URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

29. Juli 2024 ( *1 )

[Text berichtigt mit Beschlüssen vom 20. September 2024 und vom 28. April 2025]

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Übergabe gesuchter Personen an die ausstellenden Justizbehörden – Beachtung der Grundrechte – Systemische oder allgemeine Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats – Fehlender Nachweis der Richtervereidigung als Mangel – Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung – Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat – Prüfung durch die vollstreckende Justizbehörde – Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde – Folgen dieser Ablehnung für die vollstreckende Justizbehörde eines anderen Mitgliedstaats“

In der Rechtssache C‑318/24 PPU [Breian] ( i )

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Braşov (Berufungsgericht Braşov [Kronstadt], Rumänien) mit Entscheidung vom 30. April 2024, beim Gerichtshof eingegangen am 30. April 2024, in dem Verfahren wegen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen

P. P. R.,

Beteiligter:

Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie – Direcţia Naţională Anticorupţie – Serviciul Teritorial Braşov,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Fünften Kammer sowie der Richter Z. Csehi, I. Jarukaitis und D. Gratsias (Berichterstatter),

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Juni 2024,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von P. P. R., vertreten durch J. Azzopardi, Avukat, und M. Laïchi, Avocate,

des Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie – Direcţia Naţională Anticorupţie – Serviciul Teritorial Braşov, vertreten durch M. Voineag als Bevollmächtigten,

der rumänischen Regierung, vertreten durch M. Chicu, E. Gane und A. Rotăreanu als Bevollmächtigte,

von Irland, vertreten durch G. Mullan, BL,

der französischen Regierung, vertreten durch R. Bénard und B. Dourthe als Bevollmächtigte,

der maltesischen Regierung, vertreten durch A. Buhagiar als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Biolan, H. Leupold und J. Vondung als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 11. Juli 2024

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 3 und Art. 17 Abs. 1 EUV, Art. 4 und Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie von Art. 1 Abs. 2 und 3 sowie Art. 15 und 19 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Verfahrens wegen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der gegen P. P. R. von der Curtea de Apel Braşov – Biroul executări penale (Berufungsgericht Braşov – Strafvollstreckungsamt, Rumänien) ausgestellt wurde.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

3

Art. 2 Buchst. a der Statuten der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (Interpol), die am 13. Juni 1956 in der 25. Sitzung der Generalversammlung von Interpol in Wien (Österreich) beschlossen und zuletzt in der 91. Sitzung im Jahr 2023 geändert wurden (im Folgenden: Statuten von Interpol), sieht vor, dass Interpol insbesondere zum Ziel hat, „eine möglichst umfassende gegenseitige Unterstützung aller kriminalpolizeilichen Behörden im Rahmen der in den einzelnen Ländern geltenden Gesetze und im Geiste der ‚Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte‘ sicherzustellen und weiterzuentwickeln“.

4

Art. 5 der Statuten von Interpol nennt die Commission de contrôle des fichiers d’Interpol (Kommission für die Kontrolle der Dateien von Interpol, im Folgenden: CCF) als Teil von Interpol.

5

Gemäß Art. 36 Abs. 1 und 3 der Statuten von Interpol ist die CCF eine unabhängige Stelle, die gewährleisten soll, dass bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch Interpol die anwendbaren Regeln respektiert werden, und insbesondere über diesbezügliche Beschwerden zu entscheiden hat.

6

Die CCF verfügt über ein eigenes Statut, das ihre Aufgaben und Befugnisse näher regelt. Nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. c dieses Statuts kann sie insbesondere die Löschung personenbezogener Daten aus dem Informationssystem von Interpol anordnen.

Rahmenbeschluss 2002/584

7

Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 sieht vor:

„(1)   Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)   Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EUV] niedergelegt sind, zu achten.“

8

Art. 3 („Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist“) dieses Rahmenbeschlusses bestimmt:

„Die Justizbehörde des Vollstreckungsstaats (nachstehend ‚vollstreckende Justizbehörde‛ genannt) lehnt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ab,

1.

wenn die Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, im Vollstreckungsstaat unter eine Amnestie fällt und dieser Staat nach seinem eigenen Strafrecht für die Verfolgung der Straftat zuständig war;

2.

wenn sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsmitgliedstaats nicht mehr vollstreckt werden kann;

3.

wenn die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats aufgrund ihres Alters für die Handlung, die diesem Haftbefehl zugrunde liegt, nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann.“

9

Art. 8 („Inhalt und Form des Europäischen Haftbefehls“) dieses Rahmenbeschlusses sieht vor:

„(1)   Der Europäische Haftbefehl enthält entsprechend dem im Anhang beigefügten Formblatt folgende Informationen:

a)

die Identität und die Staatsangehörigkeit der gesuchten Person;

b)

Name, Adresse, Telefon- und Telefaxnummer sowie Email-Adresse der ausstellenden Justizbehörde;

c)

die Angabe, ob ein vollstreckbares Urteil, ein Haftbefehl oder eine andere vollstreckbare justizielle Entscheidung mit gleicher Rechtswirkung nach den Artikeln 1 und 2 vorliegt;

d)

die Art und rechtliche Würdigung der Straftat, insbesondere in Bezug auf Artikel 2;

e)

die Beschreibung der Umstände, unter denen die Straftat begangen wurde, einschließlich der Tatzeit, des Tatortes und der Art der Tatbeteiligung der gesuchten Person;

f)

im Fall eines rechtskräftigen Urteils die verhängte Strafe oder der für die betreffende Straftat im Ausstellungsmitgliedstaat gesetzlich vorgeschriebene Strafrahmen;

g)

soweit möglich, die anderen Folgen der Straftat.

(2)   Der Europäische Haftbefehl ist in die Amtssprache oder eine der Amtssprachen des Vollstreckungsstaats zu übersetzen. Jeder Mitgliedstaat kann zum Zeitpunkt der Annahme dieses Rahmenbeschlusses oder später in einer beim Generalsekretariat des Rates [der Europäischen Union] hinterlegten Erklärung angeben, dass er eine Übersetzung in eine oder mehrere weitere Amtssprachen der Organe der [Europäischen Union] akzeptiert.“

10

Art. 15 („Entscheidung über die Übergabe“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 hat folgenden Wortlaut:

„(1)   Die vollstreckende Justizbehörde entscheidet über die Übergabe der betreffenden Person nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und innerhalb der darin vorgesehenen Fristen.

(2)   Ist die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, so bittet sie um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen …

(3)   Die ausstellende Justizbehörde kann der vollstreckenden Justizbehörde jederzeit alle zusätzlichen sachdienlichen Informationen übermitteln.“

11

Art. 19 („Vernehmung der Person in Erwartung der Entscheidung“) dieses Rahmenbeschlusses sieht vor:

„(1)   Die Vernehmung der gesuchten Person erfolgt durch eine Justizbehörde mit Unterstützung einer Person, die nach dem Recht des Mitgliedstaats der ersuchenden Justizbehörde bestimmt wird.

(2)   Die Vernehmung der gesuchten Person erfolgt nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats und nach den im gegenseitigen Einvernehmen zwischen der ausstellenden und der vollstreckenden Justizbehörde festgelegten Bedingungen.

(3)   Die zuständige vollstreckende Justizbehörde kann eine andere Justizbehörde ihres Mitgliedstaats anweisen, an der Vernehmung der gesuchten Person teilzunehmen, um die ordnungsgemäße Anwendung dieses Artikels und der festgelegten Bedingungen zu gewährleisten.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

12

Am 17. Dezember 2020 erließ die Curtea de Apel Braşov (Berufungsgericht Braşov, Rumänien) einen Europäischen Haftbefehl gegen P. P. R. zur Vollstreckung einer Haftstrafe, die gegen diesen mit Urteil der Strafkammer dieses Gerichts vom 27. Juni 2019 verhängt worden war, das infolge eines Urteils der Strafkammer der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) vom 17. Dezember 2020 rechtskräftig wurde.

13

Nachdem die Verurteilung durch die Entscheidung vom 17. Dezember 2020 rechtskräftig geworden war, stellte das Strafvollstreckungsamt der Curtea de Apel Brașov (Berufungsgericht Brașov) am selben Tag einen Europäischen Haftbefehl gegen P. P. R. zur Vollstreckung der gegen ihn verhängten Strafe aus.

14

Aus den Angaben des vorlegenden Gerichts ergibt sich, dass P. P. R. am 28. Juni 2022 in Paris (Frankreich) festgenommen wurde und ein Verfahren zu seiner Übergabe eingeleitet wurde. Dieses Verfahren wurde mit rechtskräftig gewordenem Urteil der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) vom 29. November 2023 beendet; die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) lehnte die Vollstreckung des von den rumänischen Behörden gegen P. P. R. erlassenen Haftbefehls ab.

