1.2.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

L 32/34


EMPFEHLUNG DER KOMMISSION

vom 29. Januar 2014

Umgang mit den Konsequenzen des Entzugs des Wahlrechts von Unionsbürgern, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen

(2014/53/EU)

DIE EUROPÄISCHE KOMMISSION —

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), insbesondere auf Artikel 292,

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1)

Der Vertrag von Lissabon stärkt die Rolle der Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union als politische Akteure, indem er sie eng in die Wahrnehmung ihrer politischen Rechte und das demokratische Leben in der Union einbindet. Nach Artikel 10 Absätze 1 und 3 des Vertrags über die Europäische Union beruht die Arbeitsweise der Union auf der repräsentativen Demokratie, und alle Bürgerinnen und Bürgern haben das Recht, am demokratischen Leben der Union teilzunehmen. Nach Absatz 2 desselben Artikels, der diesen Prinzipien Ausdruck verleiht, sind die Bürgerinnen und Bürger auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten, und die Mitgliedstaaten werden im Europäischen Rat von ihrem jeweiligen Staats- oder Regierungschef und im Rat von ihrer jeweiligen Regierung vertreten, die ihrerseits in demokratischer Weise gegenüber ihrem nationalen Parlament oder gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern Rechenschaft ablegen müssen.

(2)

Gemäß Artikel 20 AEUV tritt die Unionsbürgerschaft zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu.

(3)

Artikel 21 AEUV und Artikel 45 der EU-Grundrechtecharta verleihen jedem Unionsbürger das Recht, sich in der Europäischen Union frei zu bewegen und aufzuhalten.

(4)

Mit dieser Empfehlung soll das Recht der EU-Bürger, die ihr Recht auf Freizügigkeit innerhalb der EU in Anspruch nehmen, auf Teilnahme am demokratischen Leben der Union gestärkt werden.

(5)

Eines der im Bericht über die Unionsbürgerschaft von 2010 (1) identifizierten Hindernisse für eine politische Tätigkeit von EU-Bürgern bestimmter Mitgliedstaaten liegt im Verlust des Rechts auf Teilnahme an nationalen Wahlen in ihrem Heimatland, sobald sie eine bestimmte Zeit lang in einem anderen Mitgliedstaat wohnen.

(6)

Gegenwärtig gewährt kein Mitgliedstaat den in seinem Hoheitsgebiet wohnenden Unionsbürgern aus anderen Mitgliedstaaten das Recht auf Teilnahme an nationalen Wahlen. Somit dürfen EU-Bürger, denen das Wahlrecht wegen ihres Auslandsaufenthalts entzogen wurde, für gewöhnlich in keinem Mitgliedstaat an nationalen Wahlen teilnehmen.

(7)

Die gegenwärtige Lage kann als unvereinbar mit der Grundidee der Unionsbürgerschaft angesehen werden, die zusätzlich zur Staatsbürgerschaft gilt und den EU-Bürger mit zusätzlichen Rechten ausstatten soll. Im vorliegenden Fall würde hingegen die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit mit einem Verlust an politischen Mitwirkungsrechten einhergehen.

(8)

Auch wenn EU-Bürger, denen das Wahlrecht zu nationalen Wahlen entzogen wurde, weiterhin an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen können, so ist ihnen doch die Mitwirkung am nationalen Willensbildungsprozess versagt, der zur Bildung der nationalen Regierungen führt und auch die Zusammensetzung des Ministerrates, eines der beiden gesetzgebenden Organe der Union, mitbestimmt.

(9)

Der Verlust des Wahlrechts im Heimatland aufgrund der Ausübung des Rechts auf Umzug in einen anderen Mitgliedstaat wird von den Unionsbürgern als Lücke in ihren politischen Rechten wahrgenommen.

(10)

In ihrem Bericht über die Unionsbürgerschaft 2013 „Rechte und Zukunft der Bürgerinnen und Bürger der EU“ (2) betonte die Kommission, dass die volle Teilhabe der EU-Bürger am demokratischen Leben der EU auf allen Ebenen den eigentlichen Kern der Unionsbürgerschaft bildet. Dementsprechend kündigte sie konstruktive Vorschläge an, um EU-Bürgern mit Wohnsitz in einem anderen als ihrem Heimatstaat die volle Teilhabe am demokratischen Leben der EU zu ermöglichen, damit diese ihr Wahlrecht bei nationalen Wahlen in ihrem Heimatland ausüben können (Aktion 12).

(11)

Das Wahlrecht ist ein elementares Bürgerrecht. Wie der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hervorhob, handelt es sich beim Wahlrecht nicht um ein Privileg. Eine allgemeine, automatische und undifferenzierte Abweichung vom Grundsatz des allgemeinen Wahlrechts würde die demokratische Legitimität der so gewählten gesetzgebenden Körperschaft und der von dieser verabschiedeten Gesetze aushöhlen (3). Ein demokratischer Staat muss vielmehr integrativ agieren. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ferner festgestellt, dass es, auch wenn ein gemeinsamer gesamteuropäischer Ansatz bisher fehlt, einen eindeutigen Trend gibt, im Ausland wohnenden Staatsangehörigen das Wahlrecht einzuräumen.

