URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

1. August 2025 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Richtlinie 2009/147/EG – Erhaltung der wildlebenden Vogelarten – Art. 5 – Verbote zur Gewährleistung des Vogelschutzes – Art. 9 – Abweichungen – Art. 16 und 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Verbot des Holzschlags während der Brut- und Aufzuchtzeit von Vögeln“

In der Rechtssache C‑784/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Riigikohus (Oberstes Gericht, Estland) mit Entscheidung vom 19. Dezember 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Dezember 2023, in dem Verfahren

OÜ Voore Mets,

AS Lemeks Põlva

gegen

Keskkonnaamet

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter D. Gratsias, E. Regan, J. Passer (Berichterstatter) und B. Smulders,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Dezember 2024,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der OÜ Voore Mets, vertreten durch I. Veso, Vandeadvokaat,

der AS Lemeks Põlva, vertreten durch A. Hainsoo und M. Paloots,

der estnischen Regierung, vertreten durch M. Kriisa als Bevollmächtigte,

der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo und M. Pere als Bevollmächtigte,

der schwedischen Regierung, vertreten durch F.‑L. Göransson und C. Meyer-Seitz als Bevollmächtigte,

des Europäischen Parlaments, vertreten durch M. Allik und W. D. Kuzmienko als Bevollmächtigte,

des Rates der Europäischen Union, vertreten durch M. Alver und A. Maceroni als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Randvere und N. Ruiz García als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 6. Februar 2025

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Buchst. a, b und d sowie von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. 2010, L 20, S. 7, im Folgenden: Vogelschutzrichtlinie) sowie von Art. 16 und 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Es ergeht im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zwischen der OÜ Voore Mets bzw. der AS Lemeks Põlva auf der einen und dem Keskkonnaamet (Umweltamt, Estland) auf der anderen Seite, wegen Anordnungen, mit denen das Keskkonnaamet zum Schutz der Brut von Vögeln Holzfällungen untersagte.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Vogelschutzrichtlinie

3

In den Erwägungsgründen 3, 5, 7, 8 und 10 der Vogelschutzrichtlinie heißt es:

„(3)

Bei vielen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten wildlebenden Vogelarten ist ein Rückgang der Bestände festzustellen, der in bestimmten Fällen sehr rasch vonstattengeht. Dieser Rückgang bildet eine ernsthafte Gefahr für die Erhaltung der natürlichen Umwelt, da durch diese Entwicklung insbesondere das biologische Gleichgewicht bedroht wird.

(5)

Die Erhaltung der im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten wildlebenden Vogelarten ist für die Verwirklichung der [Europäischen] Gemeinschaftsziele auf den Gebieten der Verbesserung der Lebensbedingungen und der nachhaltigen Entwicklung erforderlich.

(7)

Bei der Erhaltung der Vogelarten geht es um den langfristigen Schutz und die Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen als Bestandteil des gemeinsamen Erbes der europäischen Völker. Sie gestattet die Regulierung dieser Ressourcen und regelt deren Nutzung auf der Grundlage von Maßnahmen, die für die Aufrechterhaltung und Anpassung des natürlichen Gleichgewichts der Arten innerhalb vertretbarer Grenzen erforderlich sind.

(8)

Schutz, Pflege oder Wiederherstellung einer ausreichenden Vielfalt und einer ausreichenden Flächengröße der Lebensräume ist für die Erhaltung aller Vogelarten unentbehrlich. Für einige Vogelarten sollten besondere Maßnahmen zur Erhaltung ihres Lebensraums getroffen werden, um Fortbestand und Fortpflanzung dieser Arten in ihrem Verbreitungsgebiet zu gewährleisten. Diese Maßnahmen sollten auch die Zugvogelarten berücksichtigen und im Hinblick auf die Schaffung eines zusammenhängenden Netzes koordiniert werden.

(10)

Einige Arten können aufgrund ihrer großen Bestände, ihrer geografischen Verbreitung und ihrer Vermehrungsfähigkeit in der gesamten Gemeinschaft Gegenstand einer jagdlichen Nutzung sein; dies stellt eine zulässige Nutzung dar, sofern bestimmte Grenzen gesetzt und eingehalten werden und diese Nutzung mit der Erhaltung der Bestände dieser Arten auf ausreichendem Niveau vereinbar ist.“

4

Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Diese Richtlinie betrifft die Erhaltung sämtlicher wildlebenden Vogelarten, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, auf welches der Vertrag Anwendung findet, heimisch sind. Sie hat den Schutz, die Bewirtschaftung und die Regulierung dieser Arten zum Ziel und regelt die Nutzung dieser Arten.“

5

Art. 2 dieser Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um die Bestände aller unter Artikel 1 fallenden Vogelarten auf einem Stand zu halten oder auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht, wobei den wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung getragen wird.“

6

Art. 5 dieser Richtlinie lautet:

„Unbeschadet der Artikel 7 und 9 erlassen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen zur Schaffung einer allgemeinen Regelung zum Schutz aller unter Art. 1 fallenden Vogelarten, insbesondere das Verbot

a)

des absichtlichen Tötens oder Fangens, ungeachtet der angewandten Methode;

b)

der absichtlichen Zerstörung oder Beschädigung von Nestern und Eiern und der Entfernung von Nestern;

c)

des Sammelns der Eier in der Natur und des Besitzes dieser Eier, auch in leerem Zustand;

d)

ihres absichtlichen Störens, insbesondere während der Brut- und Aufzuchtzeit, sofern sich diese Störung auf die Zielsetzung dieser Richtlinie erheblich auswirkt;

e)

des Haltens von Vögeln der Arten, die nicht bejagt oder gefangen werden dürfen.“

7

In Art. 9 Abs. 1 der Vogelschutzrichtlinie heißt es:

„Die Mitgliedstaaten können, sofern es keine andere zufriedenstellende Lösung gibt, aus den nachstehenden Gründen von den Artikeln 5 bis 8 abweichen:

a)

im Interesse der Gesundheit und der öffentlichen Sicherheit,

im Interesse der Sicherheit der Luftfahrt,

zur Abwendung erheblicher Schäden an Kulturen, Viehbeständen, Wäldern, Fischereigebieten und Gewässern,

zum Schutz der Pflanzen- und Tierwelt;

b)

zu Forschungs- und Unterrichtszwecken, zur Aufstockung der Bestände, zur Wiederansiedlung und zur Aufzucht im Zusammenhang mit diesen Maßnahmen;

c)

um unter streng überwachten Bedingungen selektiv den Fang, die Haltung oder jede andere vernünftige Nutzung bestimmter Vogelarten in geringen Mengen zu ermöglichen.“

Habitatrichtlinie

8

Art. 12 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. 1992, L 206, S. 7, im Folgenden: Habitatrichtlinie) sieht vor:

„(1)   Die Mitgliedstaaten treffen die notwendigen Maßnahmen, um ein strenges Schutzsystem für die in Anhang IV Buchstabe a) genannten Tierarten in deren natürlichen Verbreitungsgebieten einzuführen; dieses verbietet:

a)

alle absichtlichen Formen des Fangs oder der Tötung von aus der Natur entnommenen Exemplaren dieser Arten;

b)

jede absichtliche Störung dieser Arten, insbesondere während der Fortpflanzungs‑, Aufzucht‑, Überwinterungs- und Wanderungszeiten;

c)

jede absichtliche Zerstörung oder Entnahme von Eiern aus der Natur;

d)

jede Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten.