15

Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts stützte die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) die ablehnende Entscheidung darauf, dass die Gefahr einer Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerten Grundrechts auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen, durch Gesetz errichteten Gericht bestehe. Dieses Gericht sei der Auffassung, dass zum einen systemische und allgemeine Mängel in Bezug auf die Justiz in Rumänien bestünden, da der Aufbewahrungsort des Protokolls der Vereidigung der Richter ungewiss sei, was Zweifel an der ordnungsgemäßen Besetzung der Gerichte dieses Mitgliedstaats wecke. Zum anderen habe dieser systemische Mangel Auswirkungen auf das Strafverfahren gegen P. P. R. vor der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) gehabt, da das Protokoll der Vereidigung eines der drei Richter des Spruchkörpers, der in der betreffenden Sache zu entscheiden gehabt habe, nicht habe aufgefunden werden können und eine andere Richterin dieses Spruchkörpers lediglich einen Amtseid als Staatsanwältin geleistet habe, obschon sich aus den einschlägigen Vorschriften des rumänischen Rechts nicht eindeutig ergebe, dass bei ihrer Ernennung zur Richterin keine neue Vereidigung erforderlich gewesen sei.

16

Ferner habe die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) auch die in der 123. Sitzung vom 30. Januar bis 3. Februar 2023 getroffene Entscheidung der CCF – Abteilung für Ersuchen (CCF/123/R1358.21) berücksichtigt, mit der diese die Löschung der Internationalen Fahndungsausschreibung gegen P. P. R. aus der Datenbank von Interpol mit der Begründung angeordnet habe, dass die auf ihn bezogenen Daten nicht in Übereinstimmung mit den Regeln von Interpol über die Verarbeitung personenbezogener Daten stünden. Die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) habe die Auffassung vertreten, dass diese Entscheidung ernsthafte Bedenken hinsichtlich des Bestehens politischer Aspekte im Allgemeinen und hinsichtlich der Einhaltung der Menschenrechtsgrundsätze in dem gegen P. P. R. geführten Verfahren erkennen lasse.

17

Das vorlegende Gericht weist auch darauf hin, dass P. P. R. am 29. April 2024 aufgrund des gegen ihn erlassenen Europäischen Haftbefehls in Malta festgenommen worden sei. Am selben Tag habe die maltesische vollstreckende Justizbehörde das vorlegende Gericht um weitere Informationen gebeten und hierzu mitgeteilt, dass sich P. P. R. auf das in Rn. 14 des vorliegenden Urteils genannte Urteil der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) berufen habe.

18

Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel Braşov (Berufungsgericht Braşov) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 15 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen, dass das rechtskräftige Urteil über die Entscheidung der vollstreckenden Justizbehörde, die Übergabe der gesuchten Person abzulehnen, gegenüber einer anderen vollstreckenden Justizbehörde eines anderen Mitgliedstaats Rechtskraftwirkung entfaltet, oder ist er dahin auszulegen, dass er der (erneuten) Stellung eines Übergabeersuchens auf der Grundlage desselben Europäischen Haftbefehls nicht entgegensteht, wenn die Gesichtspunkte, die der Vollstreckung eines früheren Europäischen Haftbefehls entgegenstanden, beseitigt wurden oder wenn die Entscheidung über die Ablehnung der Vollstreckung dieses Europäischen Haftbefehls unionsrechtswidrig war, sofern die Vollstreckung eines neuen Europäischen Haftbefehls nicht zu einem Verstoß gegen Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 führt und das neue Übergabeersuchen entsprechend der Auslegung des Rahmenbeschlusses 2002/584 durch das Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a. (C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 141 und Ziff. 5 des Tenors) verhältnismäßig ist?

2.

Ist Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Licht von Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht ablehnen darf, wenn im Rahmen der Überprüfung der Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte im Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls im Hinblick auf das Recht auf ein faires Verfahren unter dem Gesichtspunkt des in Art. 47 Abs. 2 der Charta vorgesehenen Erfordernisses eines durch Gesetz errichteten Gerichts Unregelmäßigkeiten bei der Vereidigung der Mitglieder des Spruchkörpers des Gerichts, das die Verurteilung ausgesprochen hat, festgestellt wurden, ohne dass diese Unregelmäßigkeiten eine Einflussnahme durch andere Teile der Staatsgewalt auf das Verfahren zur Ernennung der Richter betreffen

3.

Ist Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Licht von Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass in einer Situation, in der eine Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl erlassen wurde, geltend macht, dass ihre Übergabe an den ausstellenden Mitgliedstaat zu einer Nichtbeachtung ihres Rechts auf ein faires Verfahren führen würde, das Vorliegen einer Entscheidung der CCF, die sich unmittelbar auf die Situation dieser Person bezieht, für sich genommen nicht rechtfertigen kann, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des fraglichen Europäischen Haftbefehls ablehnt, dass aber eine solche Entscheidung von dieser Justizbehörde zusammen mit anderen Gesichtspunkten berücksichtigt werden kann, um das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf das Funktionieren des Justizsystems dieses Mitgliedstaats oder von Mängeln zu prüfen, die den gerichtlichen Schutz einer objektiv identifizierbaren Gruppe von Personen, zu der auch diese Person gehört, beeinträchtigen?

4.

Ist der Rahmenbeschluss 2002/584 dahin auszulegen, dass er einem erneuten Ersuchen auf Übergabe der aufgrund desselben Europäischen Haftbefehls gesuchten Person, dessen Vollstreckung zunächst von einem Vollstreckungsgericht eines Mitgliedstaats abgelehnt wurde, vor einem anderen Vollstreckungsgericht eines anderen Mitgliedstaats nicht entgegensteht, wenn die ausstellende Justizbehörde anhand der Rechtsprechung des Gerichtshofs oder allein aufgrund der Tatsache, dass dem Gerichtshof eine Frage zur Auslegung des in dieser Rechtssache anwendbaren Unionsrechts zur Vorabentscheidung vorgelegt wurde, selbst feststellt, dass die frühere Entscheidung, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen, unionsrechtswidrig war?

5.

Erlauben es der in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 festgelegte Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und die in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV verankerten Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der loyalen Zusammenarbeit in Verbindung mit dem Erfordernis, einen wirksamen gerichtlichen Schutz der Rechte der am Verfahren beteiligten Personen zu gewährleisten – all dies in Bezug auf die Art. 15 und 19 des Rahmenbeschlusses 2002/584 –, den Justizbehörden des ausstellenden Mitgliedstaats (das ausstellende Gericht, vertreten durch einen unmittelbaren Vertreter oder auf Einladung dieses Gerichts durch andere Justizorgane wie einen Verbindungsrichter, das nationale Mitglied der Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen [Eurojust] oder die Staatsanwaltschaft des ausstellenden Mitgliedstaats), sich an den von der vollstreckenden Justizbehörde durchgeführten gerichtlichen Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls auf der Grundlage und unter Beachtung des Grundsatzes der Gleichwertigkeit unmittelbar zu beteiligen, indem sie Anträge stellen, Beweisangebote beibringen und an Verhandlungen teilnehmen, sowie einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung über die Ablehnung der Übergabe einzulegen – sofern ein Rechtsbehelf vorgesehen ist und in diesem Fall nach dem innerstaatlichen Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats?

6.

Ist Art. 17 Abs. 1 EUV über die Aufgaben der Europäischen Kommission im Licht des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen, dass die Aufgaben der Kommission, die allgemeinen Interessen der Union durch das Ergreifen geeigneter Initiativen zu fördern und für die Anwendung des Unionsrechts zu sorgen, im Bereich des Europäischen Haftbefehls auf Ersuchen der Justizbehörde, die den Europäischen Haftbefehl ausgestellt hat, wahrgenommen werden können, wenn diese Behörde der Auffassung ist, dass die Weigerung der vollstreckenden Justizbehörde, den Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken, die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der loyalen Zusammenarbeit ernsthaft gefährdet, damit die Kommission die Maßnahmen ergreift, die sie im Einklang mit diesen Aufgaben und in völliger Unabhängigkeit für erforderlich hält?

19

Am 16. Mai 2024 hat der Gerichtshof das vorlegende Gericht um Klarstellung ersucht, welcher Art das Verfahren ist, in dem dieses das Vorabentscheidungsersuchen eingereicht hat, was Gegenstand dieses Verfahrens ist und welchen Gehalt die von ihm zu treffenden verfahrensabschließenden Entscheidungen haben könnten. Das vorlegende Gericht hat dieses Ersuchen am 22. Mai 2024 beantwortet. In seiner Antwort hat es insbesondere angegeben, dass das zuständige maltesische Gericht als den Europäischen Haftbefehl gegen P. P. R. vollstreckende Behörde am 20. Mai 2024 entschieden habe, P. P. R. nicht den rumänischen Behörden zu übergeben, da es der Ansicht gewesen sei, dass die ihm zur Verfügung stehenden Informationen über die Haftbedingungen in Rumänien nicht den Schluss zuließen, dass das in Art. 4 der Charta vorgesehene Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung Beachtung fände, wenn P. P. R. den rumänischen Behörden übergeben würde.

