URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

18. April 2024 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – In einem Mitgliedstaat wohnhafter Staatsangehöriger des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland – Art. 20 und 22 AEUV – Aktives und passives Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Wohnmitgliedstaat – Art. 50 EUV – Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft – Folgen des Austritts eines Mitgliedstaats aus der Union – Streichung in den Wahlverzeichnissen im Wohnmitgliedstaat – Art. 39 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Gültigkeit des Beschlusses (EU) 2020/135“

In der Rechtssache C‑716/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal judiciaire d’Auch (Gericht erster Instanz Auch, Frankreich) mit Entscheidung vom 15. November 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 23. November 2022, in dem Verfahren

EP

gegen

Préfet du Gers,

Institut national de la statistique et des études économiques (INSEE),

Beteiligte:

Commune de Thoux, vertreten durch den Maire de Thoux,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra sowie der Richter N. Jääskinen (Berichterstatter) und M. Gavalec,

Generalanwalt: A. M. Collins,

Kanzler: N. Mundhenke, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. November 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von EP, vertreten durch J.‑N. Caubet-Hilloutou und J. Fouchet, Avocats,

der französischen Regierung, vertreten durch B. Fodda, J. Illouz, E. Leclerc und S. Royon als Bevollmächtigte,

der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane, O.‑C. Ichim und A. Wellman als Bevollmächtigte,

des Rates der Europäischen Union, vertreten durch M. Bauer, J. Ciantar und R. Meyer als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Krämer, E. Montaguti und A. Spina als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit des Beschlusses (EU) 2020/135 des Rates vom 30. Januar 2020 über den Abschluss des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 2020, L 29, S. 1) sowie die Auslegung dieses Beschlusses, des am 17. Oktober 2019 angenommenen und am 1. Februar 2020 in Kraft getretenen Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 2020, L 29, S. 7, im Folgenden: Austrittsabkommen), von Art. 6 Abs. 3 EUV und Art. 1 des Akts zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments im Anhang des Beschlusses 76/787/EGKS, EWG, Euratom des Rates vom 20. September 1976 (ABl. 1976, L 278, S. 1) in der durch den Beschluss 2002/772/EG geänderten Fassung, Euratom des Rates vom 25. Juni 2002 und 23. September 2002 (ABl. 2002, L 283, S. 1, im Folgenden: Wahlakt), der Art. 1, 7, 11, 21, 39, 41 und 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie der Urteile vom 12. September 2006, Spanien/Vereinigtes Königreich (C‑145/04, EU:C:2006:543), und vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers und Institut national de la statistique et des études économiques (C‑673/20, im Folgenden: Urteil Préfet du Gers I, EU:C:2022:449).

2

Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen EP, einer Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, die seit 1984 in Frankreich wohnt, auf der einen Seite und dem Préfet du Gers (Präfekt des Departements Gers, Frankreich) und dem Institut national de la statistique et des études économiques (Nationales Institut für Statistik und Wirtschaftsplanung, INSEE, Frankreich) auf der anderen Seite über die Streichung von EP in den Wählerverzeichnissen in Frankreich und die Ablehnung ihrer erneuten Eintragung in das betreffende zusätzliche Wählerverzeichnis.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

EU-Vertrag und AEU-Vertrag

3

In Art. 6 Abs. 3 EUV heißt es:

„Die Grundrechte, wie sie in der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten [(im Folgenden: EMRK)] gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, sind als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts.“

4

Art. 9 EUV sieht vor:

„… Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht.“

5

Art. 50 EUV sieht vor:

„(1)   Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der [Europäischen] Union auszutreten.

(2)   Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem Europäischen Rat seine Absicht mit. Auf der Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus und schließt das Abkommen, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird. Das Abkommen wird nach Artikel 218 Absatz 3 [AEUV] ausgehandelt. Es wird vom Rat [der Europäischen Union] im Namen der Union geschlossen; der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments.

(3)   Die Verträge finden auf den betroffenen Staat ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der in Absatz 2 genannten Mitteilung keine Anwendung mehr, es sei denn, der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern.

…“

6

Art. 18 Abs. 1 AEUV lautet:

„Unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge ist in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.“

7

In Art. 20 AEUV heißt es:

„(1)   Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht.

