URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

24. Juli 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union – Art. 325 Abs. 1 AEUV – SFI-Übereinkommen – Art. 2 Abs. 1 – Verpflichtung zur Bekämpfung von Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union durch abschreckende und wirksame Maßnahmen – Pflicht, strafrechtliche Sanktionen vorzusehen – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Schwerer Mehrwertsteuerbetrug – Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit – Urteil eines Verfassungsgerichts, mit dem eine nationale, die Gründe für die Unterbrechung dieser Frist regelnde Bestimmung für ungültig erklärt wurde – Systemische Gefahr der Straflosigkeit – Schutz der Grundrechte – Art. 49 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen – Erfordernisse der Vorhersehbarkeit und der Bestimmtheit des Strafgesetzes – Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) – Grundsatz der Rechtssicherheit – Nationaler Schutzstandard für die Grundrechte – Pflicht der Gerichte eines Mitgliedstaats, Urteile des Verfassungsgerichts und/oder des obersten Gerichts dieses Mitgliedstaats im Fall der Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht unangewendet zu lassen – Disziplinarische Verantwortlichkeit der Richter im Fall der Nichtbeachtung dieser Urteile – Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts“

In der Rechtssache C‑107/23 PPU [Lin] ( i )

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Brașov (Berufungsgericht Brașov, Rumänien) mit Entscheidung vom 22. Februar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Strafverfahren gegen

C. I.,

C. O.,

K. A.,

L. N.,

S. P.,

Beteiligter:

Statul român,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), E. Regan und P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi, des Kammerpräsidenten D. Gratsias, der Richter J.‑C. Bonichot, S. Rodin, F. Biltgen, N. Piçarra, N. Jääskinen und J. Passer sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. Mai 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von C. I., vertreten durch C.‑I. Gliga, Avocat,

von C. O., vertreten durch M. Gornoviceanu, Avocată,

von L. N., vertreten durch C.‑I. Gliga, Avocat,

von S. P., vertreten durch H. Crişan, Avocat,

der rumänischen Regierung, vertreten durch L.‑E. Baţagoi, M. Chicu, E. Gane und O.‑C. Ichim als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Baquero Cruz, F. Blanc, I. V. Rogalski, F. Ronkes Agerbeek und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 29. Juni 2023

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2, Art. 4 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, von Art. 325 Abs. 1 AEUV, von Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), von Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, unterzeichnet in Brüssel am 26. Juli 1995, im Anhang des Rechtsakts des Rates vom 26. Juli 1995 (ABl. 1995, C 316, S. 48, im Folgenden: SFI-Übereinkommen), der Art. 2 und 12 der Richtlinie (EU) 2017/1371 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug (ABl. 2017, L 198, S. 29, im Folgenden: SFI-Richtlinie), der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1), der Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung (ABl. 2006, L 354, S. 56) sowie des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts.

2

Es ergeht im Rahmen außerordentlicher Rechtsbehelfe von C. I., C. O., K. A., L. N. und S. P. (im Folgenden zusammen: Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens) wegen Aufhebung ihrer rechtskräftigen Verurteilung zu Freiheitsstrafen aufgrund von Taten, die als Steuerhinterziehung und Bildung einer kriminellen Vereinigung eingestuft wurden.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

SFI-Übereinkommen

3

Art. 1 („Allgemeine Bestimmungen“) des SFI-Übereinkommens sieht vor:

„(1)   Für die Zwecke dieses Übereinkommens umfasst der Tatbestand des Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften

b)

im Zusammenhang mit Einnahmen jede vorsätzliche Handlung oder Unterlassung betreffend

die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften oder aus den Haushalten, die von den Europäischen Gemeinschaften oder in deren Auftrag verwaltet werden, rechtswidrig vermindert werden;

(2)   Vorbehaltlich des Artikels 2 Absatz 2 trifft jeder Mitgliedstaat die erforderlichen und geeigneten Maßnahmen, um Absatz 1 so in sein innerstaatliches Recht umzusetzen, dass die von ihm erfassten Handlungen als Straftaten umschrieben werden.

(3)   Vorbehaltlich des Artikels 2 Absatz 2 ergreift jeder Mitgliedstaat ferner die erforderlichen Maßnahmen, damit die vorsätzliche Handlung oder Bereitstellung falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der in Absatz 1 erwähnten Folge als Straftat umschrieben wird, sofern sie nicht bereits entweder als selbständige Straftat oder als Beteiligung am Betrug im Sinne von Absatz 1, als Anstiftung dazu oder als Versuch eines solchen Betrugs strafbar ist.

…“

4

Art. 2 („Sanktionen“) des SFI-Übereinkommens bestimmt:

„(1)   Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in Artikel 1 genannten Handlungen sowie die Beteiligungen an den Handlungen im Sinne von Artikel 1 Absatz 1, die Anstiftung dazu oder der Versuch solcher Handlungen durch wirksame, angemessene und abschreckende Strafen geahndet werden können, die zumindest in schweren Betrugsfällen auch Freiheitsstrafen umfassen, die zu einer Auslieferung führen können; als schwerer Betrug gilt jeder Betrug, der einen in jedem Mitgliedstaat festzusetzenden Mindestbetrag zum Gegenstand hat. Dieser Mindestbetrag darf 50000 [Euro] nicht überschreiten.

(2)   Jedoch kann ein Mitgliedstaat in minderschweren Betrugsfällen, die einen Gesamtbetrag von weniger als 4000 [Euro] zum Gegenstand haben und bei denen gemäß seinen Rechtsvorschriften keine besonderen erschwerenden Umstände vorliegen, Sanktionen einer anderen Rechtsnatur als die in Absatz 1 vorgesehenen Strafen vorsehen.

…“

SFI-Richtlinie

5

Art. 16 („Ersetzung des [SFI-Übereinkommens]“) der SFI-Richtlinie lautet:

„Das [SFI-Übereinkommen] und die diesbezüglichen Protokolle vom 27. September 1996, 29. November 1996 und 19. Juni 1997 werden durch diese Richtlinie für die Mitgliedstaaten, die durch sie gebunden sind, mit Wirkung vom 6. Juli 2019 ersetzt.

Für die Mitgliedstaaten, die durch diese Richtlinie gebunden sind, gelten Verweise auf das Übereinkommen als Verweise auf diese Richtlinie.“

Rumänisches Recht

Rumänische Verfassung

6

Der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) ist in Art. 15 Abs. 2 der Constituția României (rumänische Verfassung) niedergelegt, wonach „[d]as Gesetz …, mit Ausnahme von günstigeren Straf- oder Verwaltungsrechtsvorschriften, nur für die Zukunft [gilt]“.

7

Art. 147 Abs. 1 und 4 der rumänischen Verfassung lautet:

„(1)   Die Bestimmungen von geltenden Gesetzen und Anordnungen sowie die Bestimmungen von Verordnungen, deren Verfassungswidrigkeit festgestellt wurde, verlieren 45 Tage nach der Veröffentlichung der Entscheidung der Curtea Constituțională [(Verfassungsgerichtshof, Rumänien)] ihre Rechtswirkung, wenn das Parlament bzw. die Regierung in dieser Zeit die verfassungswidrigen Bestimmungen nicht mit den Bestimmungen der Verfassung in Einklang bringt. Während dieses Zeitraums sind die als verfassungswidrig befundenen Bestimmungen von Rechts wegen außer Kraft gesetzt.

(4)   Die Entscheidungen der Curtea Constituțională [(Verfassungsgerichtshof)] werden im Monitorul Oficial al României veröffentlicht. Ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung sind diese Entscheidungen allgemein verbindlich und haben Rechtswirkung nur für die Zukunft.“

Rumänisches Strafrecht

8

Die Straftat der Steuerhinterziehung wird in Art. 9 der Legea nr. 241/2005, pentru prevenirea și combaterea evaziunii fiscale (Gesetz Nr. 241/2005 zur Verhütung und Bekämpfung von Steuerhinterziehung), vom 15. Juli 2005 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 672 vom 27. Juli 2005) in ihrer im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung wie folgt definiert:

„(1)   Folgende Taten, die begangen werden, um sich steuerlichen Pflichten zu entziehen, stellen eine Steuerhinterziehung dar und werden mit Freiheitsstrafe von zwei bis acht Jahren und dem Verlust von Rechten oder mit Geldstrafe bestraft:

c)

die Verbuchung von Ausgaben, denen keine tatsächlichen Vorgänge entsprechen, in der Rechnungslegung oder in anderen Rechtsdokumenten oder die Verbuchung anderer fiktiver Vorgänge;

(2)   Führen die in Absatz 1 genannten Taten zu einem Schaden im Gegenwert von mehr als 100000 Euro in Landeswährung, erhöhen sich die Mindest- und die Höchststrafe um fünf Jahre.

(3)   Führen die in Absatz 1 genannten Taten zu einem Schaden im Gegenwert von mehr als 500000 Euro in Landeswährung, erhöhen sich die Mindest- und die Höchststrafe um sieben Jahre.“

9

Am 1. Februar 2014 trat die Legea nr. 286/2009, privind Codul penal (Gesetz Nr. 286/2009 über das Strafgesetzbuch), vom 17. Juli 2009 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 510 vom 24. Juli 2009, im Folgenden: Strafgesetzbuch) in Kraft.

10

Nach Art. 154 Abs. 1 Buchst. b des Strafgesetzbuchs beträgt die allgemeine Verjährungsfrist für die den Beschwerdeführern des Ausgangsverfahrens zur Last gelegten Straftaten zehn Jahre.