20

Dem vorlegenden Gericht zufolge hat die maltesische vollstreckende Justizbehörde diese Schlussfolgerung zum einen namentlich auf Informationen gestützt, die auf der Internetseite der rumänischen Justizvollzugsverwaltung zugänglich gewesen seien, und zum anderen den Umstand berücksichtigt, dass die Billigung der Zusicherungen der zuständigen Behörden, P. P. R. werde keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung aufgrund seiner Haftbedingungen erfahren, in der Übersetzung der Mitteilung des vorlegenden Gerichts an die maltesische vollstreckende Justizbehörde in englischer Sprache mit dem Begriff „approved“ und nicht mit dem Begriff „endorsed“ – demjenigen Begriff, der in Rn. 68 der englischen Sprachfassung des Urteils vom 15. Oktober 2019, Dorobantu (C‑128/18, EU:C:2019:857) verwendet werde – bezeichnet sei.

21

Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel Braşov (Berufungsgericht Braşov) dem Gerichtshof die folgende siebte Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit Art. 4 der Charta betreffend das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung dahin auszulegen, dass bei der Prüfung der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat zum einen die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nicht auf der Grundlage von Informationen ablehnen kann, die der ausstellenden Justizbehörde nicht zur Kenntnis gebracht worden sind und zu denen letztere Behörde keine Gelegenheit hatte, zusätzliche Informationen im Sinne von Art. 15 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zu übermitteln, und zum anderen die vollstreckende Justizbehörde keinen höheren Standard als den in der Charta vorgesehenen anwenden darf, ohne die Regeln genau anzugeben, auf die sie sich insbesondere in Bezug auf Haftanforderungen wie die Erstellung eines „genauen Plans für die Vollstreckung der Strafe“, „genauer Kriterien für die Festlegung einer bestimmten Vollstreckungsregelung“ und von Garantien in Bezug auf die Nichtdiskriminierung aufgrund einer „besonders einzigartigen und prekären Situation“ bezieht?

Zum Antrag auf Anwendung des Eilvorabentscheidungsverfahrens

22

Das vorlegende Gericht hat beantragt, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 23a Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.

23

Es stützt seinen Antrag im Wesentlichen darauf, dass P. P. R. derzeit in Malta im Rahmen des Verfahrens zur Vollstreckung des von den rumänischen Behörden ausgestellten Europäischen Haftbefehls die Freiheit entzogen sei und die Aufrechterhaltung seiner Haft vom Ergebnis des Ausgangsverfahrens abhänge, da sich P. P. R. vor der maltesischen vollstreckenden Justizbehörde auf die Ablehnung der Vollstreckung des von den rumänischen Behörden ausgestellten Europäischen Haftbefehls durch die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) berufen habe.

24

Nach Art. 107 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann eine Vorlage zur Vorabentscheidung, die eine oder mehrere Fragen zu den von Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des Dritten Teils des AEU-Vertrags erfassten Bereichen aufwirft, auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen einem Eilverfahren im Sinne des dritten Kapitels des dritten Titels dieser Verfahrensordnung unterworfen werden, das die Art. 107 bis 114 der genannten Verfahrensordnung umfasst.

25

Erstens ist festzustellen, dass das Vorabentscheidungsersuchen insbesondere die Auslegung des Rahmenbeschlusses 2002/584 betrifft, der zu den von Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des Dritten Teils des AEU-Vertrags erfassten Bereichen gehört. Es kommt daher gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung für ein Eilvorabentscheidungsverfahren in Betracht.

26

Was zweitens die Voraussetzung der Dringlichkeit anbelangt, so ist diese insbesondere dann erfüllt, wenn der im Ausgangsverfahren betroffenen Person gegenwärtig ihre Freiheit entzogen ist und ihre weitere Inhaftierung von der Entscheidung des Ausgangsverfahrens abhängt, wobei hinsichtlich der Lage dieser Person auf den Zeitpunkt der Prüfung des Antrags, die Vorlage zur Vorabentscheidung dem Eilverfahren zu unterwerfen, abzustellen ist (Urteil vom 14. Mai 2024, Stachev, C‑15/24 PPU, EU:C:2024:399, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Im vorliegenden Fall stammt die Vorlage zur Vorabentscheidung zwar nicht von dem Gericht, das als den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Haftbefehl vollstreckende Justizbehörde abschließend über die Übergabe der Person, gegen die dieser Haftbefehl erlassen wurde, zu entscheiden hat, sondern von der Justizbehörde, die diesen ausgestellt hat.

28

Doch könnte das vorlegende Gericht, wie es zur Beantwortung des in Rn. 19 des vorliegenden Urteils genannten Klarstellungsersuchens bestätigt hat, verpflichtet sein, den gegen P. P. R. erlassenen Europäischen Haftbefehl aufzuheben, je nachdem, wie die Antworten auf die Vorlagefragen ausfallen. Da P. P. R. allein aufgrund dieses Haftbefehls inhaftiert sei, habe eine etwaige Aufhebung dieses Haftbefehls unmittelbar seine Freilassung zur Folge.

29

Unter diesen Umständen hat die Fünfte Kammer des Gerichtshofs auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung der Generalanwältin am 15. Mai 2024 beschlossen, dem Antrag des vorlegenden Gerichts stattzugeben und das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.

Zu den Vorlagefragen

Vorbemerkungen

30

Wie in Rn. 27 des vorliegenden Urteils ausgeführt, stammt die Vorlage zur Vorabentscheidung von der Justizbehörde, die den Europäischen Haftbefehl ausgestellt hat, auf dessen Grundlage P. P. R. in Malta inhaftiert wurde. Aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts ergibt sich, dass das Vorabentscheidungsersuchen insbesondere dazu dient, ihm die Entscheidung zu ermöglichen, ob es einen neuen Europäischen Haftbefehl gegen P. P. R. erlassen kann oder ob es verpflichtet ist, den bereits gegen diesen erlassenen Europäischen Haftbefehl aufzuheben, falls sich aus der Antwort des Gerichtshofs ergeben sollte, dass die Ablehnung der Vollstreckung des vorherigen Haftbefehls unionsrechtswidrig war.

31

Solche Erwägungen können es rechtfertigen, dass dieses Gericht als ausstellende Justizbehörde den Gerichtshof zu den Voraussetzungen für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls befragen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 53).

32

Im Rahmen eines Verfahrens im Zusammenhang mit einem Europäischen Haftbefehl ist nämlich in erster Linie der Ausstellungsmitgliedstaat für die Gewährleistung der Grundrechte verantwortlich. Da die Ausstellung eines solchen Haftbefehls die Festnahme der Person, die Gegenstand dieses Haftbefehls ist, zur Folge haben kann, muss eine ausstellende Justizbehörde daher, um diese Rechte zu gewährleisten, über die Möglichkeit verfügen, den Gerichtshof mit einer Vorlage zur Vorabentscheidung zu befassen, um zu ermitteln, ob sie einen Europäischen Haftbefehl aufrechterhalten oder aufheben muss oder ob sie einen solchen Haftbefehl ausstellen kann (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 54 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

33

Folglich ist das Vorabentscheidungsersuchen, wie die Generalanwältin in den Nrn. 24 bis 26 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausführt, insgesamt zulässig, unbeschadet der Möglichkeit, die Zulässigkeit jeder Vorlagefrage einzeln zu prüfen.

Zur ersten Frage

34

Mit dem ersten Teil seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Abs. 3 und Art. 15 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen sind, dass die vollstreckende Behörde eines Mitgliedstaats verpflichtet ist, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen, wenn die vollstreckende Behörde eines anderen Mitgliedstaats zuvor die Vollstreckung dieses Haftbefehls mit der Begründung abgelehnt hat, dass die Übergabe der betroffenen Person die Gefahr einer Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerten Grundrechts auf ein faires Verfahren berge.

35

Mit dem zweiten Teil seiner ersten Frage möchte dieses Gericht wissen, ob diese Bestimmungen unter denselben Umständen dahin auszulegen sind, dass sie der Aufrechterhaltung des fraglichen Europäischen Haftbefehls durch die ausstellende Justizbehörde entgegenstehen.

36

Insoweit ergibt sich aus ständiger Rechtsprechung, dass sowohl der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten als auch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten beruht, im Unionsrecht fundamentale Bedeutung haben, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen. Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 93 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

37

Nach gefestigter Rechtsprechung kann das Bestehen einer Gefahr, dass die unionsrechtlich anerkannten Grundrechte verletzt werden, der vollstreckenden Justizbehörde erlauben, ausnahmsweise und nach einer angemessenen Prüfung auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 davon abzusehen, einem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 72).

38

Hierzu geht aus der Rechtsprechung hervor, dass die vollstreckende Justizbehörde, die über die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, zu entscheiden hat – wenn sie über Anhaltspunkte für das Vorliegen einer echten Gefahr der Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verbürgten Grundrechts auf ein faires Verfahren aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf das Funktionieren des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats verfügt –, konkret und genau prüfen muss, ob es in Anbetracht der persönlichen Situation dieser Person sowie der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des Sachverhalts, auf denen der Europäische Haftbefehl beruht, ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person im Fall ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 97).