(2)   Für diese Arten verbieten die Mitgliedstaaten Besitz, Transport, Handel oder Austausch und Angebot zum Verkauf oder Austausch von aus der Natur entnommenen Exemplaren; vor Beginn der Anwendbarkeit dieser Richtlinie rechtmäßig entnommene Exemplare sind hiervon ausgenommen.

(3)   Die Verbote nach Absatz 1 Buchstaben a) und b) sowie nach Absatz 2 gelten für alle Lebensstadien der Tiere im Sinne dieses Artikels.

…“

Estnisches Recht

MS

9

§ 28 Abs. 7 des Metsaseadus (MS) (Waldgesetz) vom 7. Juni 2006 (RT I 2006, 30, 232) in seiner auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Fassung (RT I, 4.1.2021, 10) (im Folgenden: MS) sieht vor:

„Pflegehiebe werden vorgenommen, um

2)

den Wert des Waldes zu erhöhen, die Dichte und die Zusammensetzung des Waldes zu steuern und die Verwendung von Holz aus Bäumen zu ermöglichen, die kurzfristig umstürzen können (Schirmschlag);

…“

10

§ 29 Abs. 1 MS bestimmt:

„Im Fall eines Kahlschlags werden alle Bäume einer Parzelle innerhalb eines Jahres gefällt, ausgenommen:

1)

Samenträgerbäume, d. h. 20 bis 70 Waldkiefern, Hängebirken, Gemeine Eschen, Stieleichen, Schwarzerlen, Flatterulmen oder Bergulmen pro Hektar einzeln oder in kleinen Gruppen sowie lebensfähige Jungbäume zur Wiederaufforstung;

3)

Überhälter, d. h. Bäume, die zur Sicherung der Biodiversität notwendig sind, oder ihre noch stehenden Stämme mit einem Gesamtvolumen an Stammholz von mindestens 5 m3 pro Hektar oder von mindestens 10 m3 pro Hektar bei Kahlschlägen von mehr als 5 ha.“

11

§ 40 MS sieht vor:

„…

(2)   Das Umweltamt hat das Recht, auf der Grundlage des Waldschutzgutachtens Anordnungen zu erlassen, um Waldschäden vorzubeugen und deren Ausbreitung zu verhindern. Neben den in § 25 Abs. 9 Nrn. 1 bis 5 und Nrn. 7 bis 9 dieses Gesetzes vorgesehenen Angaben enthält die Anordnung in ihrem verfügenden Teil die Anweisung, die schädigende Handlung einzustellen oder jede Handlung zu unterlassen, durch die ein Schaden verursacht wird, sowie die Ursache der Gefahr und die Schadensfolgen zu beseitigen. Die Anordnung wird dem Adressaten der darin genannten Verpflichtungen nach Maßgabe von § 25 Abs. 8 dieses Gesetzes zugestellt.

(10)   Um die Tiere während ihrer Brutzeit zu schützen, kann der für den Bereich zuständige Minister im Zeitraum vom 15. April bis 15. Juni durch Verordnung Holzschläge in mehrschichtigen und gemischten Beständen begrenzen.

…“

12

§ 41 MS bestimmt:

„(1)   Der Waldeigentümer oder sein Vertreter … reicht beim Umweltamt eine forstwirtschaftliche Anmeldung ein:

1)

über geplante Holzschläge, ausgenommen Verbesserungshiebe;

(8)   Entspricht der geplante Holzschlag nicht den gesetzlichen Anforderungen, so kann das Umweltamt die Anmeldung ablehnen, indem es dies schriftlich begründet und Empfehlungen abgibt, um die Tätigkeit mit den Rechtsvorschriften in Einklang zu bringen.

(81)   Entspricht der geplante Holzschlag den gesetzlichen Anforderungen, so trägt das Umweltamt ihn in das Forstregister ein. …“

LoKS

13

§ 2 des Loomakaitseseadus (LoKS) (Tierschutzgesetz) vom 13. Dezember 2000 (RT I 2001, 3, 4) in seiner auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Fassung (RT I, 30.12.2020, 12) (im Folgenden: LoKS) bestimmt:

„(1)   Im Sinne dieses Gesetzes ist … ein Vogel … ein Tier.

…“

14

§ 7 LoKS bestimmt:

„(1)   Um den Tod wildlebender Tiere zu vermeiden, können die vollziehenden Behörden anordnen,

3)

forstwirtschaftliche Arbeiten während der Fortpflanzungszeit wildlebender Tiere einzustellen.

…“

LKS

15

§ 55 des Looduskaitseseadus (LKS) (Naturschutzgesetz) vom 21. April 2004 (RT I 2004, 38, 258) in seiner auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Fassung (RT I, 30.12.2020, 7) (im Folgenden: LKS) bestimmt:

„(1)   Die absichtliche Tötung eines Exemplars einer geschützten Art mit Ausnahme von Euthanasie ist verboten.

(3)   Die Tötung eines Exemplars einer geschützten Art der Kategorie II oder III ist zulässig,

(4)

wenn dies zur Vermeidung von Schäden an … anderen wichtigen Gütern erforderlich ist.

(5)   In den in Abs. 1 … und in Abs. 3 Nrn. 2 bis 5 genannten Fällen bedarf die Tötung des Tieres der Genehmigung des Umweltamts.

(51)   Die Genehmigung nach Abs. 5 und Abs. 61 Nrn. 1 und 2 des vorliegenden Artikels kann erteilt werden, wenn es keine anderen, weniger schädlichen Maßnahmen für die Tiere und Vögel gibt, um Abhilfe zu schaffen. Die Genehmigung muss folgende Angaben enthalten:

1)

die Arten und Exemplare, für die die Genehmigung erteilt wird;

2)

die für die Tätigkeiten zugelassenen Mittel, Vorrichtungen oder Methoden

3)

unter welchen Gefahren- oder Risikobedingungen, zu welchem Zeitpunkt und an welchem Ort die Tätigkeiten ausgeübt werden dürfen;

4)

den Adressaten der Genehmigung;

5)

die Mittel zur Überwachung oder andere Mittel zur Verfolgung und Kontrolle der Ergebnisse.

