2.9.2017   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

L 228/19


EMPFEHLUNG (EU) 2017/1520 DER KOMMISSION

vom 26. Juli 2017

zur Rechtsstaatlichkeit in Polen in Ergänzung der Empfehlungen (EU) 2016/1374 und (EU) 2017/146

DIE EUROPÄISCHE KOMMISSION —

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 292,

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1)

Am 27. Juli 2016 nahm die Kommission eine Empfehlung zur Rechtsstaatlichkeit in Polen (1) an, in der sie ihre Bedenken hinsichtlich der Lage des Verfassungsgerichtshofs darlegte und Empfehlungen zur Ausräumung dieser Bedenken aussprach. Am 21. Dezember 2016 nahm die Kommission eine ergänzende Empfehlung zur Rechtsstaatlichkeit in Polen (2) an.

(2)

Die Empfehlungen der Kommission wurden auf der Grundlage des Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips (3) angenommen. Im Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips wird zum einen dargelegt, wie die Kommission bei klaren Hinweisen auf eine Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat der Union reagieren wird, und werden zum anderen die sich aus der Rechtsstaatlichkeit ableitenden Grundsätze erläutert. Der Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips enthält Leitlinien für einen Dialog zwischen der Kommission und dem betreffenden Mitgliedstaat, die die Entstehung einer systemischen Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit verhindern sollen, die sich zu einer „eindeutige[n] Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ ausweiten könnte, was möglicherweise das Verfahren nach Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) auslösen würde. Gibt es klare Hinweise auf eine systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat, kann die Kommission auf der Grundlage des Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips in einen Dialog mit diesem Mitgliedstaat eintreten.

(3)

Die Europäische Union gründet sich auf eine Reihe gemeinsamer Werte, die in Artikel 2 EUV verankert sind und zu denen die Achtung der Rechtsstaatlichkeit zählt. Neben ihrer Aufgabe als Hüterin des Unionsrechts obliegt der Kommission gemeinsam mit dem Europäischen Parlament, den Mitgliedstaaten und dem Rat auch die Sicherstellung der gemeinsamen Werte der Union.

(4)

Die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die Texte des Europarats, der sich auf diesem Gebiet vor allem auf die Sachkenntnis der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht („Venedig-Kommission“) stützt, liefern eine nicht erschöpfende Aufstellung dieser Grundsätze und definieren die Kernbedeutung des Rechtsstaatsprinzips als eines gemeinsamen Wertes der Union im Sinne des Artikels 2 EUV. Zu diesen Grundsätzen zählen das Rechtmäßigkeitsprinzip, das einen transparenten, demokratischen und auf der Rechenschaftspflicht beruhenden pluralistischen Gesetzgebungsprozess impliziert, die Rechtssicherheit, das Willkürverbot für die Exekutive, unabhängige und unparteiische Gerichte, eine wirksame richterliche Kontrolle, auch im Hinblick auf die Grundrechte, und die Gleichheit vor dem Gesetz (4). Neben der Wahrung dieser Grundsätze und Werte sind die Staatsorgane auch zur loyalen Zusammenarbeit verpflichtet.

(5)

In ihrer Empfehlung vom 27. Juli 2016 erläuterte die Kommission die Umstände, unter denen sie am 13. Januar 2016 beschlossen hatte, die Lage auf der Grundlage des Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips zu prüfen, und unter denen sie am 1. Juni 2016 eine Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit in Polen abgegeben hatte. Ferner wurde in der Empfehlung erläutert, dass die Bedenken der Kommission durch den Austausch zwischen der Kommission und der polnischen Regierung nicht ausgeräumt werden konnten.

(6)

Die Kommission gelangte in ihrer Empfehlung zu der Auffassung, dass eine systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in Polen vorliegt, und empfahl den polnischen Behörden, dringend geeignete Maßnahmen zu treffen, um dieser Gefährdung entgegenzuwirken.

(7)

In ihrer Empfehlung vom 21. Dezember 2016 trug die Kommission den jüngsten Entwicklungen in Polen seit der Empfehlung der Kommission vom 27. Juli 2016 Rechnung. Die Kommission stellte fest, dass zwar einige der Fragen, die Gegenstand ihrer letzten Empfehlung gewesen waren, geklärt worden sind, dass andere wichtige Probleme aber noch einer Lösung harren und zudem in der Zwischenzeit neue Bedenken hinzugekommen sind. Ferner stellte die Kommission fest, dass das Verfahren, das zur Ernennung einer neuen Präsidentin des Gerichtshofs geführt hatte, Anlass zu ernsten Bedenken hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit gibt. Die Kommission gelangte zu dem Ergebnis, dass die systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in Polen weiter besteht. Die Kommission forderte die polnische Regierung auf, die festgestellten Probleme dringend — innerhalb von zwei Monaten — zu beheben und der Kommission die hierzu unternommenen Schritte mitzuteilen. Die Kommission wies darauf hin, dass sie weiterhin gewillt sei, den konstruktiven Dialog mit der polnischen Regierung auf der Grundlage der Empfehlung fortzusetzen.

(8)

Am 20. Februar 2017, also innerhalb der Frist von zwei Monaten, antwortete die polnische Regierung auf die ergänzende Empfehlung der Kommission. In der Antwort werden alle in der Empfehlung angesprochenen Fragen zurückgewiesen und keine neuen Maßnahmen angekündigt, um die von der Kommission geäußerten Bedenken auszuräumen. Es wird betont, dass mit der Ernennung der neuen Präsidentin des Gerichtshofs am 21. Dezember 2016 sowie dem Inkrafttreten des Gesetzes über die Organisation des Verfassungsgerichtshofs und die Verfahrensweise vor dem Verfassungsgerichtshof, des Gesetzes über den Status der Richter am Verfassungsgerichtshof und des Gesetzes zur Durchführung des Gesetzes über die Organisation und die Verfahrensweise und des Gesetzes über den Status der Richter die Voraussetzungen für das ordnungsgemäße Funktionieren des Gerichtshofs nach einer Zeit der Lähmung geschaffen worden seien, die Politiker der Opposition durch politische Streitereien verursacht hätten, an denen sich auch der frühere Präsident des Gerichtshofs beteiligt habe.

(9)

Am 21. Dezember 2016 wurde Mariusz Muszyński, der vom 8. Sejm ohne gültige Rechtsgrundlage benannt worden war und dem die damalige kommissarische Präsidentin des Gerichtshofs gestattet hatte, am 20. Dezember 2016 sein Amt als Richter am Verfassungsgerichtshof anzutreten, dazu berufen, die neue Präsidentin des Gerichtshofs in ihrer Abwesenheit zu vertreten.

(10)

Am 10. Januar 2017 wurde der Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofs von der neu ernannten Präsidentin des Gerichtshofs genötigt, seinen Resturlaub zu nehmen. Am 24. März 2017 verlängerte die Präsidentin des Gerichtshofs die Beurlaubung des Vizepräsidenten des Gerichtshofs bis Ende Juni, obwohl dieser beantragt hatte, seine Tätigkeit als Richter am Gerichtshof am 1. April 2017 wieder aufzunehmen.

(11)

Am 12. Januar 2017 leitete der Justizminister ein Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof ein, um die Verfassungsmäßigkeit der Wahl von drei Richtern des Gerichtshofs im Jahr 2010 überprüfen zu lassen. Danach sind den drei Richtern keine Rechtssachen mehr zugewiesen worden.

(12)

Am 16. Januar 2017 gab der Präsident der Venedig-Kommission eine Erklärung ab, in der er seine Besorgnis über die sich verschlechternde Lage innerhalb des Gerichtshofs zum Ausdruck brachte.

(13)

Am 20. Januar 2017 kündigte die Regierung eine umfassende Justizreform an. Der Justizminister legte den Entwurf eines Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen vor.

(14)

Am 25. Januar 2017 legte der Justizminister den Entwurf eines Gesetzes über die Staatliche Hochschule für Richter und Staatsanwälte vor.

(15)

Am 10. Februar 2017 legte das Appellationsgericht Warschau dem Obersten Gericht eine Rechtsfrage vor, die die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ernennung der Richterin Julia Przyłębska zur Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs betraf. Die Entscheidung des Obersten Gerichts steht noch aus.

(16)

Am 24. Februar 2017 benannte der Sejm einen neuen Richter als Ersatz für einen Richter, der sein Amt am Verfassungsgerichtshof niedergelegt hatte, um eine Tätigkeit als Richter am Obersten Gericht aufzunehmen.

(17)

Am 1. März 2017 ersuchte eine Gruppe von 50 Mitgliedern des Sejms den Verfassungsgerichtshof, die Verfassungswidrigkeit der Bestimmungen des Gesetzes über das Oberste Gericht festzustellen, auf deren Grundlage der Erste Präsident des Obersten Gerichts gewählt worden war.

(18)

Am 13. März 2017 nahm der Landesrat für Gerichtswesen vier beim Verfassungsgerichtshof gestellte Anträge wegen der Änderungen zurück, die auf Beschluss der Präsidentin des Gerichtshofs an der Zusammensetzung der betreffenden Spruchkörper vorgenommen worden waren.

(19)

Am 12. April 2017 legte eine Gruppe von 50 Mitgliedern des Sejms den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die ordentlichen Gerichte vor.

(20)

Am 11. Mai 2017 verabschiedete der Sejm das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Staatliche Hochschule für Richter und Staatsanwälte, des Gesetzes über die ordentlichen Gerichte und bestimmter weiterer Gesetze („Gesetz über die Staatliche Richterhochschule“). Das Gesetz wurde am 13. Juni 2017 verkündet.

(21)

Am 16. Mai 2017 informierte die Kommission den Rat (Allgemeine Angelegenheiten) über die Lage der Rechtsstaatlichkeit in Polen. Unter den Teilnehmern herrschte weitgehend Einigkeit darüber, dass die Rechtsstaatlichkeit ein gemeinsames Interesse und eine gemeinsame Verantwortung der EU-Organe und der Mitgliedstaaten darstellt. Eine sehr breite Mehrheit der Mitgliedstaaten unterstützte die Kommission in ihrer Rolle und ihren Bemühungen zur Bewältigung dieses Problems. Die Mitgliedstaaten riefen die polnische Regierung auf, den Dialog mit der Kommission wieder aufzunehmen, um die offenen Fragen zu klären, und äußerten die Erwartung, zu gegebener Zeit im Rat (Allgemeine Angelegenheiten) über den neuesten Stand unterrichtet zu werden.