39

Dies klarstellend vorausgeschickt, sieht keine Bestimmung des Rahmenbeschlusses 2002/584 die Möglichkeit oder Pflicht einer vollstreckenden Behörde eines Mitgliedstaats vor, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls allein aus dem Grund abzulehnen, dass dessen Vollstreckung von der vollstreckenden Behörde eines anderen Mitgliedstaats abgelehnt wurde, ohne selbst zu prüfen, ob ein Grund vorliegt, der es rechtfertigt, den Haftbefehl nicht zu vollstrecken (vgl. entsprechend Urteil vom 14. September 2023, Sofiyska gradska prokuratura [Aufeinanderfolgende Haftbefehle], C‑71/21, EU:C:2023:668, Rn. 51).

40

Insbesondere kann die Entscheidung einer vollstreckenden Justizbehörde eines Mitgliedstaats, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen, auch wenn sie nach dem nationalen Recht in Rechtskraft erwachsen sein sollte, einer rechtskräftigen Verurteilung im Sinne von Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht gleichgesetzt werden, die allein geeignet ist, einer Strafverfolgung dieser Person wegen derselben Handlung im Ausstellungsstaat oder der Aufnahme einer solchen Strafverfolgung in einem anderen Staat entgegenzustehen (vgl. entsprechend Urteil vom 14. September 2023, Sofiyska gradska prokuratura [Aufeinanderfolgende Haftbefehle], C‑71/21, EU:C:2023:668, Rn. 52).

41

Denn eine gesuchte Person ist als wegen derselben Handlung rechtskräftig verurteilt im Sinne von Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 anzusehen, wenn die Strafklage aufgrund eines Strafverfahrens endgültig verbraucht ist oder die Justizbehörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung erlassen haben, mit der der Beschuldigte von dem Tatvorwurf rechtskräftig freigesprochen wird (Urteil vom 16. November 2010, Mantello, C‑261/09, EU:C:2010:683, Rn. 45).

42

Die Prüfung eines Übergabeersuchens bedeutet jedoch nicht, dass der Vollstreckungsstaat die Person, um deren Übergabe ersucht wird, strafrechtlich verfolgt, und umfasst keine materielle Prüfung der Sache (Urteil vom 14. September 2023, Sofiyska gradska prokuratura [Aufeinanderfolgende Haftbefehle], C‑71/21, EU:C:2023:668, Rn. 54).

43

Folglich kann die vollstreckende Behörde eines Mitgliedstaats die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht allein deshalb ablehnen, weil dessen Vollstreckung von der vollstreckenden Behörde eines anderen Mitgliedstaats abgelehnt wurde, ohne selbst zu prüfen, ob ein Ablehnungsgrund vorliegt (vgl. entsprechend Urteil vom 14. September 2023, Sofiyska gradska prokuratura [Aufeinanderfolgende Haftbefehle], C‑71/21, EU:C:2023:668, Rn. 61).

44

Wenngleich sich aus dem Vorstehenden ergibt, dass sich der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung in der durch den Rahmenbeschluss 2002/584 umgesetzten Form nicht auf Entscheidungen erstreckt, mit denen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abgelehnt wird, bleibt dennoch näher auf die Folgen einzugehen, die sich für die vollstreckende Behörde eines Mitgliedstaats aus dem Umstand ergeben können, dass eine vollstreckende Behörde eines anderen Mitgliedstaats zuvor die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls wegen einer bestehenden Gefahr der Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerten Grundrechts auf ein faires Verfahren vor einem durch Gesetz errichteten Gericht abgelehnt hat.

45

[Berichtigt mit Beschluss vom 28. April 2025] Nach der in Rn. 36 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten.

46

Dabei erfordert der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, wie die Generalanwältin in den Nrn. 37 bis 44 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, wenn eine mit einer bestehenden Gefahr der Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerten Rechts auf ein faires Verfahren begründete Ablehnungsentscheidung eines anderen Mitgliedstaats vorliegt, dass die vollstreckende Justizbehörde eines Mitgliedstaats, bei der ein neues Ersuchen um Übergabe der betroffenen Person gestellt wird, die Gründe, auf denen diese Ablehnungsentscheidung beruht, im Rahmen ihrer eigenen Prüfung, ob ein Ablehnungsgrund vorliegt, gebührend berücksichtigt (vgl. entsprechend Urteil vom 18. Juni 2024, Bundesrepublik Deutschland [Wirkung der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus], C‑753/22, EU:C:2024:524, Rn. 80).

47

Die vorstehenden Erwägungen gelten entsprechend für die ausstellende Justizbehörde, deren Europäischer Haftbefehl wegen einer bestehenden Gefahr der Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerten Grundrechts auf ein faires Verfahren nicht vollstreckt wurde.

48

Keine Bestimmung des Rahmenbeschlusses 2002/584 schließt die Möglichkeit der ausstellenden Behörde aus, das Übergabeersuchen aufgrund eines Europäischen Haftbefehls aufrechtzuerhalten, wenn die vollstreckende Justizbehörde eines Mitgliedstaats die Vollstreckung dieses Haftbefehls abgelehnt hat.

49

Daher bewirkt zwar das Vorliegen einer Entscheidung der vollstreckenden Justizbehörde eines anderen Mitgliedstaats, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen, für sich genommen keine Verpflichtung der ausstellenden Justizbehörde, diesen Haftbefehl aufzuheben, muss diese Behörde allerdings zur Wachsamkeit veranlassen (vgl. entsprechend Urteil vom 14. September 2023, Sofiyska gradska prokuratura [Aufeinanderfolgende Haftbefehle], C‑71/21, EU:C:2023:668, Rn. 55).

50

Im Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a. (C‑158/21, EU:C:2023:57), wurde dem Gerichtshof die Frage nach der Möglichkeit vorgelegt, unter Umständen, die denjenigen des Ausgangsverfahrens gleichen, mehrere aufeinanderfolgende Europäische Haftbefehle zu erlassen. Die Grundsätze, die der Gerichtshof in den Rn. 139 bis 143 dieses Urteils aufgestellt hat, sind im Wege der Analogie auf die vorliegende Rechtssache übertragbar.

51

Insbesondere kann sich die Aufrechterhaltung eines Europäischen Haftbefehls durch die ausstellende Justizbehörde als notwendig erweisen – namentlich nachdem die Gesichtspunkte, die zur Ablehnung des früheren Übergabeersuchens geführt hatten, beseitigt wurden, oder wenn die Entscheidung über die Ablehnung unionsrechtswidrig war –, um das Verfahren zur Übergabe einer gesuchten Person abzuschließen und mithin die Erreichung des mit diesem Rahmenbeschluss verfolgten Ziels der Bekämpfung der Straflosigkeit zu fördern (vgl. entsprechend Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 141).

52

Andererseits jedoch fällt, wie in Rn. 32 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die Gewährleistung der Grundrechte im Rahmen eines Verfahrens wegen eines Europäischen Haftbefehls in erster Linie in die Verantwortung des Ausstellungsmitgliedstaats.

53

Demzufolge darf eine ausstellende Justizbehörde, wenn sich die Umstände nicht ändern, einen Europäischen Haftbefehl nicht aufrechterhalten, wenn eine vollstreckende Justizbehörde gemäß Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 wegen einer echten Gefahr der Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerten Grundrechts auf ein faires Verfahren die Vollstreckung dieses Haftbefehls rechtmäßig abgelehnt hat (vgl. entsprechend Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 143). Besteht hingegen keine solche Gefahr, insbesondere infolge einer Änderung der Umstände, kann der bloße Umstand, dass die vollstreckende Behörde die Vollstreckung des genannten Haftbefehls abgelehnt hat, als solcher der Aufrechterhaltung dieses Haftbefehls durch die ausstellende Justizbehörde nicht entgegenstehen.

54

Da die Aufrechterhaltung eines Europäischen Haftbefehls, dessen Vollstreckung in einem Mitgliedstaat abgelehnt wurde, die Festnahme der Person, gegen die der Haftbefehl besteht, in einem anderen Mitgliedstaat zur Folge haben und damit deren individuelle Freiheit beeinträchtigen kann, muss die ausstellende Justizbehörde ferner prüfen, ob diese Aufrechterhaltung in Anbetracht der Besonderheiten des Einzelfalls verhältnismäßig ist. Im Rahmen einer solchen Prüfung muss diese Behörde insbesondere die Art und die Schwere der Tat, derentwegen die gesuchte Person verfolgt wird, die Folgen der Aufrechterhaltung des gegen sie erlassenen Europäischen Haftbefehls für diese Person sowie die voraussichtliche Vollstreckung dieses Haftbefehls berücksichtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 144 und 145).

55

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 3 und Art. 15 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen sind, dass die vollstreckende Behörde eines Mitgliedstaats nicht verpflichtet ist, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen, wenn die vollstreckende Behörde eines anderen Mitgliedstaats die Vollstreckung dieses Haftbefehls zuvor mit der Begründung abgelehnt hat, dass die Übergabe der betroffenen Person die Gefahr einer Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundrechts auf ein faires Verfahren berge. Gleichwohl muss diese Behörde im Rahmen ihrer eigenen Prüfung, ob ein Ablehnungsgrund vorliegt, die Gründe berücksichtigen, auf denen die Ablehnungsentscheidung der ersten vollstreckenden Behörde beruht. Diese Bestimmungen hindern die ausstellende Justizbehörde nicht, den Europäischen Haftbefehl unter denselben Umständen aufrechtzuerhalten, sofern die Vollstreckung dieses Haftbefehls nach ihrer eigenen Beurteilung nicht wegen der Gefahr einer Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerten Grundrechts auf ein faires Verfahren abzulehnen ist und die Aufrechterhaltung dieses Haftbefehls verhältnismäßig ist.

