URTEIL DES GERICHTS (Achte Kammer)
17. April 2024 ( *1 )
„Unionsmarke – Widerspruchsverfahren – Anmeldung der Unionsbildmarke in Insajderi – Ältere nationale Wortmarke INSAJDERI und ältere nationale Bildmarke in Insajderi Gazetë online – Relatives Eintragungshindernis – Art. 8 Abs. 3 der Verordnung (EU) 2017/1001 – Umfang der von der Beschwerdekammer vorzunehmenden Prüfung – Art. 27 Abs. 2 der Delegierten Verordnung (EU) 2018/625 – Nichtvorlage von Beweisen – Übersetzung – Art. 7 der Delegierten Verordnung 2018/625 – Anspruch auf rechtliches Gehör – Art. 41 der Charta der Grundrechte – Art. 94 Abs. 1 der Verordnung 2017/1001 – Möglichkeit für die Beschwerdekammer, Beweismittel zu berücksichtigen, die erstmals ihr vorgelegt werden – Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 – Art. 95 Abs. 2 der Verordnung 2017/1001“
In der Rechtssache T‑119/23,
Insider LLC mit Sitz in Pristina (Republik Kosovo), vertreten durch Rechtsanwalt M. Ketler,
Klägerin,
gegen
Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO), vertreten durch D. Gája als Bevollmächtigten,
Beklagter,
anderer Beteiligter im Verfahren vor der Beschwerdekammer des EUIPO:
Florim Alaj, wohnhaft in Zug (Schweiz),
erlässt
DAS GERICHT (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten A. Kornezov sowie des Richters K. Kecsmár (Berichterstatter) und der Richterin S. Kingston,
Kanzler: V. Di Bucci,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
aufgrund des Umstands, dass keine der Parteien innerhalb von drei Wochen nach Bekanntgabe des Abschlusses des schriftlichen Verfahrens die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt hat, und der Entscheidung gemäß Art. 106 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichts, ohne mündliches Verfahren zu entscheiden,
folgendes
Urteil
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Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV begehrt die Klägerin, die Insider LLC, die Aufhebung der Entscheidung der Fünften Beschwerdekammer des Amtes der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) vom 5. Dezember 2022 (Sache R 1152/2022-5) (im Folgenden: angefochtene Entscheidung). |
Vorgeschichte des Rechtsstreits
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Am 16. Juni 2020 meldete der andere Beteiligte im Verfahren vor der Beschwerdekammer, Herr Florim Alaj, beim EUIPO das folgende Bildzeichen als Unionsmarke an: |
3 |
Die Marke wurde für die Dienstleistungen „Bereitstellen von Informationen, Nachrichten und Kommentaren im Bereich aktuelle Ereignisse in Bezug auf Bildung, Unterhaltung und Sport über das Internet“ der Klasse 41 im Sinne des Abkommens von Nizza über die internationale Klassifikation von Waren und Dienstleistungen für die Eintragung von Marken vom 15. Juni 1957 in revidierter und geänderter Fassung angemeldet. |
4 |
Die Klägerin erhob Widerspruch gegen die Eintragung der angemeldeten Marke für die vorstehend in Rn. 3 genannten Dienstleistungen. |
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Der Widerspruch wurde auf die folgenden zwei älteren, im Kosovo eingetragenen Marken gestützt, die am 5. Mai 2020 für Dienstleistungen der Klassen 35, 38 und 41 angemeldet worden waren:
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Als Widerspruchsgrund wurde das Eintragungshindernis nach Art. 8 Abs. 3 der Verordnung (EU) 2017/1001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über die Unionsmarke (ABl. 2017, L 154, S. 1) geltend gemacht. |
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Am 10. Mai 2022 gab die Widerspruchsabteilung dem Widerspruch statt und lehnte die Eintragung der angemeldeten Marke für die oben in Rn. 3 genannten Dienstleistungen ab. |
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Am 30. Juni 2022 legte der andere Beteiligte im Verfahren vor der Beschwerdekammer beim EUIPO Beschwerde gegen die Entscheidung der Widerspruchsabteilung ein. |