11

Vor dem Inkrafttreten des Strafgesetzbuchs sah die Bestimmung über die Unterbrechung der Verjährungsfristen in Strafsachen Folgendes vor:

„Die Verjährungsfrist gemäß Art. 122 wird durch die Vornahme einer jeden Handlung unterbrochen, die dem Verdächtigen oder Beschuldigten nach dem Gesetz im Lauf des Strafverfahrens mitgeteilt werden muss.“

12

In seiner ursprünglichen Fassung bestimmte Art. 155 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs:

„Die Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit wird durch die Vornahme einer jeden Verfahrenshandlung in der betreffenden Sache unterbrochen.“

13

Art. 155 Abs. 1 wurde durch die Ordonanța de urgență a Guvernului nr. 71/2022, pentru modificarea articolului 155 alineatul (1) din Legea nr. 286/2009 privind Codul penal (Dringlichkeitsverordnung der Regierung Nr. 71/2022 zur Änderung von Art. 155 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 286/2009 über das Strafgesetzbuch), vom 30. Mai 2022 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 531 vom 30. Mai 2022, im Folgenden: OUG Nr. 71/2022) wie folgt geändert:

„Die Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit wird durch die Vornahme einer jeden Verfahrenshandlung in der betreffenden Sache unterbrochen, die dem Verdächtigen oder Beschuldigten nach dem Gesetz mitgeteilt werden muss.“

14

Die Tragweite des in Art. 15 Abs. 2 der rumänischen Verfassung niedergelegten Grundsatzes der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) wird in Art. 5 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs wie folgt präzisiert:

„Wenn zwischen der Begehung der Straftat und dem verfahrensbeendenden Urteil eines oder mehrere Strafgesetze erlassen wurden, findet das günstigere Anwendung.“

15

Art. 426 („Fälle des außerordentlichen Rechtsbehelfs der Nichtigkeitsbeschwerde“) der Legea nr. 135/2010, privind Codul de procedură penală (Gesetz Nr. 135/2010 über die Strafprozessordnung), vom 1. Juli 2010 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 486 vom 15. Juli 2010) sieht in seiner im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung in Buchst. b vor:

„Gegen rechtskräftige Entscheidungen in Strafverfahren kann in folgenden Fällen eine Nichtigkeitsbeschwerde erhoben werden:

b)

wenn der Angeklagte verurteilt wurde, obwohl es Beweise für das Vorliegen eines Grundes für die Einstellung des Strafverfahrens gab.

…“

Disziplinarvorschriften für Richter

16

Art. 99 der Legea nr. 303/2004, privind statutul judecătorilor și procurorilor (Gesetz Nr. 303/2004 über den Status von Richtern und Staatsanwälten), vom 28. Juni 2004 (neu veröffentlicht im Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 826 vom 13. September 2005) bestimmte:

„Disziplinarvergehen sind:

ș)

Nichtbeachtung von Urteilen der Curtea Constituțională [(Verfassungsgerichtshof)] oder von Urteilen der Înalta Curte de Casație și Justiție [(Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien)], mit denen über Rechtsmittel zur Wahrung des Rechts entschieden wird;

…“

17

Art. 271 der Legea nr. 303/2022, privind statutul judecătorilor și procurorilor (Gesetz Nr. 303/2022 über den Status von Richtern und Staatsanwälten), vom 15. November 2022 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 1102 vom 16. November 2022) sieht vor:

„Disziplinarvergehen sind:

s)

die Ausübung von Ämtern in bösem Glauben oder grob fahrlässig.“

18

In Art. 272 Abs. 1 und 2 dieses Gesetzes heißt es:

„(1)   Ein Richter bzw. Staatsanwalt handelt in bösem Glauben, wenn er Bestimmungen des materiellen oder des Verfahrensrechts wissentlich verletzt und dabei beabsichtigt oder in Kauf nimmt, einer Person Schaden zuzufügen.

(2)   Ein Richter bzw. Staatsanwalt handelt grob fahrlässig, wenn er die Bestimmungen des materiellen oder des Verfahrensrechts in fahrlässiger, schwerwiegender, unbestreitbarer und unentschuldbarer Weise missachtet.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

19

Im Jahr 2010 gaben die Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens Handelsgeschäfte und Einnahmen aus dem Verkauf von Dieselkraftstoff, der im Verfahren der Verbrauchsteueraussetzung erworben worden war, an inländische Begünstigte in ihren Buchungsunterlagen nicht oder nicht vollständig an, wodurch der Staatshaushalt, insbesondere in Bezug auf die Mehrwertsteuer und die Verbrauchsteuer auf Dieselkraftstoff, geschädigt wurde.

20

Mit Strafurteil Nr. 285/AP vom 30. Juni 2020 verurteilte die Curtea de Apel Brașov (Berufungsgericht Brașov, Rumänien), das vorlegende Gericht, unter Anwendung von Art. 5 des Strafgesetzbuchs die Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens wegen Steuerhinterziehung (Art. 9 Abs. 1 Buchst. b und c sowie Art. 9 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 241/2005 zur Verhütung und Bekämpfung von Steuerhinterziehung in seiner im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung) und wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung (Art. 7 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. b Nr. 16 der Legea nr. 39/2003, privind prevenirea și combaterea criminalității organizate [Gesetz Nr. 39/2003 zur Verhütung und Bekämpfung des organisierten Verbrechens], vom 21. Januar 2003 [Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 50 vom 29. Januar 2003] in seiner im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung) zu Freiheitsstrafen bzw. bestätigte ihre Verurteilung durch das Strafurteil Nr. 38/S des Tribunalul Brașov (Regionalgericht Brașov, Rumänien) vom 13. März 2018.

21

Zwei Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens, K. A. und S. P., befanden sich aufgrund des Urteils Nr. 285/AP der Curtea de Apel Brașov (Berufungsgericht Brașov) vom 30. Juni 2020 in Haft, als das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen gestellt wurde.

22

Die Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens wurden außerdem zum Ersatz eines Steuerschadens, einschließlich Mehrwertsteuer, in Höhe von insgesamt 13964482 rumänischen Lei (RON) (etwa 3240000 Euro) verurteilt.

23

In seinem Vorabentscheidungsersuchen nimmt das vorlegende Gericht auf nationale Rechtsprechung zur ursprünglichen Fassung von Art. 155 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs Bezug, die sich entscheidend auf die Situation der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens auswirken könne.

24

Im Einzelnen weist das vorlegende Gericht erstens darauf hin, dass die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) mit Urteil Nr. 297 vom 26. April 2018, veröffentlicht am 25. Juni 2018 (im Folgenden: Urteil Nr. 297/2018 der Curtea Constituțională [Verfassungsgerichtshof]), einem Einwand der Verfassungswidrigkeit dieser Bestimmung stattgegeben habe, soweit sie die Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch „jede Verfahrenshandlung“ vorsehe.

25

Die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) habe u. a. festgestellt, dass es dieser Bestimmung an Vorhersehbarkeit fehle und dass sie gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen verstoße, da sich die Worte „jede Verfahrenshandlung“ auch auf Handlungen erstreckten, die dem Verdächtigen oder Beschuldigten nicht mitgeteilt worden seien, was ihn daran hindere, Kenntnis davon zu erlangen, dass eine neue Frist für die Verjährung seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu laufen begonnen habe.

26

Ferner habe sie festgestellt, dass die frühere Rechtsvorschrift den in den einschlägigen verfassungsrechtlichen Bestimmungen aufgestellten Anforderungen an die Vorhersehbarkeit genügt habe, da sie vorgesehen habe, dass nur die Vornahme einer Handlung, die dem Verdächtigen oder Beschuldigten nach dem Gesetz mitzuteilen sei, die Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit unterbrechen könne.

27

Zweitens ist nach den Angaben des vorlegenden Gerichts der nationale Gesetzgeber im Anschluss an das Urteil Nr. 297/2018 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) mehrere Jahre lang nicht tätig geworden, um die für verfassungswidrig erklärte Bestimmung in Art. 155 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs zu ersetzen.

28

Drittens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) mit Urteil Nr. 358 vom 26. Mai 2022, veröffentlicht am 9. Juni 2022 (im Folgenden: Urteil Nr. 358/2022 der Curtea Constituțională [Verfassungsgerichtshof]), einem erneuten Einwand der Verfassungswidrigkeit von Art. 155 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs stattgegeben habe. In diesem Urteil habe die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) klargestellt, dass ihr Urteil Nr. 297/2018 die Rechtsnatur eines „einfachen“ Urteils zur Verfassungswidrigkeit aufweise. Unter Hervorhebung der Untätigkeit des Gesetzgebers seit dem Urteil Nr. 297/2018 sowie der Tatsache, dass dieses Urteil zusammen mit der Untätigkeit zu einer neuen Situation geführt habe, in der es an Klarheit und Vorhersehbarkeit hinsichtlich der für die Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit geltenden Regeln gemangelt habe und zu einer uneinheitlichen gerichtlichen Praxis gekommen sei, habe sie klargestellt, dass zwischen der Veröffentlichung des Urteils Nr. 297/2018 und dem Inkrafttreten eines Rechtsakts zur Festlegung der anwendbaren Regel „das [rumänische] positive Recht keinen Fall [enthielt], der die Unterbrechung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zulässt“.

29

Überdies habe die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) darauf hingewiesen, dass ihr Urteil Nr. 297/2018 nicht darauf abgezielt habe, die Fristen für die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit oder ihre Unterbrechung abzuschaffen, sondern darauf, Art. 155 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs mit den verfassungsrechtlichen Erfordernissen in Einklang zu bringen.

30

Viertens geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die rumänische Regierung als delegierter Gesetzgeber am 30. Mai 2022, d. h. nach Erlass des Urteils Nr. 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof), aber vor dessen Veröffentlichung, die am selben Tag in Kraft getretene OUG Nr. 71/2022 erlassen hat, mit der Art. 155 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs dahin geändert wurde, dass die Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch jede Verfahrenshandlung unterbrochen wird, die dem Verdächtigen oder Beschuldigten mitgeteilt werden muss.