(2)   Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten. Sie haben unter anderem

b)

in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen, wobei für sie dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats;

…“

8

In Art. 22 AEUV heißt es:

„(1)   Jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, hat in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen, wobei für ihn dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats. …

(2)   … [J]eder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, [besitzt] in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, wobei für ihn dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats. …“

Charta

9

Art. 39 („Aktives und passives Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament“) Abs. 1 der Charta bestimmt:

„Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger besitzen in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament unter denselben Bedingungen wie die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats.“

Austrittsabkommen

10

Das Austrittsabkommen wurde durch den Beschluss 2020/135 im Namen der Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) genehmigt.

11

Teil Eins („Gemeinsame Bestimmungen“) des Austrittsabkommens umfasst dessen Art. 1 bis 8. In Art. 2 Buchst. c und e des Abkommens heißt es:

„Für die Zwecke dieses Abkommens bezeichnet der Ausdruck

c)

‚Unionsbürger‘ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt;

e)

‚Übergangszeitraum‘ den in Artikel 126 vorgesehenen Zeitraum“.

12

Teil Zwei („Rechte der Bürger“) des Austrittsabkommens umfasst dessen Art. 9 bis 39. In Art. 9 Buchst. c und d des Abkommens heißt es:

„Für die Zwecke dieses Teils und unbeschadet des Titels III bezeichnet der Ausdruck

c)

‚Aufnahmestaat‘:

i)

im Falle von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen das Vereinigte Königreich, wenn sie dort vor Ende des Übergangszeitraums ihr Aufenthaltsrecht im Einklang mit dem Unionsrecht ausgeübt haben und danach weiter dort wohnen;

ii)

im Falle von britischen Staatsangehörigen und ihren Familienangehörigen den Mitgliedstaat, in dem sie vor Ende des Übergangszeitraums ihr Aufenthaltsrecht im Einklang mit dem Unionsrecht ausgeübt haben und in dem sie danach weiter wohnen;

d)

‚Arbeitsstaat‘:

i)

im Falle von Unionsbürgern das Vereinigte Königreich, wenn sie dort vor Ende des Übergangszeitraums eine wirtschaftliche Tätigkeit als Grenzgänger ausgeübt haben und danach weiter ausüben;

ii)

im Falle von britischen Staatsangehörigen einen Mitgliedstaat, in dem sie vor Ende des Übergangszeitraums eine wirtschaftliche Tätigkeit als Grenzgänger ausgeübt haben und danach weiter ausüben“.

13

Art. 10 („Persönlicher Anwendungsbereich“) des Austrittsabkommens sieht vor:

„(1)   Dieser Teil gilt unbeschadet des Titels III für die folgenden Personen:

a)

Unionsbürger, die ihr Recht auf Aufenthalt im Vereinigten Königreich vor Ende des Übergangszeitraums im Einklang mit dem Unionsrecht ausgeübt haben und danach weiter dort wohnen;

b)

britische Staatsangehörige, die ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat vor Ende des Übergangszeitraums im Einklang mit dem Unionsrecht ausgeübt haben und danach weiter dort wohnen;

…“

14

Art. 12 („Diskriminierungsverbot“) des Austrittsabkommens lautet:

„Im Anwendungsbereich dieses Teils ist unbeschadet darin enthaltender besonderer Bestimmungen jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit im Sinne des Artikels 18 Absatz 1 AEUV in Bezug auf die in Artikel 10 dieses Abkommens genannten Personen im Aufnahmestaat und im Arbeitsstaat verboten.“

15

In den Art. 13 bis 39 des Austrittsabkommens ist geregelt, welche Rechte den in Teil Zwei des Abkommens genannten Personen zustehen.

16

Art. 126 („Übergangszeitraum“) des Austrittsabkommens bestimmt:

„Es gibt einen Übergangs- oder Durchführungszeitraum, der am Tag des Inkrafttretens dieses Abkommens beginnt und am 31. Dezember 2020 endet.“

17

Art. 127 („Anwendungsbereich für den Übergang“) des Austrittsabkommens sieht vor:

„(1)   Sofern in diesem Abkommen nichts anderes bestimmt ist, gilt das Unionsrecht während des Übergangszeitraums für das Vereinigte Königreich sowie im Vereinigten Königreich.

Die nachstehenden Bestimmungen der Verträge und Rechtsakte, die von den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union erlassen wurden, gelten während des Übergangszeitraums jedoch weder für das Vereinigte Königreich noch im Vereinigten Königreich:

b)

Artikel 11 Absatz 4 EUV, Artikel 20 Absatz 2 Buchstabe b, Artikel 22 und Artikel 24 Absatz 1 AEUV, Artikel 39 und 40 der [Charta] sowie die auf der Grundlage dieser Bestimmungen erlassenen Rechtsakte.