(22)

Am 23. Juni 2017 wurden die länderspezifischen Empfehlungen, die im Rahmen des Europäischen Semesters 2017 an die Mitgliedstaaten gerichtet werden sollten, vom Europäischen Rat allgemein gebilligt. Die an Polen gerichtete Empfehlung enthält folgenden Erwägungsgrund: „Rechtssicherheit und das Vertrauen in die Qualität und Berechenbarkeit von Politik und Institutionen in den Bereichen Gesetzgebung und Steuern und in anderen Bereichen sind wichtige Faktoren, die eine Steigerung der Investitionsquote ermöglichen könnten. Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz sind in diesem Zusammenhang ebenfalls von grundlegender Bedeutung. Wenn auf ernste Bedenken im Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit eingegangen wird, so wird dies dazu beitragen, die Rechtssicherheit zu erhöhen.“ Am 11. Juli 2017 wurden die länderspezifischen Empfehlungen vom Rat (Wirtschaft und Finanzen) angenommen (5).

(23)

Am 5. Juli 2017, nach dem Ende der Amtszeit des scheidenden Vizepräsidenten des Verfassungsgerichtshofs, ernannte der Präsident der Republik Mariusz Muszyński zum neuen Vizepräsidenten des Gerichtshofs, obwohl dieser zu den drei Richtern am Gerichtshof gehört, die rechtswidrig ernannt wurden.

(24)

Am 5. Juli 2017 ersuchte eine Gruppe von Mitgliedern des Sejms den Verfassungsgerichtshof, die Verfassungswidrigkeit der Bestimmungen festzustellen, die es dem Obersten Gericht ermöglichen, die Ernennung der Präsidentin des Gerichtshofs durch den Präsidenten der Republik für gültig zu erklären.

(25)

Am 12. Juli 2017 legte eine Gruppe von Mitgliedern des Sejms den Entwurf eines Gesetzes über das Oberste Gericht vor, das unter anderem vorsieht, alle Richter am Obersten Gericht mit Ausnahme der vom Justizminister angegebenen Richter abzusetzen und in den erzwungenen Ruhestand zu versetzen.

(26)

Am 13. Juli 2017 äußerte die Kommission in einem Schreiben an die polnische Regierung ihre Besorgnis über die jüngsten Gesetzgebungsvorschläge in Bezug auf die Justiz und das Oberste Gericht, hob hervor, wie wichtig es sei, auf die Annahme dieser Vorschläge zu verzichten, um einen ernsthaften Dialog zu ermöglichen, und lud zu diesem Zweck den polnischen Außenminister und den polnischen Justizminister zum frühestmöglichen Termin zu einem Treffen ein. Am 14. Juli 2017 wiederholte die polnische Regierung in einem Schreiben an die Kommission ihre früheren Erläuterungen zur Lage am Verfassungsgerichtshof.

(27)

Am 15. Juli 2017 bestätigte der Senat das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen und bestimmter weiterer Gesetze („Gesetz über den Landesrat für Gerichtswesen“) sowie das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die ordentlichen Gerichte („Gesetz über die ordentlichen Gerichte“).

(28)

Am 19. Juli 2017 antwortete die polnische Regierung auf das Schreiben der Kommission vom 13. Juli 2017, nahm Bezug auf die laufende gesetzgeberische Reform der polnischen Justiz und ersuchte die Kommission, ihre Bedenken hinsichtlich der neuen Gesetze im Hinblick auf weitere Gespräche zu konkretisieren.

(29)

Am 22. Juli 2017 bestätigte der Senat das Gesetz über das Oberste Gericht.

(30)

Am 24. Juli 2017 gab der Präsident der Republik eine Erklärung zu seinem Beschluss ab, das Gesetz über das Oberste Gericht und das Gesetz über den Landesrat für Gerichtswesen an den Sejm zurückzuverweisen.

(31)

Am 25. Juli 2017 unterzeichnete der Präsident der Republik das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die ordentlichen Gerichte —

HAT FOLGENDE EMPFEHLUNG ABGEGEBEN:

1.   Die Republik Polen sollte der nachstehenden Analyse der Kommission gebührend Rechnung tragen und die in Abschnitt 5 dieser Empfehlung aufgeführten Maßnahmen treffen, damit die dargelegten Bedenken innerhalb der gesetzten Frist ausgeräumt werden.

1.   GEGENSTAND DER EMPFEHLUNG

2.   Die vorliegende Empfehlung ergänzt die Empfehlungen vom 27. Juli 2016 und 21. Dezember 2016. Es wird geprüft, welche der in diesen Empfehlungen geäußerten Bedenken ausgeräumt wurden, und dargelegt, welche Bedenken weiter bestehen und welche neuen Bedenken der Kommission hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit in Polen seitdem hinzugekommen sind. Auf dieser Grundlage formuliert die Kommission Empfehlungen an die polnischen Behörden, wie die Bedenken ausgeräumt werden sollten. Die Bedenken betreffen die folgenden Punkte:

(1)

Fehlen einer unabhängigen und legitimen verfassungsgerichtlichen Kontrolle;

(2)

Verabschiedung neuer Gesetze in Bezug auf die polnische Justiz durch das polnische Parlament, die Anlass zu großer Besorgnis hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz geben und die systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in Polen erheblich verschärfen:

a)

Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Staatliche Hochschule für Richter und Staatsanwälte, des Gesetzes über die ordentlichen Gerichte und bestimmter weiterer Gesetze („Gesetz über die Staatliche Richterhochschule“), das am 13. Juni 2017 im polnischen Gesetzblatt verkündet wurde und am 20. Juni 2017 in Kraft getreten ist;

b)

Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen und bestimmter weiterer Gesetze („Gesetz über den Landesrat für Gerichtswesen“), das am 15. Juli 2017 vom Senat bestätigt wurde; dieses Gesetz wurde am 24. Juli 2017 an den Sejm zurückverwiesen;

c)

Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die ordentlichen Gerichte („Gesetz über die ordentlichen Gerichte“), das am 15. Juli 2017 vom Senat bestätigt und am 25. Juli 2017 vom Präsidenten unterzeichnet wurde;

d)

Gesetz über das Oberste Gericht, das am 22. Juli 2017 vom Senat bestätigt wurde; dieses Gesetz wurde am 24. Juli 2017 an den Sejm zurückverwiesen.

2.   FEHLEN EINER UNABHÄNGIGEN UND LEGITIMEN VERFASSUNGSGERICHTLICHEN KONTROLLE

3.   In ihrer Empfehlung vom 21. Dezember 2016 empfahl die Kommission den polnischen Behörden, die folgenden Maßnahmen zu treffen, zu denen die Kommission sie bereits in ihrer Empfehlung vom 27. Juli 2016 aufgefordert hatte, nämlich

a)

die Urteile des Verfassungsgerichtshofs vom 3. und 9. Dezember 2015 vollständig umzusetzen, denen zufolge die drei Richter, die im Oktober 2015 von der vorherigen Volksvertretung rechtmäßig benannt wurden, ihr Amt als Richter am Verfassungsgerichtshof antreten können und die drei Richter, die von der neuen Volksvertretung ohne gültige Rechtsgrundlage benannt wurden, ihr Amt nicht ohne rechtsgültige Wahl antreten dürfen; aus diesem Grund wird der Präsident der Republik aufgefordert, die drei von der vorherigen Volksvertretung gewählten Richter umgehend zu vereidigen;

b)

die Urteile des Verfassungsgerichtshofs vom 9. März 2016 und das Urteil vom 11. August 2016 zum Gesetz vom 22. Juli 2016 über den Verfassungsgerichtshof sowie andere danach ergangene und künftige Urteile zu veröffentlichen und vollständig umzusetzen;

c)

sicherzustellen, dass jede Reform des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof mit den Urteilen des Verfassungsgerichtshofs im Einklang steht und den Stellungnahmen der Venedig-Kommission umfassend Rechnung trägt und dass der Verfassungsgerichtshof in seiner Funktion als Garant der Verfassung nicht geschwächt wird;

d)

Maßnahmen und öffentliche Äußerungen zu unterlassen, die die Legitimität und Handlungsfähigkeit des Verfassungsgerichtshofs beeinträchtigen könnten.

4.   Darüber hinaus empfahl die Kommission den polnischen Behörden

a)

sicherzustellen, dass der Verfassungsgerichtshof schnellstmöglich die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes über den Status der Richter, des Gesetzes über die Organisation und die Verfahrensweise sowie des Durchführungsgesetzes wirksam prüfen kann und dass die diesbezüglichen Urteile unverzüglich veröffentlicht und vollständig umgesetzt werden;

b)

sicherzustellen, dass der neue Präsident des Verfassungsgerichtshofs nicht ernannt wird, solange die Urteile des Verfassungsgerichtshofs zur Verfassungsmäßigkeit der neuen Gesetze nicht veröffentlicht und vollständig umgesetzt worden sind und solange die drei im Oktober 2015 vom 7. Sejm rechtmäßig benannten Richter nicht ihr Amt als Richter am Verfassungsgerichtshof angetreten haben;

c)

sicherzustellen, dass, solange ein neuer Präsident des Verfassungsgerichtshofs nicht rechtmäßig ernannt worden ist, der Vizepräsident des Gerichtshofs und nicht ein kommissarischer Präsident oder die am 21. Dezember 2016 zur Präsidentin des Gerichtshofs ernannte Person das Präsidentenamt übernimmt.

5.   Die Kommission stellt fest, dass von den empfohlenen Maßnahmen, die die Kommission dargelegt hat, keine einzige durchgeführt wurde:

a)

Die drei Richter, die im Oktober 2015 von der vorherigen Volksvertretung rechtmäßig benannt wurden, konnten ihr Amt als Richter am Verfassungsgerichtshof noch immer nicht antreten. Dagegen wurde den drei vom 8. Sejm ohne gültige Rechtsgrundlage benannten Richtern von der kommissarischen Präsidentin des Gerichtshofs gestattet, ihr Amt anzutreten.

b)

Drei wichtige Urteile des Verfassungsgerichtshofs vom 9. März 2016, 11. August 2016 und 7. November 2016 sind noch immer nicht veröffentlicht, sondern aus dem Register des Gerichtshofs, das von dessen Website aus zugänglich ist, gestrichen worden. Andere Urteile, die zum Zeitpunkt der Annahme der Empfehlung vom 21. Dezember 2016 noch nicht veröffentlicht waren, sind dagegen am 29. Dezember 2016 im Gesetzblatt veröffentlicht worden.

c)

Das Gesetz über den Status der Richter, das Gesetz über die Organisation und die Verfahrensweise sowie das Durchführungsgesetz wurden noch immer nicht der dringend notwendigen wirksamen Prüfung ihrer Verfassungsmäßigkeit durch den Verfassungsgerichtshof unterzogen, und die neue Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs wurde ernannt, bevor eine solche Prüfung stattfinden konnte.

d)

Nach dem Ende der Amtszeit des früheren Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs wurde noch immer kein neuer Präsident rechtmäßig ernannt. Der frühere Präsident des Verfassungsgerichtshofs wurde nicht durch den Vizepräsidenten des Gerichtshofs ersetzt, sondern durch eine kommissarische Präsidentin und anschließend durch die am 21. Dezember 2016 zur Präsidentin des Gerichtshofs ernannte Person.