31

Fünftens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) mit ihrem am 28. November 2022 veröffentlichten Urteil Nr. 67/2022 vom 25. Oktober 2022 klargestellt habe, dass nach rumänischem Recht die Vorschriften über die Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit zum materiellen Strafrecht gehörten und dass sie daher unbeschadet des u. a. in Art. 15 Abs. 2 der rumänischen Verfassung garantierten Grundsatzes der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) dem strafrechtlichen Rückwirkungsverbot unterlägen.

32

Infolgedessen habe die Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) entschieden, dass eine rechtskräftige Verurteilung grundsätzlich Gegenstand des außerordentlichen Rechtsbehelfs der Nichtigkeitsbeschwerde sein könne, gestützt auf die Wirkungen der Urteile Nrn. 297/2018 und 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) als günstigeres Strafgesetz (lex mitior). Dies sei jedoch ausgeschlossen, wenn das Berufungsgericht die Frage der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in dem Verfahren, das zu der rechtskräftigen Verurteilung geführt habe, bereits geprüft habe.

33

Die Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens legten bei der Curtea de Apel Brașov (Berufungsgericht Brașov) außerordentliche Nichtigkeitsbeschwerden gegen das Urteil Nr. 285/AP dieses Gerichts vom 30. Juni 2020 ein. Sie beantragen gemäß Art. 426 Buchst. b des Gesetzes Nr. 135/2010 über die Strafprozessordnung in seiner im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung die Aufhebung ihrer strafrechtlichen Verurteilung mit der Begründung, dass sie verurteilt worden seien, obwohl es Beweise für das Vorliegen eines Grundes für die Einstellung des Strafverfahrens, und zwar den Ablauf der Verjährungsfrist für ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit, gegeben habe.

34

Zur Stützung ihrer Beschwerde berufen sie sich auf der Grundlage des Grundsatzes der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) auf die Verjährung ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit im Anschluss an die Urteile Nrn. 297/2018 und 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof).

35

Sie machen im Wesentlichen geltend, das rumänische Recht habe zwischen der Veröffentlichung des Urteils Nr. 297/2018 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) am 25. Juni 2018 und der Veröffentlichung des Urteils Nr. 358/2022 am 9. Juni 2022 keinen Grund für eine Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit vorgesehen.

36

Der Umstand, dass das positive Recht während dieser Zeit keinen Grund für eine Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit vorgesehen habe, stelle für sich genommen ein günstigeres Strafgesetz dar, das nach dem u. a. in der rumänischen Verfassung verankerten Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) auf sie anzuwenden sei.

37

Sollte dieser Auslegung gefolgt werden, wäre nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts angesichts dessen, wann die verfolgten Taten begangen wurden, im konkreten Fall die in Art. 154 Abs. 1 Buchst. b des Strafgesetzbuchs vorgesehene Verjährungsfrist von zehn Jahren abgelaufen, bevor die Verurteilung der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens rechtskräftig wurde, was dazu führen würde, dass das Strafverfahren einzustellen wäre und sie nicht verurteilt werden könnten.

38

Das vorlegende Gericht führt mehrere Gründe an, aus denen die durch die rumänische Verfassung garantierte Heranziehung des Grundsatzes der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens auszuschließen sein könnte.

39

Es weist u. a. darauf hin, dass die durch das Fehlen eines Grundes für die Unterbrechung der Verjährungsfrist in Strafsachen gekennzeichnete rechtliche Situation, auf die sich die Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens beriefen, nicht auf einer Handlung beruhe, in der der Wille des Gesetzgebers zum Ausdruck komme, sondern auf einem Urteil der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof), mit dem die ursprüngliche Fassung von Art. 155 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs für verfassungswidrig erklärt worden sei. Der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) gelte aber nur für zeitlich aufeinanderfolgende, vom Gesetzgeber erlassene Gesetze.

40

In diesem Kontext möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die von den Beschwerdeführern des Ausgangsverfahrens vertretene Auslegung, die zur Folge hätte, dass sie von ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Steuerhinterziehungen befreit würden, die sich auf den Haushalt der Europäischen Union und den Schutz ihrer finanziellen Interessen auswirken könnten, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Eine solche Auslegung, die für eine beträchtliche Zahl von Strafsachen gelten könnte, würde insbesondere Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV, Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens, die Art. 1, 3 und 4 der Entscheidung 2006/928, Art. 2 und Art. 12 Abs. 1 der SFI-Richtlinie sowie die Richtlinie 2006/112 beeinträchtigen.

41

Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, es verfüge zwar nur über begrenzte Angaben, doch könnten die Auswirkungen der Urteile Nrn. 297/2018 und 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) auf die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eine beträchtliche Zahl von Rechtssachen betreffen. Die nationalen Gerichte hätten auch im Rahmen außerordentlicher Nichtigkeitsbeschwerden wie der des Ausgangsverfahrens zugunsten der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit entschieden. Zudem habe die Europäische Kommission in ihrem Bericht vom 22. November 2022 an das Europäische Parlament und den Rat über Rumäniens Fortschritte im Rahmen des Kooperations- und Kontrollverfahrens (COM[2022] 664 final) ihre Besorgnis hinsichtlich der Auswirkungen dieser Rechtsprechung auf wichtige laufende Strafverfahren zum Ausdruck gebracht.

42

Überdies könnte sich das vorlegende Gericht, falls eine unionsrechtskonforme Auslegung in Anbetracht der vor ihm geltend gemachten Gründe nicht möglich sein sollte, veranlasst sehen, die von der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) und/oder von der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) zur Wahrung des Rechts über Rechtsmittel getroffenen Entscheidungen unangewendet zu lassen.

43

Die neue, in den Art. 271 und 272 des Gesetzes Nr. 303/2022 über den Status der Richter und Staatsanwälte vorgesehene Disziplinarordnung erlaube es aber, Richter zu bestrafen, die Urteile der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) oder der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof), mit denen zur Wahrung des Rechts über Rechtsmittel entschieden worden sei, wissentlich und damit „in bösem Glauben“ oder grob fahrlässig im Sinne dieser Bestimmungen nicht beachteten.

44

Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel Brașov (Berufungsgericht Brașov) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sind Art. 2 EUV, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 4 Abs. 3 EUV in Verbindung mit Art. 325 Abs. 1 AEUV, mit Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens, mit den Art. 2 und 12 der SFI-Richtlinie sowie mit der Richtlinie 2006/112, angesichts des Grundsatzes wirksamer und abschreckender Sanktionen in schweren Betrugsfällen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union, alle unter Anwendung der Entscheidung 2006/928, im Licht von Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta dahin auszulegen, dass sie einer Rechtslage wie jener im Ausgangsverfahren entgegenstehen, in der die verurteilten Beschwerdeführer mit einem außerordentlichen Rechtsbehelf die Aufhebung einer rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung beantragen und sich dabei auf die Anwendung des Grundsatzes des günstigeren Strafgesetzes berufen, das ihrer Meinung nach im Verfahren in der Sache anwendbar gewesen wäre und eine kürzere Verjährungsfrist vorgesehen hätte, die vor der rechtskräftigen Entscheidung der Sache abgelaufen gewesen wäre, sich aber erst später aus einer Entscheidung des nationalen Verfassungsgerichts ergeben hat, mit der ein Gesetzestext zur Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für verfassungswidrig erklärt wurde (Urteil Nr. 358/2022 der Curtea Constituțională [Verfassungsgerichtshof]), weil der Gesetzgeber untätig geblieben sei und es versäumt habe, den Gesetzeswortlaut an eine andere, vier Jahre vor dem Urteil Nr. 358/2022 ergangene Entscheidung dieses Verfassungsgerichts (Urteil Nr. 297/2018 der Curtea Constituțională [Verfassungsgerichtshof]) anzupassen – wobei sich in der Zwischenzeit bereits in Anwendung des Urteils Nr. 297/2018 eine gefestigte Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte gebildet hatte, nach der der Wortlaut in der nach dem Urteil Nr. 297/2018 ausgelegten Form fortbesteht, was die praktische Auswirkung hatte, dass die Verjährungsfrist sämtlicher Straftaten, hinsichtlich deren vor dem Urteil Nr. 297/2018 keine rechtskräftige Verurteilung erfolgt war, um die Hälfte verkürzt und das Strafverfahren gegen die in dieser Sache Angeklagten folglich eingestellt wurde?

2.

Sind der die Werte der Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte in einer Gesellschaft, die sich durch Gerechtigkeit auszeichnet, betreffende Art. 2 EUV und der den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zwischen der Union und den Mitgliedstaaten betreffende Art. 4 Abs. 3 EUV unter Anwendung der Entscheidung 2006/928 im Hinblick auf die Verpflichtung zur Gewährleistung der Effizienz des rumänischen Justizsystems und im Licht von Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta, der den Grundsatz des günstigeren Strafgesetzes statuiert, mit Blick auf das nationale Justizsystem in seiner Gesamtheit dahin auszulegen, dass sie einer Rechtslage wie jener im Ausgangsverfahren entgegenstehen, in der die verurteilten Beschwerdeführer mit einem außerordentlichen Rechtsbehelf die Aufhebung einer rechtskräftigen Verurteilung beantragen und sich dabei auf die Anwendung des Grundsatzes des günstigeren Strafgesetzes berufen, das ihrer Meinung nach im Verfahren in der Sache anwendbar gewesen wäre und eine kürzere Verjährungsfrist vorgesehen hätte, die vor der rechtskräftigen Entscheidung der Sache abgelaufen gewesen wäre, sich aber erst später aus einer Entscheidung des nationalen Verfassungsgerichts ergeben hat, mit der ein Gesetzestext zur Unterbrechung der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für verfassungswidrig erklärt wurde (Urteil Nr. 358/2022 der Curtea Constituțională [Verfassungsgerichtshof]), weil der Gesetzgeber untätig geblieben sei und es versäumt habe, den Gesetzeswortlaut an eine andere, vier Jahre vor dem Urteil Nr. 358/2022 ergangene Entscheidung dieses Verfassungsgerichts (Urteil Nr. 297/2018 der Curtea Constituțională [Verfassungsgerichtshof]) anzupassen – wobei sich in der Zwischenzeit bereits in Anwendung des Urteils Nr. 297/2018 eine gefestigte Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte gebildet hatte, nach der der Wortlaut in der nach dem Urteil Nr. 297/2018 ausgelegten Form fortbesteht, was die praktische Auswirkung hatte, dass die Verjährungsfrist sämtlicher Straftaten, hinsichtlich deren vor dem Urteil Nr. 297/2018 keine rechtskräftige Verurteilung erfolgt war, um die Hälfte verkürzt und das Strafverfahren gegen die in dieser Sache Angeklagten folglich eingestellt wurde?

