Rechtssache T‑540/22

Französische Republik

gegen

Einheitlicher Abwicklungsausschuss

Urteil des Gerichts (Dritte erweiterte Kammer) vom 10. Juli 2024

„Wirtschafts- und Währungspolitik – Bankenunion – Einheitlicher Mechanismus für die Abwicklung von Kreditinstituten und bestimmten Wertpapierfirmen (SRM) – Verordnung (EU) Nr. 806/2014 – Mindestanforderungen an Eigenmittel und berücksichtigungsfähige Verbindlichkeiten – Beschluss des Einheitlichen Abwicklungsausschusses (SRB) über die Nichtgewährung einer Ausnahmeregelung – Beschwerde vor dem Beschwerdeausschuss des SRB – Zurückweisung – Bedingung des Nichtvorliegens eines Hindernisses für die unverzügliche Übertragung von Eigenmitteln – Ermessen des SRB – Rechtssicherheit – Begründungspflicht“

  1. Wirtschafts- und Währungspolitik – Wirtschaftspolitik – Aufsicht über den Finanzsektor der Union – Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen – Mindestanforderungen an Eigenmittel und berücksichtigungsfähige Verbindlichkeiten (MREL) – Antrag auf Gewährung einer Ausnahmeregelung in Bezug auf die MREL für andere Einheiten als die Abwicklungseinheiten (interne MREL) – Ermessen des Einheitlichen Abwicklungsausschusses (SRB) – Prüfung auf anderweitigen funktionalen Ersatz für interne MREL – Bedingung, dass kein wesentliches Hindernis für die unverzügliche Übertragung von Eigenmitteln oder die Rückzahlung von Verbindlichkeiten vorhanden oder abzusehen ist – Anforderung einer zusätzlichen Garantie durch den SRB zur Erfüllung dieser Bedingung – Zulässigkeit unter Vorbehalt

    (Verordnung Nr. 806/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 12g Abs. 3 und Art. 12h Abs. 1 Buchst. c)

    (Rn. 42, 43, 50)

  2. Wirtschafts- und Währungspolitik – Wirtschaftspolitik – Einheitlicher Abwicklungsmechanismus für Kreditinstitute und bestimmte Wertpapierfirmen – Einheitlicher Abwicklungsausschuss (SRB) – Beschwerdeausschuss des SRB – Umfang der Kontrolle – Prüfung der in der Beschwerde an den SRB geltend gemachten Gründe

    (Verordnung Nr. 806/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 85 Abs. 3 und 4)

    (Rn. 73)

  3. Wirtschafts- und Währungspolitik – Wirtschaftspolitik – Aufsicht über den Finanzsektor der Union – Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen – Mindestanforderungen an Eigenmittel und berücksichtigungsfähige Verbindlichkeiten (MREL) – Antrag auf Gewährung einer Ausnahmeregelung in Bezug auf die MREL – Bedingung, dass kein wesentliches Hindernis für die unverzügliche Übertragung von Eigenmitteln oder die Rückzahlung von Verbindlichkeiten vorhanden oder abzusehen ist – Ermessen des Einheitlichen Abwicklungsausschusses (SRB) bei der Beurteilung normativer Kriterien – Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit – Fehlen

    (Verordnung Nr. 806/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 12h Abs. 1 Buchst. c)

    (Rn. 120, 121)

Zusammenfassung

Das Gericht, das mit einer von der Französischen Republik gegen einen Beschluss des Beschwerdeausschusses des Einheitlichen Abwicklungsausschusses (SRB) (im Folgenden: Beschwerdeausschuss) ( 1 ) erhobenen Nichtigkeitsklage befasst ist, die es abweist, entscheidet erstmals über einen Beschluss des Beschwerdeausschusses, mit dem die Prüfung des SRB, ob eine Bankengruppe die in Art. 12h der Verordnung Nr. 806/2014 ( 2 ) festgelegten Bedingungen für die Befreiung von den Mindestanforderungen an Eigenmittel erfüllt, überprüft wird.

Am 6. November 2020 hatte eine Bankengruppe für eines ihrer Tochterunternehmen beim SRB einen Antrag auf Gewährung einer Ausnahmeregelung in Bezug auf die Mindestanforderungen an Eigenmittel und berücksichtigungsfähige Verbindlichkeiten (im Folgenden: MREL) gestellt, die gemäß Art. 12g der Verordnung 806/2014 auf dieses Tochterunternehmen auf Einzelunternehmensbasis anwendbar waren. Der mit einer Beschwerde der Autorité de contrôle prudentiel et de résolution (französische Finanzmarktaufsichtsbehörde, im Folgenden: Beschwerdeführerin vor dem Beschwerdeausschuss) gegen den Beschluss des SRB über die Ablehnung dieses Antrags ( 3 ) befasste Beschwerdeausschuss wies diese Beschwerde mit dem angefochtenen Beschluss zurück.