6.   Wie die Kommission in ihrer Empfehlung vom 21. Dezember 2016 (6) erläutert hat, ist nach ihrer Auffassung das Verfahren, das zur Ernennung einer neuen Präsidentin des Gerichtshofs geführt hat, aus rechtsstaatlicher Sicht mit grundlegenden Mängeln behaftet. Das Verfahren wurde von einer kommissarischen Präsidentin eingeleitet, deren Ernennung Anlass zu ernsten Bedenken hinsichtlich der Grundsätze der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit der Justiz gab, die von der polnischen Verfassung geschützt werden. Zudem führt die Tatsache, dass die drei vom neuen Sejm rechtswidrig benannten „Dezember-Richter“ an dem Verfahren mitwirken durften, zur Verfassungswidrigkeit des gesamten Auswahlverfahrens. Dass die rechtmäßig gewählten „Oktober-Richter“ nicht an dem Verfahren teilnehmen konnten, hat sich ebenfalls auf das Ergebnis ausgewirkt, sodass das Verfahren mit Mängeln behaftet ist. Darüber hinaus gaben die sehr kurzfristige Einberufung der Generalversammlung und die Weigerung, die Sitzung zu verschieben, Anlass zu ernsten Bedenken. Außerdem war die Wahl der Kandidaten durch nur sechs Richter nicht mit dem Urteil des Gerichtshofs vom 7. November 2016 vereinbar, dem zufolge Artikel 194 Absatz 2 der Verfassung so zu verstehen ist, dass der Präsident des Gerichtshofs vom Präsidenten der Republik aus der Mitte der Kandidaten berufen werden muss, die in der Generalversammlung des Gerichtshofs die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen konnten.

7.   Die Kommission stellt ferner fest, dass nach der Ernennung der Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs eine Reihe von Entwicklungen die Legitimität des Gerichtshofs weiter geschwächt hat. Im Einzelnen: Der Vizepräsident des Gerichtshofs, dessen Stellung in der Verfassung anerkannt ist, wurde von der neu ernannten Präsidentin des Gerichtshofs genötigt, bis zum Ende seiner Amtszeit Resturlaub zu nehmen. Nachdem der Generalstaatsanwalt Klage erhoben hatte, um die Gültigkeit der Wahl von drei Richtern am Verfassungsgerichtshof im Jahr 2010 anzufechten, wurden diese Richter in der Folge von der Rechtsprechungstätigkeit des Gerichtshofs ausgeschlossen. Die neue Präsidentin des Gerichtshofs änderte die Zusammensetzung der Spruchkörper, und Rechtssachen wurden Spruchkörpern neu zugewiesen, die zum Teil mit rechtswidrig ernannten Richtern besetzt sind. Anträge, insbesondere des Bürgerbeauftragten, auf Abberufung der rechtswidrig ernannten Richter aus den Spruchkörpern wurden abgelehnt. Es erging eine erhebliche Zahl von Urteilen, an denen rechtswidrig ernannte Richter mitwirkten. Und schließlich wurde nach dem Ende der Amtszeit des Vizepräsidenten ein rechtswidrig ernannter Richter zum neuen Vizepräsidenten des Gerichtshofs ernannt.

8.   Diese Entwicklungen haben de facto dazu geführt, dass der Verfassungsgerichtshof außerhalb des normalen verfassungsmäßigen Verfahrens für die Ernennung von Richtern völlig neu zusammengesetzt wurde.

9.   Die am 20. Februar 2017 eingegangene Antwort der polnischen Behörden auf die ergänzende Empfehlung der Kommission mindert die Bedenken der Kommission nicht, und es werden keine konkreten Maßnahmen angekündigt, um die von der Kommission angesprochenen Fragen anzugehen. In der Antwort wird argumentiert, mit den neuen Gesetzen zum Verfassungsgerichtshof und der Ernennung der neuen Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs seien die Voraussetzungen für das ordnungsgemäße Funktionieren des Gerichtshofs nach einer Zeit der Lähmung geschaffen worden, die Politiker der Opposition durch politische Streitereien verursacht hätten. Was die Zusammensetzung des Gerichtshofs anbelangt, wird den Urteilen des Verfassungsgerichtshofs vom 3. und 9. Dezember 2015 — wie bereits in der Antwort auf die Empfehlung vom 27. Juli 2016 — jede Wirkung abgesprochen. In Bezug auf das Verfahren für die Auswahl des Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs wird das Urteil vom 7. November 2016 ignoriert, dem zufolge die Verfassung verlangt, dass der Präsident des Gerichtshofs aus der Mitte der Kandidaten berufen wird, die in der Generalversammlung des Gerichtshofs die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen konnten. Bezüglich der Rolle des Vizepräsidenten des Gerichtshofs wird nicht berücksichtigt, dass die Stellung des Vizepräsidenten des Gerichtshofs in der Verfassung ausdrücklich anerkannt ist und dass für ihn dasselbe Ernennungsverfahren gilt wie für den Präsidenten des Gerichtshofs. Hinsichtlich der Ernennung eines kommissarischen Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs wird keine verfassungsrechtliche Grundlage angegeben, sondern die Auffassung vertreten, dass es sich um einen außerordentlichen Anpassungsmechanismus gehandelt habe, der durch außergewöhnliche Umstände diktiert worden sei.

10.   Zusammenfassend ist die Kommission der Auffassung, dass Unabhängigkeit und Legitimität des Verfassungsgerichtshofs stark beeinträchtigt sind und die Verfassungsmäßigkeit der polnischen Gesetze daher nicht mehr wirksam garantiert werden kann (7). Die Lage ist besonders mit Blick auf die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit besorgniserregend, da — wie in den früheren Empfehlungen erläutert — das polnische Parlament eine Reihe besonders heikler neuer Rechtsakte verabschiedet hat, etwa ein neues Gesetz über den öffentlichen Dienst (8), ein Gesetz zur Änderung des Polizeigesetzes und bestimmter weiterer Gesetze (9) und Gesetze über die Staatsanwaltschaft (10), ein Gesetz über den Bürgerbeauftragten und zur Änderung bestimmter weiterer Gesetze (11), ein Gesetz über den Nationalen Medienrat (12) und ein Gesetz zur Terrorismusbekämpfung (13).

11.   Darüber hinaus werden die nachteiligen Folgen, die das Fehlen einer unabhängigen und legitimen verfassungsgerichtlichen Kontrolle in Polen für die Rechtsstaatlichkeit hat, nun noch erheblich dadurch verstärkt, dass die Verfassungsmäßigkeit der neuen Gesetze in Bezug auf die polnische Justiz, die unter Randnummer 2 Ziffer 2 aufgeführt sind und in Abschnitt 3 näher analysiert werden, nicht mehr von einem unabhängigen Verfassungsgerichtshof geprüft und garantiert werden kann.

3.   GEFÄHRDUNG DER UNABHÄNGIGKEIT DER JUSTIZ

12.   Das Gesetz über die Staatliche Richterhochschule, das Gesetz über den Landesrat für Gerichtswesen, das Gesetz über die ordentlichen Gerichte und das Gesetz über das Oberste Gericht enthalten zahlreiche Bestimmungen, die Anlass zu großer Besorgnis hinsichtlich der Grundsätze der Unabhängigkeit der Justiz und der Gewaltenteilung geben.

13.   Die Kommission nimmt zur Kenntnis, dass in einer Reihe von Erklärungen und Stellungnahmen, unter anderem des Obersten Gerichts, des Bürgerbeauftragten und des Landesrats für Gerichtswesen, Bedenken in Bezug auf die Vereinbarkeit der neuen Gesetze mit der Verfassung geäußert wurden.

3.1.   Hilfsrichter

14.   Nach Artikel 2 Absätze 1 und 36 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Staatliche Hochschule für Richter und Staatsanwälte, des Gesetzes über die ordentlichen Gerichte und bestimmter weiterer Gesetze werden während eines Zeitraums von vier Jahren Hilfsrichter mit den Aufgaben von Richtern an Kreisgerichten betraut. Insbesondere können Hilfsrichter an Kreisgerichten als Einzelrichter Recht sprechen.

15.   Im polnischen Rechtssystem haben Hilfsrichter jedoch nicht denselben Status wie Richter (14). Hilfsrichter werden für einen begrenzten Zeitraum von vier Jahren ernannt und können nach 36 Monaten die Einleitung eines neuen Verfahrens beantragen, um Richter zu werden. Für Hilfsrichter gelten nicht dieselben Garantien zum Schutz der richterlichen Unabhängigkeit wie für Richter — sie werden zum Beispiel nicht nach demselben Verfahren ernannt. Anders als die Stellung der Richter ist die Stellung von Hilfsrichtern, die Rechtsprechungsaufgaben wahrnehmen, nicht in der Verfassung vorgesehen. Ihr Status sowie die Garantien für ihre Unabhängigkeit können daher durch einfaches Gesetz geändert werden, ohne dass es einer Verfassungsänderung bedarf (15).

16.   Im Gesetzgebungsverfahren für das Gesetz über die Staatliche Richterhochschule haben das Oberste Gericht und der Landesrat für Gerichtswesen Bedenken geäußert, ob die Garantien für die Unabhängigkeit der Hilfsrichter mit der Verfassung vereinbar sind und ausreichen, um den in Artikel 6 Absatz 1 EMRK verankerten Anforderungen an ein faires Verfahren zu genügen (16). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat festgestellt, dass die frühere Regelung für die Hilfsrichter in Polen die einschlägigen Kriterien nicht erfüllte (17).

