30.1.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 35/31


Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Berlin (Deutschland) eingereicht am 24. Oktober 2022 — Strafverfahren gegen M.N.

(Rechtssache C-670/22)

(2023/C 35/37)

Verfahrenssprache: Deutsch

Vorlegendes Gericht

Landgericht Berlin

Partei des Ausgangsverfahrens

M.N.

Vorlagefragen

1.

Zur Auslegung des Merkmals „Anordnungsbehörde“ nach Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2014/41/EU (1):

a)

Muss eine Europäische Ermittlungsanordnung (im Folgenden: EEA) zur Erlangung von Beweismitteln, die sich bereits im Vollstreckungsstaat (hier: Frankreich) befinden, von einem Richter erlassen werden, wenn nach dem Recht des Anordnungsstaats (hier: Deutschland) in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall die zugrunde liegende Beweiserhebung durch den Richter hätte angeordnet werden müssen?

b)

Gilt dies hilfsweise zumindest dann, wenn der Vollstreckungsstaat die zugrunde liegende Maßnahme auf dem Hoheitsgebiet des Anordnungsstaats durchgeführt hat mit dem Ziel, die abgeschöpften Daten anschließend den an den Daten interessierten Ermittlungsbehörden im Anordnungsstaat zum Zweck der Strafverfolgung zur Verfügung zu stellen?

c)

Muss eine EEA zur Erlangung von Beweismitteln unabhängig von den nationalen Zuständigkeitsregelungen des Anordnungsstaats immer dann von einem Richter (bzw. einer unabhängigen, nicht mit strafrechtlichen Ermittlungen befassten Stelle) erlassen werden, wenn die Maßnahme schwerwiegende Eingriffe in hochrangige Grundrechte betrifft?

2.

Zur Auslegung von Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2014/41:

a)

Steht Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2014/41 einer EEA zur Übermittlung von im Vollstreckungsstaat (Frankreich) schon vorhandenen Daten aus einer Telekommunikationsüberwachung — insbesondere Verkehrs- und Standortdaten sowie Aufzeichnungen von Kommunikationsinhalten — entgegen, wenn die vom Vollstreckungsstaat durchgeführte Überwachung sich auf sämtliche Anschlussnutzer eines Kommunikationsdienstes erstreckte, mit der eine EEA die Übermittlung der Daten sämtlicher auf dem Hoheitsgebiet des Anordnungsstaats genutzten Anschlüsse begehrt wird und weder bei der Anordnung und Durchführung der Überwachungsmaßnahme noch bei Erlass der EEA konkrete Anhaltspunkte für die Begehung von schweren Straftaten durch diese individuellen Nutzer bestanden?

b)

Steht Art. 6 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie einer solchen EEA entgegen, wenn die Integrität der durch die Überwachungsmaßnahme abgeschöpften Daten wegen umfassender Geheimhaltung durch die Behörden im Vollstreckungsstaat nicht überprüft werden kann?

3.

Zur Auslegung von Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2014/41:

a)

Steht Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2014/41 einer EEA zur Übermittlung von im Vollstreckungsstaat (Frankreich) schon vorhandenen Telekommunikationsdaten entgegen, wenn die der Datenerhebung zugrunde liegende Überwachungsmaßnahme des Vollstreckungsstaats nach dem Recht des Anordnungsstaats (Deutschland) in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unzulässig gewesen wäre?

b)

Hilfsweise: Gilt dies jedenfalls dann, wenn der Vollstreckungsstaat die Überwachung auf dem Hoheitsgebiet des Anordnungsstaats und in dessen Interesse durchgeführt hat?

4.

Zur Auslegung von Art. 31 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2014/41:

a)

Handelt es sich bei einer mit der Infiltration von Endgeräten verbundenen Maßnahme zur Abschöpfung von Verkehrs-, Standort- und Kommunikationsdaten eines internetbasierten Kommunikationsdienstes um eine Überwachung des Telekommunikationsverkehrs im Sinne von Art. 31 der Richtlinie 2014/41?

b)

Muss die Unterrichtung nach Art. 31 Abs. 1 dieser Richtlinie stets an einen Richter gerichtet werden oder gilt dies zumindest dann, wenn die vom überwachenden Staat (Frankreich) geplante Maßnahme nach dem Recht des unterrichteten Staates (Deutschland) in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nur durch einen Richter angeordnet werden könnte?

c)

Soweit Art. 31 der Richtlinie auch dem Individualschutz der betroffenen Telekommunikationsnutzer dient, erstreckt sich dieser auch auf die Verwendung der Daten zur Strafverfolgung im unterrichteten Staat (Deutschland) und ist gegebenenfalls dieser Zweck gleichwertig mit dem weiteren Zweck, die Souveränität des unterrichteten Mitgliedsstaats zu schützen?

5.

Rechtsfolgen einer unionsrechtswidrigen Beweiserlangung

a)

Kann sich bei einer Beweismittelerlangung durch eine unionsrechtswidrige EEA unmittelbar aus dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz ein Beweisverwertungsverbot ergeben?

b)

Führt bei einer Beweismittelerlangung durch eine unionsrechtswidrige EEA der unionsrechtliche Äquivalenzgrundsatz zu einem Beweisverwertungsverbot, wenn die der Beweisgewinnung im Vollstreckungsstaat zugrunde liegende Maßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall im Anordnungsstaat nicht hätte angeordnet werden dürfen und die durch eine solche rechtswidrige innerstaatliche Maßnahme gewonnenen Beweise nach dem Recht des Anordnungsstaats nicht verwertbar wären?

c)

Verstößt es gegen Unionsrecht, insbesondere den Grundsatz der Effektivität, wenn die strafprozessuale Verwertung von Beweismitteln, deren Erlangung gerade wegen eines fehlenden Tatverdachts unionsrechtswidrig war, im Rahmen einer Interessenabwägung mit der Schwere der erstmals durch die Auswertung der Beweismittel bekannt gewordenen Taten gerechtfertigt wird?

d)

Hilfsweise: Ergibt sich aus dem Unionsrecht, insbesondere dem Grundsatz der Effektivität, dass Unionsrechtsverstöße bei der Beweismittelerlangung in einem nationalen Strafverfahren auch bei schweren Straftaten nicht vollständig ohne Folge bleiben dürfen und daher zumindest auf der Ebene der Beweiswürdigung oder der Strafzumessung zugunsten des Beschuldigten berücksichtigt werden müssen?


(1)  Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (ABl. 2014, L 130, S. 1).