3.

Ist im Fall der Bejahung der ersten beiden Fragen und allein bei Unmöglichkeit einer unionsrechtskonformen Auslegung der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, kraft deren die nationalen ordentlichen Gerichte an die Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts und an die verbindlichen Entscheidungen des obersten nationalen Gerichts gebunden sind und aus diesem Grund die Rechtsprechung aus diesen Entscheidungen nicht von Amts wegen unangewendet lassen können, ohne Gefahr zu laufen, ein Disziplinarvergehen zu begehen, auch wenn sie vor dem Hintergrund eines Urteils des Gerichtshofs davon ausgehen, dass diese Rechtsprechung insbesondere gegen Art. 2, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 und Art. 4 Abs. 3 EUV in Verbindung mit Art. 325 Abs. 1 AEUV, alle unter Anwendung der Entscheidung 2006/928, im Licht von Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta verstößt, wie es im Ausgangsverfahren der Fall ist?

45

In einer Mitteilung vom 24. März 2023, die am selben Tag beim Gerichtshof eingegangen ist, hat das vorlegende Gericht mehrere Urteile angeführt, die zwischen dem 15. Dezember 2022 und dem 8. März 2023 ergangen sind und mit denen die Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) und die Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) infolge der Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der betreffenden Personen außerordentlichen Nichtigkeitsbeschwerden stattgegeben haben sollen.

46

Überdies hat das vorlegende Gericht in dieser Mitteilung hervorgehoben, dass die Kassationsbeschwerde der einzige Rechtsbehelf sei, der es gegebenenfalls ermögliche, eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung auf der Grundlage eines Verstoßes gegen das Unionsrecht nach dessen Auslegung durch den Gerichtshof in seinen Antworten auf die Vorlagefragen anzufechten. Die Kassationsbeschwerdefrist von 30 Tagen ab Zustellung der Entscheidung des Berufungsgerichts stehe jedoch ihrer Einlegung entgegen, da diese Frist zu dem Zeitpunkt, zu dem der Gerichtshof über das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen entscheiden werde, in den meisten der in Rede stehenden Rechtssachen abgelaufen sein werde.

47

Infolgedessen hat das vorlegende Gericht den Gerichtshof ersucht, klarzustellen, dass „die nationalen Gerichte gemäß dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, um im Rahmen der nationalen Verfahrensautonomie die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität zu wahren sowie die Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung der Parteien des Ausgangsverfahrens gegenüber Rechtsuchenden zu gewährleisten, die sich in vergleichbaren Situationen befinden, im Fall einer Kassationsbeschwerde gegen inzwischen rechtskräftige Gerichtsentscheidungen in vergleichbaren Rechtssachen entscheiden müssen, dass [die genannte Frist] ab dem Tag der Verkündung des Urteils des Gerichtshofs beginnt“, mit dem über das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen befunden wird.

Zur Einleitung des Eilvorabentscheidungsverfahrens

48

In Ausübung seiner Befugnis aus Art. 107 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs hat der Präsident des Gerichtshofs die gemäß Art. 108 Abs. 1 der Verfahrensordnung bestimmte Vierte Kammer zur Prüfung der Frage aufgefordert, ob es erforderlich ist, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren im Sinne von Art. 23a Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu unterwerfen.

49

Wie sich aus Art. 107 Abs. 1 der Verfahrensordnung ergibt, können dem Eilverfahren nur Vorabentscheidungsersuchen unterworfen werden, die eine oder mehrere Fragen zu einem der von Titel V („Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des Dritten Teils des AEU-Vertrags erfassten Bereiche aufwerfen.

50

Im vorliegenden Fall betreffen die Vorlagefragen u. a. die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens, das auf der Grundlage von Art. K.3 EU ausgearbeitet wurde. Der letztgenannte Artikel wurde zu Art. 31 EU, dessen Bestimmungen in die Art. 82, 83 und 85 AEUV übernommen wurden, die zu Titel V des Dritten Teils des AEU-Vertrags gehören.

51

Daraus folgt, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen Fragen zu einem der von Titel V erfassten Bereiche aufwirft und daher dem Eilverfahren unterworfen werden kann.

52

Das Kriterium der Dringlichkeit ist nach ständiger Rechtsprechung erfüllt, wenn der im Ausgangsverfahren betroffenen Person zum Zeitpunkt der Einreichung des Vorabentscheidungsersuchens ihre Freiheit entzogen ist und ihre weitere Inhaftierung von der Entscheidung dieses Verfahrens abhängt (Urteil vom 12. Januar 2023, MV [Verschmelzung von Strafen], C‑583/22 PPU, EU:C:2023:5, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

53

Insoweit geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden und dass zwei von ihnen, K. A. und S. P., derzeit ihre jeweilige Strafe verbüßen.

54

In Beantwortung eines Klarstellungsersuchens des Gerichtshofs vom 15. März 2023 hat das vorlegende Gericht zum einen ausgeführt, dass sich diese beiden Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens derzeit in Durchführung seines Strafurteils Nr. 285/AP vom 30. Juni 2020 in Haft befinden, und zum anderen, dass ihre Haft beendet würde, wenn es den außerordentlichen Nichtigkeitsbeschwerden stattgeben würde, die sie bei ihm gegen ihre Verurteilung eingelegt haben.

55

Außerdem geht aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts hervor, dass die Entscheidung über die von den Beschwerdeführern des Ausgangsverfahrens eingelegten außerordentlichen Nichtigkeitsbeschwerden von den Antworten des Gerichtshofs auf die Vorlagefragen abhängt.

56

Unter diesen Umständen hat die Vierte Kammer des Gerichtshofs am 23. März 2023 auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts gemäß Art. 108 Abs. 1 der Verfahrensordnung beschlossen, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen von Amts wegen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.

57

Überdies hat die Vierte Kammer auf der Grundlage von Art. 113 Abs. 2 der Verfahrensordnung beschlossen, die vorliegende Rechtssache an den Gerichtshof zu verweisen, damit sie der Großen Kammer zugewiesen wird.

Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

58

L. N. und C. I. haben geltend gemacht, das Vorabentscheidungsersuchen sei in seiner Gesamtheit unzulässig. L. N. hat insoweit u. a. vorgebracht, die Entscheidung 2006/928 und die SIF‑Richtlinie seien unter den Umständen des Ausgangsverfahrens irrelevant.

59

Die rumänische Regierung wirft außerdem die Frage nach dem hypothetischen Charakter der dritten Vorlagefrage auf.

60

C. O., C. I. und die rumänische Regierung haben schließlich geltend gemacht, der oben in Rn. 47 wiedergegebene Antrag sei unzulässig, weil das vorlegende Gericht im Rahmen des Ausgangsverfahrens nicht mit einer Kassationsbeschwerde, sondern mit außerordentlichen Nichtigkeitsbeschwerden befasst sei.

61

Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 21. März 2023, Mercedes-Benz Group [Haftung der Hersteller von Fahrzeugen mit Abschalteinrichtungen], C‑100/21, EU:C:2023:229, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

62

Infolgedessen spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 21. März 2023, Mercedes-Benz Group [Haftung der Hersteller von Fahrzeugen mit Abschalteinrichtungen], C‑100/21, EU:C:2023:229, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63

Im vorliegenden Fall ist zu den drei Fragen des vorlegenden Gerichts erstens hervorzuheben, dass die von ihm erbetene Auslegung des Unionsrechts es dazu veranlassen könnte, die Urteile Nrn. 297/2018 und 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) und/oder das Urteil Nr. 67/2022 der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof), auf die sich die Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens berufen, um die Verjährung ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit feststellen zu lassen, unangewendet zu lassen. Daher sind diese Fragen nicht hypothetisch.

64

Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die SFI-Richtlinie, um deren Auslegung (Art. 2 und 12) das vorlegende Gericht in seiner ersten Vorlagefrage ersucht, nach ihrem Art. 16 das SFI-Übereinkommen ab dem 6. Juli 2019 ersetzt. Die dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Handlungen wurden aber im Jahr 2010 begangen. Daher ist die Richtlinie auf dieses Verfahren offensichtlich nicht anwendbar, so dass ihre Auslegung für seine Entscheidung nicht erforderlich erscheint.

65

Zudem ist, da der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nach den dem Gerichtshof zur Kenntnis gebrachten Informationen keine Korruption darstellt, offensichtlich auch die Auslegung der Entscheidung 2006/928 für die Beantwortung der ersten und der zweiten Vorlagefrage unerheblich.

66

Drittens genügt in Bezug auf die übrigen Bestimmungen des Unionsrechts, die in den drei Fragen des vorlegenden Gerichts angeführt werden, demgegenüber der Hinweis, dass sich der Einwand der Unanwendbarkeit einer Bestimmung des Unionsrechts auf das Ausgangsverfahren, sofern nicht offensichtlich ist, dass ihre Auslegung in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, nicht auf die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens auswirkt, sondern den Inhalt der Fragen betrifft (Urteile vom 19. Dezember 2019, Dobersberger, C‑16/18, EU:C:2019:1110, Rn. 21, und vom 27. April 2023, M. D. [Verbot der Einreise nach Ungarn], C‑528/21, EU:C:2023:341, Rn. 52).