(61)   Bei Wildvögeln sind verboten:

1)

die absichtliche Zerstörung und Beschädigung von Nestern und Eiern oder die Beseitigung von Nestern, außer in den in Abs. 3 Nrn. 2 bis 5 dieses Artikels vorgesehenen Fällen, mit Genehmigung des Umweltamtes;

2)

jede absichtliche Störung, insbesondere während der Brut- und Aufzuchtzeit, außer … in den Fällen des Abs. 3 Nrn. 2 bis 5 des vorliegenden Artikels mit Genehmigung des Umweltamtes …

…“

Waldbewirtschaftungsverordnung

16

§ 22 des Metsa majandamise eeskiri (Waldbewirtschaftungsverordnung) (RTL 2007, 2, 16) in seiner auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Fassung (RT I, 6.4.2021, 8) sieht vor:

„…

(5)   Die Initiative für ein Waldschutzgutachten wird vom Umweltamt auf der Grundlage von Informationen ergriffen, die durch eine forstwirtschaftliche Anmeldung oder auf andere Weise erlangt wurden:

1)

mit dem Ziel, eine Anordnung zu erlassen, um Waldschäden vorzubeugen und deren Ausbreitung zu verhindern;

(6)   Um ein Waldschutzgutachten in Auftrag zu geben, reicht der Waldeigentümer bei der Umweltbehörde eine Meldung über Waldschäden ein, die auf die Aufforstung eines Waldes abzielt, der infolge eines Sturms, einer Überschwemmung, eines großen Waldbrands oder anderer erheblicher Schäden, die durch ein Naturereignis verursacht wurden, zerstört wurde … oder der aufgrund natürlicher Einflüsse in einem schlechten Zustand ist, sowie für die Aufforstung eines Waldbestands, der einen mangelhaften Phänotyp aufweist oder der aus einem vom Waldeigentümer unabhängigen Grund eine geringe Bodenfläche und eine geringe Dichte aufweist. …“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

17

Im Frühjahr 2021 führte Voore Mets auf dem Grundstück Pällo-Reino in der Gemeinde Jõgeva (Estland) auf der Grundlage registrierter forstwirtschaftlicher Anmeldungen Holzschläge durch. Es handelte sich um Kahlschläge im Sinne von § 29 Abs. 1 MS.

18

Lemeks Põlva erwarb vom Eigentümer des in der Gemeinde Põlva gelegenen Grundstücks Järveääre das Recht zur Nutzung von stehendem Holz. Ihre forstwirtschaftlichen Anmeldungen vom 4. Mai 2021 sahen die Durchführung von Schirmschlägen im Sinne von § 28 Abs. 7 MS auf einer Parzelle dieses Grundstücks und von Kahlschlägen auf vier anderen Parzellen dieses Grundstücks vor.

19

Mit Anordnungen vom 17. und 21. Mai 2021 ordnete das Umweltamt an, die von Voore Mets auf dem Grundstück Pällo-Reino durchgeführten Holzschläge zunächst bis zum 21. Mai 2021 und dann bis zum 31. Juli 2021 einzustellen. Mit Anordnungen vom 21. und 26. Mai 2021 ordnete das Umweltamt ferner an, die von Lemeks Põlva auf dem Grundstück Järveääre durchgeführten Holzschläge zunächst bis zum 26. Mai 2021 und dann bis zum 15. Juli 2021 einzustellen.

20

Diese Anordnungen wurden auf der Grundlage von § 7 Abs. 1 Nr. 3 LoKS und § 55 Abs. 61 LKS erlassen. Die ersten Anordnungen, d. h. die an Voore Mets vom 17. Mai 2021 und die an Lemeks Põlva vom 21. Mai 2021, beruhten auf der Feststellung, dass es wissenschaftlich erwiesen sei, dass in jedem Wald mindestens ein Vogelpaar pro Hektar brüte, weswegen die Fortsetzung des Holzschlags die reale Gefahr berge, die Brut und Aufzucht der Vögel zu stören und Nester zu zerstören oder zu beschädigen. In den zweiten Anordnungen, d. h. der an Voore Mets vom21. Mai 2021 und der an Lemeks Põlva vom 26. Mai 2021, hieß es außerdem, dass Ortsbegehungen der betreffenden Flächen es ermöglicht hätten, in beiden Fällen mit Sicherheit, wahrscheinlich bzw. möglicherweise Bruten von zehn verschiedenen Vogelarten auf den betreffenden Grundstücken festzustellen.

21

Konkret waren laut der an Voore Mets gerichteten Anordnung vom 21. Mai 2021 bei einer am selben Tag durchgeführten Ortsbegehung auf dem Grundstück Pällo-Reino Vogelstimmen zu hören gewesen, und die folgenden Vögel, von denen vernünftigerweise angenommen werden könne, dass sie in diesem Gebiet nisteten, seien anhand ihres Gesangs oder Aussehens identifiziert worden: Waldlaubsänger (Phylloscopus sibilatrix), Zaunkönig (Troglodytes troglodytes), Amsel (Turdus merula), Singdrossel (Turdus philomelos) und Buchfink (Fringilla coelebs). Darüber hinaus sei eine wahrscheinliche Brut des Kleibers (Sitta europaea) und des Gimpels (Pyrrhula pyrrhula) festgestellt worden. Außerdem wurde in dieser Anordnung ausgeführt, dass es sehr wahrscheinlich sei, dass das betreffende Grundstück auch den Zilpzalp (Phylloscopus collybita), den Fitis (Phylloscopus trochilus) und den Zwergschnäpper (Ficedula parva) beherberge. In diesem Zusammenhang hieß es in der Anordnung, dass die Einstellung der forstwirtschaftlichen Tätigkeiten bis zum 31. Juli den Schutz von Spätbrütern wie des Waldlaubsängers gewährleiste.

22

Nach der an Lemeks Põlva gerichteten Anordnung vom 26. Mai 2021 waren bei der Ortsbegehung auf dem Grundstück Järveääre mit Sicherheit eine Brut des Buntspechts (Dendrocopos major) und des Buchfinks, wahrscheinlich eine Brut der Kohlmeise (Parus major) und des Eichelhähers (Garrulus glandarius) sowie möglicherweise eine Brut des Zilpzalps, des Waldlaubsängers, der Gartengrasmücke (Sylvia Borin), des Zaunkönigs, der Heckenbraunelle (Prunella modularis) und des Rotkehlchens (Erithacus rubecula) festgestellt worden.

23

Die Klage von Voore Mets auf Ersatz des Schadens im Zusammenhang mit dem Stillstand und dem anschließenden Transport ihrer Forstmaschinen, der ihr vom Umweltamt durch die zwei sie betreffenden Anordnungen verursacht worden sein soll, wurde vom Tallinna Halduskohus (Verwaltungsgericht Tallinn, Estland) abgewiesen. Diese Entscheidung wurde vom Tallinna Ringkonnakohus (Berufungsgericht Tallinn, Estland) bestätigt.

