Rechtssache C‑202/24
MA
(Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court [Irland])
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 29. Juli 2024
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Abkommen über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits – Übergabe einer Person an das Vereinigte Königreich zur Strafverfolgung – Zuständigkeit der vollstreckenden Justizbehörde – Gefahr der Verletzung eines Grundrechts – Art. 49 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen – Für den Betroffenen nachteilige Änderung der für die vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen geltenden Regelung“
Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Abkommen über Handel und Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich – Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, an die ausstellenden Justizbehörden – Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze zu achten – Ablehnung der Vollstreckung eines Haftbefehls bei Gefahr der Verletzung eines Grundrechts – Voraussetzungen – Nichtanwendbarkeit der Charta der Grundrechte auf das Vereinigte Königreich – Keine Auswirkung
(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 51 Abs. 1; Abkommen über Handel und Zusammenarbeit EU und EAG – Vereinigtes Königreich, Art. 524 Abs. 2 und Art. 600 bis 604)
(vgl. Rn. 46, 49, 51)
Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Abkommen über Handel und Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich – Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, an die ausstellenden Justizbehörden – Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze zu achten – Ablehnung der Vollstreckung eines Haftbefehls bei Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta der Grundrechte – Voraussetzungen – Rückwirkende Änderung des Umfangs der verwirkten Strafe – Konkrete Gefahr einer schwereren Strafe als die ursprünglich verwirkte Strafe – Objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben, die eine solche Gefahr belegen
(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 49 Abs. 1; Abkommen über Handel und Zusammenarbeit EU und EAG – Vereinigtes Königreich, Art. 3 Abs. 1, Art. 524 Abs. 1 und 2, Art. 602 Abs. 2, Art. 603 Abs. 2, Art. 604 Buchst. c und Art. 613 Abs. 2; Rahmenbeschluss 2002/584 des Rates)
(vgl. Rn. 70-82, 84-91, 97, 98 und Tenor)
Grundrechte – Charta der Grundrechte – Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen – Verankerung sowohl in der Charta der Grundrechte als auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention – Gleiche Bedeutung und Tragweite – Von der Charta gewährleistetes Schutzniveau, das das durch die Menschenrechtskonvention garantierte Schutzniveau nicht verletzt
(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 49 Abs. 1)
(vgl. Rn. 92)
Zusammenfassung
Der mit einem Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court (Oberstes Gericht, Irland) befasste Gerichtshof (Große Kammer) erläutert, welche Pflichten die vollstreckende Justizbehörde hat, wenn eine Person, gegen die auf der Grundlage des mit dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland geschlossenen Abkommens über Handel und Zusammenarbeit (im Folgenden: AHZ) ( 1 ) ein Haftbefehl ergangen ist, geltend macht, dass bei einer Übergabe an das Vereinigte Königreich die Gefahr einer Grundrechtsverletzung bestehe.
Der Bezirksrichter der Magistrates’ Courts of Northern Ireland (erstinstanzliches Gericht für Strafsachen, Nordirland, Vereinigtes Königreich) erließ vier Haftbefehle gegen MA wegen terroristischer Straftaten, die im Juli 2020 begangen worden sein sollen und von denen einige mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind.
Im Herbst 2022 ordnete der High Court (Hohes Gericht, Irland) an, MA an das Vereinigte Königreich zu übergeben. MA legte dagegen Rechtsbeschwerde beim vorlegenden Gericht ein. Er macht geltend, dass seine Übergabe an das Vereinigte Königreich mit dem insbesondere in Art. 7 EMRK ( 2 ) verankerten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen unvereinbar sei.
Nach den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts würde sich, wenn MA an das Vereinigte Königreich übergeben und verurteilt würde, eine etwaige vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen nach Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs richten, die nach der mutmaßlichen Begehung der fraglichen Straftaten erlassen worden seien. Bei einer Person, die wegen der Straftaten, der MA verdächtigt werde, verurteilt worden sei, bedürfe die Haftentlassung unter Auflagen nunmehr der Genehmigung durch eine spezielle Behörde und sei erst möglich, nachdem die betreffende Person zwei Drittel ihrer Strafe verbüßt habe. Dies sei unter der alten Regelung anders gewesen, weil diese eine automatische Entlassung unter Auflagen schon nach Verbüßung der Hälfte der Strafe vorgesehen habe.