Würdigung durch das Gericht

Was als Erstes die Tragweite von Art. 12h Abs. 1 der Verordnung Nr. 806/2014 (im Folgenden: betreffende Bestimmung) betrifft, stellt das Gericht zunächst nach einer wörtlichen Auslegung fest, dass Art. 12h Abs. 1 Buchst. c dieser Verordnung weder die Möglichkeit vorsieht, eine spezielle Garantie zu fordern, damit die Bedingung des Nichtvorliegens bzw. der Nicht-Absehbarkeit eines wesentlichen Hindernisses für die unverzügliche Übertragung von Eigenmitteln oder die Rückzahlung von Verbindlichkeiten erfüllt ist, noch eine Formulierung enthält, nach der dem SRB untersagt wäre, in diesem Zusammenhang eine spezielle Garantie zu fordern.

Sodann ergibt sich aus der Sicht einer systematischen Auslegung, dass die Anforderung von besicherten Garantien zwischen dem Mutterunternehmen und seinen Tochterunternehmen in Art. 12g der Verordnung Nr. 806/2014 nur als Mittel zur Einhaltung der internen MREL vorgesehen ist und dass die Bedingung der Stellung einer Garantie in Art. 12h dieser Verordnung im Zusammenhang mit der Gewährung einer Ausnahme nicht enthalten ist, anders als der Gesetzgeber dies in der Richtlinie 2014/59 ( 4 ) vorgesehen hat. Somit darf die Möglichkeit der Gewährung einer Ausnahme nach der betreffenden Bestimmung in keiner Weise von der Anforderung einer mit einer Sicherheit unterlegten Garantie abhängig gemacht werden, die der in Art. 12g Abs. 3 dieser Verordnung vorgesehenen Garantie vergleichbar wäre. Ein gegenteiliger Ansatz würde dazu führen, dass die betreffende Bestimmung ihre praktische Wirksamkeit verlöre, und würde somit eine klare Verletzung dieser Bestimmung darstellen.

Hingegen lässt sich aus der systematischen Auslegung der betreffenden Bestimmung nach Ansicht des Gerichts nicht ableiten, dass die Nicht-Erwähnung einer Garantie in der Bestimmung über die Prüfung eines Antrags auf Gewährung einer Ausnahme von den internen MREL ( 5 ) den SRB ipso jure daran hindert, im Rahmen dieser Prüfung eine solche Anforderung zu stellen. Somit muss der SRB zwar einen Antrag auf Gewährung einer Ausnahme ablehnen, wenn eine der in der betreffenden Bestimmung genannten kumulativen Bedingungen nicht erfüllt ist, er verfügt im Gegensatz dazu jedoch über ein gewisses Ermessen bei der Beurteilung, unter welchen Umständen die dritte dieser Bedingungen, nämlich das Nichtvorliegen eines Hindernisses für die unverzügliche Übertragung von Eigenmitteln, erfüllt ist. Es ist somit nicht ausgeschlossen, dass der SRB angesichts dieses Ermessens berechtigt ist, eine andere als die in Art. 12g Abs. 3 der Verordnung Nr. 806/2014 vorgesehene Garantie zu fordern, um das Vorliegen eines Hindernisses für die unverzügliche Übertragung von Eigenmitteln auszuschließen.

Das Gericht unterstreicht, dass nach einer teleologischen Auslegung der betreffenden Bestimmung das gemeinsame Hauptziel der Verordnung Nr. 806/2014 und der Richtlinie 2014/59, das der Gesetzgeber verfolgt, indem er allen Instituten einer Bankengruppe die MREL auferlegt, die Gewährleistung einer wirksamen Abwicklung mit möglichst geringen negativen Auswirkungen auf die Realwirtschaft, das Finanzsystem und die öffentlichen Finanzen ist. Wenn der SRB einen Antrag auf Gewährung einer Ausnahme von den internen MREL prüft, ist es daher seine Aufgabe, zu beurteilen, ob es andere Ausgestaltungen gibt, die als funktionaler Ersatz für die internen MREL dienen können. Im Rahmen seines Ermessens kann er durchaus zu dem Schluss kommen, dass je nach den Umständen des jeweiligen Antrags auf Gewährung einer Ausnahme eine Garantie erforderlich ist, um die Bedingung zu erfüllen, dass kein Hindernis für die unverzügliche Übertragung von Eigenmitteln vorliegen darf. Es ist ihm jedoch nicht gestattet, eine Garantie zu fordern, deren Merkmale denen der in Art. 12g Abs. 3 der Verordnung Nr. 806/2014 vorgesehenen Garantie vergleichbar sind.

Insoweit stellt das Gericht fest, dass sich aus dem angefochtenen Beschluss nicht ergibt, dass der SRB von der betreffenden Bankengruppe eine Garantie gefordert hätte, die derjenigen nach Art. 12g Abs. 3 der Verordnung Nr. 806/2014 entspricht oder ihr vergleichbare Merkmale aufweist, und erst recht nicht, dass der Beschwerdeausschuss ein solches Vorgehen des SRB gebilligt hätte.