17.   Angesichts der kurzen Amtszeit macht der Status der Hilfsrichter diese besonders anfällig für eine Einflussnahme von außen, vor allem durch das Justizministerium. Der Justizminister hat erheblichen Einfluss auf die Karriere der Hilfsrichter, da er auch am anschließenden Verfahren für ihre Auswahl und Ernennung zum Richter beteiligt ist. Hilfsrichter, die Richter werden wollen, müssen ein völlig neues Auswahl- und Ernennungsverfahren durchlaufen. Sie müssen zunächst einen Antrag auf Ernennung zum Richter beim Landesrat für Gerichtswesen stellen, der jeden Bewerber eingehend prüft und dann entscheidet, ob er ihn dem Präsidenten der Republik für einen Richterposten vorschlägt. Der Präsident der Republik ernennt den Bewerber zum Richter. Der legitime Wunsch der Hilfsrichter, Richter zu werden, in Verbindung mit dem Fehlen ausreichender Garantien zum Schutz ihrer persönlichen Unabhängigkeit während des Vierjahreszeitraums macht Hilfsrichter für Druck aus dem Justizministerium empfänglich und kann ihre persönliche Unabhängigkeit bei der Entscheidung von Rechtssachen beeinträchtigen.

3.2.   Gerichtspräsidenten

18.   Im polnischen Rechtssystem kommt den Gerichtspräsidenten eine doppelte Rolle zu. Sie leiten nicht nur die Gerichtsverwaltung, sondern nehmen auch Rechtsprechungsaufgaben wahr. Das neue Gesetz über die ordentlichen Gerichte gibt Anlass zu Bedenken hinsichtlich der persönlichen Unabhängigkeit der Gerichtspräsidenten bei der Erfüllung ihrer Rechtsprechungsaufgaben, aber auch hinsichtlich ihres Einflusses auf andere Richter.

19.   Artikel 1 Absatz 6, Artikel 17 Absatz 1 und Artikel 18 Absatz 1 des neuen Gesetzes über die ordentlichen Gerichte sehen Vorschriften für die Absetzung und Ernennung von Gerichtspräsidenten vor. Der Justizminister würde für einen Zeitraum von sechs Monaten die Befugnis erhalten, Gerichtspräsidenten zu ernennen und abzusetzen, ohne dabei an konkrete Kriterien gebunden zu sein, ohne seine Entscheidung begründen zu müssen und ohne dass die Justiz (der Landesrat für Gerichtswesen oder der Richterrat des betreffenden Gerichts) eine solche Entscheidung verhindern könnte. Zudem ist es nicht möglich, eine Absetzungsentscheidung des Justizministers gerichtlich zu überprüfen. Auch nach Ablauf der sechs Monate könnte der Justizminister Gerichtspräsidenten nach eigenem Ermessen ernennen. Nur im Falle der Absetzung eines Gerichtspräsidenten könnte der Landesrat für Gerichtswesen die Entscheidung des Justizministers mit einer qualifizierten Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder verhindern (18).

20.   Die Befugnis des Justizministers, Gerichtspräsidenten willkürlich abzusetzen, würde es ihm erlauben, Einfluss auf die Gerichtspräsidenten zu behalten, was deren persönliche Unabhängigkeit bei der Entscheidung von Rechtssachen beeinträchtigen kann. Wenn zum Beispiel ein Gerichtspräsident ein Urteil in einem heiklen Verfahren gegen den Staat zu erlassen hat, könnte er sich vom Justizminister unter Druck gesetzt fühlen, den Standpunkt des Staates einzunehmen, um nicht als Gerichtspräsident abgesetzt zu werden.

21.   Auch Richter, die nicht Gerichtspräsident sind, dies aber werden wollen, könnten dazu neigen, dem Standpunkt des Justizministers nicht zu widersprechen, um ihre Chancen auf eine Ernennung zum Gerichtspräsidenten nicht zu verringern. Ihre persönliche Unabhängigkeit bei der Entscheidung von Rechtssachen würde dadurch ebenfalls beeinträchtigt.

22.   Zudem ist darauf hinzuweisen, dass Gerichtspräsidenten als Leiter der Gerichtsverwaltung wichtige Befugnisse gegenüber anderen Richtern haben und daher auch in deren persönliche Unabhängigkeit eingreifen können. Zum Beispiel haben Gerichtspräsidenten die Befugnis, Richter als Abteilungs- oder Bereichsleiter des Gerichts zu ersetzen, die Befugnis, schriftliche Vermerke an die Abteilungs- und Bereichsleiter zu richten und im Falle von Mängeln finanzielle Sanktionen zu verhängen, sowie die Befugnis, Richter ohne deren Zustimmung innerhalb des Gerichtsbezirks zu versetzen.

23.   Und schließlich werfen diese Vorschriften verfassungsrechtliche Bedenken auf, die vor allem in den Stellungnahmen des Obersten Gerichts, des Landesrats für Gerichtswesen und des Bürgerbeauftragten dargelegt sind. Insbesondere die Bestimmung, dass der Justizminister Gerichtspräsidenten absetzen kann, verstößt gegen die Grundsätze der Unabhängigkeit der Justiz und der Gewaltenteilung.

3.3.   Ernennung und Karriere der Richter

24.   Nach der polnischen Verfassung wird die Unabhängigkeit der Richter vom Landesrat für Gerichtswesen geschützt (19). Die Rolle des Landesrats für Gerichtswesen hat unmittelbare Auswirkungen auf die Unabhängigkeit der Richter, insbesondere im Hinblick auf ihre Beförderung, Versetzung, Disziplinarverfahren, Entlassung und Frühpensionierung. Zum Beispiel ist im Falle der Beförderung eines Richters (etwa vom Kreisgericht zum Bezirksgericht) eine erneute Ernennung durch den Präsidenten der Republik erforderlich, sodass das Verfahren für die Prüfung und Ernennung von Richtern unter Mitwirkung des Landesrats für Gerichtswesen noch einmal durchlaufen werden muss.

25.   Aus diesem Grund ist in Mitgliedstaaten, in denen ein Rat für das Justizwesen besteht, dessen Unabhängigkeit besonders wichtig, um unzulässige Eingriffe der Regierung oder des Parlaments in die Unabhängigkeit der Richter zu verhindern. So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Zusammenhang mit von einem Justizrat geführten Disziplinarverfahren gegen Richter Bedenken wegen der Einflussmöglichkeiten der Legislative und der Exekutive geäußert, da diese die Mehrzahl der Mitglieder des Rates direkt ernannt hatten (20). Deshalb sollten nach fest etablierten europäischen Standards, insbesondere nach der Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats von 2010, nicht weniger als die Hälfte der Mitglieder der Räte für das Justizwesen von ihresgleichen aus allen Justizebenen und unter Berücksichtigung der Pluralität innerhalb des Justizwesens ausgewählte Richter sein (21). Es ist Sache der Mitgliedstaaten, ihr Justizwesen zu organisieren und zu entscheiden, ob sie einen Rat für das Justizwesen einrichten oder nicht. Wenn jedoch — wie in Polen — ein solcher Rat eingerichtet worden ist, muss seine Unabhängigkeit im Einklang mit den europäischen Standards garantiert werden.

26.   Bisher stand das polnische System voll und ganz mit diesen Standards im Einklang, da sich der Landesrat für Gerichtswesen mehrheitlich aus von Richtern ausgewählten Richtern zusammensetzte. Diese Regelung würde durch Artikel 1 Absatz 1 und Artikel 7 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen radikal geändert, nach dem die 15 dem Landesrat für Gerichtswesen angehörenden Richter vom Sejm (22) ernannt werden und wiederernannt werden können und eine neue Struktur innerhalb des Rates eingerichtet wird. Durch die neuen Vorschriften für die Ernennung der dem Landesrat für Gerichtswesen angehörenden Richter wird der Einfluss des Parlaments auf den Rat erheblich gestärkt und dessen Unabhängigkeit im Widerspruch zu den europäischen Standards beeinträchtigt. Dass diese Richter vom Sejm mit Dreifünftelmehrheit gewählt werden, mindert diese Bedenken nicht.

27.   Dass die Amtszeit aller dem Landesrat für Gerichtswesen derzeit angehörenden Richter nach Artikel 5 Absatz 1 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen vorzeitig beendet würde, verstärkt diese Bedenken noch, da das Parlament mit sofortiger Wirkung auf Kosten der Richter einen bestimmenden Einfluss auf die Zusammensetzung des Rates erhielte.

28.   Die Politisierung des Landesrats für Gerichtswesen wird durch die neue interne Struktur noch verstärkt. Nach Artikel 1 Absatz 7 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen würde sich der Rat aus zwei Versammlungen zusammensetzen: einer ersten mehrheitlich aus Parlamentsmitgliedern und einer zweiten aus vom Parlament ernannten Richtern bestehenden Versammlung. Formell würde sich der Rat zwar nach wie vor mehrheitlich aus Richtern zusammensetzen, in Wirklichkeit aber könnte die neue „politische“ Versammlung die Beschlussfassung im Landesrat für Gerichtswesen erschweren. Wenn die beiden Versammlungen einen Bewerber unterschiedlich beurteilen, könnte die Versammlung, die eine befürwortende Stellungnahme abgegeben hat, beantragen, dass der Rat in voller Besetzung mit Zweidrittelmehrheit seiner Mitglieder eine Neubeurteilung vornimmt. Eine solche Mehrheit dürfte jedoch sehr schwer zu erreichen sein, auch angesichts des stärkeren Einflusses der Legislative auf die Zusammensetzung des Rates. Diese neue Regelung hätte unmittelbare Auswirkungen auf die Ernennung und die Karriere der Richter in Polen, da die der zweiten Versammlung des Rates angehörenden Richter in Fragen der Beurteilung von Bewerbern für einen Richterposten unter bestimmten Umständen nicht mehr das letzte Wort hätten (23).

29.   Unter dem Gesichtspunkt der Unabhängigkeit der Justiz gibt dies Anlass zu Bedenken. So könnte ein Kreisrichter, der eine Beförderung zum Bezirksrichter anstrebt und ein Urteil in einer politisch heiklen Rechtssache zu erlassen hat, dazu neigen, den von der politischen Mehrheit bevorzugten Standpunkt einzunehmen, um seine Beförderung nicht zu gefährden. Selbst wenn diese Gefahr nicht bestehen sollte, sieht die neue Regelung keine ausreichenden Garantien vor, um den Eindruck der Unabhängigkeit zu sichern, der entscheidend für die Aufrechterhaltung des Vertrauens ist, das Gerichte in einer demokratischen Gesellschaft in der Öffentlichkeit schaffen müssen (24).

