

1.   

unter Einhaltung des mittelfristigen Haushaltsziels die Haushalts- und Strukturpolitik zu nutzen, um bei den privaten und öffentlichen Investitionen vor allem auf regionaler und kommunaler Ebene einen anhaltenden Aufwärtstrend herbeizuführen; den Schwerpunkt seiner investitionsbezogenen Wirtschaftspolitik unter Berücksichtigung regionaler Unterschiede auf Bildung, Forschung und Innovation, Digitalisierung und Breitbandnetze mit sehr hoher Kapazität, nachhaltigen Verkehr sowie auf Energienetze und bezahlbaren Wohnraum zu legen; die Besteuerung von der Arbeit auf Quellen zu verlagern, die einem inklusiven und nachhaltigen Wachstum weniger abträglich sind; bei Unternehmensdienstleistungen und reglementierten Berufen den Wettbewerb zu verstärken;

2.   

die Fehlanreize, die einer Aufstockung der Arbeitszeit entgegenwirken, darunter auch die hohe Steuer- und Abgabenbelastung, insbesondere für Gering- und Zweitverdiener zu reduzieren; Maßnahmen einzuleiten, um die langfristige Tragfähigkeit des Rentensystems zu sichern, und dabei gleichzeitig ein angemessenes Rentenniveau aufrecht zu erhalten; die Voraussetzungen für die Förderung eines höheren Lohnwachstums zu stärken und dabei gleichzeitig die Rolle der Sozialpartner zu achten; die Bildungsergebnisse und das Kompetenzniveau benachteiligter Gruppen zu verbessern.

Geschehen zu Brüssel am 9. Juli 2019.

Im Namen des Rates

Der Präsident

M. LINTILÄ


(1)  ABl. L 209 vom 2.8.1997, S. 1.

(2)  ABl. L 306 vom 23.11.2011, S. 25.

(3)  ABl. C 136 vom 12.4.2019, S. 1.

(4)  ABl. C 320 vom 10.9.2018, S. 19.

(5)  Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 mit gemeinsamen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds, den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds sowie mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates (ABl. L 347 vom 20.12.2013, S. 320).

(6)  Konjunkturbereinigter Saldo ohne einmalige und befristete Maßnahmen nach Neuberechnung der Kommission anhand der gemeinsamen Methodik.

(7)  Gemäß Artikel 5 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1466/97.