In diesem Zusammenhang hat das vorlegende Gericht das Vorbringen von MA, wonach die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 7 EMRK bestehe, unter Hinweis insbesondere darauf zurückgewiesen, dass im Justizsystem des Vereinigten Königreichs Garantien in Bezug auf die Anwendung der EMRK bestünden, dass MA keine systemischen Mängel dargetan habe, die vermuten ließen, dass es im Fall seiner Übergabe zu einem wahrscheinlichen und eklatanten Verstoß gegen die durch die EMRK garantierten Rechte käme, und dass ihm die Möglichkeit offenstehe, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen.
Das vorlegende Gericht hält jedoch für klärungsbedürftig, ob dies entsprechend auch für die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta ( 3 ) angenommen werden könne, wonach u. a. keine schwerere Strafe als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden dürfe. Außerdem sei fraglich, ob der Vollstreckungsstaat für die Entscheidung über das Vorbringen einer Unvereinbarkeit von Art. 49 Abs. 1 der Charta mit Bestimmungen über Strafen, die im Ausstellungsstaat verhängt werden könnten, zuständig sei, und zwar unter Berücksichtigung dessen, dass der Ausstellungsstaat nicht zur Einhaltung der Charta verpflichtet sei und der Gerichtshof hohe Anforderungen an die Berücksichtigung der Gefahr eines Verstoßes gegen Grundrechte im Ausstellungsmitgliedstaat gestellt habe.
Würdigung durch den Gerichtshof
Als Erstes stellt der Gerichtshof, nachdem er die Anwendbarkeit des Rahmenbeschlusses 2002/584 ( 4 ) auf die Vollstreckung der im Ausgangsverfahren fraglichen Haftbefehle verneint hat, fest, dass sich aus dem Aufbau von Teil Drei Titel VII des AHZ, der die Zusammenarbeit in Strafsachen betrifft, und insbesondere aus dem Zweck der Art. 600 bis 604 AHZ ( 5 ) ergibt, dass ein Mitgliedstaat die Vollstreckung eines Haftbefehls, der vom Vereinigten Königreich ausgestellt wurde, nur aus Gründen ablehnen kann, die sich aus dem AHZ ergeben.
In diesem Kontext unterliegen die Mitgliedstaaten, worauf in Art. 524 Abs. 2 AHZ hingewiesen wird, der Verpflichtung zur Einhaltung der Charta, weil die Entscheidung über eine Übergabe eine Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellt. Die vollstreckenden Justizbehörden der Mitgliedstaaten müssen daher dafür Sorge tragen, dass die Grundrechte, die u. a. Art. 49 Abs. 1 der Charta einer Person gewährt, gegen die sich ein auf der Grundlage des AHZ erlassener Haftbefehl richtet, gewahrt werden; dabei ist es unerheblich, dass die Charta für das Vereinigte Königreich nicht gilt.
Als Zweites weist der Gerichtshof darauf hin, dass das Erfordernis einer Prüfung in zwei Schritten, das sich aus der Rechtsprechung zum Rahmenbeschluss 2002/584 ( 6 ) ergibt, nicht auf das AHZ übertragen werden kann. Das durch diesen Rahmenbeschluss eingeführte vereinfachte und wirksame System beruht nämlich auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, das in besonderer Weise die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten kennzeichnet und aus dem sich die Unterstellung ergibt, dass der Ausstellungsmitgliedstaat die Grundrechte beachtet. Zwar ist nicht auszuschließen, dass eine internationale Übereinkunft ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und bestimmten Drittstaaten wie z. B. bestimmten Mitgliedstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums schaffen kann. Diese Erwägung lässt sich jedoch nicht auf alle Drittstaaten und insbesondere nicht auf das Vereinigte Königreich übertragen.
Zunächst schafft das AHZ keine privilegierten Beziehungen zwischen der Union und dem Vereinigten Königreich, die dieses hohe Maß an Vertrauen rechtfertigen könnten. Vor allem ist das Vereinigte Königreich nicht Teil des europäischen Raums ohne Binnengrenzen, dessen Aufbau u. a. durch den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ermöglicht wird. Sodann ergibt sich zwar aus dem AHZ, dass die Zusammenarbeit zwischen dem Vereinigten Königreich und den Mitgliedstaaten auf der langjährigen Achtung des Schutzes der Grundrechte und ‑freiheiten des Einzelnen beruht ( 7 ), doch wird diese Zusammenarbeit nicht so dargestellt, als beruhe sie auf dem Erhalt des gegenseitigen Vertrauens zwischen den betreffenden Staaten, das vor dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union am 31. Januar 2020 bestand. Schließlich bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den Bestimmungen des AHZ über den Übergabemechanismus und den entsprechenden Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584.