30.   Die Kommission nimmt zur Kenntnis, dass das Oberste Gericht und der Landesrat für Gerichtswesen in ihren Stellungnahmen zum Gesetzentwurf eine Reihe von Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der neuen Regelung geäußert haben. Insbesondere wurde darauf hingewiesen, dass die neuen Vorschriften den Landesrat für Gerichtswesen von den politischen Entscheidungen der parlamentarischen Mehrheit abhängig machen würden. In den Stellungnahmen wurde ferner hervorgehoben, dass der Landesrat für Gerichtswesen ein einheitliches Ganzes bildet, das nicht in zwei von der Verfassung nicht vorgesehene Organe untergeteilt werden kann, und dass das Gesetz die verfassungsmäßige Ordnung ändern würde, indem es dem Sejm eine beherrschende Stellung gegenüber der Justiz verschafft. Darüber hinaus würde die vorzeitige Beendigung der Amtszeit der dem Rat angehörenden Richter und des Funktionierens eines Verfassungsorgans gegen den Grundsatz des demokratischen Rechtsstaats und den Grundsatz der Rechtmäßigkeit verstoßen. Die Kommission erinnert daran, dass eine wirksame verfassungsgerichtliche Kontrolle dieser Bestimmungen aus den oben dargelegten Gründen derzeit nicht möglich ist.

3.4.   Pensionsalter und Befugnis zur Verlängerung der Amtszeit von Richtern

31.   In Artikel 1 Absatz 26 Buchstaben b und c und Artikel 13 Absatz 1 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die ordentlichen Gerichte ist vorgesehen, dass das Pensionsalter für Richter an ordentlichen Gerichten von 67 auf 60 Jahre für Frauen und von 67 auf 65 Jahre für Männer gesenkt und dem Justizminister die Befugnis übertragen wird, anhand vager Kriterien über die Verlängerung ihrer Amtszeit (bis zum Alter von 70 Jahren) zu entscheiden. Bis zu dieser Entscheidung bleiben die betreffenden Richter im Amt.

32.   Die neue Pensionsregelung würde die Unabhängigkeit der Richter beeinträchtigen (25). Denn die neuen Vorschriften geben dem Justizminister ein zusätzliches Instrument an die Hand, mit dem er Einfluss auf einzelne Richter ausüben kann. Insbesondere wird ihm mit den vagen Kriterien für die Verlängerung der Amtszeit ein übermäßig weites Ermessen eingeräumt und damit der Grundsatz der Unabsetzbarkeit von Richtern untergraben (26). Das Pensionsalter wird zwar gesenkt, die Richter können ihre Amtszeit jedoch vom Justizminister verlängern lassen, Richterinnen um bis zu zehn Jahre und Richter um bis zu fünf Jahre. Zudem ist für die Entscheidung des Justizministers über die Amtszeitverlängerung keine Frist vorgesehen, was es dem Justizminister erlaubt, während der verbleibenden Amtszeit Einfluss auf die betroffenen Richter zu behalten. Schon vor Erreichen des Pensionsalters könnte die bloße Aussicht, den Justizminister um eine solche Verlängerung ersuchen zu müssen, die betroffenen Richter unter Druck setzen.

33.   Indem die neuen Vorschriften das Pensionsalter für Richter senken, gleichzeitig jedoch die Verlängerung ihrer Amtszeit von einer Entscheidung des Justizministers abhängig machen, untergraben sie den Grundsatz der Unabsetzbarkeit von Richtern, der nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ein zentrales Element der Unabhängigkeit der Richter ist. Wie der Gerichtshof der Europäischen Union festgestellt hat, gehört zu den Voraussetzungen für ein unabhängiges Gericht, dass die Richter in der Ausübung ihres Amtes persönliche und funktionale Unabhängigkeit genießen und durch wirksame Garantien, die ungebührliche Eingriffe oder Pressionen der Exekutive verhindern, gegen ihre Abberufung geschützt sind (27). Die betreffenden Bestimmungen stehen auch nicht mit den europäischen Standards im Einklang, nach denen Richter eine garantierte Amtszeit haben sollten, die mit Erreichen des gesetzlichen Pensionsalters endet, wo ein solches besteht.

34.   Die Kommission nimmt zur Kenntnis, dass die neuen Vorschriften auch verfassungsrechtliche Bedenken aufwerfen. Nach der Stellungnahme des Obersten Gerichts (28) verstößt die Ermächtigung des Justizministers, über die Verlängerung der Amtszeit eines Richters zu entscheiden, in Verbindung mit der Senkung des Pensionsalters für Richter gegen den Grundsatz der Unabsetzbarkeit von Richtern (Artikel 180 Absatz 1 der Verfassung). Die Kommission erinnert daran, dass eine wirksame verfassungsgerichtliche Kontrolle dieser Bestimmungen aus den oben dargelegten Gründen derzeit nicht möglich ist.

3.5.   Oberstes Gericht

3.5.1.   Absetzung, Zwangspensionierung und Wiederernennung der Richter am Obersten Gericht

35.   Nach Artikel 87 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht würden alle Richter am Obersten Gericht am Tag nach dem Inkrafttreten des Gesetzes abgesetzt und pensioniert (29).

36.   Nach Artikel 88 desselben Gesetzes würden zunächst nur die vom Justizminister angegebenen Richter während einer Übergangszeit im aktiven Dienst verbleiben, bis der Präsident der Republik eine endgültige Auswahl der Richter getroffen hat, denen nach einem besonderen Überprüfungsverfahren gestattet wird, im Amt zu bleiben. In diesem Verfahren müsste der Präsident der Republik die Richter, die im Amt bleiben, aus der Mitte der vom Justizminister vorausgewählten und vom Landesrat für Gerichtswesen beurteilten Richter am Obersten Gericht auswählen. Die im Gesetz vorgesehenen Kriterien, nach denen die Auswahl der im Amt verbleibenden Richter getroffen werden soll, sind vage und unbestimmt. Entsprechende Entschließungen des Landesrats für Gerichtswesen wären für den Präsidenten der Republik nicht bindend (30). Falls der Richter, der das Amt des Ersten Präsidenten des Obersten Gerichts innehat, abgesetzt und pensioniert wird, wählt der Präsident der Republik nach Artikel 91 des Gesetzes über das Oberste Gericht einen mit der Wahrnehmung der Geschäfte beauftragten Ersten Präsidenten des Obersten Gerichts.

37.   Die Absetzung und Zwangspensionierung aller Richter am Obersten Gericht in Verbindung mit den Vorschriften über ihre mögliche Wiederernennung würde gegen die Unabhängigkeit der Richter am Obersten Gericht verstoßen. Richter sollten durch wirksame Garantien, die ungebührliche Eingriffe oder Pressionen anderer Staatsgewalten verhindern, gegen ihre Abberufung geschützt werden (31). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie den europäischen Standards setzt die richterliche Unabhängigkeit Garantien voraus, die ausreichen, um die Person derjenigen zu schützen, deren Aufgabe es ist, Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden (32). Dass Richter während ihrer Amtszeit nicht von der Exekutive abgesetzt werden können, ist eine Folge ihrer Unabhängigkeit und fällt somit unter die Garantien des Artikels 6 Absatz 1 EMRK (33). Richter dürfen daher nur einzeln abgesetzt werden, falls dies aufgrund eines Disziplinarverfahrens gerechtfertigt ist, das ihr individuelles Handeln betrifft und alle Garantien für die Verteidigung in einer demokratischen Gesellschaft bietet. Richter können nicht als Gruppe abgesetzt werden, und Richter können nicht aus allgemeinen Gründen abgesetzt werden, die keinen Bezug zu ihrem individuellen Verhalten aufweisen.

38.   Da diese Garantien im vorliegenden Fall fehlen, würden die betreffenden Bestimmungen einen eklatanten Verstoß gegen die Unabhängigkeit der Richter am Obersten Gericht und die Gewaltenteilung (34) und damit gegen die Rechtsstaatlichkeit darstellen.

3.5.2.   Disziplinarverfahren

39.   Mit dem Gesetz über das Oberste Gericht würden eine neue Disziplinarkammer und neue Vorschriften für Disziplinarverfahren gegen Richter am Obersten Gericht eingeführt (35).

40.   Diese neuen Vorschriften über Disziplinarverfahren würden die richterliche Unabhängigkeit beeinträchtigen. Insbesondere die Beteiligung des Justizministers an Disziplinarverfahren gegen Richter am Obersten Gericht würde deren Unabhängigkeit gefährden. Mit der Befugnis, Disziplinarverfahren gegen Richter am Obersten Gericht einzuleiten und zudem Einfluss auf die Führung der Ermittlungen zu nehmen, würde dem Justizminister ein zusätzliches Instrument an die Hand gegeben, mit dem er erheblichen Druck auf die Richter ausüben könnte.

41.   Vor allem könnte der Justizminister nach Artikel 56 Absatz 5 des Gesetzes über das Oberste Gericht Einspruch gegen die Entscheidung des ermittelnden Disziplinarbeauftragten des Obersten Gerichts erheben, die Ermittlungen aus Mangel an Gründen einzustellen. In diesem Fall müsste der Disziplinarbeauftragte das Disziplinarverfahren fortsetzen und wäre an die Weisungen des Justizministers gebunden. Der Justizminister könnte auch im Einzelfall selbst einen Disziplinarbeauftragten ernennen (36). Die Ernennung eines Disziplinarbeauftragten durch den Justizminister würde jeden anderen Disziplinarbeauftragten von dem betreffenden Fall ausschließen. Wenn der Justizminister einen Disziplinarbeauftragten ernannt hat, müssen Vorermittlungen geführt werden. Nach Artikel 57 Absatz 2 wäre der vom Minister ernannte Disziplinarbeauftragte in bestimmten Fällen an die Weisungen des Justizministers gebunden.

42.   Schon die Gefahr, dass auf Weisung des Justizministers ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden könnte, würde die Unabhängigkeit der Richter am Obersten Gericht unmittelbar beeinträchtigen. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat festgestellt, dass die Unabhängigkeit eines Gerichts voraussetzt, dass es seine Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne irgendeiner Stelle untergeordnet zu sein, wodurch es vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils seiner Mitglieder im Hinblick auf die ihnen unterbreiteten Rechtsstreitigkeiten gefährden könnten (37). Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Infolgedessen könnten sich die Richter am Obersten Gericht unter Druck gesetzt fühlen, bei der Entscheidung von Rechtssachen den Standpunkt der Exekutive einzunehmen.