24

Den von Lemeks Põlva erhobenen Klagen auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Anordnungen gab das Tartu Halduskohus (Verwaltungsgericht Tartu, Estland) teilweise statt und stellte die Rechtswidrigkeit der Anordnung vom 26. Mai 2021 u. a. mit der Begründung fest, dass sie sich nicht mit der Frage der Verhältnismäßigkeit eines vollständigen Verbots von Holzschlägen für ungefähr eineinhalb Monate im Hinblick auf die Zahl der Vögel, die auf dem Gelände lebten, die Brutzeiten dieser Vögel und die Interessen der Klägerin des Ausgangsverfahrens auseinandergesetzt habe und die Klägerin nicht angehört worden sei. Das Tartu Ringkonnakohus (Berufungsgericht Tartu, Estland) hob diese Entscheidung jedoch auf, soweit den Klagen stattgegeben wurde.

25

Das Riigikohus (Oberstes Gericht, Estland), das vorlegende Gericht, das mit den Kassationsbeschwerden von Voore Mets und Lemeks Põlva befasst ist, stellt sich erstens die Frage, ob der Begriff der „Absichtlichkeit“ im Sinne von Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie in gleicher Weise zu verstehen ist wie im Fall von Art. 12 der Habitatrichtlinie, so dass die Voraussetzung der Absichtlichkeit nicht nur dann als erfüllt anzusehen ist, wenn nachgewiesen ist, dass der Urheber der Handlung die Tötung oder Störung eines Exemplars einer Vogelart oder die Zerstörung oder Beschädigung von Vogelnestern oder ‑eiern gewollt hat, sondern auch sofern nachgewiesen ist, dass er die Möglichkeit einer solchen Tötung, Störung, Zerstörung oder Beschädigung zumindest in Kauf genommen hat.

26

Für diesen Fall möchte das vorlegende Gericht zweitens wissen, welche Umstände ausreichen, um darauf zu schließen, dass ein Ereignis in Kauf genommen worden ist. Das Vorhandensein eines Vogelpaars pro Hektar, wie es die ersten Anordnungen auf der Grundlage wissenschaftlicher Daten festgestellt hätten, überschreite nicht zwangsläufig die Schwelle, ab der davon auszugehen sei, dass der Waldbesitzer in Kauf genommen habe, dass Vögel getötet oder gestört oder ihre Nester oder Eier vernichtet oder beschädigt würden. Dagegen ist das vorlegende Gericht grundsätzlich der Ansicht, dass ab dem Zeitpunkt, zu dem die in den zweiten Anordnungen festgestellten zusätzlichen Umstände vorlagen, zwangsläufig in Kauf genommen worden sei, dass die während der Brutzeit durchgeführten Kahlschläge zum Tod der Vögel und zur Zerstörung ihrer Nester und Eier führen würden. Es könnte sich jedoch die Frage stellen, ob die Vornahme von Holzschlägen als absichtliche Tötung, Störung, Zerstörung oder Beschädigung im Sinne von Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie angesehen werden könne, wenn keine Anhaltspunkte für Bruten bedrohter Vögel auf der Einschlagsfläche bestünden und die betreffende Tätigkeit nicht bezwecke, Vögel zu töten oder zu stören oder Nester zu zerstören oder zu beschädigen. Der Umstand, dass alle Vogelarten einer Schutzregelung unterliegen müssten, bedeute nicht zwangsläufig, dass alle Vögel in gleicher Weise zu schützen seien. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie nämlich teleologisch auszulegen, d. h. unter Berücksichtigung des in Art. 2 dieser Richtlinie genannten Zwecks.

27

Drittens sei, auch wenn bei den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Holzschlägen die Absicht festzustellen sei, Vögel zu töten oder zu stören oder ihre Nester oder Eier zu zerstören oder zu schädigen, nach Ansicht des vorlegenden Gerichts zu prüfen, ob Art. 9 der Vogelschutzrichtlinie eine Abweichung von den in Art. 5 Buchst. a, b und d dieser Richtlinie vorgesehenen Verboten zulasse.

28

Viertens könne schließlich der Umstand, dass die Gewährung einer Ausnahme nicht möglich sei oder zu strengen Voraussetzungen unterliege, einen unverhältnismäßigen Eingriff in die unternehmerische Freiheit und das Grundrecht auf Eigentum nach den Art. 16 und 17 der Charta darstellen, so dass sich gegebenenfalls die Frage der Vereinbarkeit der Vogelschutzrichtlinie mit den Verträgen und der Gültigkeit dieser Richtlinie stelle.

29

Unter diesen Umständen hat das Riigikohus (Oberstes Gericht) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Kann Art. 5 Buchst. a, b und d der Vogelschutzrichtlinie dahin ausgelegt werden, dass die darin geregelten Verbote nur gelten, soweit es erforderlich ist, um im Sinne von Art. 2 dieser Richtlinie den Bestand der betreffenden Vogelarten auf einem Stand zu halten, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht, wobei den wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung getragen wird, sofern die Tötung oder Störung von Vögeln oder die Zerstörung oder Beschädigung ihrer Nester oder Eier nicht das Ziel der Handlung ist?

2.

Ist Art. 5 Buchst. a, b und d der Vogelschutzrichtlinie in Verbindung mit Art. 2 dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass die nach diesen Bestimmungen verbotenen Handlungen während der Brutzeit der Vögel u. a. dann absichtlich sind, wenn aufgrund wissenschaftlicher Daten und der Beobachtung einzelner Vögel davon ausgegangen werden kann, dass in einem Wald, der vollständig kahl geschlagen werden soll (Kahlschlag), etwa zehn Vogelpaare pro Hektar nisten, ohne dass festgestellt wurde, dass auf der Fläche des Holzschlags Vogelarten nisten, deren Erhaltungszustand ungünstig ist?

3.

Ist Art. 5 Buchst. a, b und d der Vogelschutzrichtlinie in Verbindung mit Art. 2 dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass die nach diesen Bestimmungen verbotenen Handlungen während der Brutzeit der Vögel u. a. dann absichtlich sind, wenn aufgrund wissenschaftlicher Daten und der Beobachtung einzelner Vögel davon ausgegangen werden kann, dass in einem Wald, in dem nur ein Teil der Bäume geschlagen werden soll (Schirmschlag), etwa zehn Vogelpaare pro Hektar nisten, ohne dass Grund zu der Annahme besteht, dass auf der Fläche des Holzschlags Vogelarten nisten, deren Erhaltungszustand ungünstig ist?

4.

Kann Art. 9 Abs. 1 Buchst. a dritter Gedankenstrich der Vogelschutzrichtlinie in Verbindung mit Art. 2 dieser Richtlinie dahin ausgelegt werden, dass damit Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats im Einklang stehen, die es erlauben, von den in Art. 5 Buchst. a, b und d dieser Richtlinie geregelten Verboten abzuweichen, damit während der Brut- und Aufzuchtzeit von Vögeln ein Kahlschlag durchgeführt werden kann, um einen erheblichen Schaden an Wald als Eigentum abzuwenden?

5.