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Mit der angefochtenen Entscheidung gab die Beschwerdekammer der Beschwerde statt, hob die Entscheidung der Widerspruchsabteilung auf und wies den Widerspruch gemäß Art. 7 Abs. 2 und Art. 8 Abs. 1 der Delegierten Verordnung (EU) 2018/625 der Kommission vom 5. März 2018 zur Ergänzung der Verordnung 2017/1001 und zur Aufhebung der Delegierten Verordnung (EU) 2017/1430 (ABl. 2018, L 104, S. 1) in vollem Umfang zurück. Sie begründete dies damit, dass die Klägerin bis zum Ablauf der Frist, die für die Beibringung von Tatsachen, Beweismitteln und Bemerkungen zur Stützung des Widerspruchs gesetzt worden sei, nicht nachgewiesen habe, dass die beanspruchten älteren Marken existierten und dass sie deren Inhaberin sei. Die Beschwerdekammer befand u. a., dass es sich bei den beglaubigten Übersetzungen der Eintragungsurkunden für die älteren Marken, die die Klägerin zum Beweis der Existenz dieser Marken und ihrer Inhaberschaft bezüglich der Marken vorgelegt habe (im Folgenden: Übersetzungen), um nicht amtliche Übersetzungen handle, in denen der Originaltext nicht sichtbar sei, so dass es unmöglich sei, zu überprüfen, ob die jeweilige Originalurkunde grundlegende Angaben enthalte. |
Anträge der Parteien
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Die Klägerin beantragt,
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Das EUIPO beantragt,
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Rechtliche Würdigung
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Die Klägerin stützt ihre Klage im Wesentlichen auf drei Klagegründe, nämlich erstens einen Verstoß gegen Art. 27 Abs. 2 der Delegierten Verordnung 2018/625, zweitens einen Verstoß gegen Art. 7 dieser Delegierten Verordnung sowie gegen die Art. 24 bis 26 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/626 der Kommission vom 5. März 2018 mit Einzelheiten zur Umsetzung von Bestimmungen der Verordnung 2017/1001 und zur Aufhebung der Durchführungsverordnung (EU) 2017/1431 (ABl. 2018, L 104, S. 37) und drittens einen Verstoß gegen Art. 41 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) in Verbindung mit Art. 94 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung 2017/1001. |
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Zunächst ist der erste, dann der dritte und schließlich gegebenenfalls der zweite Klagegrund zu prüfen. |
Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 27 Abs. 2 der Delegierten Verordnung 2018/625
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Die Klägerin macht geltend, der andere Beteiligte im Verfahren habe die Existenz der älteren Marken vor der Beschwerdekammer nicht bestritten. Daher habe die Beschwerdekammer dadurch, dass sie diesen Punkt und die Authentizität der Übersetzungen aus eigener Initiative geprüft habe, gegen Art. 27 Abs. 2 der Delegierten Verordnung 2018/625 verstoßen. Die Beschwerdekammer habe in diesem Zusammenhang weder erläutert, weshalb diese Prüfung im Sinne von Art. 27 Abs. 2 der Delegierten Verordnung 2018/625 nötig sei, um eine fehlerfreie Anwendung der Verordnung 2017/1001 zu gewährleisten, noch, inwiefern sie im Sinne dieser Bestimmung grundlegende Verfahrenserfordernisse betreffe. Schließlich sei die Frage der Authentizität der Übersetzungen eine Tatsachenfrage und kein Rechtsgrund, so dass der genannte Artikel insoweit nicht anwendbar sei. |
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Das EUIPO tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen. |
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Vorab ist daran zu erinnern, dass zwischen den verschiedenen Stellen des EUIPO einerseits und den Beschwerdekammern andererseits eine funktionale Kontinuität besteht. Die von den Beschwerdekammern ausgeübte Kontrolle ist nicht auf eine Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Entscheidung, die Gegenstand der Beschwerde vor ihnen ist, beschränkt, sondern bringt wegen des Devolutiveffekts des Beschwerdeverfahrens eine neue Beurteilung des Rechtsstreits in seiner Gesamtheit mit sich, bei der die Beschwerdekammern das ursprüngliche Begehren des Beschwerdeführers insgesamt zu überprüfen und rechtzeitig vorgebrachte Beweismittel zu berücksichtigen haben. So folgt aus Art. 71 Abs. 1 der Verordnung 2017/1001, dass die Beschwerdekammer durch die Wirkung der bei ihr anhängig gemachten Beschwerde damit betraut wird, eine vollständige neue Prüfung der Begründetheit des Widerspruchs sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht vorzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Dezember 2017, Coca-Cola/EUIPO – Mitico [Master], T‑61/16, EU:T:2017:877, Rn. 115 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