3.5.3.   Gesetzgebungsverfahren

43.   Die Kommission stellt fest, dass das Gesetz über das Oberste Gericht — ein eigenständiger neuer Rechtsakt mit mehr als 110 Artikeln, mit dem sechs bestehende Gesetze geändert werden — schwerwiegende Auswirkungen auf die Unabhängigkeit des Obersten Gerichts und auf die Gewaltenteilung und die Rechtsstaatlichkeit in Polen insgesamt hätte. Die Kommission bedauert, dass dieses wichtige Gesetz nicht Gegenstand angemessener Vorbereitungen und Konsultationen war, wie es sie verdient hätte. Stattdessen wurde der Entwurf am 12. Juli 2017 eingebracht und am 22. Juli 2017 verabschiedet. Nach Auffassung der Kommission erschüttert ein solches beschleunigtes Gesetzgebungsverfahren in beiden Kammern schon für sich genommen das Vertrauen in die Justiz in Polen und steht nicht mit dem Geist der loyalen Zusammenarbeit zwischen Staatsorganen im Einklang, die einen demokratischen Rechtsstaat kennzeichnen sollte.

3.6.   Weitere Bestimmungen

44.   Die vier Gesetze enthalten eine Reihe weiterer Bestimmungen, die unter dem Gesichtspunkt der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung heikel sind, insbesondere in Bezug auf die vorzeitige Beendigung der Amtszeit von Disziplinarbeauftragten an Gerichten (38), die Befugnisse des Justizministers zur Bewertung der Leistung von Gerichten (39), die Versetzung von Richtern (40), den Aufbau der Staatlichen Richterhochschule (41), die Offenlegung der Vermögenswerte von Richtern (42) sowie die Bediensteten des Landesrats für Gerichtswesen und des Obersten Gerichts (43). In einer Reihe von Analysen haben insbesondere das Oberste Gericht und der Landesrat für Gerichtswesen festgestellt, dass diese Bestimmungen Anlass zu Bedenken geben, unter anderem hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit der Verfassung (44). Eine unabhängige und legitime verfassungsgerichtliche Kontrolle ist jedoch aus den oben dargelegten Gründen derzeit nicht möglich.

4.   SYSTEMISCHE GEFÄHRDUNG DER RECHTSSTAATLICHKEIT

45.   Aus den oben dargelegten Gründen ist die Kommission der Auffassung, dass sich die in ihren Empfehlungen vom 27. Juli 2016 und 21. Dezember 2016 dargestellte Lage einer systemischen Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in Polen erheblich verschlechtert hat. Im Einzelnen:

(1)

Die rechtswidrige Ernennung der Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs, die Zulassung der drei vom 8. Sejm ohne gültige Rechtsgrundlage benannten Richter, die Ernennung eines dieser Richter zum Vizepräsidenten des Gerichtshofs, die Tatsache, dass die drei im Oktober 2015 von der vorherigen Volksvertretung rechtmäßig benannten Richter ihr Amt als Richter am Gerichtshof nicht antreten konnten, sowie die oben beschriebenen anschließenden Entwicklungen innerhalb des Gerichtshofs haben de facto dazu geführt, dass der Gerichtshof außerhalb des normalen verfassungsmäßigen Verfahrens für die Ernennung von Richtern völlig neu zusammengesetzt wurde. Aus diesem Grund ist die Kommission der Auffassung, dass Unabhängigkeit und Legitimität des Verfassungsgerichtshofs stark beeinträchtigt sind und die Verfassungsmäßigkeit der polnischen Gesetze daher nicht mehr wirksam garantiert werden kann. Die vom Gerichtshof unter diesen Umständen erlassenen Urteile können nicht mehr als wirksame verfassungsgerichtliche Kontrolle angesehen werden.

(2)

Das Gesetz über die Staatliche Richterhochschule, das bereits in Kraft ist, sowie das Gesetz über den Landesrat für Gerichtswesen, das Gesetz über die ordentlichen Gerichte und das Gesetz über das Oberste Gericht, falls sie in Kraft treten sollten, beeinträchtigen strukturell die Unabhängigkeit der Justiz in Polen und würden sich unmittelbar und konkret auf das unabhängige Funktionieren der Justiz insgesamt auswirken. Da die Unabhängigkeit der Justiz ein zentraler Bestandteil der Rechtsstaatlichkeit ist, wird die in den früheren Empfehlungen festgestellte systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit durch diese neuen Gesetze beträchtlich verschärft.

(3)

Insbesondere die Absetzung von Richtern des Obersten Gerichts, ihre mögliche Wiederernennung und die übrigen im Gesetz über das Oberste Gericht vorgesehenen Maßnahmen würden die systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit ganz erheblich verstärken.

(4)

Dass die neuen Gesetze Anlass zu ernsten Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit der polnischen Verfassung geben, haben in einer Reihe von Erklärungen insbesondere das Oberste Gericht, der Landesrat für Gerichtswesen, der polnische Bürgerbeauftragte, die Rechtsanwaltskammer und Richter- und Juristenvereinigungen sowie andere Betroffene hervorgehoben (45). Eine wirksame verfassungsgerichtliche Kontrolle dieser Gesetze ist jedoch aus den oben dargelegten Gründen nicht mehr möglich.

(5)

Und schließlich haben die polnische Regierung und der Regierungsmehrheit angehörende Parlamentsmitglieder mit Maßnahmen und öffentlichen Äußerungen gegen Richter und Gerichte in Polen das Vertrauen in das Justizsystem als Ganzes beschädigt. Die Kommission verweist auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zwischen den Staatsorganen, die — wie in den Stellungnahmen der Venedig-Kommission betont wird — eine verfassungsmäßige Voraussetzung in einem demokratischen Rechtsstaat darstellt.

46.   Die Kommission erinnert daran, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit in Ländern, in denen eine solche besteht, entscheidend zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit beiträgt. Die Kommission weist zudem darauf hin, dass die Unabhängigkeit der Justiz ohne Rücksicht auf das gewählte Modell des Justizsystems aufgrund des Unionsrechts garantiert werden muss. Es ist Sache der Mitgliedstaaten, ihr Justizwesen zu organisieren und zu entscheiden, ob sie einen Rat für das Justizwesen einrichten, der die Aufgabe hat, die richterliche Unabhängigkeit zu garantieren. Wenn jedoch ein Mitgliedstaat einen solchen Rat eingerichtet hat — wie Polen, wo der Landesrat für Gerichtswesen laut Verfassung ausdrücklich mit der Aufgabe betraut ist, die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter zu schützen —, muss seine Unabhängigkeit im Einklang mit den europäischen Standards garantiert werden.

47.   Ungeachtet der Vielfalt der Justizsysteme in Europa sind gemeinsame europäische Standards für die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit festgelegt worden. Mit großer Besorgnis stellt die Kommission fest, dass das polnische Justizsystem nach Inkrafttreten der oben genannten neuen Gesetze nicht mehr mit diesen europäischen Standards vereinbar wäre.

48.   In diesem Zusammenhang nimmt die Kommission den Beschluss des Präsidenten der Republik vom 24. Juli 2017 zur Kenntnis, das Gesetz über das Oberste Gericht und das Gesetz über den Landesrat für Gerichtswesen an den Sejm zurückzuverweisen.

49.   Die Achtung der Rechtsstaatlichkeit ist nicht nur Voraussetzung für den Schutz sämtlicher in Artikel 2 EUV aufgeführten Grundwerte. Sie ist auch Voraussetzung für die Wahrung aller sich aus den Verträgen ergebenden Rechte und Pflichten sowie für das Vertrauen der Bürger, Unternehmen und staatlichen Instanzen in die Rechtsordnung der jeweils anderen Mitgliedstaaten. Da bestimmte Aspekte der neuen Gesetze auch Anlass zu Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht geben, hat die Kommission beschlossen, zusätzlich zu der vorliegenden Empfehlung zur Rechtsstaatlichkeit Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen einzuleiten, wenn das Gesetz über die ordentlichen Gerichte verkündet wird oder das Gesetz über das Oberste Gericht unterzeichnet und verkündet werden sollte.

50.   Die Kommission weist darauf hin, dass das ordnungsgemäße Funktionieren der Rechtsstaatlichkeit auch für den reibungslosen Betrieb des Binnenmarkts unerlässlich ist, da die Wirtschaftsbeteiligten wissen müssen, dass sie nach dem Gesetz gleichbehandelt werden. Ohne eine unabhängige Justiz in jedem Mitgliedstaat ist dies nicht zu gewährleisten. Deshalb hat der Rat hervorgehoben, wie wichtig es ist, dass die polnischen Behörden auf die ernsten Bedenken im Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit eingehen, die in seinen länderspezifischen Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters 2017 an Polen gerichtet wurden. Die länderspezifischen Empfehlungen wurden am 23. Juni 2017 vom Europäischen Rat allgemein gebilligt und am 11. Juli 2017 vom Rat (Wirtschaft und Finanzen) angenommen (46).

51.   Die Kommission nimmt zur Kenntnis, dass ein breites Spektrum von Akteuren auf europäischer und internationaler Ebene tiefe Besorgnis über die Reform des polnischen Justizsystems geäußert hat: Vertreter der Justiz aus ganz Europa, einschließlich des Netzes der Präsidenten der obersten Gerichtshöfe der Europäischen Union und des Europäischen Netzes der Räte für das Justizwesen, die Venedig-Kommission, der Menschenrechtskommissar des Europarats, der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen sowie zahlreiche Organisationen der Zivilgesellschaft wie Amnesty International und das Netz für Menschenrechte und Demokratie. Das Europäische Parlament hat ebenfalls seine Besorgnis zum Ausdruck gebracht, unter anderem in zwei Entschließungen zur Unterstützung des Standpunkts der Kommission.

5.   EMPFEHLUNGEN

52.   Die Kommission empfiehlt den polnischen Behörden, dringend geeignete Maßnahmen zu treffen, um dieser systemischen Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit entgegenzuwirken.