Kann Art. 9 Abs. 1 Buchst. a dritter Gedankenstrich der Vogelschutzrichtlinie in Verbindung mit Art. 2 dieser Richtlinie dahin ausgelegt werden, dass damit Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats im Einklang stehen, die es erlauben, von den in Art. 5 Buchst. a, b und d dieser Richtlinie geregelten Verboten abzuweichen, damit während der Brut- und Aufzuchtzeit von Vögeln ein Schirmschlag durchgeführt werden kann, um einen erheblichen Schaden an Wald als Eigentum abzuwenden?

6.

Wenn die Vogelschutzrichtlinie es nicht erlaubt, während der Brut- und Aufzuchtzeit von Vögeln einen Kahlschlag durchzuführen, um einen erheblichen Schaden an Wald als Eigentum abzuwenden, steht dann eine solche Regelung im Einklang mit den Art. 16 und 17 der Charta und gilt sie selbst dann, wenn der Holzschlag keine Vogelarten beeinträchtigt, deren Erhaltungszustand ungünstig ist?

7.

Wenn die Vogelschutzrichtlinie es nicht erlaubt, während der Brut- und Aufzuchtzeit von Vögeln einen Schirmschlag durchzuführen, um einen erheblichen Schaden an Wald als Eigentum abzuwenden, steht dann eine solche Regelung im Einklang mit den Art. 16 und 17 der Charta und gilt sie selbst dann, wenn der Holzschlag keine Vogelarten beeinträchtigt, deren Erhaltungszustand ungünstig ist?

Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

30

Voore Mets und Lemeks Põlva halten das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig. Alle Vorlagefragen seien im Wesentlichen bereits in den Schlussanträgen der Generalanwältin Kokott in den verbundenen Rechtssachen Föreningen Skydda Skogen (C‑473/19 und C‑474/19, EU:C:2020:699) beantwortet worden, und aus dem Urteil vom 4. März 2021, Föreningen Skydda Skogen (C‑473/19 und C‑474/19, EU:C:2021:166), gehe keineswegs hervor, dass der Begriff der „Absichtlichkeit“ im Sinne von Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie in gleicher Weise wie im Sinne von Art. 12 der Habitatrichtlinie auszulegen sei. Im Übrigen werde das Fehlen rechtlicher Schwierigkeiten, die eine Auslegung durch den Gerichtshof erforderten, dadurch belegt, dass kein anderer Mitgliedstaat als die Republik Estland auf der Grundlage der Bestimmungen zur Umsetzung der Vogelschutzrichtlinie Holzschläge in der Periode von Frühling bis Sommer in Wäldern untersage, die für forstwirtschaftliche Zwecke und nicht zum Schutz von Vögeln bestimmt seien. Voore Mets fügt hinzu, dass die Prüfung der Rechtssache vor dem Gerichtshof zu einer Überschreitung der angemessenen Dauer der Behandlung der Ausgangsrechtsstreitigkeiten führen würde.

31

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die nationalen Gerichte die umfassende Befugnis haben, den Gerichtshof mit einer Frage nach der Auslegung der relevanten Bestimmungen des Unionsrechts zu befassen. Es ist allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst und mit dem nationalen Recht vertraut ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der Fragen zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung oder die Gültigkeit einer Vorschrift des Unionsrechts betreffen. Folglich gilt für Fragen nationaler Gerichte eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der Frage erforderlich sind (Urteil vom 9. September 2021, GE Auto Service Leasing, C‑294/20, EU:C:2021:723, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Selbst unter der Annahme, dass die Antwort auf die Vorlagefragen den Schlussanträgen der Generalanwältin Kokott in den verbundenen Rechtssachen Föreningen Skydda Skogen (C‑473/19 und C‑474/19, EU:C:2020:699) und dem Urteil vom 4. März 2021, Föreningen Skydda Skogen (C‑473/19 und C‑474/19, EU:C:2021:166), entnommen werden könne und keine rechtlichen Schwierigkeiten aufwerfe, kann dies daher nicht zur Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens führen.

33

Zum einen behalten nämlich die innerstaatlichen Gerichte selbst bei Vorliegen einer Rechtsprechung des Gerichtshofs zu der betreffenden Rechtsfrage das unbeschränkte Recht zur Vorlage an den Gerichtshof, wenn sie es für angebracht halten, ohne dass der Umstand, dass die Bestimmungen, um deren Auslegung ersucht wird, vom Gerichtshof bereits ausgelegt worden sind, einer neuerlichen Entscheidung des Gerichtshofs entgegenstünde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi, C‑561/19, EU:C:2021:799, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung), und zum anderen ist es einem nationalen Gericht keineswegs untersagt, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, deren Beantwortung nach Auffassung einer der Parteien des Ausgangsverfahrens keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Februar 2022, Viva Telecom Bulgaria, C‑257/20, EU:C:2022:125, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34

Aus der in Rn. 31 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt sich auch, dass die Dauer des Rechtsstreits vor den nationalen Gerichten für die Beurteilung der Zulässigkeit eines von einem dieser Gerichte nach Art. 267 AEUV vorgelegten Vorabentscheidungsersuchens nicht relevant ist.

35

Diese Beurteilung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass sowohl das vorlegende Gericht als auch der Gerichtshof den in Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) und in Art. 47 der Charta niedergelegten allgemeinen Rechtsgrundsatz zu beachten haben, wonach jede Person ein Recht darauf hat, dass ihre Sache innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.

36

Die Auslegung der durch Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten Rechte durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte stellt nämlich einen Mindestschutzstandard dar, den der Gerichtshof im Hinblick auf Art. 52 Abs. 3 der Charta bei seiner Auslegung der entsprechenden Rechte aus Art. 47 der Charta berücksichtigen muss. (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. September 2024, Ordre des avocats du Barreau de Luxembourg, C‑432/23, EU:C:2024:791, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist jedoch bei der Prüfung, ob die Dauer eines Verfahrens vor einem nationalen Gericht das Recht aus Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt hat, das Verfahren nach Art. 267 AEUV nicht zu berücksichtigen. Nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte würde die Berücksichtigung dieses Umstands das mit Art. 267 AEUV geschaffene System und das mit Art. 267 AEUV im Wesentlichen verfolgte Ziel beeinträchtigen (EGMR, 26. Februar 1998, Pafitis u. a./Griechenland, CE:ECHR:1998:0226JUD002032392, § 95, und EGMR, 30. September 2003, Koua Poirrez/Frankreich, CE:ECHR:2003:0930JUD004089298, § 61).

38

Somit ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

Zu den Vorlagefragen

39

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Voore Mets in ihren schriftlichen Erklärungen den Gerichtshof ersucht, andere als die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen zu beantworten.