(12)

In bestimmten Mitgliedstaaten kann das aktuell geltende Recht dazu führen, dass in einem anderen Mitgliedstaat wohnende Unionsbürger gegenwärtig lediglich deshalb das Wahlrecht verlieren, weil sie seit einem bestimmten Zeitraum im Ausland leben. Die einschlägigen Vorschriften beruhen auf der Annahme, dass bei einem Auslandsaufenthalt ab einer bestimmten Dauer die Verbindung zu den politischen Gegebenheiten im Heimatland verloren geht. Diese Annahme trifft jedoch nicht in jedem Einzelfall zu. Deswegen wäre es angemessen, Bürgern, denen der Entzug des Wahlrechts droht, die Möglichkeit zu geben nachzuweisen, dass sie weiterhin an der Politik in ihrem Heimatland Anteil nehmen.

(13)

EU-Bürger, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, können ihr ganzes Leben lang enge Verbindungen mit ihrem Herkunftsland beibehalten und direkt von dort ergangenen Rechtsvorschriften betroffen sein. Dank des Zugangs zu grenzüberschreitenden Rundfunkangeboten sowie des Internets und anderer netz- und mobilfunkgestützter Kommunikationstechnologien wird es immer einfacher, vom Ausland aus mit den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen im Heimatland verbunden zu bleiben.

(14)

Die Gründe der aktuellen Politik im Hinblick auf den Wahlrechtsentzug sollten im Lichte der sozialen, wirtschaftlichen und technischen Realitäten, des generellen Trends zur Verbesserung politischer Mitwirkungsmöglichkeiten und des gegenwärtigen Integrationsstands der EU und angesichts der immensen Bedeutung des Rechts auf demokratische Teilhabe in der EU neubewertet werden.

(15)

Ein integrativer und verhältnismäßiger Schritt bestünde darin, Staatsbürgern, die von ihrem Recht, sich in der Europäischen Union frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch machen, die Beibehaltung ihres Wahlrechts zu ermöglichen, wenn diese ein fortdauerndes Interesse am politischen Leben des Mitgliedstaats, dessen Angehörige sie sind, nachweisen.

(16)

Als geeigneter Beleg sollte eine positive Handlung seitens der Betroffenen wie ein Antrag auf Verbleib im Wählerverzeichnis ihres Herkunftsmitgliedstaats ausreichen. Dies wäre das einfachste Mittel, ein fortdauerndes Interesse am politischen Leben des Heimatlandes unter Beweis zu stellen. Davon unberührt bliebe die Möglichkeit der betreffenden Mitgliedstaaten, ihren Bürgern zur Auflage zu machen, diesen Antrag in angemessenen Zeitabständen zu erneuern, um den Fortbestand eines solchen Interesses zu bestätigen

(17)

Um die Verwaltungslasten für Auslandsbürger möglichst gering zu halten, sollte der Antrag auf Aufnahme oder Verbleib im Wählerverzeichnis auf elektronischem Wege gestellt werden können.

(18)

Bürger, die in andere Mitgliedstaaten umziehen oder dort leben, sollten rechtzeitig und in geeigneter Weise über die Voraussetzungen für die Beibehaltung ihres Wahlrechts und die einschlägigen praktischen Vorkehrungen informiert werden —

HAT FOLGENDE EMPFEHLUNG ABGEGEBEN:

1.

Mitgliedstaaten, die das Recht ihrer Bürger auf Teilnahme an nationalen Wahlen mittels ausschließlich auf dem Wohnsitz gründender Regeln einschränken, sollten Staatsbürgern, die von ihrem Recht, sich in der Union frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch machen, die Beibehaltung ihres Wahlrechts ermöglichen, wenn sie ein fortdauerndes Interesse am politischen Leben des Mitgliedstaats, dessen Angehörige sie sind, nachweisen. Dies kann beispielsweise durch einen Antrag auf Verbleib im Wählerverzeichnis geschehen.

2.

Die Erlaubnis zur Beibehaltung des Wahlrechts von in einem anderen Mitgliedstaat lebenden Staatsbürgern bei nationalen Wahlen mittels eines Antrags auf Verbleib im Wählerverzeichnis sollte unbeschadet der Möglichkeit für die betreffenden Mitgliedstaaten gewährt werden, verhältnismäßige flankierende Regelungen wie die Auflage einer regelmäßigen Erneuerung des Antrags vorzusehen.

3.

Mitgliedstaaten, die ihren in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden Bürgern die Beibehaltung ihres Wahlrechts zu nationalen Wahlen mittels eines Antrags bzw. eines Wiederholungsantrags auf Verbleib im Wählerverzeichnis erlauben, sollten eine elektronische Antragstellung ermöglichen.

4.

Mitgliedstaaten, in denen vorgesehen ist, dass in einem anderen Mitgliedstaat lebende Bürger ihr Wahlrecht zu nationalen Wahlen verlieren können, sollten diese in geeigneter Weise und rechtzeitig über die Voraussetzungen und die erforderlichen Vorkehrungen für die Beibehaltung des Wahlrechts informieren.

Diese Empfehlung ist an die Mitgliedstaaten gerichtet.

Brüssel, den 29. Januar 2014

Für die Kommission

Viviane REDING

Vizepräsidentin


(1)  KOM(2010) 603.

(2)  KOM(2013)269.

(3)  Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs vom 7. Mai 2013 in der Rechtssache Shindler.