67

Ferner soll mit dem oben in Rn. 47 genannten Ersuchen nach den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts geklärt werden, ob das Unionsrecht verlangt, dass die Frist von 30 Tagen für die Einlegung einer Kassationsbeschwerde dann zu laufen beginnt, wenn der Gerichtshof sein Urteil in der vorliegenden Rechtssache erlässt.

68

Im Rahmen des Ausgangsverfahrens ist das vorlegende Gericht jedoch nicht mit einer Kassationsbeschwerde befasst, sondern, wie C. O., C. I. und die rumänische Regierung ausgeführt haben, mit außerordentlichen Nichtigkeitsbeschwerden.

69

Folglich betrifft die oben in Rn. 47 genannte Frage ein Problem hypothetischer Natur im Sinne der oben in Rn. 62 angeführten Rechtsprechung und ist daher für unzulässig zu erklären.

70

Nach alledem ist das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen zulässig, mit Ausnahme zum einen der ersten und der zweiten Frage, soweit sie die Auslegung der SFI-Richtlinie und der Entscheidung 2006/928 betreffen, und zum anderen der oben in Rn. 47 genannten Frage.

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten und zur zweiten Frage

71

Die erste und die zweite Frage, die zusammen zu prüfen sind, betreffen die Auslegung von Art. 2, Art. 4 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV, Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta, Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens sowie der Richtlinie 2006/112.

72

Aus den Gründen der Vorlageentscheidung geht jedoch hervor, dass die Zweifel des vorlegenden Gerichts, die diesen Fragen zugrunde liegen, im Wesentlichen die Auslegung zum einen der Bestimmungen des Unionsrechts, nach denen die Mitgliedstaaten rechtswidrige Beeinträchtigungen der finanziellen Interessen der Union wirksam bekämpfen müssen, und zum anderen der dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen zu entnehmenden Garantien betreffen.

73

Unter diesen Umständen sind die erste und die zweite Frage nur im Hinblick auf Art. 325 Abs. 1 AEUV, Art. 49 Abs. 1 der Charta und Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens zu prüfen.

74

Demnach möchte das vorlegende Gericht mit seinen Fragen im Wesentlichen wissen, ob diese Bestimmungen dahin auszulegen sind, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats verpflichtet sind, zum einen Urteile seines Verfassungsgerichts unangewendet zu lassen, mit denen die nationale Rechtsvorschrift, die die Gründe für die Unterbrechung der Verjährungsfrist in Strafsachen regelt, wegen eines Verstoßes gegen die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit und Bestimmtheit des Strafrechts, die sich aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen ergeben, für ungültig erklärt wurde, sowie zum anderen ein Urteil des obersten Gerichts dieses Mitgliedstaats, aus dem hervorgeht, dass die sich aus der Verfassungsrechtsprechung ergebenden Vorschriften für diese Unterbrechungsgründe rückwirkend als günstigeres Strafgesetz (lex mitior) angewandt werden können, um rechtskräftige Verurteilungen in Frage zu stellen, wobei diese Urteile zur Folge haben, dass eine beträchtliche Zahl von Strafverfahren einschließlich solcher, bei denen es um schweren Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union geht, wegen Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eingestellt wird.

75

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die genaue Tragweite der Vorschriften, die in Rumänien für die Unterbrechung der Verjährungsfristen in Strafsachen vom 25. Juni 2018, an dem das Urteil Nr. 297/2018 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) veröffentlicht wurde, bis zum 30. Mai 2022, an dem die OUG Nr. 71/2022 in Kraft trat, galten, von den Parteien sowohl im Rahmen ihrer schriftlichen Stellungnahmen als auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof erörtert worden ist.

76

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass im Verfahren nach Art. 267 AEUV, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, allein das nationale Gericht für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens sowie die Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts zuständig ist (Urteile vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 61, und vom 21. März 2023, Mercedes-Benz Group [Verantwortlichkeit der Hersteller von Fahrzeugen mit Abschalteinrichtungen], C‑100/21, EU:C:2023:229, Rn. 59).

77

Im vorliegenden Fall ergibt sich nach den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts aus den oben in den Rn. 23 bis 29 zusammengefassten Urteilen Nrn. 297/2018 und 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof), dass das rumänische Recht vom 25. Juni 2018 bis zum 30. Mai 2022 keinen Grund für eine Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit vorsah. Daher ist bei der Beantwortung der ersten und der zweiten Frage davon auszugehen, dass dies der Stand des rumänischen Rechts in dem genannten Zeitraum war.

78

In Anbetracht der oben in Rn. 76 angeführten Rechtsprechung sind diese Fragen auch gestützt auf die vom vorlegenden Gericht vorgenommene Auslegung des Urteils Nr. 67/2022 der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) zu beantworten, wonach die von diesem Gericht vorgenommene Auslegung des Grundsatzes der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) es ermöglichen würde, dem Fehlen von Gründen für eine Unterbrechung der Verjährung nach rumänischem Recht Rückwirkung auf Verfahrenshandlungen aus der Zeit vor dem 25. Juni 2018, an dem das Urteil Nr. 297/2018 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) veröffentlicht wurde, beizumessen.

Zum Verstoß gegen die Verpflichtung, Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union durch abschreckende und wirksame Maßnahmen zu bekämpfen

79

Da es im Ausgangsverfahren nach den Angaben in der Vorlageentscheidung u. a. um einen schweren Mehrwertsteuerbetrug geht, ist darauf hinzuweisen, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die effektive und vollständige Erhebung der Eigenmittel der Union in Form der Einnahmen, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes auf die harmonisierte Bemessungsgrundlage der Mehrwertsteuer ergeben, zu gewährleisten (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 182 und die dort angeführte Rechtsprechung).

80

Im Bereich des Schutzes der finanziellen Interessen der Union durch die Auferlegung von Strafen und insbesondere der ordnungsgemäßen Erhebung solcher Einnahmen besteht allerdings eine geteilte Zuständigkeit der Union und der Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 4 Abs. 2 AEUV (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Dezember 2017, M. A. S. und M. B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 43).

81

Im vorliegenden Fall war die Regelung für die Verjährung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union zu der im Ausgangsverfahren maßgebenden Zeit durch den Unionsgesetzgeber noch nicht harmonisiert worden. Dies ist erst später durch den Erlass der SFI-Richtlinie – die, wie bereits oben in Rn. 64 ausgeführt, im Ausgangsverfahren nicht anwendbar ist – teilweise geschehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Dezember 2017, M. A. S. und M. B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 44).

82

Somit fiel der Erlass von Vorschriften über die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Taten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union während der im Ausgangsverfahren maßgebenden Zeit in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Sie müssen jedoch bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 2019, Rimšēvičs und EZB/Lettland, C‑202/18 und C‑238/18, EU:C:2019:139, Rn. 57, und vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 216).

83

Insoweit ist erstens hervorzuheben, dass Art. 325 Abs. 1 AEUV die Mitgliedstaaten verpflichtet, Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen mit abschreckenden und wirksamen Maßnahmen zu bekämpfen (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 181 und die dort angeführte Rechtsprechung).

84

Die Mitgliedstaaten können zwar die anwendbaren Sanktionen, bei denen es sich um verwaltungsrechtliche oder strafrechtliche Sanktionen oder um eine Kombination aus beiden handeln kann, frei wählen, müssen jedoch nach Art. 325 Abs. 1 AEUV dafür sorgen, dass schwere Fälle von Betrug und sonstigen gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten rechtswidrigen Handlungen durch wirksame und abschreckende Strafen geahndet werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 191, und vom 8. März 2022, Kommission/Vereinigtes Königreich [Bekämpfung von Betrug durch Unterbewertung], C‑213/19, EU:C:2022:167, Rn. 219).

85

Zweitens verpflichtet Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit Betrugsdelikte zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union, einschließlich Mehrwertsteuerbetrug, durch wirksame, angemessene und abschreckende Strafen geahndet werden können, die zumindest in schweren Betrugsfällen – d. h. in Fällen, die einen von den Mitgliedstaaten festzusetzenden Mindestbetrag, der 50000 Euro nicht überschreiten darf, betreffen – Freiheitsstrafen umfassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Mai 2018, Scialdone, C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

86

Dabei müssen die Mitgliedstaaten darauf achten, dass die im nationalen Recht vorgesehenen Verjährungsvorschriften eine effektive Verfolgung der im Zusammenhang mit solchen Betrugsfällen begangenen Straftaten ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Dezember 2017, M. A. S. und M. B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 36).

87

Im vorliegenden Fall geht aus den oben in den Rn. 23 bis 32 zusammengefassten Erläuterungen des vorlegenden Gerichts hervor, dass aufgrund der Urteile Nrn. 297/2018 und 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) das rumänische Recht in der Zeit vom 25. Juni 2018, an dem das Urteil Nr. 297/2018 veröffentlicht wurde, bis zum 30. Mai 2022, an dem die OUG Nr. 71/2022 in Kraft trat, keinen Fall vorsah, in dem die Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit unterbrochen werden konnte, und dass nach dem Urteil Nr. 67/2022 der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) diese Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs als günstigeres Strafgesetz (lex mitior) geltend gemacht werden kann, und zwar auch bei rechtskräftigen Verurteilungen.

88

Zu den möglichen konkreten Auswirkungen der genannten Rechtsprechung weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass im Rahmen des Ausgangsverfahrens die Anwendung der den Urteilen Nrn. 297/2018 und 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) zu entnehmenden Regel, wonach das rumänische Recht während des in der vorstehenden Randnummer genannten Zeitraums keinen Grund für eine Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit vorsah, als günstigeres Strafgesetz (lex mitior) zur Folge hätte, dass die Verjährungsfrist von zehn Jahren für die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Straftaten abgelaufen wäre, bevor die Verurteilung der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens Rechtskraft erlangt hätte, was zur Einstellung des Strafverfahrens und zur Unmöglichkeit ihrer Verurteilung führen würde.