40

Es ist daran zu erinnern, dass nach Art. 267 AEUV nur die staatlichen Gerichte und nicht die Parteien des Ausgangsrechtsstreits den Gerichtshof anrufen können. Damit haben auch nur die staatlichen Gerichte zu bestimmen, welche Fragen dem Gerichtshof vorzulegen sind; die Parteien können die Fragen inhaltlich nicht ändern (Urteil vom 6. Oktober 2015, T‑Mobile Czech Republic und Vodafone Czech Republic, C‑508/14, EU:C:2015:657, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Daraus folgt, dass eine Beantwortung der von den Parteien des Ausgangsverfahrens gestellten Fragen mit der dem Gerichtshof durch Art. 267 AEUV übertragenen Rolle unvereinbar wäre. Außerdem liefe eine Beantwortung dieser Fragen der Verpflichtung des Gerichtshofs zuwider, sicherzustellen, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten und die Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit haben, gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union Erklärungen abzugeben, wobei zu berücksichtigen ist, dass den Verfahrensbeteiligten nach dieser Vorschrift nur die Vorlageentscheidungen zugestellt werden (Urteil vom 6. Oktober 2015, T‑Mobile Czech Republic und Vodafone Czech Republic, C‑508/14, EU:C:2015:657, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42

Folglich sind die von Voore Mets an den Gerichtshof gerichteten Fragen nicht zu beantworten.

Zur ersten Frage

43

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Buchst. a, b und d der Vogelschutzrichtlinie dahin auszulegen ist, dass die in dieser Bestimmung vorgesehenen Verbote, sofern der Zweck der betreffenden menschlichen Tätigkeit nicht der Fang, die Tötung oder die Störung von Vögeln oder die Zerstörung oder Beschädigung ihrer Nester oder Eier ist, nur gelten, soweit dies erforderlich ist, um im Sinne von Art. 2 dieser Richtlinie den Bestand der betreffenden Vogelarten auf einem Stand zu halten oder auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht, wobei den wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung getragen wird.

44

Nach Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie haben die Mitgliedstaaten unbeschadet der Art. 7 und 9 dieser Richtlinie die erforderlichen Maßnahmen zur Schaffung einer allgemeinen Regelung zum Schutz aller unter Art. 1 der Richtlinie fallenden Vogelarten zu treffen. Dazu gehören insbesondere das Verbot „des absichtlichen Tötens oder Fangens, ungeachtet der angewandten Methode“, das Verbot „der absichtlichen Zerstörung oder Beschädigung von Nestern und Eiern und der Entfernung von Nestern“ sowie das Verbot „ihres absichtlichen Störens, insbesondere während der Brut- und Aufzuchtzeit, sofern sich diese Störung auf die Zielsetzung dieser Richtlinie erheblich auswirkt“ (Art. 5 Buchst. a, b und d der Richtlinie).

45

Erstens ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut von Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie im Licht ihres Art. 1 Abs. 1 als auch aus dem Zusammenhang, in den sich Art. 5 einfügt, sowie aus dem Sinn und Zweck dieser Richtlinie, dass die in diesem Artikel vorgesehenen Verbote sämtliche wildlebende Vogelarten, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, auf welches die Verträge Anwendung finden, heimisch sind, betreffen, ohne dass die Anwendung dieser Verbote somit auf bestimmte konkrete Vogelarten oder auf Arten beschränkt wäre, die auf irgendeiner Ebene bedroht sind oder deren Population auf lange Sicht rückläufig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. März 2021, Föreningen Skydda Skogen, C‑473/19 und C‑474/19, EU:C:2021:166, Rn. 36, 37 und 45).

46

Zweitens ist zur Voraussetzung der Absichtlichkeit in Art. 5 Buchst. a, b und d der Vogelschutzrichtlinie festzustellen, dass bei der Auslegung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a bis c der Habitatrichtlinie, der Verbote vorsieht, die den in Art. 5 Buchst. a, b und d der Vogelschutzrichtlinie genannten entsprechen, der Gerichtshof entschieden hat, dass diese Voraussetzung nur dann erfüllt ist, wenn nachgewiesen ist, dass der Handelnde den Fang oder die Tötung eines Exemplars einer geschützten Tierart, die Störung dieser Arten oder die Zerstörung von Eiern gewollt oder zumindest in Kauf genommen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. März 2021, Föreningen Skydda Skogen, C‑473/19 und C‑474/19, EU:C:2021:166, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47

Nach ständiger Rechtsprechung müssen in Anbetracht der Erfordernisse der Einheit und der Kohärenz der Unionsrechtsordnung die für in demselben Bereich erlassene Rechtshandlungen verwendeten Begriffe dieselbe Bedeutung haben (Urteil vom 21. März 2024, Marvesa Rotterdam, C‑7/23, EU:C:2024:257, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). Angesichts der Ähnlichkeit des Wortlauts von Art. 12 der Habitatrichtlinie und Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie sowie der Stellung, die diese Artikel in ihrem jeweiligen Regelungskontext einnehmen, ist der Begriff der „Absichtlichkeit“ in Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie so auszulegen, wie der Gerichtshof diesen Begriff im Rahmen von Art. 12 der Habitatrichtlinie ausgelegt hat.

48

Zudem ist zu berücksichtigen, dass sich die Auslegung des Begriffs der „Absichtlichkeit“ in dem in Rn. 46 des vorliegenden Urteils genannten Sinne aus den Urteilen vom 30. Januar 2002, Kommission/Griechenland (C‑103/00, EU:C:2002:60, Rn. 34 bis 36), und vom 18. Mai 2006, Kommission/Spanien (C‑221/04, EU:C:2006:329, Rn. 71), ergibt. Daraus lässt sich ableiten, dass der Unionsgesetzgeber beim Erlass der Vogelschutzrichtlinie im Jahr 2009 dadurch, dass er keine näheren Angaben zu der Voraussetzung der Absichtlichkeit im Sinne von Art. 5 dieser Richtlinie gemacht hat, um u. a. Handlungen von ihrem Anwendungsbereich auszuschließen, die nicht den Fang, die Tötung oder die Störung von Vögeln oder die Zerstörung oder Beschädigung ihrer Nester oder Eier zum Zweck haben, dieser Voraussetzung die gleiche Bedeutung wie im Kontext von Art. 12 der Habitatrichtlinie verleihen wollte.

49

Daraus folgt, dass die in Art. 5 Buchst. a, b und d der Vogelschutzrichtlinie vorgesehenen Verbote nicht nur für menschliche Tätigkeiten gelten, die den Fang, die Tötung und die Störung von Vögeln oder die Zerstörung oder Beschädigung ihrer Nester oder Eier zum Zweck haben, sondern auch für menschliche Tätigkeiten, die nicht offenkundig einen solchen Zweck verfolgen, mit denen aber ein solcher Fang, eine solche Tötung, eine solche Störung, eine solche Zerstörung oder eine solche Beschädigung in Kauf genommen wird.