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Wie sich aus Art. 7 Abs. 2 der Delegierten Verordnung 2018/625 ergibt, muss der Widersprechende innerhalb der Frist, die für die Beibringung von Tatsachen, Beweismitteln und Bemerkungen zur Stützung des Widerspruchs gesetzt wird, Beweise für die Existenz, die Gültigkeit und den Schutzumfang seiner älteren Marke oder seines älteren Rechts in Form von u. a. Anmeldebescheinigungen, Eintragungsurkunden oder Verlängerungsurkunden einreichen und den Nachweis erbringen, dass er zur Einlegung des Widerspruchs befugt ist. Insbesondere muss der Widersprechende, wenn der Widerspruch auf Art. 8 Abs. 3 der Verordnung 2017/1001 gestützt wird, seine Inhaberschaft bezüglich der älteren Marke und seine Beziehung zu dem Agenten oder Vertreter nachweisen. Außerdem geht aus Art. 7 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 hervor, dass die Anmelde‑, Eintragungs- und Erneuerungsbescheinigungen in der Verfahrenssprache vorzulegen sind oder eine Übersetzung in dieser Sprache beizufügen ist. |
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Diese Erwägungen bilden den Maßstab für die Prüfung, ob die Beschwerdekammer zum einen von Amts wegen die Nichtvorlage der Originalurkunden über die Eintragung der älteren Marken aufgreifen und die Existenz, die Gültigkeit und den Schutzumfang der älteren Marken sowie die Inhaberschaft der Klägerin bezüglich dieser Marken prüfen durfte und ob sie zum anderen von Amts wegen die Authentizität der Übersetzungen überprüfen durfte. |
19 |
Insoweit ergibt sich aus Art. 27 Abs. 2 Satz 2 der Delegierten Verordnung 2018/625, dass Rechtsgründe, die nicht von den Beteiligten erhoben wurden, von der Beschwerdekammer geprüft werden können, wenn eine Klärung nötig ist, um eine fehlerfreie Anwendung der Verordnung 2017/1001 im Hinblick auf von den Beteiligten unterbreitete Tatsachen, Beweismittel und Bemerkungen zu gewährleisten, oder wenn sie grundlegende Verfahrenserfordernisse betreffen. |
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Aus Art. 7 der Delegierten Verordnung 2018/625 geht hervor, dass die Erhärtung eines Widerspruchs durch den Beweis der Existenz, der Gültigkeit und des Schutzumfangs der älteren Marken, auf die sich der Widerspruch stützt, sowie die Befugnis des Widersprechenden zur Einlegung des Widerspruchs gemäß Art. 8 der Verordnung 2017/1001 unerlässliche Voraussetzungen für den Erfolg des Widerspruchs sind. |
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Daher hat die Beschwerdekammer die Frage des Nachweises der älteren Marke gemäß Art. 7 der Delegierten Verordnung 2018/625 zu Recht von Amts wegen geprüft, da der Beweis der Existenz, der Gültigkeit und des Schutzumfangs der älteren Marken, auf die sich der Widerspruch stützt, sowie der Inhaberschaft des Widersprechenden bezüglich dieser Marken notwendige Voraussetzung für die Anwendung des relativen Eintragungshindernisses nach Art. 8 Abs. 3 der Verordnung 2017/1001 ist. Daraus folgt, dass dieser Nachweis der älteren Rechte in den Anwendungsbereich von Art. 27 Abs. 2 Satz 2 der Delegierten Verordnung 2018/625 fällt. |
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Im Übrigen ist die Frage der Authentizität der Übersetzungen entgegen dem Vorbringen der Klägerin eine Rechtsfrage. Wie oben in Rn. 17 ausgeführt, ist nämlich die Erfüllung der Obliegenheit, den Widerspruch zu substantiieren und eine Übersetzung der zu diesem Zweck vorgelegten Beweismittel in der Verfahrenssprache vorzulegen, eine Frage, die die Beschwerdekammer gemäß Art. 7 der Delegierten Verordnung 2018/625 zu prüfen hat und die geeignet ist, sich auf ihre Beurteilung der bei ihr eingelegten Beschwerde auszuwirken. In Ermangelung einer Möglichkeit, sich zu vergewissern, dass die Übersetzungen mit den Originaldokumenten übereinstimmen, konnte sich außerdem der Markenanmelder möglicherweise nicht angemessen verteidigen (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 13. Dezember 2016, Guiral Broto/EUIPO – Gastro & Soul [CAFE DEL SOL], T‑549/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:719, Rn. 28). |
23 |