89

Das vorlegende Gericht hat ferner hervorgehoben, dass die Urteile Nrn. 297/2018 und 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) eine „beträchtliche Zahl von Rechtssachen“, einschließlich durch rechtskräftige Verurteilungen abgeschlossener Rechtssachen, betreffen können, die mit außerordentlichen Rechtsbehelfen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden in Frage gestellt werden könnten.

90

Außerdem ist zwar, wie oben in Rn. 65 ausgeführt, die Entscheidung 2006/928 als solche nicht auf Steuerhinterziehungen wie die hier in Rede stehenden anwendbar; gleichwohl bestätigen die von der Kommission in ihrem Bericht vom 22. November 2022 an das Europäische Parlament und den Rat über die Fortschritte Rumäniens im Rahmen des Kooperations- und Kontrollverfahrens (COM[2022] 664 final) gemäß Art. 2 dieser Entscheidung vorgelegten Daten, dass die Gefahr besteht, dass zahlreiche Fälle von schwerem Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union wegen Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nicht mehr geahndet werden können. Aus diesem vom vorlegenden Gericht erwähnten Bericht geht nämlich hervor, dass die Urteile Nrn. 297/2018 und 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) „in einer beträchtlichen Zahl von Fällen zur Einstellung des Strafverfahrens und zur Aufhebung der strafrechtlichen Haftung“ führen könnten und dass „möglicherweise Tausende von Angeklagten nicht strafrechtlich haftbar gemacht werden“.

91

Aus den vorstehenden Gesichtspunkten lässt sich ableiten, dass die rechtliche Situation, die sich aus der Anwendung der Urteile Nrn. 297/2018 und 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) sowie des Urteils Nr. 67/2022 der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) ergibt, eine systemische Gefahr der Straflosigkeit bei schweren Betrugsdelikten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union birgt, insbesondere in Fällen, deren Komplexität eine längere Untersuchung durch die Strafverfolgungsbehörden erfordert.

92

Das Vorliegen einer solchen systemischen Gefahr der Straflosigkeit stellt aber einen Fall der Unvereinbarkeit mit den oben in den Rn. 83 bis 86 genannten Anforderungen von Art. 325 Abs. 1 AEUV und Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens dar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 203).

93

Insoweit obliegt es in erster Linie dem nationalen Gesetzgeber, die zur Erfüllung dieser Anforderungen nötigen Maßnahmen zu ergreifen, indem er insbesondere die erforderlichen Bestimmungen erlässt und gegebenenfalls die bestehenden Bestimmungen ändert, um zu gewährleisten, dass die Regelung für die Verfolgung und Ahndung gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteter schwerer Betrugsdelikte, einschließlich der Vorschriften über die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, mit Art. 325 Abs. 1 AEUV und Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens vereinbar ist. Diese Regelung muss so ausgestaltet sein, dass nicht aus ihr innewohnenden Gründen eine systemische Gefahr besteht, dass solche Straftaten ungeahndet bleiben, und muss zugleich den Schutz der Grundrechte der Beschuldigten gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Dezember 2017, M. A. S. und M. B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 41, und vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 193).

94

Eine rechtliche Situation, in der die Regelung eines Mitgliedstaats für die Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit vom Verfassungsgericht dieses Mitgliedstaats für ungültig erklärt und damit seiner Wirkung beraubt wurde, ohne dass der nationale Gesetzgeber während eines Zeitraums von fast vier Jahren Abhilfe geschaffen hätte, ist mit der oben in den Rn. 83 bis 86 genannten Verpflichtung unvereinbar, dafür zu sorgen, dass im Inland begangene schwere Betrugsdelikte zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union mit wirksamen und abschreckenden strafrechtlichen Sanktionen geahndet werden. Einer solchen Situation, die sich auf eine allgemeine, für alle Strafverfahren geltende Bestimmung auswirkt, deren ersatzloser Wegfall infolge der Feststellung ihrer Verfassungswidrigkeit weder für die Strafverfolgungsbehörden noch für die Strafgerichte vorhersehbar war, wohnt nämlich die Gefahr inne, dass zahlreiche Fälle von schwerem Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union, insbesondere in Fällen, deren Komplexität eine längere Untersuchung durch die Strafverfolgungsbehörden erfordert, aufgrund des Eintritts der Verjährung nicht geahndet werden können.

Zu den Verpflichtungen der nationalen Gerichte

95

Nach ständiger Rechtsprechung ist ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat und eine nationale Regelung nicht im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen kann, nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verpflichtet, für die volle Wirksamkeit dieser Anforderungen in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteile vom 9. März 1978, Simmenthal, 106/77, EU:C:1978:49, Rn. 24, vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 61 und 62, sowie vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 53).

96

Im vorliegenden Fall sind Art. 325 Abs. 1 AEUV und Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens klar und präzise formuliert und an keine Bedingung geknüpft, so dass sie unmittelbare Wirkung haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 253 und die dort angeführte Rechtsprechung).

97

Es obliegt daher grundsätzlich den nationalen Gerichten, den Verpflichtungen, die sich aus Art. 325 Abs. 1 AEUV und aus Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens ergeben, volle Wirkung zu verleihen und innerstaatliche Vorschriften unangewendet zu lassen, die im Rahmen eines Verfahrens wegen schwerer Betrugsdelikte zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union einer Verhängung effektiver und abschreckender Sanktionen zur Bekämpfung solcher Straftaten entgegenstehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 194 und die dort angeführte Rechtsprechung).

98

Somit sind die nationalen Gerichte nach Art. 325 Abs. 1 AEUV und Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens grundsätzlich verpflichtet, die Urteile Nrn. 297/2018 und 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof), aus denen sich ergibt, dass vom 25. Juni 2018, an dem das Urteil Nr. 297/2018 veröffentlicht wurde, bis zum 30. Mai 2022, an dem die OUG Nr. 71/2022 in Kraft trat, das rumänische Recht keinen Grund für eine Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit vorsah, unangewendet zu lassen, soweit diese Urteile zur Folge haben, dass bei einer Vielzahl schwerer Betrugsdelikte zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eingetreten ist und somit, wie oben in Rn. 91 festgestellt, eine systemische Gefahr der Straflosigkeit solcher Taten geschaffen wird.

99

Desgleichen sind die nationalen Gerichte nach diesen Bestimmungen grundsätzlich verpflichtet, das Urteil Nr. 67/2022 der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) unangewendet zu lassen, soweit dieses Urteil es ermöglicht, die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit aufgrund der Wirkungen der Urteile Nrn. 297/2018 und 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) als günstigeres Strafgesetz (lex mitior) in Fällen von schwerem Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union geltend zu machen, und damit die systemische Gefahr der Straflosigkeit solcher Taten erhöht.

100

Zu prüfen bleibt aber noch, ob der Verpflichtung, die genannten Urteile unangewendet zu lassen, in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden der Schutz der Grundrechte entgegensteht.

101

Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass nach gefestigter Rechtsprechung die Verpflichtung, eine wirksame Erhebung der Unionsmittel zu gewährleisten, die nationalen Gerichte nicht von der gebotenen Achtung der durch die Charta garantierten Grundrechte und der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts entbindet, da die wegen Mehrwertsteuerstraftaten eingeleiteten Strafverfahren eine Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellen (Urteil vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a., C‑310/16, EU:C:2019:30, Rn. 33, sowie in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 204).

102

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts, dass die im Rahmen des Ausgangsverfahrens einschlägige nationale Rechtsprechung, die oben in den Rn. 23 bis 32 zusammengefasst wird, auf zwei gesonderten Grundsätzen beruht, und zwar zum einen, hinsichtlich der Urteile Nrn. 297/2018 und 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof), auf dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen in seinen Anforderungen an die Vorhersehbarkeit und Bestimmtheit des Strafrechts und zum anderen, hinsichtlich des Urteils Nr. 67/2022 der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof), auf dem Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior), auch auf rechtskräftige Verurteilungen nach dem 25. Juni 2018.

103

In der Unionsrechtsordnung sind der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen und der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) in Art. 49 Abs. 1 der Charta verankert.

104

Nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen müssen Strafvorschriften u. a. hinsichtlich der Definition sowohl des Straftatbestands als auch des Strafmaßes bestimmten Anforderungen an die Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit genügen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Dezember 2017, M. A. S. und M. B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 55, und vom 11. Juni 2020, Prokuratura Rejonowa w Słupsku, C‑634/18, EU:C:2020:455, Rn. 48).

105

Außerdem folgt aus dem Erfordernis der Bestimmtheit des anwendbaren Gesetzes als einer Ausprägung dieses Grundsatzes, dass das Gesetz die Straftaten und die für sie angedrohten Strafen klar definieren muss. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn der Bürger anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortung begründen (Urteil vom 5. Dezember 2017, M. A. S. und M. B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 56, sowie in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 2020, Prokuratura Rejonowa w Słupsku, C‑634/18, EU:C:2020:455, Rn. 49).

106

Schließlich verlangt der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) gemäß Art. 49 Abs. 1 letzter Satz der Charta, dass eine mildere Strafe anzuwenden ist, wenn das Gesetz dies vorsieht, nachdem eine Straftat begangen wurde.

107

Zunächst setzt die Anwendung des letztgenannten Grundsatzes zeitlich aufeinanderfolgende rechtliche Regelungen voraus und beruht auf der Feststellung, dass diese Aufeinanderfolge in der betreffenden Rechtsordnung eine Änderung des Standpunkts hinsichtlich der strafrechtlichen Qualifikation der Handlungen, die eine Straftat darstellen können, oder hinsichtlich der wegen einer solchen Straftat zu verhängenden Strafe widerspiegelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. August 2018, Clergeau u. a., C‑115/17, EU:C:2018:651, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

108

Sodann ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Vorschriften über die Verjährung in Strafsachen nicht in den Anwendungsbereich von Art. 49 Abs. 1 der Charta fallen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a., C‑105/14, EU:C:2015:555, Rn. 54 bis 57).