Zur dritten Frage

56

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass in einer Situation, in der eine Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, geltend macht, dass ihre Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat zur Missachtung ihres Rechts auf ein faires Verfahren führen würde, das Vorliegen einer Entscheidung der CCF über die Situation dieser Person allein es rechtfertigen kann, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung dieses Haftbefehls ablehnt, oder diese Entscheidung anderenfalls von dieser Justizbehörde bei der Entscheidung berücksichtigt werden kann, ob die Vollstreckung dieses Haftbefehls aus dem von der betroffenen Person geltend gemachten Grund abzulehnen ist.

57

Nach den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts hat die CCF – Abteilung für Ersuchen entschieden, die internationale Fahndungsausschreibung gegen P. P. R. aus der Datenbank von Interpol zu löschen, mit der Begründung, dass die ihn betreffenden Daten nicht den Regeln von Interpol über die Verarbeitung personenbezogener Daten entsprächen. Diese Entscheidung der CCF habe die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) in ihrem Urteil vom 29. November 2023 berücksichtigt, mit dem sie die Vollstreckung des von den rumänischen Behörden gegen P. P. R erlassenen Europäischen Haftbefehls abgelehnt habe.

58

Im Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a. (C‑158/21, EU:C:2023:57) wurde dem Gerichtshof eine ähnliche Frage vorgelegt, die die Berücksichtigung eines Berichts der Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen, eines dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen unterstellten Gremiums, durch die vollstreckende Behörde betraf. Die Grundsätze, die der Gerichtshof in den Rn. 121 bis 126 dieses Urteils dargestellt hat, lassen sich mutatis mutandis auf die Berücksichtigung einer Entscheidung der CCF über die Situation einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, durch die vollstreckende Behörde übertragen.

59

Da die zweistufige Prüfung nach Rn. 38 des vorliegenden Urteils auf objektiven, zuverlässigen, genauen und gebührend aktualisierten Anhaltspunkten in Bezug auf das Funktionieren des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats sowie auf einer konkreten und genauen Prüfung der individuellen Situation der gesuchten Person beruhen muss, kann eine Entscheidung der CCF, mit der aufgrund einer Verletzung der Regeln von Interpol über die Verarbeitung personenbezogener Daten angeordnet wird, die internationalen Fahndungsausschreibungen gegen die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, zu löschen, nicht ausreichen, um die Ablehnung der Vollstreckung dieses Haftbefehls zu rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 123).

60

Soweit die vollstreckende Behörde das Vorliegen solcher systemischen oder allgemeinen Mängel feststellen konnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 135), muss sie auf der zweiten Stufe konkret und genau prüfen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person, wenn sie dem Ausstellungsmitgliedstaat einmal übergeben wurde, einer echten Gefahr der Verletzung ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren ausgesetzt sein wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU,EU:C:2016:198, Rn. 92, und vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie [Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde], C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033, Rn. 61). Eine Entscheidung der CCF kann zu den Gesichtspunkten gehören, die auf dieser zweiten Stufe Berücksichtigung finden können, die vollstreckende Justizbehörde ist hieran jedoch nicht gebunden.

61

Folglich ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass in einer Situation, in der eine Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, geltend macht, dass ihre Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat zur Missachtung ihres Rechts auf ein faires Verfahren führen würde, das Vorliegen einer Entscheidung der CCF über die Situation dieser Person allein es nicht rechtfertigen kann, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung dieses Haftbefehls ablehnt. Eine solche Entscheidung kann hingegen von dieser Justizbehörde bei der Entscheidung berücksichtigt werden, ob die Vollstreckung dieses Haftbefehls abzulehnen ist.

Zur vierten Frage

62

Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 267 AEUV dahin auszulegen ist, dass die einen Europäischen Haftbefehl ausstellende Justizbehörde verpflichtet ist, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, bevor es in Ansehung der Gründe, die die vollstreckende Justizbehörde zur Ablehnung der Vollstreckung dieses Haftbefehls bewogen haben, darüber entscheidet, ob es diesen Haftbefehl aufhebt oder aufrechterhält.

63

Wird einem Gericht eines Mitgliedstaats eine Frage zur Auslegung der Verträge oder zur Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union gestellt, kann dieses Gericht diese Frage, wenn es eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält, nach Art. 267 Abs. 2 AEUV dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen.

64

Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet.

65

Folglich ist die einen Europäischen Haftbefehl ausstellende Justizbehörde nicht verpflichtet, den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung zu ersuchen, bevor sie im Licht der Gründe, die die vollstreckende Justizbehörde zur Ablehnung der Vollstreckung dieses Haftbefehls bewogen haben, darüber entscheidet, ob sie diesen Haftbefehl in Übereinstimmung mit dem Unionsrecht aufhebt oder aufrechterhält, es sei denn, ihre Entscheidung kann nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden.

66

In letzterem Fall ist die ausstellende Justizbehörde grundsätzlich verpflichtet, den Gerichtshof gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV anzurufen, wenn ihr eine Frage zur Auslegung des Unionsrechts gestellt wird. Nach ständiger Rechtsprechung kann sie von dieser Pflicht nur dann befreit werden, wenn sie festgestellt hat, dass die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, dass die in Frage stehende Vorschrift des Unionsrechts bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder dass die richtige Auslegung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (Urteil vom 6. Oktober 2021, Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi, C‑561/19, EU:C:2021:799, Rn. 32 und 33 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

67

Ob diese Möglichkeit besteht, ist unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Unionsrechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Union zu beurteilen (Urteil vom 6. Oktober 2021, Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi, C‑561/19, EU:C:2021:799, Rn. 41 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

68

[Berichtigt mit Beschluss vom 28. April 2025] Ferner muss die Begründung der Entscheidung einer einen Europäischen Haftbefehl ausstellenden Justizbehörde, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, wenn sie annimmt, von der in Art. 267 Abs. 3 AEUV vorgesehenen Pflicht, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, befreit zu sein, weil bei ihr einer der in Rn. 66 des vorliegenden Urteils genannten drei Fälle vorliegt, entweder erkennen lassen, dass die aufgeworfene unionsrechtliche Frage für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht erheblich ist oder dass sich die Auslegung der betreffenden Unionsrechtsvorschrift auf die Rechtsprechung stützt oder – wenn es keine solche Rechtsprechung gibt – dass die Auslegung des Unionsrechts für das in letzter Instanz entscheidende einzelstaatliche Gericht derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi, C‑561/19, EU:C:2021:799, Rn. 51).

69

Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 267 AEUV dahin auszulegen ist, dass die einen Europäischen Haftbefehl ausstellende Justizbehörde nicht verpflichtet ist, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, bevor sie in Ansehung der Gründe, die die vollstreckende Justizbehörde zur Ablehnung der Vollstreckung dieses Haftbefehls bewogen haben, darüber entscheidet, ob sie diesen Haftbefehl aufhebt oder aufrechterhält, es sei denn, die von ihr zu treffende Entscheidung kann nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden; in letzterem Fall ist sie grundsätzlich verpflichtet, den Gerichtshof anzurufen.

Zur zweiten Frage

70

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass sich, soweit sich das vorlegende Gericht im Wortlaut der zweiten Frage auf „Unregelmäßigkeiten bei der Vereidigung“ bezieht, aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, dass diese „Unregelmäßigkeiten“ hier konkret in einer Ungewissheit hinsichtlich des Aufbewahrungsorts des Protokolls über die Vereidigung der Richter in Rumänien bestehen; diese Ungewissheit habe zur Folge, dass für einen der drei Richter des Spruchkörpers der l’Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof), die in der Sache von P. P. R. zu entscheiden hatten, kein Protokoll der Vereidigung habe aufgefunden werden können und für eine andere Richterin dieses Spruchkörpers lediglich ein Protokoll der Vereidigung als Staatsanwältin habe gefunden werden können.

71

Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Strafe erlassenen Europäischen Haftbefehls mit der Begründung ablehnen darf, dass der Aufbewahrungsort der Protokolle der Vereidigung der Richter des Ausstellungsmitgliedstaats ungewiss sei, dass das Protokoll eines Richters des Spruchkörpers, der diese Strafe verhängt hat, nicht habe aufgefunden werden können oder dass ein anderer Richter dieses Spruchkörpers lediglich bei seiner Ernennung zum Staatsanwalt einen Amtseid geleistet habe.

72

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls den Grundsatz darstellt, während die Ablehnung der Vollstreckung als Ausnahme ausgestaltet und eng auszulegen ist (Urteil vom 21. Dezember 2023, GN [Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls], C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 37).

73

Außerdem haben die Mitgliedstaaten nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zu unterstellen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 93 und 94).

