Rechtssache C‑346/23
Banco Santander SA
gegen
Asociación de Consumidores y Usuarios de Servicios Generales – Auge
(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Supremo)
Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 16. Januar 2025
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Märkte für Finanzinstrumente – Richtlinie 2004/39/EG – Art. 52 Abs. 2 – Klage im Interesse der Verbraucher – Verbraucherverbände, die ein berechtigtes Interesse am Schutz der Verbraucher haben – Klagebefugnis zur Wahrnehmung der individuellen Interessen ihrer Mitglieder – Verlust der Klagebefugnis bei Investitionen in Finanzprodukte von hohem wirtschaftlichen Wert – Befreiung von den Prozesskosten und der Verpflichtung zur Tragung der Kosten der Gegenpartei – Verfahrensautonomie – Effektivitätsgrundsatz“
Niederlassungsfreiheit – Freier Dienstleistungsverkehr – Märkte für Finanzinstrumente – Richtlinie 2004/39 – Klage im Interesse der Verbraucher – Interesse der Verbraucher – Begriff – Individuelle Interessen einer Vielzahl von Verbrauchern – Einbeziehung
(Richtlinie 2004/39 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 52 Abs. 2)
(vgl. Rn. 46-48)
Niederlassungsfreiheit – Freier Dienstleistungsverkehr – Märkte für Finanzinstrumente – Richtlinie 2004/39 – Klage im Interesse der Verbraucher – Verbraucherverband, der die individuellen Interessen einer Vielzahl seiner Mitglieder wahrnimmt – Klagebefugnis – Beschränkungen je nach der finanziellen Leistungsfähigkeit der vertretenen Anleger und den erworbenen Finanzinstrumenten – Unzulässigkeit – Verweigerung von Prozesskostenhilfe für diesen Verband aufgrund der finanziellen Leistungsfähigkeit der vertretenen Anleger und der erworbenen Finanzinstrumente – Zulässigkeit – Voraussetzungen
(Richtlinie 2004/39 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 52 Abs. 2)
(vgl. Rn. 49, 50, 55-57, 61, 63 und Tenor)
Zusammenfassung
Im Rahmen eines Rechtsstreits über die Gültigkeit von Verträgen über den Erwerb von Finanzinstrumenten, die von Anlegern/Verbrauchern geschlossen wurden, die von einem Verbraucherverband verteidigt werden, bestätigt der Gerichtshof, dass die Klagebefugnis eines solchen Verbands, der die individuellen Interessen einer Vielzahl seiner Mitglieder vertritt, keinen Beschränkungen hinsichtlich der finanziellen Leistungsfähigkeit der Mitglieder und der Besonderheiten der Finanzprodukte, in die die Mitglieder investiert haben, unterworfen werden darf. Derartige Kriterien können jedoch bei der Entscheidung berücksichtigt werden, ob der Verbraucherverband Prozesskostenhilfe erhalten kann.
Zwei natürliche Personen hatten bei Banco Banif, jetzt Banco Santander, Finanzprodukte erworben. Um die Nichtigkeit dieser Kaufverträge wegen Willensmängeln feststellen zu lassen, erhob die Asociación de Consumidores y Usuarios de Servicios Generales – Auge (Verband von Verbrauchern und Nutzern allgemeiner Dienstleistungen, im Folgenden: Auge) vor den spanischen Gerichten in Vertretung der beiden natürlichen Personen Klage gegen diese Bank.
Nachdem das erstinstanzliche Gericht und das Berufungsgericht dieser Klage stattgegeben hatten, legte die vorbezeichnete Bank einen außerordentlichen Rechtsbehelf wegen eines Verfahrensfehlers ein und erhob gegen das Urteil des Berufungsgerichts Kassationsbeschwerde beim Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien), dem vorlegenden Gericht. Die Bank trägt vor letzterem Gericht vor, dass die Auge nicht befugt sei, im Namen ihrer Mitglieder Klage zu erheben, da es sich bei den von diesen erworbenen Produkten um spekulative Finanzprodukte von hohem wirtschaftlichen Wert und nicht um Produkte handele, deren Nutzung allgemein und weit verbreitet sei, was bedeute, dass die erhobene Klage nach nationalem Recht nicht unter den Verbraucherschutz falle.
Nach der nationalen Rechtsprechung seien Verbraucherverbände nämlich nicht klagebefugt, wenn die Klage Investitionen in spekulative Finanzprodukte oder Investitionen von hohem wirtschaftlichen Wert betreffe, da es sich bei diesen Produkten nicht um Produkte handele, deren Nutzung allgemein und weit verbreitet sei. Durch die Versagung der Klagebefugnis in diesem Fall werde verhindert, dass Investoren mit einer hohen finanziellen Leistungsfähigkeit die besondere Klagebefugnis von Verbraucherverbänden betrügerisch oder missbräuchlich nutzten, um von dem diesen Verbänden nach nationalem Recht zuerkannten Recht auf Prozesskostenhilfe zu profitieren.