50

Was drittens die Frage betrifft, ob die in Art. 5 Buchst. a, b und d der Vogelschutzrichtlinie vorgesehenen Verbote in Fällen, in denen der Zweck einer menschlichen Tätigkeit offenkundig ein anderer ist als der Fang, die Tötung oder die Störung von Vögeln oder die Zerstörung oder Beschädigung ihrer Nester oder Eier, nur gelten, soweit dies erforderlich ist, um im Sinne von Art. 2 dieser Richtlinie den Bestand der betreffenden Vogelarten auf einem Stand zu halten oder auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht, wobei den wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung getragen wird, ist festzustellen, dass nur Art. 5 Buchst. d der Richtlinie vorsieht, dass das darin vorgesehene Verbot des absichtlichen Störens von Vögeln, insbesondere während der Brut- und Aufzuchtzeit gilt, „sofern sich diese Störung auf die Zielsetzung [der Vogelschutzrichtlinie] erheblich auswirkt“.

51

Zur Tragweite dieser Voraussetzung ist darauf hinzuweisen, dass das Ziel der Vogelschutzrichtlinie, wie sich aus ihrem Art. 1 im Licht ihrer Erwägungsgründe 3, 5, 7 und 8 ergibt, darin besteht, sämtliche wildlebende Vogelarten, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, auf welches die Verträge Anwendung finden, heimisch sind, zu schützen, zu pflegen und zu regulieren, um ihre Erhaltung als Erbe der europäischen Völker sicherzustellen, was einen langfristigen Schutz voraussetzt, indem eine ausreichende Vielfalt und eine ausreichende Flächengröße der Lebensräume aufrecht erhalten oder wiederhergestellt wird. Im Hinblick auf dieses Ziel verpflichtet diese Richtlinie die Mitgliedstaaten nach ihrem Art. 2 in Verbindung mit ihrem zehnten Erwägungsgrund, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die Bestände dieser Vogelarten auf einem Stand zu halten oder auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht, wobei den wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung getragen wird, so dass die Bestände als ausreichend angesehen werden können. Somit ist der Einschub „sofern sich diese Störung auf die Zielsetzung [der Vogelschutzrichtlinie] erheblich auswirkt“ in Art. 5 Buchst. d dieser Richtlinie in Anbetracht dieser Bestimmungen dahin auszulegen, dass das Stören von Vögeln, insbesondere während der Brut- und Aufzuchtzeit, verboten ist, sofern sich diese Störungen erheblich auf die Zielsetzung auswirken, die Bestände der Vogelarten auf einem ausreichenden Niveau zu erhalten oder auf ein ausreichendes Niveau zu bringen.

52

Dagegen sieht Art. 5 Buchst. a und b der Vogelschutzrichtlinie keine Voraussetzung vor, die jener in Art. 5 Buchst. d dieser Richtlinie entspricht.

53

Da Art. 5 Buchst. a und b der Vogelschutzrichtlinie keine Voraussetzung enthält, die der in Art. 5 Buchst. d dieser Richtlinie entspricht, ist unter Berücksichtigung der Erwägungen in den Rn. 46 bis 49 des vorliegenden Urteils somit davon auszugehen, dass die Anwendung der in Art. 5 Buchst. a und b der Vogelschutzrichtlinie aufgestellten Verbote nicht von einer solchen Voraussetzung abhängt, und zwar unabhängig davon, ob die betreffenden menschlichen Tätigkeiten den Fang oder die Tötung von Vögeln oder die Zerstörung oder Beschädigung ihrer Nester oder Eier zum Zweck haben.

54

Folglich schließt Art. 5 Buchst. a und b der Vogelschutzrichtlinie im Unterschied zu Art. 5 Buchst. d dieser Richtlinie menschliche Tätigkeiten, bei denen nicht die Gefahr besteht, dass sie sich erheblich auf die Zielsetzung auswirken, die Bestände der Vogelarten auf einem ausreichenden Niveau zu erhalten oder auf ein ausreichendes Niveau zu bringen, nicht von ihrem Anwendungsbereich aus, so dass die Prüfung der Auswirkungen einer menschlichen Tätigkeit auf den Bestand der betreffenden Vogelarten für die Anwendung der in Art. 5 Buchst. a und b vorgesehenen Verbote nicht relevant ist.

55

Eine solche Prüfung ist hingegen im Rahmen der nach Art. 9 der Vogelschutzrichtlinie möglichen Abweichungen von diesen Verboten relevant (vgl. entsprechend Urteil vom 4. März 2021, Föreningen Skydda Skogen, C‑473/19 und C‑474/19, EU:C:2021:166, Rn. 58).

56

Im Rahmen der Prüfung dieser Abweichungen ist nämlich, insbesondere zur Prüfung ihrer Verhältnismäßigkeit, eine Beurteilung sowohl der Auswirkung der in Rede stehenden Maßnahme auf die Bestände der betreffenden Vogelarten als auch der Notwendigkeit dieser Maßnahme und der Alternativen, die es ermöglichen, das für die Abweichung angeführte Ziel zu erreichen, vorzunehmen (vgl. entsprechend Urteil vom 4. März 2021, Föreningen Skydda Skogen, C‑473/19 und C‑474/19, EU:C:2021:166, Rn. 59).

57

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 5 Buchst. a, b und d der Vogelschutzrichtlinie dahin auszulegen ist, dass lediglich das in Art. 5 Buchst. d vorgesehene Verbot nur gilt, sofern es erforderlich ist, um Störungen vorzubeugen, die sich erheblich auf die in Art. 2 dieser Richtlinie genannte Zielsetzung auswirken würden, die Bestände sämtlicher wildlebenden Vogelarten, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, auf welches die Verträge Anwendung finden, heimisch sind, auf einem Stand zu halten oder auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht, wobei den wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung getragen wird. Dagegen hängt die Anwendung der Verbote in Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie nicht von einer solchen Voraussetzung ab, auch wenn der Zweck der betreffenden menschlichen Tätigkeit ein anderer ist als der Fang oder die Tötung von Vögeln oder die Zerstörung oder Beschädigung ihrer Nester oder Eier.

Zur zweiten und zur dritten Frage

58

Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 Buchst. a, b und d der Vogelschutzrichtlinie dahin auszulegen ist, dass in Fällen, in denen aufgrund wissenschaftlicher Daten und der Beobachtung einzelner Vögel davon ausgegangen werden kann, dass in einem Wald, der vollständig kahl geschlagen werden soll (Kahlschlag) oder in dem nur ein Teil der Bäume geschlagen werden soll (Schirmschlag), etwa zehn Vogelpaare pro Hektar nisten, ohne dass festgestellt wurde, dass auf der Fläche des Holzschlags Vogelarten nisten, deren Erhaltungszustand ungünstig ist, die Durchführung solcher Holzschläge während der Brut- und Aufzuchtzeit von Vögeln unter die in dieser Bestimmung vorgesehenen Verbote fällt.

59

Was erstens den Umstand betrifft, dass die wissenschaftlichen Daten und die Beobachtungen der verschiedenen in Rede stehenden Vögel nicht die Feststellung ermöglichen, dass sich auf den betreffenden Flächen Vogelarten in einem ungünstigen Erhaltungszustand befinden, ist darauf hinzuweisen, dass, wie sich aus Rn. 45 des vorliegenden Urteils ergibt, der Anwendungsbereich von Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie nicht auf Vogelarten in einem ungünstigen Erhaltungszustand beschränkt ist.