74

Das hohe Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten, auf dem der Mechanismus des Europäischen Haftbefehls beruht, gründet sich insbesondere auf die Prämisse, dass die Strafgerichte des Ausstellungsmitgliedstaats, die nach der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls das Verfahren der Strafverfolgung, der Strafvollstreckung oder der Verhängung einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung sowie das strafrechtliche Hauptverfahren zu führen haben werden, den Anforderungen genügen, die mit dem in Art. 47 Abs. 2 der Charta garantierten Grundrecht auf ein faires Verfahren verbunden sind (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 95).

75

[Berichtigt mit Beschluss vom 20. September 2024] In Anbetracht der Erwägungen in den Rn. 72 bis 74 des vorliegenden Urteils können nur außergewöhnliche Umstände es rechtfertigen, dass die vollstreckende Behörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls wegen einer bestehenden Gefahr der Verletzung dieses Grundrechts ablehnt.

76

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat zwar in erster Linie jeder Mitgliedstaat, um die volle Anwendung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung zu gewährleisten, auf denen die Funktionsweise des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls beruht, unter der abschließenden Kontrolle durch den Gerichtshof sicherzustellen, dass die dem in Art. 47 Abs. 2 der Charta garantierten Grundrecht auf ein faires Verfahren innewohnenden Anforderungen gewahrt bleiben, und alle Maßnahmen zu unterlassen, die dies untergraben könnten. Besteht jedoch eine echte Gefahr, dass die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, im Fall ihrer Übergabe an die ausstellende Justizbehörde eine Verletzung dieses Grundrechts erleidet, oder verwirklicht sich gar eine solche Gefahr, kann es der vollstreckenden Justizbehörde gestattet sein, ausnahmsweise, auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584, davon abzusehen, dem betreffenden Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

77

In diesem Zusammenhang muss die vollstreckende Justizbehörde eines Mitgliedstaats, bevor sie auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 die Übergabe einer Person ablehnt, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung einer Strafe ergangen ist, eine zweistufige Prüfung vornehmen.

78

In einem ersten Schritt hat diese Behörde festzustellen, ob es objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Anhaltspunkte dafür gibt, dass wegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats dort eine echte Gefahr der Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verbürgten Grundrechts auf ein faires Verfahren vor einem zuvor durch Gesetz errichteten Gericht besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 52 und 66 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

79

Wenn dies der Fall ist, muss die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats in einem zweiten Schritt konkret und genau prüfen, inwieweit sich die im ersten Prüfungsschritt festgestellten Mängel auf das Funktionieren der für die Entscheidung in den Verfahren gegen die betroffene Person zuständigen Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats auswirken konnten und ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass sich in Anbetracht der persönlichen Situation dieser Person, der Art der Straftat, derentwegen sie verurteilt wurde, und des Sachverhalts, der der Verurteilung, um deren Anerkennung und Vollstreckung ersucht wird, zugrunde liegt, sowie gegebenenfalls der von diesem Mitgliedstaat nach diesem Rahmenbeschluss übermittelten zusätzlichen Informationen eine solche Gefahr im konkreten Fall tatsächlich verwirklicht hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 53 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

80

Zu den Anforderungen, die mit dem in Art. 47 Abs. 2 der Charta garantierten Grundrecht auf ein faires Verfahren verbunden sind, gehört das Recht einer jeden Person, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht verhandelt wird. Letztere Anforderungen umfassen naturgemäß nicht lediglich das Verfahren zur Ernennung der Richter, sondern auch die Voraussetzungen, unter denen diese ihr Amt antreten.

81

Folglich müssen die materiellen Voraussetzungen und die Verfahrensmodalitäten der Ernennung der Richter und ihres Amtsantritts so beschaffen sein, dass sie bei den Rechtsuchenden keine berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der ernannten Richter für äußere Faktoren und ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen hervorrufen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission, C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 71).

82

Allerdings ist nicht schon jede Unregelmäßigkeit, die im Zuge des Verfahrens zur Ernennung eines Richters oder seines Amtsantritts auftritt, geeignet, Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dieses Richters und damit an der Eigenschaft eines Spruchkörpers, dem er angehört, als „unabhängiges und unparteiisches, zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht“ im Sinne des Unionsrechts aufkommen zu lassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. März 2022, Getin Noble Bank, C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 123).

83

Aus der Rechtsprechung des EGMR – die einschlägig ist, weil die Charta aufgrund von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 Rechte enthält, die durch die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen – ergibt sich nämlich, dass nur Rechtsverletzungen, die grundlegende Vorschriften über das Richterernennungsverfahren und den Amtsantritt der Richter betreffen, eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK begründen (vgl. in diesem Sinne EGMR, 1. Dezember 2020, Guðmundur Andri Ástráðsson/Island, CE:ECHR:2020:1201JUD002637418, §§ 246 und 247).

84

[Berichtigt mit Beschluss vom 28. April 2025] Daher kann es keinen systemischen oder allgemeinen Mangel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz im Sinne der in Rn. 78 des vorliegenden Urteils genannten Rechtsprechung darstellen, wenn das innerstaatliche Recht eines Mitgliedstaats gegebenenfalls vorsieht, dass ein Staatsanwalt, der bei seinem Amtsantritt einen Amtseid geleistet hat, bei seiner späteren Ernennung zum Richter nicht erneut einen Eid leisten muss.

85

Eine solche Bestimmung des innerstaatlichen Rechts, die dadurch gerechtfertigt ist, dass in diesem Mitgliedstaat der Status der Staatsanwälte demjenigen der Richter gleichgesetzt ist und dass beide Kategorien von Mitgliedern der Richterschaft und der Staatsanwaltschaft bei Übernahme ihres Amts den gleichen Eid zu leisten verpflichtet sind, lässt keinen Zweifel an der Ordnungsmäßigkeit der Ernennung der Richter und damit ihrer Unabhängigkeit und Unparteilichkeit aufkommen.

86

Ist ungewiss, an welchem Ort die Protokolle über die Vereidigung der Richter eines Mitgliedstaats aufbewahrt werden, oder ist es nicht möglich, diese Protokolle ausfindig zu machen, stellt dies, insbesondere wenn seit der Vereidigung des betroffenen Richters mehrere Jahre vergangen sind, für sich genommen und ohne weitere relevante Anhaltspunkte noch keinen Nachweis dar, dass die betroffenen Richter ihr Amt ausgeübt haben, ohne jemals den geforderten Eid geleistet zu haben.

87

Ist ungewiss, ob die Richter eines Mitgliedstaats vor ihrem Amtsantritt den im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Eid geleistet haben, begründet dies jedenfalls keinen systemischen oder allgemeinen Mangel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz dieses Mitgliedstaats, wenn das innerstaatliche Recht wirksame Rechtsbehelfe vorsieht, die es ermöglichen, eine etwaige versäumte Vereidigung der Richter, die ein bestimmtes Urteil gesprochen haben, geltend zu machen und so die Aufhebung dieses Urteils zu erreichen. Das vorlegende Gericht wird zu prüfen haben, ob solche Rechtsbehelfe im rumänischen Recht existieren.

88

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Strafe erlassenen Europäischen Haftbefehls nicht mit der Begründung ablehnen darf, dass das Protokoll der Vereidigung eines Richters, der diese Strafe verhängt hat, nicht auffindbar sei oder dass ein anderer Richter desselben Spruchkörpers lediglich bei seiner Ernennung zum Staatsanwalt einen Amtseid geleistet habe.

Zur fünften Frage

89

Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Rahmenbeschluss 2002/584 dahin auszulegen ist, dass die einen Europäischen Haftbefehl ausstellende Justizbehörde berechtigt ist, als Partei an dem Verfahren zur Vollstreckung dieses Haftbefehls vor der vollstreckenden Justizbehörde teilzunehmen.

90

Insoweit ist festzustellen, dass weder Art. 15 noch Art. 19 des Rahmenbeschlusses 2002/584, die das vorlegende Gericht genannt hat, noch eine andere Bestimmung dieses Rahmenbeschlusses vorsieht, dass die einen Europäischen Haftbefehl ausstellende Justizbehörde an dem Verfahren vor der vollstreckenden Justizbehörde zur Vollstreckung dieses Haftbefehls unmittelbar zu beteiligen ist. Eine Pflicht, eine solche Beteiligung vorzusehen, lässt sich auch nicht aus den Grundsätzen der gegenseitigen Anerkennung und der loyalen Zusammenarbeit ableiten.

91

Der Rahmenbeschluss 2002/584 kann zwar nicht dahin ausgelegt werden, dass er solch einer in den Verfahrensvorschriften des innerstaatlichen Rechts gegebenenfalls vorgesehenen Beteiligung entgegensteht, dieser Rahmenbeschluss sieht jedoch andere Mittel zur Erleichterung der Zusammenarbeit und des notwendigen Informationsaustauschs zwischen dem Ausstellungsmitgliedstaat und dem Vollstreckungsmitgliedstaat vor.