109

Folglich vermag die Verpflichtung der nationalen Gerichte, die Urteile Nrn. 297/2018 und 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) sowie das Urteil Nr. 67/2022 der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) unangewendet zu lassen, weder den Grundsatz der Vorhersehbarkeit und Bestimmtheit sowie das Rückwirkungsverbot im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen noch den Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior), die in Art. 49 Abs. 1 der Charta gewährleistet sind, zu beeinträchtigen.

110

Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass es, wenn ein Gericht eines Mitgliedstaats wie im vorliegenden Fall zu prüfen hat, ob eine nationale Bestimmung oder Maßnahme, mit der in einer Situation, in der das Handeln der Mitgliedstaaten nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt wird, dieses Recht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchgeführt wird, mit den Grundrechten vereinbar ist, den nationalen Behörden und Gerichten unbenommen bleibt, nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, sofern dadurch weder das Schutzniveau der Charta in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden (Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 29, vom 5. Dezember 2017, M. A. S. und M. B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 47, und vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 211).

111

Im vorliegenden Fall beruhen nach den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts die Urteile Nrn. 297/2018 und 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) sowie das Urteil Nr. 67/2022 der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) auf der Prämisse, dass im rumänischen Recht die Vorschriften über die Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit zum materiellen Strafrecht gehören und daher dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen sowie dem Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) unterliegen, die in der rumänischen Verfassung garantiert sind. Diese Grundsätze sind daher als nationale Schutzstandards für die Grundrechte im Sinne der vorstehenden Randnummer anzusehen.

112

Wie oben in den Rn. 108 und 109 ausgeführt, sind in Rechtssachen wie denen des Ausgangsverfahrens diese nationalen Schutzstandards für die Grundrechte nicht geeignet, das Schutzniveau der Charta in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof zu beeinträchtigen.

113

Insoweit ist auf die hohe Bedeutung hinzuweisen, die den die Vorhersehbarkeit, die Bestimmtheit und das Verbot der Rückwirkung der anzuwendenden Strafvorschriften betreffenden Anforderungen des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen sowohl in der Rechtsordnung der Union als auch in den nationalen Rechtsordnungen zukommt (Urteil vom 5. Dezember 2017, M. A. S. und M. B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 51).

114

Die Erfordernisse der Vorhersehbarkeit, der Bestimmtheit und des Verbots der Rückwirkung von Strafvorschriften stellen eine besondere Ausprägung des Grundsatzes der Rechtssicherheit dar. Dieser tragende Grundsatz des Unionsrechts gebietet nämlich, dass Rechtsvorschriften klar und bestimmt sind und dass ihre Anwendung für den Einzelnen vorhersehbar ist, vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen haben können. Bei ihm handelt es sich um einen wesentlichen Bestandteil des Rechtsstaats, der nach Art. 2 EUV sowohl zu den Grundwerten der Union als auch zu den gemeinsamen Werten der Mitgliedstaaten gehört (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 161 und 162, sowie vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 136 und 223).

115

Im vorliegenden Fall hat der rumänische Verfassungsgerichtshof, als er in einem ersten Schritt entschieden hat, dass der rumänische Gesetzgeber gegen den Verfassungsgrundsatz der Vorhersehbarkeit und Bestimmtheit des Strafrechts verstoßen habe, indem er zugelassen habe, dass Verfahrenshandlungen die Verjährungsfrist unterbrächen, auch wenn sie dem Verdächtigen oder Beschuldigten nicht mitgeteilt würden, einen nationalen Schutzstandard für die Grundrechte angewandt, der den unionsrechtlichen Schutz vor Willkür in Strafsachen, gestützt auf den Grundsatz der Rechtssicherheit, ergänzt. Ferner hat er einen solchen nationalen Schutzstandard für die Grundrechte angewandt, als er in einem zweiten Schritt im Wesentlichen festgestellt hat, dass das Versäumnis des rumänischen Gesetzgebers, die für verfassungswidrig erklärte Bestimmung des Strafgesetzbuchs über die Unterbrechung dieser Frist zu ersetzen, zu einer neuen Situation mangelnder Klarheit und Vorhersehbarkeit geführt habe, was gegen diesen Verfassungsgrundsatz verstoße.

116

Angesichts der Bedeutung, die dem Schutz vor Willkür sowohl in der Rechtsordnung der Union als auch in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zukommt, hat der Gerichtshof in den Rn. 58 bis 62 des Urteils vom 5. Dezember 2017, M. A. S. und M. B. (C‑42/17, EU:C:2017:936), im Wesentlichen entschieden, dass ein nationaler Schutzstandard, mit dem die Erfordernisse der Vorhersehbarkeit, der Bestimmtheit und des Verbots der Rückwirkung von Strafvorschriften, einschließlich der Regelung für die Verjährung von Straftaten, festgeschrieben werden sollen, der Verpflichtung entgegenstehen kann, die den nationalen Gerichten unter den Umständen der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, gemäß Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV obliegt und nach der nationale Vorschriften über die Verjährung in Strafsachen unangewendet zu lassen sind, auch wenn ihre Anwendung geeignet wäre, die Verhängung wirksamer und abschreckender Strafen bei einer beträchtlichen Zahl schwerer Betrugsdelikte zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union zu verhindern.

117

Insoweit war auch relevant, dass die Regelung über die Verjährung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union, um die es in dieser Rechtssache ging, ebenso wie hier (siehe oben, Rn. 81) nicht vollständig harmonisiert worden war.

118

Angesichts der oben in den Rn. 113 bis 117 angestellten Erwägungen ist daher, anknüpfend an die Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil vom 5. Dezember 2017, M. A. S. und M. B. (C‑42/17, EU:C:2017:936), festzustellen, dass die rumänischen Gerichte im Rahmen einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens nicht verpflichtet sind, die oben in Rn. 111 angeführte nationale Rechtsprechung im Einklang mit Art. 325 Abs. 1 AEUV und Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens unangewendet zu lassen, ungeachtet des Vorliegens einer systemischen Gefahr der Straflosigkeit schwerer Betrugsdelikte zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union, da die oben in Rn. 111 genannten Urteile auf den die Vorhersehbarkeit und Bestimmtheit des Strafrechts, einschließlich der Verjährungsregelung für Straftaten, betreffenden Anforderungen des im nationalen Recht geschützten Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen beruhen.

119

Aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts geht jedoch hervor, dass das Urteil Nr. 67/2022 der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) auch auf dem Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) beruhen soll, das sich aus den Urteilen Nrn. 297/2018 und 358/2022 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) ergebe. Nach der Auslegung des Urteils Nr. 67/2022 der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof) durch das vorlegende Gericht soll dieser Grundsatz es ermöglichen, dem Fehlen von Gründen für eine Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit nach rumänischem Recht aufgrund dieser beiden Urteile der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) Rückwirkung auf Verfahrenshandlungen vor dem 25. Juni 2018 zu verleihen, an dem das Urteil Nr. 297/2018 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) veröffentlicht wurde.

120

Die Anwendung eines den Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) betreffenden nationalen Schutzstandards ist aber von der Anwendung des nationalen Schutzstandards zu unterscheiden, dessen Prüfung Gegenstand des Urteils des Gerichtshofs vom 5. Dezember 2017, M. A. S. und M. B. (C‑42/17, EU:C:2017:936), war.

121

Insoweit geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Anwendung des erstgenannten nationalen Schutzstandards die systemische Gefahr verschärfen kann, dass schwere Betrugsdelikte zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union unter Verstoß gegen Art. 325 Abs. 1 AEUV und Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens jeder strafrechtlichen Sanktion entgehen.

122

Im Gegensatz zu dem nationalen Schutzstandard für die Vorhersehbarkeit des Strafrechts, der sich nach den Angaben des vorlegenden Gerichts darauf beschränkt, die Unterbrechungswirkung von Verfahrenshandlungen aus der Zeit vom 25. Juni 2018, an dem das Urteil Nr. 297/2018 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) veröffentlicht wurde, bis zum 30. Mai 2022, an dem die OUG Nr. 71/2002 in Kraft trat, zu neutralisieren, erlaube es der den Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) betreffende nationale Schutzstandard nämlich zumindest in bestimmten Fällen, die Unterbrechungswirkung von Verfahrenshandlungen zu neutralisieren, die aus der Zeit vor dem 25. Juni 2018, aber nach dem Inkrafttreten des Strafgesetzbuchs am 1. Februar 2014, also aus einem Zeitraum von mehr als vier Jahren, stammten.

123

Unter solchen Umständen ist in Anbetracht der notwendigen Abwägung zwischen dem letztgenannten nationalen Schutzstandard und den Bestimmungen von Art. 325 Abs. 1 AEUV und Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens davon auszugehen, dass die Anwendung dieses Standards durch ein nationales Gericht, um die Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch Verfahrenshandlungen aus der Zeit vor dem 25. Juni 2018, an dem das Urteil Nr. 297/2018 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) veröffentlicht wurde, in Frage zu stellen, geeignet ist, den Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts im Sinne der oben in Rn. 110 angeführten Rechtsprechung zu beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 212).

124

Folglich ist davon auszugehen, dass die nationalen Gerichte im Rahmen von Gerichtsverfahren, mit denen schwere Betrugsdelikte zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union strafrechtlich geahndet werden sollen, den nationalen Schutzstandard in Form des Grundsatzes der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) (siehe oben, Rn. 119) nicht anwenden können, um die Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch Verfahrenshandlungen aus der Zeit vor dem 25. Juni 2018, an dem das Urteil Nr. 297/2018 der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) veröffentlicht wurde, in Frage zu stellen.