(6)   Sofern in diesem Abkommen nichts anderes bestimmt ist, schließen während des Übergangszeitraums alle Bezugnahmen auf Mitgliedstaaten in dem nach Absatz 1 geltenden Unionsrecht, einschließlich der Durchführung und Anwendung durch die Mitgliedstaaten, das Vereinigte Königreich ein.“

18

Gemäß Art. 185 des Austrittsabkommens trat dieses am 1. Februar 2020 in Kraft. Außerdem ergibt sich aus Abs. 4 dieses Artikels, dass Teil Zwei des Abkommens ab dem Ende des Übergangszeitraums Anwendung findet.

Wahlakt

19

Art. 1 des Wahlakts lautet:

„(1)   In jedem Mitgliedstaat werden die Mitglieder des Europäischen Parlaments nach dem Verhältniswahlsystem auf der Grundlage von Listen oder von übertragbaren Einzelstimmen gewählt.

(2)   Die Mitgliedstaaten können Vorzugsstimmen auf der Grundlage von Listen nach den von ihnen festgelegten Modalitäten zulassen.

(3)   Die Wahl erfolgt allgemein, unmittelbar, frei und geheim.“

20

Nach Art. 7 Abs. 1 dieses Wahlakts bestimmt sich das Wahlverfahren vorbehaltlich der Vorschriften dieses Akts in jedem Mitgliedstaat nach den innerstaatlichen Vorschriften.

Französisches Recht

21

Art. 2 der Loi no 77-729, du 7 juillet 1977, relative à l’élection des représentants au Parlement européen (Gesetz Nr. 77-729 vom 7. Juli 1977 über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments) (JORF vom 8. Juli 1977, S. 3579) in der durch das Gesetz Nr. 2018-509 vom 25. Juni 2018 (JORF vom 26. Juni 2018, Text Nr. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 77-729) sieht vor:

„Für die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments gemäß dem [Wahlakt], der nach dem Gesetz Nr. 77-680 vom 30. Juni 1977 [zur Genehmigung der Bestimmungen im Anhang des Beschlusses des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 20. September 1976 über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments (JORF vom 1. Juli 1977, S. 3479)] anwendbar ist, gelten Titel I des Ersten Buches des Code électoral [(Wahlgesetzbuch)] und die Bestimmungen der folgenden Kapitel. Die in Art. L. 118-2 Abs. 1 des Wahlgesetzbuchs vorgesehene Frist von zwei Monaten verlängert sich auf vier Monate.

Französische Wähler mit Wohnsitz in einem anderen Staat der Europäischen Union nehmen jedoch weder an der Wahl in Frankreich noch an der Wahl nach Maßgabe von Art. 23 dieses Gesetzes teil, wenn ihnen gestattet wurde, ihr Wahlrecht für die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments in ihrem Wohnsitzstaat auszuüben.“

22

Art. 2-1 des Gesetzes Nr. 77-729 bestimmt:

„Angehörige eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union als Frankreich mit Wohnsitz im französischen Hoheitsgebiet können vorbehaltlich der in diesem Gesetz für sie vorgesehenen besonderen Modalitäten unter den gleichen Bedingungen wie französische Wähler an der Wahl der Vertreter Frankreichs zum Europäischen Parlament teilnehmen.

Die in Absatz 1 genannten Personen werden so behandelt, als hätten sie ihren Wohnsitz in Frankreich, wenn sie dort ihren tatsächlichen Wohnsitz haben oder sich ständig dort aufhalten.“

23

Art. 2-2 des Gesetzes Nr. 77-729 bestimmt:

„Um ihr Wahlrecht ausüben zu können, müssen die in Art. 2-1 genannten Personen auf Antrag in ein zusätzliches Wählerverzeichnis eingetragen sein. Sie können ihre Eintragung beantragen, wenn sie in ihrem Herkunftsstaat wahlberechtigt sind und außer der Staatsangehörigkeit die rechtlichen Voraussetzungen für die Wahlberechtigung und Eintragung in ein Wählerverzeichnis in Frankreich erfüllen.“

24

Nach Art. L 16 Abs. III Nr. 2 des Wahlgesetzbuchs in der durch die Loi no 2016-1048, du 1er août 2016, rénovant les modalités d’inscription sur les listes électorales (Gesetz Nr. 2016-1048 vom 1. August 2016 zur Überarbeitung der Modalitäten der Eintragung in das Wählerverzeichnis) (JORF vom 2. August 2016, Text Nr. 3) geänderten Fassung ist das INSEE für die Streichung verstorbener Wähler und nicht mehr wahlberechtigter Wähler aus dem einheitlichen Wählerverzeichnis zuständig.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

25

EP, eine Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs, wohnt seit 1984 in Frankreich und ist mit einem französischen Staatsangehörigen verheiratet. Sie hat die französische Staatsangehörigkeit nicht beantragt oder erlangt.