60

Zweitens impliziert, wenn in einem Wald, der abgeholzt werden soll, Bruten von etwa zehn Vogelpaaren pro Hektar festgestellt werden, die Vornahme von Kahlschlägen und Schirmschlägen während der Brut- und Aufzuchtzeit von Vögeln, dass es in Kauf genommen wird, Vögel in dieser Zeit zu töten oder zu stören oder ihre Nester oder Eier zu zerstören oder zu beschädigen. Somit fallen nach den Feststellungen in den Rn. 46 bis 56 des vorliegenden Urteils die Handlungen, die auf die Vornahme solcher Holzschläge abzielen, jedenfalls unter die in Art. 5 Buchst. a und b der Vogelschutzrichtlinie vorgesehenen Verbote und, sofern sich diese Störung erheblich auf die Zielsetzung auswirkt, die Bestände der betreffenden Vogelarten auf einem ausreichenden Niveau zu erhalten oder auf ein ausreichendes Niveau zu bringen, unter das in Art. 5 Buchst. d dieser Richtlinie vorgesehene Verbot.

61

Drittens erscheint es gemäß dem in Art. 191 Abs. 2 AEUV verankerten Vorsorgegrundsatz nicht ungerechtfertigt, die Feststellung von Bruten einer bestimmten Anzahl von Vogelpaaren pro Hektar auf wissenschaftliche Daten und die Beobachtung einzelner Vögel zu stützen, insbesondere – wie im vorliegenden Fall – auf die Art und das Alter des Waldes sowie auf die Identifizierung einiger Exemplare bei einer Ortsbegehung des betreffenden Gebiets.

62

Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 5 Buchst. a, b und d der Vogelschutzrichtlinie dahin auszulegen ist, dass in Fällen, in denen aufgrund wissenschaftlicher Daten und der Beobachtung einzelner Vögel davon ausgegangen werden kann, dass in einem Wald, der vollständig kahl geschlagen werden soll (Kahlschlag) oder in dem nur ein Teil der Bäume geschlagen werden soll (Schirmschlag), etwa zehn Vogelpaare pro Hektar nisten, ohne dass festgestellt wurde, dass auf der Fläche des Holzschlags Vogelarten nisten, deren Erhaltungszustand ungünstig ist, die Durchführung solcher Holzschläge während der Brut- und Aufzuchtzeit von Vögeln unter die Verbote des Art. 5 Buchst. a und b dieser Richtlinie und, sofern sich die damit verbundene Störung erheblich auf die Zielsetzung auswirkt, die Bestände der betreffenden Vogelarten auf einem ausreichenden Niveau zu erhalten oder auf ein ausreichendes Niveau zu bringen, unter das in Art. 5 Buchst. d dieser Richtlinie vorgesehene Verbot fällt.

Zur vierten bis siebten Frage

63

Mit seinen Fragen vier bis sieben, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 9 Abs. 1 Buchst. a dritter Gedankenstrich in Verbindung mit Art. 2 der Vogelschutzrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die Ausnahmen von den in Art. 5 Buchst. a, b) und d) dieser Richtlinie vorgesehenen Verboten für Kahlschläge oder Schirmschläge während der Brut- und Aufzuchtzeit der Vögel zulässt, um schwere Schäden an Wald als Eigentum zu verhindern, und, falls dies nicht der Fall ist, ob die Richtlinie mit den Art. 16 und 17 der Charta vereinbar ist.

64

Nach ständiger Rechtsprechung ist es nicht Sache des Gerichtshofs, Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben (Urteil vom 20. Oktober 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Rückführung eines Opfers des Menschenhandels], C‑66/21, EU:C:2022:809, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung).

65

Art. 9 Abs. 1 Buchst. a dritter Gedankenstrich der Vogelschutzrichtlinie erlaubt den Mitgliedstaaten, u. a. zur Abwendung erheblicher Schäden an Wäldern von den in Art. 5 dieser Richtlinie vorgesehenen Verboten abzuweichen.

66

Eine solche Abweichung kann nach estnischem Recht offenbar in Form einer Genehmigung des Umweltamts gemäß § 55 Abs. 3 bis 51 LKS gestattet werden.

67

Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen jedoch nicht hervor, dass die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens bei den estnischen Behörden beantragt hätten, ihnen durch die Erteilung von Genehmigungen im Sinne von § 55 Abs. 3 bis 51 LKS zu gestatten, von den Verboten in Art. 5 Buchst. a, b und d der Vogelschutzrichtlinie abzuweichen. Was im Übrigen insbesondere Lemeks Põlva betrifft, geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass in der Berufungsinstanz festgestellt worden ist, dass sie keine in dieser Bestimmung vorgesehenen Gründe für Abweichungen geltend gemacht hat.

68

Da die Fragen vier bis sieben somit hypothetischer Natur sind, sind sie unzulässig.

Kosten

69

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 5 Buchst. a, b und d der Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten

ist dahin auszulegen, dass

lediglich das in Art. 5 Buchst. d vorgesehene Verbot nur gilt, sofern es erforderlich ist, um Störungen vorzubeugen, die sich erheblich auf die in Art. 2 dieser Richtlinie genannte Zielsetzung auswirken würden, die Bestände sämtlicher wildlebenden Vogelarten, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, auf welches die Verträge Anwendung finden, heimisch sind, auf einem Stand zu halten oder auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht, wobei den wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung getragen wird. Dagegen hängt die Anwendung der Verbote in Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie nicht von einer solchen Voraussetzung ab, auch wenn der Zweck der betreffenden menschlichen Tätigkeit ein anderer ist als der Fang oder die Tötung von Vögeln oder die Zerstörung oder Beschädigung ihrer Nester oder Eier.

 

2.

Art. 5 Buchst. a, b und d der Richtlinie 2009/147

ist dahin auszulegen, dass

in Fällen, in denen aufgrund wissenschaftlicher Daten und der Beobachtung einzelner Vögel davon ausgegangen werden kann, dass in einem Wald, der vollständig kahl geschlagen werden soll (Kahlschlag) oder in dem nur ein Teil der Bäume geschlagen werden soll (Schirmschlag), etwa zehn Vogelpaare pro Hektar nisten, ohne dass festgestellt wurde, dass auf der Fläche des Holzschlags Vogelarten nisten, deren Erhaltungszustand ungünstig ist, die Durchführung solcher Holzschläge während der Brut- und Aufzuchtzeit von Vögeln unter die Verbote des Art. 5 Buchst. a und b dieser Richtlinie und, sofern sich die damit verbundene Störung erheblich auf die Zielsetzung auswirkt, die Bestände der betreffenden Vogelarten auf einem ausreichenden Niveau zu erhalten oder auf ein ausreichendes Niveau zu bringen, unter das in Art. 5 Buchst. d dieser Richtlinie vorgesehene Verbot fällt.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Estnisch.