Die Beschwerdekammer war daher berechtigt, zum einen von Amts wegen die Nichtvorlage der Originalurkunden über die Eintragung der älteren Marken festzustellen und die Existenz, die Gültigkeit und den Schutzumfang der älteren Marken sowie die Inhaberschaft der Klägerin bezüglich dieser Marken zu prüfen und zum anderen von Amts wegen die Authentizität der Übersetzungen zu überprüfen. |
24 |
Infolgedessen ist der erste Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen. |
Zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 41 Abs. 1 der Charta in Verbindung mit Art. 94 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung 2017/1001
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Die Klägerin macht im Wesentlichen geltend, die Beschwerdekammer habe durch die Vorenthaltung des Rechts auf rechtliches Gehör ihr gegenüber gegen Art. 41 Abs. 1 der Charta verstoßen, indem sie, ohne die Klägerin zuvor zur Stellungnahme aufgefordert zu haben, von Amts wegen festgestellt habe, dass zum einen die Originalurkunden über die Eintragung der in Rede stehenden Marken nicht vorgelegt worden seien und dass es zum anderen Bedenken hinsichtlich der Authentizität der Übersetzungen dieser Dokumente gebe. |
26 |
Das EUIPO tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen und macht zunächst geltend, die Klägerin habe im Verwaltungsverfahren keine Originalurkunde über die Eintragung der älteren Marken vorgelegt, obwohl sie am 8. März 2021 eine Mitteilung erhalten habe, in der das EUIPO auf ihre Obliegenheit hingewiesen habe, die älteren Rechte innerhalb der gesetzten Frist zu substantiieren. Die Beschwerdekammer sei nicht verpflichtet gewesen, sich allein auf die Übersetzungen zu stützen, und habe allein auf dieser Grundlage nicht prüfen können, ob die Originalurkunde grundlegende Angaben wie den Anmeldetag, den Inhaber oder das Verzeichnis der Dienstleistungen enthalte. Außerdem habe die Beschwerdekammer den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör nicht verletzt, weil der Klägerin die Obliegenheit, Beweise für die Existenz, die Gültigkeit und den Schutzumfang der älteren Marken einzureichen und den Nachweis ihrer Befugnis zur Einlegung des Widerspruchs zu erbringen, aufgrund Art. 7 Abs. 2 der Delegierten Verordnung 2018/625 bekannt gewesen sei. Schließlich sei die Beschwerdekammer nach Art. 8 Abs. 1 und 9 der Delegierten Verordnung 2018/625 nicht verpflichtet gewesen, die Klägerin über die Unvollkommenheit der von ihr zur Stützung des Widerspruchs eingereichten Beweismittel zu informieren. |
27 |
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 94 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung 2017/1001 die Entscheidungen des EUIPO nur auf Gründe gestützt werden dürfen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Diese Bestimmung stellt einen besonderen Anwendungsfall des auch in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta niedergelegten allgemeinen Grundsatzes des Schutzes der Verteidigungsrechte dar, wonach Personen, deren Interessen durch eine amtliche Entscheidung berührt werden, Gelegenheit erhalten müssen, ihren Standpunkt gebührend darzulegen (Urteil vom 8. Juni 2022, Apple/EUIPO – Swatch [THINK DIFFERENT], T‑26/21 bis T‑28/21, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:350, Rn. 40). |
28 |
Alle Handlungen der Union müssen die Grundrechte, wie sie in der Charta anerkannt sind, achten, was eine Voraussetzung für ihre Rechtmäßigkeit ist, deren Kontrolle den Unionsgerichten im Rahmen des mit dem AEU-Vertrag errichteten umfassenden Systems von Rechtsbehelfen obliegt, und die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union sind verpflichtet, die Charta zu beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, C‑402/05 P und C‑415/05 P, EU:C:2008:461, Rn. 283 bis 285, und Gutachten 2/13 [Beitritt der Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 169 und 171). |
29 |
Das in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta vorgesehene Recht, in jedem Verfahren gehört zu werden, ist integrierender Bestandteil der Wahrung der Verteidigungsrechte und garantiert jeder Person, dass sie die Möglichkeit hat, in einem Verwaltungsverfahren in sachdienlicher und wirksamer Weise ihren Standpunkt vorzutragen, bevor ihr gegenüber eine für ihre Interessen möglicherweise nachteilige Entscheidung ergeht (vgl. Urteil vom 27. Juli 2022, RT France/Rat, T‑125/22, EU:T:2022:483, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