Was als Zweites die Beschränkung der Prüfung des Beschwerdeausschusses auf die bei ihm vorgebrachten Beschwerdegründe betrifft, weist das Gericht zunächst darauf hin, dass nach der Verordnung Nr. 806/2014 ( 6 ) jede natürliche oder juristische Person Beschwerde gegen einen Beschluss des SRB beim Beschwerdeausschuss einlegen kann, dass die Beschwerde eine Begründung enthält und dass der Beschwerdeausschuss über die Beschwerde zu entscheiden hat. Folglich prüft der Beschwerdeausschuss die vorgebrachten Beschwerdegründe. Außerdem führt das Gericht aus, dass sich die Argumente, die die Beschwerdeführerin vor dem Beschwerdeausschuss zur Stützung ihres ersten Beschwerdegrundes vorgebracht hat, nicht auf die inhaltlichen Beurteilungen des SRB zu den Garantien aus den Jahren 2014 und 2015 bezogen, auf die sich die betreffende Bankengruppe berief, um nachzuweisen, dass die Bedingung des Nichtvorliegens eines Hindernisses für die unverzügliche Übertragung von Eigenmitteln erfüllt sei. Die fraglichen Argumente betrafen nämlich den angeblich vom SRB begangenen Rechtsfehler, der darin bestanden habe, dass er seine Zuständigkeit überschritten habe, indem er eine nicht in Art. 12h der Verordnung Nr. 806/2014 vorgesehene Bedingung mechanisch und automatisch angewandt habe.

Daher ist das Gericht der Auffassung, dass der Beschwerdeausschuss prüfen musste, dass es sich bei der vom SRB vorgenommenen Beurteilung um keine verschleierte In-abstracto-Prüfung der Garantien aus den Jahren 2014 und 2015 handelte, sondern um eine glaubhafte Prüfung in concreto der Situation der betreffenden Bankengruppe und der zur Unterstützung ihres Antrags auf Gewährung einer Ausnahme eingereichten Garantien und dass die Grenzen des Ermessens des SRB somit eingehalten wurden. Das Gericht weist folglich die Rüge zurück, dass die von der Beschwerdeführerin vor dem Beschwerdeausschuss vorgebrachten Beschwerdegründe und Argumente, mit denen sie einen Rechtsfehler des SRB rügt, weil er die betreffende Bestimmung fehlerhaft angewandt und die Grenzen seiner Zuständigkeit überschritten habe, den Beschwerdeausschuss zwingend dazu hätten veranlassen müssen, zu prüfen, ob der SRB angesichts aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalls berechtigt war, eine spezielle Garantie zu fordern.

Schließlich bemerkt das Gericht zum Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, dass zum einen nicht verlangt werden kann, dass Art. 12h Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 806/2014 die verschiedenen konkreten Fälle nennt, in denen die darin genannte Bedingung erfüllt ist, da der Gesetzgeber nicht jeden dieser Fälle im Voraus bestimmen kann. Es ist nämlich nicht möglich, die Beispiele für Hindernisse für die unverzügliche Übertragung von Eigenmitteln aufzuzählen, ebenso wenig wie vom Gesetzgeber verlangt werden kann, eine positive Aufzählung der Maßnahmen bereitzustellen, die sicherstellen würden, dass die Bedingung des Nichtvorliegens dieser Hindernisse erfüllt wird. Zum anderen steht der Grundsatz der Rechtssicherheit nicht in Widerspruch dazu, dass die betreffenden Behörden bei der Anwendung der Kriterien, die durch die Vorschriften festgelegt wurden, über ein Ermessen verfügen. Im vorliegenden Fall impliziert auch die Tatsache, dass der SRB bei der Beurteilung, ob ein Hindernis für die unverzügliche Übertragung von Eigenmitteln vorliegt, oder hinsichtlich der angemessenen Art und Weise, wie diese Bedingung zu erfüllen ist, über ein Ermessen verfügt, nicht, dass gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoßen wurde.


( 1 ) Beschluss Nr. 3/2021 des Berufungsausschusses des Einheitlichen Abwicklungsausschusses (SRB) vom 8. Juni 2022, mit dem die Beschwerde gegen den Beschluss SRB/EES/2021/44 vom 4. November 2021 über die Festlegung der Mindestanforderungen an Eigenmittel und berücksichtigungsfähige Verbindlichkeiten zurückgewiesen wurde (im Folgenden: angefochtener Beschluss).

( 2 ) Verordnung (EU) Nr. 806/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Juli 2014 zur Festlegung einheitlicher Vorschriften und eines einheitlichen Verfahrens für die Abwicklung von Kreditinstituten und bestimmten Wertpapierfirmen im Rahmen eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines einheitlichen Abwicklungsfonds sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 (ABl. 2014, L 225, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) 2019/877 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2019 (ABl. 2019, L 150, S. 226) geänderten Fassung.

( 3 ) Beschluss SRB/EES/2021/44 des Einheitlichen Abwicklungsausschusses vom 4. November 2021.

( 4 ) Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 (ABl. 2014, L 173, S. 190) des Europäischen Parlaments und des Rates in der durch die Richtlinie (EU) 2019/879 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2019 (ABl. 2019, L 150, S. 296) geänderten Fassung.

( 5 ) D. h. in Art. 12h Abs. 1 der Verordnung Nr. 806/2014.

( 6 ) Vgl. Art. 85 Abs. 3 und 4 dieser Verordnung.