53.   Insbesondere empfiehlt die Kommission den polnischen Behörden,

a)

Unabhängigkeit und Legitimität des Verfassungsgerichtshofs als Garant der polnischen Verfassung wiederherzustellen, indem gewährleistet wird, dass seine Richter, sein Präsident und sein Vizepräsident rechtmäßig gewählt und ernannt werden, und indem die Urteile des Verfassungsgerichtshofs vom 3. und 9. Dezember 2015 vollständig umgesetzt werden, denen zufolge die drei Richter, die im Oktober 2015 von der vorherigen Volksvertretung rechtmäßig benannt wurden, ihr Amt als Richter am Verfassungsgerichtshof antreten können und die drei Richter, die von der neuen Volksvertretung ohne gültige Rechtsgrundlage benannt wurden, ohne rechtsgültige Wahl keine Rechtssachen mehr entscheiden dürfen (47);

b)

die Urteile des Verfassungsgerichtshofs vom 9. März 2016, 11. August 2016 und 7. November 2016 zu veröffentlichen und vollständig umzusetzen;

c)

sicherzustellen, dass das Gesetz über den Landesrat für Gerichtswesen, das Gesetz über die ordentlichen Gerichte und das Gesetz über das Oberste Gericht nicht in Kraft treten und dass das Gesetz über die Staatliche Richterhochschule aufgehoben oder so geändert wird, dass es mit der Verfassung und den europäischen Standards für die richterliche Unabhängigkeit im Einklang steht;

d)

Maßnahmen zu unterlassen, die in die Amtszeit und die Aufgaben der Richter am Obersten Gericht eingreifen;

e)

dafür zu sorgen, dass bei Justizreformen die Rechtsstaatlichkeit gewahrt bleibt, dass sie mit dem Unionsrecht und den europäischen Standards für die richterliche Unabhängigkeit im Einklang stehen und dass sie in enger Zusammenarbeit mit der Justiz und allen Beteiligten ausgearbeitet werden;

f)

Maßnahmen und öffentliche Äußerungen zu unterlassen, die die Legitimität des Verfassungsgerichtshofs, der obersten Gerichte, der ordentlichen Gerichte, der Richter — als Einzelpersonen oder als Gruppe — oder der Justiz als Ganzes weiter schwächen könnten.

54.   Die Kommission betont, dass die zwischen Staatsorganen in Fragen der Rechtsstaatlichkeit erforderliche loyale Zusammenarbeit unerlässlich ist, um in der gegenwärtigen Lage eine Lösung zu finden. Die Kommission hält die polnischen Behörden zudem an, Stellungnahmen der Venedig-Kommission zum Gesetz über die Staatliche Richterhochschule, zum Gesetz über den Landesrat für Gerichtswesen, zum Gesetz über die ordentlichen Gerichte und zum Gesetz über das Oberste Gericht sowie zu jedem neuen Gesetzgebungsvorschlag zur Reform des Justizsystems in Polen einzuholen.

55.   Die Kommission fordert die polnischen Behörden auf, die in dieser Empfehlung beschriebenen Probleme innerhalb eines Monats nach Erhalt der Empfehlung zu beheben und der Kommission die hierzu unternommenen Schritte mitzuteilen.

56.   Die Kommission fordert die polnischen Behörden auf, die Gelegenheit, die der Beschluss des Präsidenten der Republik, das Gesetz über den Landesrat für Gerichtswesen und das Gesetz über das Oberste Gericht an den Sejm zurückzuverweisen, bietet, zu nutzen, um sicherzustellen, dass bei Justizreformen in Polen den in dieser Empfehlung geäußerten Bedenken Rechnung getragen wird.

57.   Die Kommission weist im Übrigen darauf hin, dass die Annahme von Empfehlungen auf der Grundlage des Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips nicht ausschließt, dass bei einer plötzlichen Verschlechterung der Lage in einem Mitgliedstaat, die eine energischere Reaktion der Union erfordert, Artikel 7 EUV direkt aktiviert wird (48).

58.   Die Kommission ersucht die polnischen Behörden insbesondere, keine Maßnahmen zu treffen, um Richter am Obersten Gericht abzusetzen oder in den erzwungenen Ruhestand zu versetzen, da dies die systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit ganz erheblich verstärken würde. Für den Fall, dass die polnischen Behörden Maßnahmen dieser Art treffen sollten, hält sich die Kommission bereit, umgehend Artikel 7 Absatz 1 EUV zu aktivieren.

59.   Die Kommission ist nach wie vor gewillt, den konstruktiven Dialog mit der polnischen Regierung auf der Grundlage dieser Empfehlung fortzusetzen.

Brüssel, den 26. Juli 2017

Für die Kommission

Frans TIMMERMANS

Erster Vizepräsident


(1)  Empfehlung (EU) 2016/1374 der Kommission vom 27. Juli 2016 zur Rechtsstaatlichkeit in Polen (ABl. L 217 vom 12.8.2016, S. 53).

(2)  Empfehlung (EU) 2017/146 der Kommission vom 21. Dezember 2016 zur Rechtsstaatlichkeit in Polen in Ergänzung zur Empfehlung (EU) 2016/1374 (ABl. L 22 vom 27.1.2017, S. 65).

(3)  Mitteilung „Ein neuer EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“ (COM(2014) 158 final).

(4)  Siehe COM(2014) 158 final, Anhang I Abschnitt 2.

(5)  Erwägungsgrund 14 der Empfehlung des Rates vom 11. Juli 2017 zum nationalen Reformprogramm Polens 2017 mit einer Stellungnahme des Rates zum Konvergenzprogramm Polens 2017 (ABl. C 261 vom 9.8.2017, S. 88).

(6)  Siehe die Abschnitte 5.3 und 5.4 der Empfehlung.

(7)  Nach Artikel 188 der Verfassung entscheidet der Verfassungsgerichtshof über die Vereinbarkeit der Gesetze und der völkerrechtlichen Verträge mit der Verfassung, über die Vereinbarkeit der Gesetze mit den ratifizierten völkerrechtlichen Verträgen, deren Ratifizierung eine vorherige Zustimmung durch Gesetz voraussetzt, über die Vereinbarkeit der Rechtsvorschriften, die von zentralen Staatsorganen erlassen werden, mit der Verfassung, den ratifizierten völkerrechtlichen Verträgen und den Gesetzen, über die Vereinbarkeit der Ziele oder Tätigkeit der politischen Parteien mit der Verfassung und über Verfassungsbeschwerden. Nach Artikel 189 der Verfassung bescheidet der Verfassungsgerichtshof auch Kompetenzstreitigkeiten zwischen den zentralen verfassungsmäßigen Staatsorganen.

(8)  Gesetz vom 30. Dezember 2015 zur Änderung des Gesetzes über den öffentlichen Dienst und bestimmter weiterer Gesetze, verkündet im Gesetzblatt vom 8. Januar 2016, Nummer 34.

(9)  Gesetz vom 15. Januar 2016 zur Änderung des Polizeigesetzes und bestimmter weiterer Gesetze, verkündet im Gesetzblatt vom 4. Februar 2016, Nummer 147.

(10)  Gesetz vom 28. Januar 2016 über die Staatsanwaltschaft, verkündet im Gesetzblatt vom 15. Februar 2016, Nummer 177; Durchführungsgesetz vom 28. Januar 2016 zum Gesetz über die Staatsanwaltschaft, verkündet im Gesetzblatt vom 15. Februar 2016, Nummer 178.

(11)  Gesetz vom 18. März 2016 über den Bürgerbeauftragten und zur Änderung bestimmter weiterer Gesetze. Das Gesetz wurde am 4. Mai 2016 vom Präsidenten der Republik unterzeichnet.

(12)  Gesetz vom 22. Juni 2016 über den Nationalen Medienrat. Das Gesetz wurde am 27. Juni 2016 vom Präsidenten der Republik unterzeichnet.

(13)  Gesetz vom 10. Juni 2016 zur Terrorismusbekämpfung. Das Gesetz wurde am 22. Juni 2016 vom Präsidenten der Republik unterzeichnet.

(14)  Die Hilfsrichter sind zwar mit den Aufgaben eines Richters betraut, werden aber direkt vom Justizminister unter minimaler Mitwirkung des Landesrats für Gerichtswesen ernannt, der lediglich innerhalb von 30 Tagen Einspruch erheben kann.

(15)  Die richterliche Unabhängigkeit sollte in der Verfassung verankert und auf Gesetzesebene in besonderen Vorschriften präzisiert werden (Empfehlung CM/Rec(2010)12 des Ministerkomitees des Europarats zur Unabhängigkeit, Effizienz und Verantwortung von Richtern, angenommen am 17. November 2010 („Empfehlung des Europarats von 2010“), Rn. 7). Zudem ist darauf hinzuweisen, dass das Oberste Gericht und der Landesrat für Gerichtswesen in ihren Stellungnahmen Fragen hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzes aufgeworfen haben.

(16)  Stellungnahme des Obersten Gerichts vom 3. Februar 2017; Stellungnahme des Landesrats für Gerichtswesen vom 10. Februar 2017.

(17)  EGMR, Henryk Urban und Ryszard Urban/Polen, 23614/08, 28. Februar 2011; EGMR, Mirosław Garlicki/Polen, 36921/07, 14. September 2011; EGMR, Pohoska/Polen, 33530/06, 10. April 2012.

(18)  Artikel 1 Absatz 7 des Gesetzes über die ordentlichen Gerichte.

(19)  Artikel 186 Absatz 1 der polnischen Verfassung: „Der Landesrat für Gerichtswesen schützt die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter.“

(20)  EGMR, Ramos Nunes de Carvalho e Sá/Portugal, 55391/13, 57728/13 und 74041/13, 21. Juni 2016, Rn. 77.

(21)  Rn. 27; siehe auch Aktionsplan des Europarats zur Stärkung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz, angenommen am 13. April 2016, (CM(2016)36 final) Buchstabe C Ziffer ii; Stellungnahme Nr. 10 des CCJE zum Rat für das Justizwesen im Dienste der Gesellschaft, Rn. 27; verschiedene Stellungnahmen der Venedig-Kommission; ENCJ-Standards im Bericht „Councils for the Judiciary“, 2010/11, Abschnitt 2.3.

(22)  In der Verfassung ist vorgesehen, dass der Landesrat für Gerichtswesen aus Mitgliedern von Amts wegen (dem Ersten Präsidenten des Obersten Gerichts, dem Justizminister, dem Präsidenten des Obersten Verwaltungsgerichts und einer vom Präsidenten der Republik berufenen Person) und gewählten Mitgliedern besteht. Die gewählten Mitglieder setzen sich aus vier vom Sejm gewählten Abgeordneten, zwei vom Senat gewählten Senatoren und 15 Richtern zusammen (die aus der Mitte der Richter des Obersten Gerichts, der ordentlichen Gerichte sowie der Verwaltungs- und Militärgerichte gewählt worden sind).