Als Drittes erläutert der Gerichtshof vor diesem Hintergrund, welche Prüfung eine vollstreckende Justizbehörde durchführen muss, wenn die betroffene Person geltend macht, dass bei einer Übergabe an das Vereinigte Königreich die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta bestehe. Die Pflicht zur Achtung der Grundrechte erfordert, dass die vollstreckende Justizbehörde nach einer angemessenen Prüfung konkret bestimmt, ob stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass diese Person einer echten Gefahr eines solchen Verstoßes ausgesetzt ist. Zu diesem Zweck muss die vollstreckende Justizbehörde alle relevanten Faktoren prüfen, um beurteilen zu können, in welcher Situation sich die gesuchte Person bei einer Übergabe an das Vereinigte Königreich voraussichtlich befinden wird. Dies setzt im Gegensatz zu der zweistufigen Prüfung voraus, dass zugleich sowohl die in diesem Land allgemein geltenden Rechtsvorschriften und Praktiken als auch die Besonderheiten der individuellen Situation der gesuchten Person berücksichtigt werden. Die vollstreckende Justizbehörde darf es nur dann ablehnen, einem auf der Grundlage des AHZ ausgestellten Haftbefehl Folge zu leisten, wenn sie sich im Hinblick auf die individuelle Situation der gesuchten Person auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben stützen kann, nach denen stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass eine echte Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta besteht.
Ferner muss die vollstreckende Justizbehörde, bevor sie die Vollstreckung eines Haftbefehls verweigern kann, gemäß ihrer in Art. 3 Abs. 1 AHZ geregelten Verpflichtung zur gegenseitigen Unterstützung nach Treu und Glauben zuvor von der ausstellenden Justizbehörde Informationen zu den Rechtsvorschriften des Ausstellungsstaats sowie der Art und Weise, in der diese auf die individuelle Situation der gesuchten Person Anwendung finden können, anfordern und gegebenenfalls um zusätzliche Garantien ersuchen, um die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta zu verneinen.
Schließlich führt der Gerichtshof zur Tragweite von Art. 49 Abs. 1 der Charta aus, dass eine sich auf die Vollstreckung einer Strafe beziehende Maßnahme nur dann mit dieser Bestimmung unvereinbar ist, wenn sie rückwirkend den Umfang der Strafe ändert, die zum Zeitpunkt der Begehung der in Rede stehenden Straftat verwirkt wurde, und somit eine schwerere Strafe verhängt wird als sie zunächst verwirkt wurde. Das ist nicht der Fall, wenn diese Maßnahme lediglich die zeitliche Schwelle für die Zulässigkeit einer vorzeitigen Haftentlassung unter Auflagen anhebt. Die Situation mag sich jedoch insbesondere dann anders darstellen, wenn diese Maßnahme die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung unter Auflagen im Wesentlichen aufhebt oder wenn sie Teil einer Reihe von Maßnahmen ist, die dazu führen, dass die ursprünglich verwirkte Strafe ihrer Art nach schwerer wird.
( 1 ) Abkommen über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits (ABl. 2021, L 149, S. 10).
( 2 ) Am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK).
( 3 ) Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta)
( 4 ) Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1).
( 5 ) In diesen Artikeln ist u. a. geregelt, in welchen Fällen die Vollstreckung eines auf Grundlage des AHZ erlassenen Haftbefehls abgelehnt wird, und welche Garantien der Ausstellungsstaat in bestimmten Fällen zu gewähren hat.
( 6 ) Bei der Vollstreckung eines europäischen Haftbefehls muss die vollstreckende Justizbehörde in einem ersten Schritt ermitteln, ob es Angaben gibt, die nahelegen, dass im Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel oder aufgrund von Mängeln, die speziell eine objektiv identifizierbare Personengruppe betreffen, eine echte Gefahr der Verletzung eines einschlägigen Grundrechts besteht. In einem zweiten Schritt muss sie konkret und genau untersuchen, inwieweit sich die Mängel, die im ersten Schritt der Prüfung festgestellt wurden, auf die Person auswirken können, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, und ob es in Anbetracht ihrer persönlichen Situation ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person im Fall ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer echten Gefahr der Verletzung eines einschlägigen Grundrechts ausgesetzt wäre.
( 7 ) Art. 524 Abs. 1 AHZ.