92

So zählt Art. 8 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 eine Reihe sachdienlicher Informationen auf, die in einem Europäischen Haftbefehl zwingend enthalten sein müssen. Nach Art. 15 Abs. 2 dieses Rahmenbeschlusses bittet die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie der Ansicht ist, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, ferner um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen. Darüber hinaus kann gemäß Art. 15 Abs. 3 dieses Rahmenbeschlusses die ausstellende Justizbehörde der vollstreckenden Justizbehörde jederzeit alle zusätzlichen sachdienlichen Informationen übermitteln.

93

Hierzu geht aus der Rechtsprechung hervor, dass die Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit, um insbesondere eine Lähmung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Haftbefehls zu vermeiden, den Dialog zwischen den vollstreckenden und den ausstellenden Justizbehörden leiten muss. Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit achten und unterstützen sich die Mitgliedstaaten insbesondere gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 131 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

94

In dieser Hinsicht müssen die ausstellenden und die vollstreckenden Justizbehörden im Hinblick auf eine wirksame justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen umfassend von den Instrumenten Gebrauch machen, die namentlich in Art. 8 Abs. 1 und in Art. 15 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehen sind, um das gegenseitige Vertrauen zu fördern, das dieser Zusammenarbeit zugrunde liegt (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 132 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

95

Daher ist die Beteiligung der ausstellenden Justizbehörde als Partei an dem Verfahren vor der vollstreckenden Justizbehörde nicht als unerlässlich anzusehen, um die Beachtung der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und der loyalen Zusammenarbeit sicherzustellen, auf denen die Funktionsweise des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls beruht.

96

Nach alledem ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 dahin auszulegen ist, dass die einen Europäischen Haftbefehl ausstellende Justizbehörde nicht berechtigt ist, als Partei an dem Verfahren zur Vollstreckung dieses Haftbefehls vor der vollstreckenden Justizbehörde teilzunehmen.

Zur sechsten Frage

97

Die sechste Frage betrifft die Möglichkeit der Kommission, auf Antrag der Justizbehörde, die einen Europäischen Haftbefehl ausgestellt hat, die Maßnahmen zu ergreifen, die ihrer Ansicht nach infolge der Ablehnung der Vollstreckung dieses Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde erforderlich sind.

98

Eine solche Frage steht jedoch offenkundig in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens, das, wie in Rn. 28 des vorliegenden Urteils ausgeführt, der Entscheidung dient, ob der gegen P. P. R. erlassene Haftbefehl aufzuheben oder vielmehr aufrechtzuerhalten ist.

99

Somit ist die sechste Frage unzulässig.

Zur siebten Frage

100

Mit seiner siebten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Abs. 3 und Art. 15 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Licht von Art. 4 der Charta dahin auszulegen sind, dass die vollstreckende Justizbehörde die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls bei der Prüfung der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat zum einen nicht auf Gesichtspunkte, die die Haftbedingungen in den Haftanstalten im Ausstellungsmitgliedstaat betreffen, stützen darf, ohne zuvor die ausstellende Justizbehörde um zusätzliche Informationen gebeten zu haben, und zum anderen im Bereich der Haftbedingungen keinen höheren Standard anwenden darf als denjenigen, den Art. 4 der Charta garantiert.

101

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof die Verpflichtung der vollstreckenden Justizbehörde festgestellt hat, das mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 eingerichtete Übergabeverfahren unter bestimmten Umständen zu beenden, wenn die Gefahr besteht, dass eine solche Übergabe zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der gesuchten Person im Sinne von Art. 4 der Charta führt (Urteil vom 15. Oktober 2019, Dorobantu, C‑128/18, EU:C:2019:857, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

102

Somit ist die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats, sofern sie über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Häftlingen im Ausstellungsmitgliedstaat besteht, im Licht des durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandards der Grundrechte und insbesondere von Art. 4 der Charta verpflichtet, das Vorliegen dieser Gefahr zu würdigen, wenn sie über die Übergabe der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl erlassen wurde, an die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats zu entscheiden hat. Die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls darf nämlich nicht zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung dieser Person führen (Urteil vom 15. Oktober 2019, Dorobantu, C‑128/18, EU:C:2019:857, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

103

Dabei muss sich die vollstreckende Justizbehörde zunächst auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben über die Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats stützen, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffender Mängel belegen könnten. Diese Angaben können sich u. a. aus Entscheidungen internationaler Gerichte wie Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, aus Entscheidungen von Gerichten des Ausstellungsmitgliedstaats oder aus Entscheidungen, Berichten und anderen Schriftstücken von Organen des Europarats oder aus dem System der Vereinten Nationen ergeben (Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

104

Die Feststellung des Vorliegens einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung aufgrund der allgemeinen Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat kann jedoch als solche nicht zur Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls führen. Das bloße Vorliegen von Anhaltspunkten für systemische oder allgemeine, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffende Mängel bei den Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat bedeutet nämlich nicht zwingend, dass in einem konkreten Fall der Betroffene einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird, sofern er den Behörden dieses Mitgliedstaats übergeben wird (Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

105

Um die Beachtung von Art. 4 der Charta im konkreten Fall einer Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, sicherzustellen, ist daher die vollstreckende Justizbehörde, die über objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Belege für das Vorliegen solcher Mängel verfügt, sodann verpflichtet, konkret und genau zu beurteilen, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person im Anschluss an ihre Übergabe an diesen Mitgliedstaat aufgrund der Bedingungen, unter denen sie im Ausstellungsmitgliedstaat inhaftiert sein wird, einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta in diesem Mitgliedstaat ausgesetzt sein wird (Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

106

Zu diesem Zweck muss diese Behörde nach Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen zusätzlichen Informationen in Bezug auf die Bedingungen bitten, unter denen die betreffende Person in diesem Mitgliedstaat inhaftiert werden soll. Diese Anfrage kann sich auch darauf erstrecken, ob es im Ausstellungsmitgliedstaat nationale oder internationale Verfahren und Mechanismen zur Überprüfung der Haftbedingungen gibt, z. B. in Verbindung mit Besuchen in den Haftanstalten, die es ermöglichen, den aktuellen Stand der dortigen Haftbedingungen zu beurteilen (Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

107

Die ausstellende Justizbehörde ist verpflichtet, der vollstreckenden Justizbehörde diese Informationen zu erteilen (Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).

108

Nur wenn die vollstreckende Justizbehörde anhand der gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 erteilten Informationen sowie aller übrigen Informationen, über die sie verfügt, feststellt, dass für die Person, gegen die sich der Europäische Haftbefehl richtet, eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta besteht, ist die Vollstreckung dieses Haftbefehls aufzuschieben, allerdings nicht aufzugeben. Sollte die vollstreckende Justizbehörde aufgrund der Informationen, die sie von der ausstellenden Justizbehörde erhalten hat, das Vorliegen einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung der betreffenden Person im Ausstellungsmitgliedstaat ausschließen, muss sie hingegen innerhalb der im Rahmenbeschluss 2002/584 vorgesehenen Fristen ihre Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls treffen (Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 65 und 66 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

109

[Berichtigt mit Beschluss vom 28. April 2025] Wie in Rn. 92 des vorliegenden Urteils ausgeführt, berechtigt Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses die vollstreckende Justizbehörde insofern ausdrücklich, um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen zu bitten, wenn sie der Ansicht ist, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können. Ferner kann die ausstellende Justizbehörde der vollstreckenden Justizbehörde nach Art. 15 Abs. 3 dieses Rahmenbeschlusses jederzeit alle zusätzlichen sachdienlichen Informationen übermitteln.

110

[Berichtigt mit Beschluss vom 28. April 2025] Darüber hinaus wird in Rn. 93 des vorliegenden Urteils darauf hingewiesen, dass sich die Mitgliedstaaten nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gegenseitig achten und bei der Erfüllung der Aufgaben unterstützen, die sich aus den Verträgen ergeben (Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 109 und die dort angeführte Rechtsprechung).

111

Nach diesen Bestimmungen kann die vollstreckende Justizbehörde um Informationen bitten und die ausstellende Justizbehörde Zusicherungen erteilen, die jeweils die konkreten und genauen Bedingungen betreffen, unter denen die betroffene Person im Ausstellungsmitgliedstaat inhaftiert werden wird (Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 110).

112

[Berichtigt mit Beschluss vom 20. September 2024] Aus den in den Rn. 106 bis 111 des vorliegenden Urteils dargestellten Erwägungen ergibt sich, dass die vollstreckende Justizbehörde, ohne zuvor die ausstellende Justizbehörde aufgrund von Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 um Informationen gebeten zu haben, nicht auf das Bestehen ernsthafter und durch Tatsachen bestätigter Gründe für die Annahme schließen darf, dass die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, infolge ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer echten Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt wird.

113

Im vorliegenden Fall gibt das vorlegende Gericht an, es habe Informationen über die Haftbedingungen von P. P. R. im Fall der Übergabe an die rumänischen Behörden erteilt, die maltesische vollstreckende Justizbehörde habe jedoch dessen Übergabe abgelehnt und sich dabei auf Informationen gestützt, die sie aus dem Internet habe beziehen können.