30 |
Der Anspruch auf rechtliches Gehör erstreckt sich auf alle tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkte, die die Grundlage der Entscheidungsfindung bilden, nicht aber auf den endgültigen Standpunkt, den die Verwaltung einnehmen will (vgl. Urteil vom 7. Februar 2007, Kustom Musical Amplification/HABM [Form einer Gitarre], T‑317/05, EU:T:2007:39, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
31 |
Dem EUIPO obliegt es, die Beteiligten eines bei seinen Stellen anhängigen Verfahrens in die Lage zu versetzen, ihren Standpunkt zu allen Gesichtspunkten geltend zu machen, die die Grundlage der Entscheidungen dieser Stellen bilden (vgl. Urteil vom 20. März 2019, Prim/EUIPO – Primed Halberstadt Medizintechnik [PRIMED], T‑138/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:174, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
32 |
Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass die Beschwerdekammer den Widerspruch in Anwendung von Art. 7 Abs. 2 und Art. 8 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2018/625 zurückgewiesen hat, ohne dass die Klägerin zu dem für diese Entscheidung ausschlaggebenden Grund hätte Stellung nehmen können. Die Beschwerdekammer selbst griff nämlich das Fehlen von Originalfassungen der Eintragungsurkunden für die älteren Marken auf und äußerte Bedenken hinsichtlich der Authentizität der Übersetzungen. Daraus und allein auf dieser Grundlage schloss sie, wie oben in Rn. 9 dargelegt, dass die Klägerin nicht nachgewiesen habe, dass die älteren Marken existierten und dass sie deren Inhaberin sei, so dass der Widerspruch zurückzuweisen sei. Wie die Klägerin mit ihrem dritten Klagegrund geltend macht, liegt in dem Umstand, dass die Beschwerdekammer diese Frage von Amts wegen prüfte, ohne die Klägerin zu diesem Punkt angehört zu haben, ein Verfahrensfehler (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2016, CAFE DEL SOL, T‑549/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:719, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
33 |
Eine Verletzung der Verteidigungsrechte kann jedoch nur festgestellt werden, sofern sich die fehlende Berücksichtigung des Standpunkts eines Beteiligten auf dessen Möglichkeit, sich zu verteidigen, konkret ausgewirkt hat. Von der Klägerin darf jedoch nicht der Nachweis verlangt werden, dass die angefochtene Entscheidung ohne die festgestellte Verletzung inhaltlich anders ausgefallen wäre, sondern lediglich, dass dies nicht völlig ausgeschlossen ist, wenn sich die Klägerin ohne den Verfahrensfehler besser hätte verteidigen können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. Oktober 2009, Foshan Shunde Yongjian Housewares & Hardware/Rat, C‑141/08 P, EU:C:2009:598, Rn. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 20. März 2019, PRIMED, T‑138/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:174, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
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Daher ist zu prüfen, ob nicht völlig ausgeschlossen ist, dass das Verfahren ohne den oben in Rn. 32 genannten Verfahrensfehler anders ausgegangen wäre. |
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Dies ist hier der Fall. Hätte die Beschwerdekammer der Klägerin nämlich Gelegenheit gegeben, ihren Standpunkt zu der Frage des Fehlens der Originalfassungen der Eintragungsurkunden für die älteren Marken gebührend darzulegen, hätte die Klägerin Gelegenheit gehabt, diese vorzulegen und es der Beschwerdekammer damit zu ermöglichen, sie zu prüfen und sich von der Authentizität der Übersetzungen zu überzeugen. |
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Folglich erging die angefochtene Entscheidung unter Verletzung des durch Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta verbürgten Anspruchs auf rechtliches Gehör. |
37 |
Dieses Ergebnis wird durch das Vorbringen des EUIPO nicht in Frage gestellt. Erstens ist nämlich bezüglich des Vorbringens des EUIPO, dass die Vorlage der besagten Originalurkunden in diesem Stadium verspätet erfolgt wäre, auf Art. 95 der Verordnung 2017/1001 zu verweisen, wonach das EUIPO Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten verspätet vorgebracht werden, nicht zu berücksichtigen braucht. |