26

Nach dem Inkrafttreten des Austrittsabkommens am 1. Februar 2020 wurde EP mit Wirkung von diesem Zeitpunkt in den Wählerverzeichnissen in Frankreich gestrichen. Sie konnte daher nicht an den Kommunalwahlen vom 15. März 2020 teilnehmen.

27

Am 6. Oktober 2020 beantragte EP ihre Wiedereintragung in das zusätzliche Wählerverzeichnis für nicht französische Unionsbürger.

28

Mit Bescheid vom 7. Oktober 2020 lehnte der Bürgermeister der Gemeinde Thoux (Frankreich) diesen Antrag ab.

29

Am 9. November 2020 erhob EP beim Tribunal judiciaire d’Auch (Gericht erster Instanz Auch, Frankreich), dem vorlegenden Gericht, Klage gegen diese Entscheidung. Dieses Gericht hat dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen zum aktiven und passiven Wahlrecht der Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs bei den Kommunal- und Europawahlen in Frankreich vorgelegt, das der Gerichtshof mit Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers I (C‑673/20, EU:C:2022:449), beantwortet hat.

30

Im Anschluss an dieses Urteil beantragte EP beim vorlegenden Gericht, den Gerichtshof erneut um Vorabentscheidung über die Frage der Gültigkeit des Austrittsabkommens im spezifischen Rahmen der Wahlen zum Europäischen Parlament zu ersuchen.

31

EP räumt ein, dass sich aus dem Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers I (C‑673/20, EU:C:2022:449), ergebe, dass Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs die Unionsbürgerschaft sowie das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen in ihrem Wohnmitgliedstaat verloren hätten.

32

EP macht vor dem vorlegenden Gericht geltend, dass der Gerichtshof noch nicht über die Frage des aktiven und passiven Wahlrechts der Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in ihrem Wohnmitgliedstaat entschieden habe und dass in diesem Zusammenhang das Urteil des EGMR vom 18. Februar 1999, Matthews/Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:1999:0218JUD002483394), sowie das Urteil vom 12. September 2006, Spanien/Vereinigtes Königreich (C‑145/04, EU:C:2006:543), zu berücksichtigen seien.

33

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ergibt sich aus diesen Urteilen, dass eine Person, die einen festen Wohnsitz im Unionsgebiet habe, als zu einer „gesetzgebenden Körperschaft“, im vorliegenden Fall der europäischen, gehörend angesehen werden könne. In diesem Zusammenhang müssten die Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten erlassen könnten, um das Wahlrecht einzuschränken, in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Ziel stehen, ohne dieses Recht in seinem Wesensgehalt anzutasten und es seiner Wirksamkeit zu berauben. Die Anwendung der Bestimmungen des Austrittsabkommens im vorliegenden Fall stellten indes einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Wahlgrundrecht von EP dar.

34

Unter diesen Umständen hat das Tribunal judiciaire d’Auch (Gericht erster Instanz Auch) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist der Beschluss 2020/135 nicht teilweise ungültig, da das Austrittsabkommen gegen die Art. 1, 7, 11, 21, 39 und 41 der Charta, Art. 6 Abs. 3 EUV und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach Art. 52 der Charta verstößt, soweit es keine Bestimmung enthält, nach der das Wahlrecht bei den Europawahlen für Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs, die von ihrer Freizügigkeit und ihrer Niederlassungsfreiheit im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats, der die doppelte Staatsangehörigkeit zulässt oder nicht, Gebrauch gemacht haben, insbesondere für solche, die seit mehr als 15 Jahren im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnhaft sind und unter die sogenannte „15 year rule“ (15-Jahre-Regel) nach dem Recht des Vereinigten Königreichs fallen, beibehalten werden kann, und damit den Verlust jeglichen Wahlrechts für Personen, die nicht das Recht hatten, sich durch eine Abstimmung gegen den Verlust ihrer Unionsbürgerschaft zu wehren, und auch für solche, die einen Treueid auf die Krone des Vereinigten Königreichs geleistet haben, verschlimmert?