In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die nationale Rechtsprechung, die auf diese Weise die Klagebefugnis eines Verbraucherverbands für Rechnung eines dieser Anleger/Verbraucher aufgrund von dessen finanzieller Leistungsfähigkeit sowie des wirtschaftlichen Wertes, der Art und der Komplexität von dessen Investitionen beschränke, mit Art. 52 Abs. 2 der Richtlinie 2004/39 ( 1 ) vereinbar ist.
Würdigung durch den Gerichtshof
Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass ein „Kleinanleger“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Nr. 12 der Richtlinie 2004/39 als „Verbraucher“ eingestuft werden kann, sofern er eine natürliche Person ist, die außerhalb ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit handelt ( 2 ). Zudem folgt aus dem 14. Erwägungsgrund der Richtlinie 2020/1828 ( 3 ), dass ein „Kleinanleger“ ein Verbraucher ist, und aus dem 13. Erwägungsgrund dieser Richtlinie, dass diese neben dem allgemeinen Verbraucherschutz auch Bereiche wie Finanzdienstleistungen erfasst.
Sodann stellt der Gerichtshof klar, dass die Mitgliedstaaten berechtigt sind, Verbraucherverbänden die Klagebefugnis zur Wahrnehmung der individuellen Interessen einer Vielzahl ihrer Mitglieder einzuräumen.
Zu dieser Schlussfolgerung gelangt der Gerichtshof, indem er feststellt, dass sich Art. 52 Abs. 2 der Richtlinie 2004/39 auf das Interesse der „Verbraucher“ im Plural bezieht. Auch wenn die Verwendung des Plurals darauf hinweist, dass die Klage eines Verbraucherverbands die Interessen einer Vielzahl von Verbrauchern zum Gegenstand haben muss, ist in der genannten Bestimmung nicht festgelegt, ob diese kollektive Dimension der Klage auf das Allgemeininteresse der Verbraucher oder vielmehr auf die individuellen Interessen mehrerer Verbraucher gerichtet ist. Da diese Bestimmung jedoch sowohl in Bezug auf die Festlegung der Stellen, die die Interessen von Verbrauchern vertreten können, als auch in Bezug auf die Verfahrensmodalitäten, nach denen diese Vertretung tatsächlich auszuüben ist, auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, steht es den Mitgliedstaaten frei, den individuellen oder kollektiven Charakter der Interessen festzulegen, die von den Verbraucherverbänden wahrgenommen werden können.
Hat ein Mitgliedstaat Verbraucherverbänden die Klagebefugnis zur Wahrnehmung der individuellen Interessen einer Vielzahl ihrer Mitglieder eingeräumt, ist es ihm hingegen nicht gestattet, die Klagebefugnis eines Verbraucherverbands auf die Verteidigung einer bestimmten Verbrauchergruppe zu beschränken, die auf der Grundlage der finanziellen Leistungsfähigkeit der Verbraucher und der Finanzinstrumente, in die sie investiert haben, bestimmt wird. Art. 52 Abs. 2 der Richtlinie 2004/39 sieht nämlich ein Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs im Interesse aller Verbraucher/Anleger vor, ohne insoweit eine Unterscheidung vorzunehmen.
Dagegen schreibt weder diese Bestimmung noch irgendeine andere Unionsregelung die Gewährung von Prozesskostenhilfe für Verbraucherverbände vor, die im Interesse von Verbrauchern Klagen erheben. Demnach hat jeder Mitgliedstaat seine eigenen Regelungen über die Prozesskostenhilfe nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie aufzustellen, sofern diese nicht ungünstiger als die Bestimmungen sind, die ähnliche, dem nationalen Recht unterliegende Fälle regeln (Äquivalenzgrundsatz), und sie die Ausübung der vom Unionsrecht verliehenen Rechte nicht in der Praxis unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz). Insoweit dürfen die Prozesskosten, die ein Verband zu tragen hat, wenn er keine Prozesskostenhilfe erhält, keine unüberwindlichen Kosten darstellen, die die Ausübung des in Art. 52 Abs. 2 der Richtlinie 2004/39 vorgesehenen Rechts auf Einlegung eines Rechtsbehelfs unmöglich machen oder übermäßig erschweren könnten.
( 1 ) Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates (ABl. 2004, L 145, S. 1).
( 2 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Oktober 2019, Petruchová (C‑208/18, EU:C:2019:825, Rn. 76).
( 3 ) Richtlinie (EU) 2020/1828 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2020 über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG (ABl. 2020, L 409, S. 1). Anhang I dieser Richtlinie verweist auf die Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 über Märkte für Finanzinstrumente sowie zur Änderung der Richtlinien 2002/92/EG und 2011/61/EU (ABl. 2014, L 173, S. 349), die die Richtlinie 2004/39 aufgehoben und ersetzt hat und deren Art. 74 Abs. 2, der das Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs im Interesse von Verbrauchern regelt, Art. 52 Abs. 2 der Richtlinie 2004/39 entspricht; die beiden Artikel haben nahezu denselben Wortlaut.