38 |
Wie der Gerichtshof entschieden hat, folgt aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, dass die Beteiligten im Regelfall und vorbehaltlich einer gegenteiligen Vorschrift Tatsachen und Beweismittel auch dann noch vorbringen können, wenn die dafür nach den Bestimmungen der Verordnung 2017/1001 geltenden Fristen abgelaufen sind, und dass es dem EUIPO keineswegs untersagt ist, solche verspätet vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen (vgl. Urteil vom 20. März 2019, PRIMED, T‑138/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:174, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
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Denn mit der Klarstellung, dass das EUIPO solche Beweismittel nicht zu berücksichtigen „braucht“, räumt Art. 95 Abs. 2 der Verordnung 2017/1001 dem EUIPO ein weites Ermessen ein, um unter entsprechender Begründung seiner Entscheidung darüber zu befinden, ob sie zu berücksichtigen sind oder nicht (vgl. Urteil vom 20. März 2019, PRIMED, T‑138/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:174, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
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Aus der Rechtsprechung ergibt sich ferner, dass keine grundsätzliche Erwägung im Zusammenhang mit dem Wesen des vor der Beschwerdekammer durchgeführten Verfahrens oder im Hinblick auf die Zuständigkeit dieser Instanz ausschließt, dass die Beschwerdekammer für ihre Entscheidung über die bei ihr anhängige Beschwerde Tatsachen oder Beweismittel berücksichtigt, die erstmals vor ihr vorgebracht worden sind (vgl. Urteil vom 20. März 2019, PRIMED, T‑138/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:174, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
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Darüber hinaus darf die Beschwerdekammer nach Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 Beweismittel, die erstmals ihr vorgelegt werden, nur dann berücksichtigen, wenn sie zwei Voraussetzungen genügen: Zum einen müssen sie „auf den ersten Blick für den Ausgang des Falls von Relevanz [erscheinen]“, und zum anderen müssen sie „aus berechtigten Gründen nicht fristgemäß vorgelegt [worden sein], insbesondere wenn sie bereits fristgemäß vorgelegte einschlägige Tatsachen und Beweismittel lediglich ergänzen oder wenn sie der Anfechtung von Feststellungen dienen, die von der ersten Instanz von Amts wegen in der Entscheidung, gegen die sich die Beschwerde richtet, ermittelt oder untersucht wurden“. |
42 |
Da im vorliegenden Fall die Beschwerdekammer die Authentizität der Übersetzungen in Frage stellte und befand, dass die Klägerin dadurch, dass sie die Originalfassungen der Eintragungsurkunden für die dem Widerspruch zugrunde liegenden älteren Marken nicht vorgelegt habe, den Anforderungen von Art. 7 Abs. 2 und Art. 8 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2018/625 an den Nachweis der Existenz der Marken und der Inhaberschaft der Klägerin bezüglich dieser Marken nicht nachgekommen sei, mit der Folge dass ihr Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen wurde, kann, wie oben in Rn. 35 festgestellt, nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin, wenn sie zu diesem Punkt gehört worden wäre, die Originalfassungen dieser Urkunden hätte vorlegen können, dass die Beschwerdekammer sie gemäß Art. 27 Abs. 4 der Delegierten Verordnung 2018/625 hätte zulassen können und dass das Widerspruchsverfahren in der Folge anders ausgegangen wäre. |
43 |
Zweitens kann entgegen dem Vorbringen des EUIPO seine Mitteilung an die Klägerin vom 8. März 2021 nicht als Aufforderung an die Klägerin angesehen werden, zum Fehlen von Originalfassungen der Eintragungsurkunden für die älteren Marken oder zur Authentizität der Übersetzungen Stellung zu nehmen. Es handelt sich hier nämlich um eine standardisierte Mitteilung, in der die Fragen betreffend die Existenz, die Gültigkeit und den Schutzumfang der älteren Marken sowie die Inhaberschaft bezüglich dieser Marken, die die Beschwerdekammer auf der Grundlage von Art. 7 Abs. 2 und Art. 8 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2018/625 von Amts wegen aufzugreifen beabsichtigte, überhaupt nicht angesprochen werden. |