125

Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 325 Abs. 1 AEUV und Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens dahin auszulegen sind, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats nicht verpflichtet sind, Urteile des Verfassungsgerichts dieses Mitgliedstaats unangewendet zu lassen, mit denen die nationale Rechtsvorschrift, die die Gründe für die Unterbrechung der Verjährungsfrist in Strafsachen regelt, wegen eines Verstoßes gegen die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit und Bestimmtheit des Strafrechts, die sich aus dem im nationalen Recht geschützten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen ergeben, für ungültig erklärt wurde, auch wenn diese Urteile zur Folge haben, dass eine beträchtliche Zahl von Strafverfahren einschließlich solcher, bei denen es um schweren Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union geht, wegen Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eingestellt werden. Dagegen sind die genannten Bestimmungen dahin auszulegen, dass die Gerichte dieses Mitgliedstaats verpflichtet sind, einen den Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) betreffenden nationalen Schutzstandard unangewendet zu lassen, der es gestattet, die Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit in solchen Rechtssachen durch Verfahrenshandlungen, die vor einer solchen Feststellung der Ungültigkeit vorgenommen wurden, auch im Rahmen von Rechtsbehelfen gegen rechtskräftige Urteile in Frage zu stellen.

Zur dritten Frage

126

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach die ordentlichen Gerichte eines Mitgliedstaats an die Entscheidungen des Verfassungsgerichts und des obersten Gerichts dieses Mitgliedstaats gebunden sind und deshalb die aus diesen Entscheidungen resultierende Rechtsprechung nicht von Amts wegen unangewendet lassen können, da den betreffenden Richtern sonst ein Disziplinarverfahren droht, auch wenn sie im Licht eines Urteils des Gerichtshofs davon ausgehen, dass die Rechtsprechung gegen das Unionsrecht verstößt.

127

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten zwar in deren Zuständigkeit fällt; sie müssen jedoch bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben. Das Gleiche gilt im Bereich der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit der Richter wegen Nichtbeachtung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts und des obersten Gerichts des betreffenden Mitgliedstaats (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 133 und die dort angeführte Rechtsprechung).

128

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs besagt der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, dass das Unionsrecht dem Recht der Mitgliedstaaten vorgeht. Dieser Grundsatz verpflichtet daher alle mitgliedstaatlichen Stellen, den verschiedenen unionsrechtlichen Vorschriften volle Wirksamkeit zu verschaffen, wobei das Recht der Mitgliedstaaten die diesen verschiedenen Vorschriften zuerkannte Wirkung in ihrem Hoheitsgebiet nicht beeinträchtigen darf (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 244 und die dort angeführte Rechtsprechung).

129

Wie oben in Rn. 95 dargelegt, verpflichtet der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts das nationale Gericht, für die volle Wirksamkeit der Anforderungen des Unionsrechts in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – nationale Regelung oder Praxis, die gegen eine Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung wie Art. 325 Abs. 1 AEUV verstößt, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste.

130

Im vorliegenden Fall führt das vorlegende Gericht aus, falls sich aus der Antwort auf die erste und die zweite Frage ergebe, dass eine Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht vorliege, und falls sich eine mit dem Unionsrecht konforme Auslegung in Anbetracht der vor ihm geltend gemachten Klagegründe als nicht möglich erweisen sollte, könnte es sich veranlasst sehen, die Lösungen, die in der oben in Rn. 111 angeführten nationalen Rechtsprechung gefunden worden seien, unangewendet zu lassen.

131

Die neue, in den Art. 271 und 272 des Gesetzes Nr. 303/2022 über den Status von Richtern und Staatsanwälten vorgesehene Disziplinarordnung ermögliche es aber, gegen Richter vorzugehen, die in bösem Glauben oder grob fahrlässig gegen Urteile der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) oder Urteile der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof), mit denen zur Wahrung des Rechts über Rechtsmittel entschieden worden sei, verstoßen hätten.

132

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine Entscheidung des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren das nationale Gericht bei der Entscheidung des Ausgangsverfahrens hinsichtlich der Auslegung der betreffenden unionsrechtlichen Vorschriften bindet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Februar 1977, Benedetti, 52/76, EU:C:1977:16, Rn. 26, und vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 74).

133

Das nationale Gericht, das von der ihm durch Art. 267 Abs. 2 AEUV eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, muss daher unter Umständen, wenn es angesichts der Auslegung durch den Gerichtshof der Auffassung ist, dass die Beurteilung eines höheren nationalen Gerichts nicht dem Unionsrecht entspricht, von ihr abweichen, indem es gegebenenfalls die nationale Vorschrift, die es verpflichtet, den Entscheidungen dieses höheren Gerichts nachzukommen, unangewendet lässt (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 75).

134

Somit kann es einem nationalen Gericht, das von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat bzw. seiner Pflicht nachgekommen ist, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV vorzulegen, nicht verwehrt sein, das Unionsrecht nach Maßgabe der Entscheidung oder der Rechtsprechung des Gerichtshofs unmittelbar anzuwenden, da andernfalls die praktische Wirksamkeit dieses Artikels geschmälert würde. Hinzuzufügen ist, dass die Befugnis, bereits zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um eine nationale Regelung oder Praxis beiseite zu lassen, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Normen des Unionsrechts bildet, Bestandteil des Amts des Unionsrichters ist, das dem im Rahmen seiner Zuständigkeit mit der Anwendung der Normen des Unionsrechts betrauten nationalen Gericht obliegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 257).

135

Eine nationale Regelung oder Praxis, wonach die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs und des obersten Gerichts des betreffenden Mitgliedstaats für die ordentlichen Gerichte bindend sind, obwohl Letztere im Licht eines vom Gerichtshof im Vorabentscheidungsverfahren erlassenen Urteils der Ansicht sind, dass die aus diesen Entscheidungen hervorgegangene Rechtsprechung gegen das Unionsrecht verstößt, ist aber geeignet, die Gerichte daran zu hindern, die volle Wirksamkeit der Anforderungen des Unionsrechts zu gewährleisten, wobei diese Hinderungswirkung dadurch verstärkt werden kann, dass die etwaige Nichtbeachtung der betreffenden Rechtsprechung im nationalen Recht als Disziplinarvergehen eingestuft wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 259).

136

Was speziell die etwaige disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit der Richter nach der Regelung eines Mitgliedstaats im Fall eines Verstoßes gegen Entscheidungen des Verfassungsgerichts und des obersten Gerichts dieses Mitgliedstaats betrifft, kann die Tatsache, dass ein nationales Gericht die ihm durch die Verträge auferlegten Aufgaben wahrnimmt und Verpflichtungen beachtet, indem es im Einklang mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts einer Bestimmung des Unionsrechts wie Art. 325 Abs. 1 AEUV oder Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens und ihrer Auslegung durch den Gerichtshof Wirkung verschafft, per definitionem nicht als Disziplinarvergehen der Richter eines solchen Gerichts eingestuft werden, denn sonst würde ipso facto gegen diese Bestimmung und diesen Grundsatz verstoßen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 260, und vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 85 und die dort angeführte Rechtsprechung).

137

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach die ordentlichen Gerichte eines Mitgliedstaats an die Entscheidungen des Verfassungsgerichts und des obersten Gerichts dieses Mitgliedstaats gebunden sind und deshalb die aus diesen Entscheidungen resultierende Rechtsprechung nicht von Amts wegen unangewendet lassen können, da den betreffenden Richtern sonst ein Disziplinarverfahren droht, auch wenn sie im Licht eines Urteils des Gerichtshofs davon ausgehen, dass die Rechtsprechung gegen Bestimmungen des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung verstößt.

Kosten

138

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 325 Abs. 1 AEUV und Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, unterzeichnet in Brüssel am 26. Juli 1995, im Anhang des Rechtsakts des Rates vom 26. Juli 1995,

sind dahin auszulegen, dass

die Gerichte eines Mitgliedstaats nicht verpflichtet sind, Urteile des Verfassungsgerichts dieses Mitgliedstaats unangewendet zu lassen, mit denen die nationale Rechtsvorschrift, die die Gründe für die Unterbrechung der Verjährungsfrist in Strafsachen regelt, wegen eines Verstoßes gegen die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit und Bestimmtheit des Strafrechts, die sich aus dem im nationalen Recht geschützten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen ergeben, für ungültig erklärt wurde, auch wenn diese Urteile zur Folge haben, dass eine beträchtliche Zahl von Strafverfahren einschließlich solcher, bei denen es um schweren Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union geht, wegen Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eingestellt werden.

Dagegen sind die genannten Bestimmungen dahin auszulegen, dass

die Gerichte dieses Mitgliedstaats verpflichtet sind, einen den Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafgesetzes (lex mitior) betreffenden nationalen Schutzstandard unangewendet zu lassen, der es gestattet, die Unterbrechung der Verjährungsfrist für die strafrechtliche Verantwortlichkeit in solchen Rechtssachen durch Verfahrenshandlungen, die vor einer solchen Feststellung der Ungültigkeit vorgenommen wurden, auch im Rahmen von Rechtsbehelfen gegen rechtskräftige Urteile in Frage zu stellen.

 

2.

Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts

ist dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach die ordentlichen Gerichte eines Mitgliedstaats an die Entscheidungen des Verfassungsgerichts und des obersten Gerichts dieses Mitgliedstaats gebunden sind und deshalb die aus diesen Entscheidungen resultierende Rechtsprechung nicht von Amts wegen unangewendet lassen können, da den betreffenden Richtern sonst ein Disziplinarverfahren droht, auch wenn sie im Licht eines Urteils des Gerichtshofs davon ausgehen, dass die Rechtsprechung gegen Bestimmungen des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung verstößt.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Rumänisch.

( i ) Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.