114

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die von den zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats erteilte Zusicherung, dass die betroffene Person unabhängig von der Haftanstalt, in der sie im Ausstellungsmitgliedstaat inhaftiert werden wird, keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung aufgrund ihrer konkreten und genauen Haftbedingungen erfahren werde, ein Aspekt ist, den die vollstreckende Justizbehörde nicht ignorieren darf. Ein Verstoß gegen eine solche Zusicherung könnte nämlich, soweit diese den Erklärenden bindet, diesem gegenüber vor den Gerichten des Ausstellungsmitgliedstaats geltend gemacht werden (Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 111).

115

Der Gerichtshof hat daher entschieden, dass sich die vollstreckende Justizbehörde, wenn die ausstellende Justizbehörde diese Zusicherung erteilt oder zumindest gebilligt hat, nachdem sie erforderlichenfalls die zentrale Behörde oder eine der zentralen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats um Unterstützung ersucht hat, in Anbetracht des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten, auf dem das System des Europäischen Haftbefehls beruht, auf diese Zusicherung zumindest dann verlassen muss, wenn keinerlei konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Haftbedingungen in einer bestimmten Haftanstalt gegen Art. 4 der Charta verstoßen (Urteile vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 112, und vom 15. Oktober 2019, Dorobantu, C‑128/18, EU:C:2019:857, Rn. 68).

116

Somit ergibt sich aus den vorstehenden Erwägungen, dass die vollstreckende Justizbehörde die von der ausstellenden Justizbehörde übermittelten Informationen nicht allein auf der Grundlage von Informationen ausschließen darf, die sie selbst aus öffentlich zugänglichen Quellen bezogen hat, ohne die ausstellende Justizbehörde nach Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 um zusätzliche Informationen und Erklärungen zu bitten.

117

[Berichtigt mit Beschluss vom 28. April 2025] Da das vorlegende Gericht angibt, die maltesische vollstreckende Justizbehörde habe bei der Ablehnung der Vollstreckung des im Ausgangsverfahren in Frage stehenden Europäischen Haftbefehls den Umstand berücksichtigt, dass das vorlegende Gericht die Billigung einer Zusicherung im Sinne von Rn. 114 des vorliegenden Urteils mit einem Begriff zum Ausdruck gebracht habe, der von dem in der englischen Sprachfassung der einschlägigen Rechtsprechung verwendeten Begriff abweiche, ist ferner darauf hinzuweisen, dass eine solche Billigung nicht die Verwendung eines bestimmten Begriffs oder einer bestimmten Formulierung erfordert. Es genügt, dass sich aus der Mitteilung der ausstellenden Justizbehörde an die vollstreckende Justizbehörde mit hinreichender Klarheit ergibt, dass Erstere diese Zusicherung gebilligt hat, gleich welche Begriffe im Einzelnen verwendet werden.

118

Schließlich ist zu betonen, dass die bloße unterbliebene Erstellung eines „genauen Plans für die Vollstreckung der Strafe“ oder „genauer Kriterien für die Festlegung einer bestimmten Vollstreckungsregelung“, die das vorlegende Gericht in seiner siebten Frage angesprochen hat, nicht unter den Begriff „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung“ im Sinne von Art. 4 der Charta fällt.

119

Unter der Annahme, dass ein solcher Plan oder solche Kriterien im Vollstreckungsmitgliedstaat verlangt werden, ist unter Bezugnahme auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, dessen fundamentale Bedeutung im Unionsrecht sich aus der in Rn. 36 des vorliegenden Urteils zitierten Rechtsprechung ergibt, darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sein können, die Beachtung der Grundrechte durch die übrigen Mitgliedstaaten zu unterstellen, so dass sie insbesondere nicht die Möglichkeit haben, von einem anderen Mitgliedstaat ein höheres nationales Schutzniveau der Grundrechte als das durch das Unionsrecht gewährleistete zu verlangen (Urteil vom 15. Oktober 2019, Dorobantu, C‑128/18, EU:C:2019:857, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

120

Demnach darf die vollstreckende Justizbehörde die Übergabe der gesuchten Person nicht allein aus dem Grund ablehnen, dass die ausstellende Justizbehörde ihr keinen „genauen Plan für die Vollstreckung der Strafe“ oder keine „genauen Kriterien für die Festlegung einer bestimmten Vollstreckungsregelung“ übermittelt hat.

121

[Berichtigt mit Beschluss vom 28. April 2025] Soweit das vorlegende Gericht auf eine „besonders einzigartige und prekäre Situation“ der gesuchten Person verweist, die „Garantien in Bezug auf die Nichtdiskriminierung“ verlange, ist darauf hinzuweisen, dass die Beachtung von Art. 4 der Charta im Fall einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, nach der in Rn. 105 des vorliegenden Urteils zitierten Rechtsprechung eine konkrete und genaue Prüfung der Umstände des Einzelfalls erfordert.

122

Mithin ist auf die siebte Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 3 und Art. 15 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Licht von Art. 4 der Charta und des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens dahin auszulegen sind, dass die vollstreckende Justizbehörde die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls bei der Prüfung der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat nicht auf Gesichtspunkte, die die Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats betreffen, stützen darf, die sie selbst ermittelt hat und zu denen sie keine zusätzlichen Informationen bei der ausstellenden Justizbehörde angefordert hat. Die vollstreckende Justizbehörde darf im Bereich der Haftbedingungen keinen höheren Standard anwenden als denjenigen, den Art. 4 der Charta garantiert.

Kosten

123

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 1 Abs. 3 und Art. 15 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung

sind dahin auszulegen, dass

die vollstreckende Behörde eines Mitgliedstaats nicht verpflichtet ist, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen, wenn die vollstreckende Behörde eines anderen Mitgliedstaats die Vollstreckung dieses Haftbefehls zuvor mit der Begründung abgelehnt hat, dass die Übergabe der betroffenen Person die Gefahr einer Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundrechts auf ein faires Verfahren berge. Gleichwohl muss diese Behörde im Rahmen ihrer eigenen Prüfung, ob ein Ablehnungsgrund vorliegt, die Gründe berücksichtigen, auf denen die Ablehnungsentscheidung der ersten vollstreckenden Behörde beruht. Diese Bestimmungen hindern die ausstellende Justizbehörde nicht, den Europäischen Haftbefehl unter denselben Umständen aufrechtzuerhalten, sofern die Vollstreckung dieses Haftbefehls nach ihrer eigenen Beurteilung nicht wegen der Gefahr einer Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerten Grundrechts auf ein faires Verfahren abzulehnen ist und die Aufrechterhaltung dieses Haftbefehls verhältnismäßig ist.

 

2.

Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung ist in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte

dahin auszulegen, dass

in einer Situation, in der eine Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, geltend macht, dass ihre Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat zur Missachtung ihres Rechts auf ein faires Verfahren führen würde, das Vorliegen einer Entscheidung der Commission de contrôle des fichiers d’Interpol (Kommission für die Kontrolle der Dateien von Interpol) über die Situation dieser Person allein es nicht rechtfertigen kann, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung dieses Haftbefehls ablehnt. Eine solche Entscheidung kann hingegen von dieser Justizbehörde bei der Entscheidung berücksichtigt werden, ob die Vollstreckung dieses Haftbefehls abzulehnen ist.

 

3.

Art. 267 AEUV ist dahin auszulegen, dass

die einen Europäischen Haftbefehl ausstellende Justizbehörde nicht verpflichtet ist, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, bevor sie in Ansehung der Gründe, die die vollstreckende Justizbehörde zur Ablehnung der Vollstreckung dieses Haftbefehls bewogen haben, darüber entscheidet, ob sie diesen Haftbefehl aufhebt oder aufrechterhält, es sei denn, die von ihr zu treffende Entscheidung kann nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden; in letzterem Fall ist sie grundsätzlich verpflichtet, den Gerichtshof anzurufen.

 

4.

Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung

ist dahin auszulegen, dass

die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Strafe erlassenen Europäischen Haftbefehls nicht mit der Begründung ablehnen darf, dass das Protokoll der Vereidigung eines Richters, der diese Strafe verhängt hat, nicht auffindbar sei oder dass ein anderer Richter desselben Spruchkörpers lediglich bei seiner Ernennung zum Staatsanwalt einen Amtseid geleistet habe.

 

5.

Der Rahmenbeschluss 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung

ist dahin auszulegen, dass

die einen Europäischen Haftbefehl ausstellende Justizbehörde nicht berechtigt ist, als Partei an dem Verfahren zur Vollstreckung dieses Haftbefehls vor der vollstreckenden Justizbehörde teilzunehmen.

 

6.

Art. 1 Abs. 3 und Art. 15 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung sind im Licht von Art. 4 der Charta der Grundrechte und des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens

dahin auszulegen, dass

die vollstreckende Justizbehörde die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls bei der Prüfung der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat nicht auf Gesichtspunkte, die die Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats betreffen, stützen darf, die sie selbst ermittelt hat und zu denen sie keine zusätzlichen Informationen bei der ausstellenden Justizbehörde angefordert hat. Die vollstreckende Justizbehörde darf im Bereich der Haftbedingungen keinen höheren Standard anwenden als denjenigen, den Art. 4 der Charta garantiert.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Rumänisch.

( i ) Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.