(23)  Dies steht im Widerspruch zu den Standards des Europarats: Empfehlung des Europarats von 2010, Rn. 26; Aktionsplan des Europarats zur Stärkung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz, angenommen am 13. April 2016, (CM(2016)36 final) Buchstabe C.

(24)  EGMR, Morice/Frankreich, 29369/10, 23. April 2015, Rn. 78; Zypern/Türkei, 25781/94, 10. Mai 2001, Rn. 233.

(25)  Empfehlung des Europarats von 2010, Rn. 49.

(26)  Nach dem Gesetz muss der Justizminister bei seiner Entscheidung, ob er die Amtszeit eines Richters verlängert oder nicht, den rationellen Einsatz des Personals der ordentlichen Gerichte und die sich aus der Arbeitsbelastung der einzelnen Gerichte ergebenden Erfordernisse berücksichtigen (vgl. Artikel 1 Absatz 26 Buchstabe b des Gesetzes).

(27)  Urteil vom 31. Mai 2005, Syfait und andere, C-53/03, Rn. 31; Urteil vom 4. Februar 1999, Köllensperger und Atzwanger, C-103/97, Rn. 20.

(28)  Stellungnahme des Obersten Gerichts vom 28. April 2017.

(29)  Nach Artikel 89 Absatz 1 des Gesetzes über das Oberste Gericht hat ein Richter, der abgesetzt und pensioniert wird, bis zum Alter von 65 Jahren Anspruch auf Bezüge in Höhe der Vergütung, die er auf dem zuletzt bekleideten Posten am Obersten Gericht erhalten hat. In Artikel 89 Absatz 2 ist vorgesehen, dass Richter am Obersten Gericht nach ihrer Absetzung das Recht behalten, innerhalb von 14 Tagen nach ihrer Pensionierung beim Justizminister ihre Versetzung auf einen Richterposten an einem ordentlichen, Militär- oder Verwaltungsgericht zu beantragen. Der Justizminister ist berechtigt, diesen Antrag abzulehnen.

(30)  Anschließend schreibt der Justizminister nach Artikel 95 des Gesetzes über das Oberste Gericht freie Stellen in bestimmten Kammern des Obersten Gerichts aus und schlägt dann dem Landesrat für Gerichtswesen für jede ausgeschriebene Stelle einen Bewerber seiner Wahl vor. Der Landesrat für Gerichtswesen beurteilt jeden Bewerber und unterbreitet dem Präsidenten der Republik einen Vorschlag zur Ernennung auf einen Richterposten am Obersten Gericht. In bestimmten Fällen kann der Landesrat für Gerichtswesen einen solchen Vorschlag auch nur über eine seiner beiden Versammlungen vorlegen, sodass die aus Richtern bestehende Versammlung möglicherweise übergangen wird. Der Justizminister kann eine zusätzliche Ausschreibung für die übrigen freien Stellen vornehmen. Dann können die Bewerber ihre Bewerbungen im regulären Verfahren beim Landesrat für Gerichtswesen einreichen, der sie beurteilt und dem Präsidenten der Republik den Antrag auf ihre Ernennung auf einen Richterposten am Obersten Gericht vorlegt.

(31)  Urteil vom 31. Mai 2005, Syfait und andere, C-53/03, Rn. 31; Urteil vom 4. Februar 1999, Köllensperger und Atzwanger, C-103/97, Rn. 20.

(32)  Urteil vom 9. Oktober 2014, TDC, C-222/13, Rn. 29-32; Urteil vom 19. September 2006, Wilson, C-506/04, Rn. 53; Urteil vom 4. Februar 1999, Köllensperger und Atzwanger, C-103/97, Rn. 20-23; Urteil vom 12. September 1997, Dorsch Consult, C-54/96, Rn. 36; Urteil vom 29. November 2001, De Coster, C-17/00, Rn. 18-21; EGMR, Baka/Ungarn, 20261/12, 23. Juni 2016, Rn. 121.

(33)  EGMR, Campbell und Fell/Vereinigtes Königreich, A80 (1984), 28. Juni 1984, Rn. 80.

(34)  Das Gesetz steht im Widerspruch zu den Standards des Europarats. Insbesondere stehen die neuen Vorschriften im Widerspruch zum Grundsatz der Unabsetzbarkeit von Richtern als zentrales Element der Unabhängigkeit der Richter, wie sie in der Empfehlung des Europarats von 2010 verankert ist. Die Richter am Obersten Gericht sollten daher eine garantierte Amtszeit haben, die nicht vorzeitig beendet werden darf. Zudem sollten nach der Empfehlung des Europarats von 2010 Entscheidungen über Auswahl und Karriere von Richtern auf objektiven Kriterien beruhen, die per Gesetz oder durch die zuständigen Behörden vorher festgelegt wurden, und wenn die Regierung oder die gesetzgebende Gewalt Entscheidungen über Auswahl und Karriere der Richter trifft, sollte eine unabhängige zuständige Behörde, die zu einem wesentlichen Teil aus Vertretern des Justizwesens besteht, zur Abgabe von Empfehlungen oder Stellungnahmen berechtigt sein, die für die betreffende Ernennungsbehörde in der Praxis ausschlaggebend sein sollten. Das Gesetz entspricht nicht diesen Standards.

(35)  In Disziplinarverfahren gegen Richter am Obersten Gericht geht es um die Verantwortung für Zuwiderhandlungen gegen die Dienstvorschriften und für die Beeinträchtigung der Würde ihres Amtes. Artikel 5 des Gesetzes über das Oberste Gericht sieht vor, dass sich die Disziplinarkammer auch mit Disziplinarverfahren gegen Richter am Obersten Gericht, bestimmten Disziplinarverfahren gegen Angehörige der Rechtsberufe und Rechtsbehelfen gegen Disziplinarentscheidungen befasst. In dem Gesetz wird eine neue Zusammensetzung der Disziplinargerichte des Obersten Gerichts festgelegt. Standardmäßig besteht ein Disziplinargericht erster Instanz aus einem Richter der Disziplinarkammer, ein Disziplinargericht zweiter Instanz aus drei Richtern. Disziplinarverfahren können auf Antrag eines Disziplinarbeauftragten (Artikel 56 Absatz 1: vom Obersten Gericht für drei Jahre ernannter Disziplinarbeauftragter; Artikel 54 Absatz 4: vom Minister im Einzelfall ernannter Disziplinarbeauftragter) eingeleitet werden.

(36)  Artikel 54 Absatz 1 des Gesetzes über das Oberste Gericht. Der Justizminister ernennt die Disziplinarbeauftragten aus dem Kreis der vom Generalstaatsanwalt vorgeschlagenen Staatsanwälte.

(37)  Urteil vom 16. Februar 2017, Margarit Panicello, C-503/15, Rn. 37-38; Urteil vom 6. Oktober 2015, Consorci Sanitari del Maresme, C-203/14, Rn. 19; Urteil vom 9. Oktober 2014, TDC, C-222/13, Rn. 30; Urteil vom 17. Juli 2014, Torresi, C-58/13 und C-59/13, Rn. 22; Urteil vom 19. September 2006, Wilson, C-506/04, Rn. 51.

(38)  Artikel 6 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen; Artikel 100 Absätze 1 und 2 des Gesetzes über das Oberste Gericht.

(39)  Artikel 1 Absatz 16 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die ordentlichen Gerichte.

(40)  Artikel 1 Absatz 5 Buchstabe b des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die ordentlichen Gerichte.

(41)  Artikel 1 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Staatliche Richterhochschule.

(42)  Artikel 1 Absatz 33 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die ordentlichen Gerichte und Artikel 38 des Gesetzes über das Oberste Gericht.

(43)  Artikel 10 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen; Artikel 93 und 99 des Gesetzes vom 20. Juli über das Oberste Gericht.

(44)  Auch neue Bestimmungen über die Gerichtsdirektoren geben Anlass zu Bedenken (Artikel 1 des Gesetzes vom 23. März 2017 zur Änderung des Gesetzes über die ordentlichen Gerichte).

(45)  Z. B. Stellungnahmen des Obersten Gerichts vom 30. Januar, 3. Februar, 28. April und 18. Juli 2017; Stellungnahmen des Landesrats für Gerichtswesen vom 30. Januar, 10. Februar, 7. März, 12. Mai, 26. Mai und 18. Juli 2017; Stellungnahmen des Bürgerbeauftragten vom 1. Februar, 12. April, 31. Mai, 28. Juni und 18. Juli 2017; Stellungnahme des Direktors der Staatlichen Hochschule für Richter und Staatsanwälte vom 10. Februar 2017; gemeinsame Stellungnahmen von Richtern aus den Appellationsgerichtsbezirken Lublin (6. Februar 2017), Danzig, Krakau, Białystok, Stettin und Rzeszów (7. Februar 2017) sowie Warschau und Posen (8. Februar 2017); Entschließung des Präsidiums der Obersten Rechtsanwaltskammer vom 3. Februar 2017; Stellungnahme der Richtervereinigung „Themis“ vom 29. Januar 2017; Stellungnahme der Richtervereinigung „Iustitia“ vom 8. Februar 2017; Stellungnahme der Nationalen Vereinigung der Gerichtsreferendare vom 6. Februar 2017; Stellungnahme der Vereinigung der ehemaligen Studenten und der Studienbewerber der Staatlichen Hochschule für Richter und Staatsanwälte vom 7. Februar 2017; Stellungnahme der Nationalen Vereinigung der Gerichtsassistenten vom 8. Februar 2017.

(46)  Erwägungsgrund 14: „Rechtssicherheit und das Vertrauen in die Qualität und Berechenbarkeit von Politik und Institutionen in den Bereichen Gesetzgebung und Steuern und in anderen Bereichen sind wichtige Faktoren, die eine Steigerung der Investitionsquote ermöglichen könnten. Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz sind in diesem Zusammenhang ebenfalls von grundlegender Bedeutung. Wenn auf ernste Bedenken im Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeit eingegangen wird, so wird dies dazu beitragen, die Rechtssicherheit zu erhöhen.“ Empfehlung zum nationalen Reformprogramm Polens 2017 mit einer Stellungnahme des Rates zum Konvergenzprogramm Polens 2017.

(47)  Siehe die Empfehlung (EU) 2017/146 und die Empfehlung (EU) 2016/1374 der Kommission.

(48)  Abschnitt 4.1 der Mitteilung „Ein neuer EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“ (COM(2014) 158 final).