44 |
Außerdem ist der Umstand, dass die Klägerin im Stadium des Verfahrens vor der Widerspruchsabteilung über ihre Obliegenheit informiert wurde, die älteren Marken innerhalb der gesetzten Frist zu substantiieren, für die Beurteilung der Wahrung der Verteidigungsrechte im Stadium des Verfahrens vor der Beschwerdekammer unerheblich. Da nämlich die Zuständigkeit der Beschwerdekammern eine Überprüfung der von den Stellen des EUIPO erlassenen Entscheidungen mit sich bringt und die Beschwerdekammer im vorliegenden Fall das Fehlen eines Beweises für die Existenz, die Gültigkeit und den Schutzumfang der älteren Marken von sich aus aufwarf, kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese Information der Klägerin eine gebührende Darlegung ihres Standpunkts zu einer Zurückweisung ihres Widerspruchs wegen der Nichtvorlage der Originalfassungen der Eintragungsurkunden für die älteren Marken und wegen Bedenken hinsichtlich der Authentizität der Übersetzung dieser Urkunden vor der Beschwerdekammer ermöglicht hätte (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 13. Dezember 2016, CAFE DEL SOL, T‑549/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:719, Rn. 43). |
45 |
Drittens ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2018/625, dass der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen wird, wenn innerhalb der gesetzten Frist keine Beweismittel vorgelegt werden oder die vorgelegten Beweismittel offensichtlich unerheblich oder unzureichend sind, um die in Art. 7 Abs. 2 dieser Delegierten Verordnung genannten Erfordernisse für wenigstens eines der älteren Rechte zu erfüllen. Sind manche der Beweismittel fristgerecht vorgelegt worden oder sind sie nicht offensichtlich unerheblich oder unzureichend, verhält es sich hingegen nicht zwingend so. Im vorliegenden Fall steht aber fest, dass die Klägerin der Widerspruchsabteilung die Übersetzungen der Eintragungsurkunden für die älteren Marken innerhalb der gesetzten Frist vorgelegt hatte. Diese Beweismittel sind nicht offensichtlich unerheblich oder unzureichend, da die Beschwerdekammer in dem Fall, dass die Klägerin im Verfahren vor ihr gehört worden wäre und die Originale dieser Urkunden vorgelegt hätte, keinesfalls verpflichtet gewesen wäre, den Widerspruch auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2018/625 zurückzuweisen. Dieser Artikel stellt nämlich keine Regel dar, die die Beschwerdekammer daran hindert, von dem ihr durch Art. 95 Abs. 2 der Verordnung 2017/1001 eingeräumten Ermessen Gebrauch zu machen, da Art. 8 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2018/625 so auszulegen ist, dass er mit den höherrangigen Rechtsnormen der Verordnung 2017/1001 und von Art. 41 der Charta in Einklang steht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2016, CAFE DEL SOL, T‑549/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:719, Rn. 38). |
46 |
Viertens ist, soweit das EUIPO geltend macht, es könne nicht verpflichtet sein, einen Beteiligten ausdrücklich zur Vorlage von Beweismitteln aufzufordern, darauf hinzuweisen, dass es Sache der Beschwerdekammer war, sich zu vergewissern, dass – was vorliegend nicht der Fall war – den Erfordernissen von Art. 41 Abs. 2 der Charta und von Art. 94 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung 2017/1001 genügt war (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2019, PRIMED, T‑138/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:174, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
47 |
Nach alledem ist dem dritten Klagegrund stattzugeben und die angefochtene Entscheidung aufzuheben, ohne dass über den zweiten Klagegrund entschieden zu werden braucht. |
Kosten
48 |
Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. |
49 |
Da das EUIPO unterlegen ist, sind ihm gemäß dem Antrag der Klägerin die Kosten aufzuerlegen. |
Aus diesen Gründen hat DAS GERICHT (Achte Kammer) für Recht erkannt und entschieden: |
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Kornezov Kecsmár Kingston Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 17. April 2024. Unterschriften |
( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.