6.10.2007   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 235/4


Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 18. Juli 2007 (Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs — Deutschland) — Strafverfahren gegen Jürgen Kretzinger

(Rechtssache C-288/05) (1)

(Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen - Art. 54 - Grundsatz „ne bis in idem“ - Begriff „dieselbe Tat“ - Geschmuggelte Zigaretten - Einfuhr in mehrere Vertragsstaaten - Strafverfolgung in verschiedenen Vertragsstaaten - Begriff der „Vollstreckung“ strafrechlichter Sanktionen - Aussetzung der Strafvollstreckung - Anrechnung kurzzeitiger Untersuchungshaft - Europäischer Haftbefehl)

(2007/C 235/06)

Verfahrenssprache: Deutsch

Vorlegendes Gericht

Bundesgerichtshof

Beteiligte des Ausgangsverfahrens

Jürgen Kretzinger

Beteiligter: Hauptzollamt Augsburg

Gegenstand

Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshof — Auslegung des Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19) — Grundsatz ne bis in idem — Voraussetzungen für den Strafklageverbrauch — Begriff „dieselbe Tat“ — Transport geschmuggelter Zigaretten durch das Hoheitsgebiet mehrerer Mitgliedstaaten — Verurteilung in zwei Mitgliedstaaten wegen Steuerhinterziehung und Steuerhehlerei — Begriff „Vollstreckung“ — Aussetzung der Strafvollstreckung — Anrechnung der Untersuchungshaft

Tenor

1.

Art 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen ist dahin auszulegen, dass

das maßgebende Kriterium für die Anwendung dieses Artikels das der Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen, ist, unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen oder von dem geschützten rechtlichen Interesse;

Handlungen, die in der Übernahme geschmuggelten ausländischen Tabaks in einem Vertragsstaat sowie in der Einfuhr in einen anderen Vertragsstaat und dem dortigen Besitz bestehen und sich dadurch auszeichnen, dass der in zwei Vertragsstaaten verfolgte Angeklagte von Anfang an vorhatte, den Tabak nach der ersten Übernahme über mehrere Vertragsstaaten zu einem endgültigen Bestimmungsort zu transportieren, Vorgänge sind, die unter den Begriff „dieselbe Tat“ im Sinne dieses Art. 54 fallen können. Die endgültige Beurteilung ist insoweit Sache der zuständigen nationalen Instanzen.

2.

Die von einem Gericht eines Vertragsstaats verhängte Sanktion ist im Sinne von Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen „bereits vollstreckt“ worden oder wird „gerade vollstreckt“, wenn der Angeklagte nach dem Recht dieses Vertragsstaats zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist.

3.

Die von einem Gericht eines Vertragsstaats verhängte Sanktion ist im Sinne von Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen weder „bereits vollstreckt“ worden noch wird sie „gerade vollstreckt“, wenn der Angeklagte kurzfristig in Polizei und/oder Untersuchungshaft genommen worden ist und dieser Freiheitsentzug nach dem Recht des Urteilsstaats auf eine spätere Vollstreckung der Haftstrafe anzurechnen wäre.

4.

Es kann nicht die Auslegung des Begriffs der Vollstreckung im Sinne von Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen beeinflussen, dass ein Mitgliedstaat, in dem eine Person nach innerstaatlichem Recht rechtskräftig verurteilt worden ist, aufgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten einen Europäischen Haftbefehl ausstellen kann, um diese Person zur Vollstreckung des Urteils festnehmen zu lassen.


(1)  ABl. C 257 vom 15.10.2005.