2.

Sind der Beschluss 2020/135, das Austrittsabkommen, Art. 1 des Wahlakts, das Urteil vom 12. September 2006, Spanien/Vereinigtes Königreich (C‑145/04, EU:C:2006:543), die Art. 1, 7, 11, 21, 39 und 41 der Charta, Art. 6 Abs. 3 EUV und das Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers I (C‑673/20, EU:C:2022:449), dahin gehend auszulegen, dass sie ehemaligen Unionsbürgern, die von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben, sich im Hoheitsgebiet der Europäischen Union frei zu bewegen und niederzulassen, sowie insbesondere ehemaligen Unionsbürgern, die keinerlei Wahlrecht mehr haben, weil sie ihr Privat- und Familienleben seit mehr als 15 Jahren im Gebiet der Union führen, und sich nicht durch eine Abstimmung gegen den zum Verlust ihrer Unionsbürgerschaft führenden Austritt ihres Mitgliedstaats aus der Europäischen Union wehren konnten, das aktive und passive Wahlrecht bei den Europawahlen in einem Mitgliedstaat nehmen?

Zu den Vorlagefragen

Zur zweiten Frage

35

Mit seiner zweiten Frage, die als Erstes zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Austrittsabkommen im Licht der Charta dahin auszulegen ist, dass die Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, die vor Ende des Übergangszeitraums ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat ausgeübt haben, seit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union am 1. Februar 2020 nicht mehr das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in ihrem Wohnmitgliedstaat besitzen.

36

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass EP im vorliegenden Fall nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und daher nicht Unionsbürgerin im Sinne von Art. 9 EUV oder Art. 2 Buchst. c des Austrittsabkommens ist. Dagegen hat sie ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat vor Ende des Übergangszeitraums ausgeübt, der gemäß Art. 2 Buchst. e in Verbindung mit Art. 126 des Austrittsabkommens die Zeit vom 1. Februar bis zum 31. Dezember 2020 umfasst.

37

Der Gerichtshof hat bereits in Rn. 83 seines Urteils vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers I (C‑673/20, EU:C:2022:449), entschieden, dass die Art. 9 und 50 EUV und die Art. 20 bis 22 AEUV in Verbindung mit dem Austrittsabkommen dahin auszulegen sind, dass die Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, die vor Ende dieses Übergangszeitraums ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat ausgeübt haben, seit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union am 1. Februar 2020 nicht mehr den Unionsbürgerstatus und insbesondere das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen in ihrem Wohnmitgliedstaat nach Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 AEUV besitzen, und zwar auch dann nicht, wenn sie nach dem Recht des Staates, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, auch das Wahlrecht bei den Wahlen in diesem Staat verloren haben.

38

Es ist daher zu prüfen, ob diese Auslegung auch in Bezug auf das aktive und passive Wahlrecht von Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs wie EP bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in ihrem Wohnmitgliedstaat geboten ist.

39

Insoweit ist als Erstes festzustellen, dass die Unionsbürgerschaft nach Art. 9 EUV und Art. 20 AEUV den Besitz der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats erfordert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers I,C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 46 bis 48).

40

Art. 20 Abs. 2 sowie die Art. 21 und 22 AEUV knüpfen eine Reihe von Rechten an den Unionsbürgerstatus, der nach ständiger Rechtsprechung dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers I, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 49 und 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Unionsbürger, die in einem Mitgliedstaat wohnen, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, besitzen nach Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 Abs. 2 AEUV insbesondere das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben. Dieses Recht ist auch in Art. 39 der Charta verankert. Keine dieser Bestimmungen sieht dieses Recht dagegen für Drittstaatsangehörige vor.

42

Wie der Gerichtshof jedoch bereits entschieden hat, ist der Umstand, dass eine Privatperson zu einem Zeitpunkt, zu dem der Staat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, Mitgliedstaat war, von ihrem Recht Gebrauch gemacht hat, sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats frei zu bewegen und aufzuhalten, nicht geeignet, ihr den Unionsbürgerstatus und sämtliche nach dem AEU-Vertrag damit verbundenen Rechte zu erhalten, wenn sie aufgrund des Austritts ihres Herkunftsstaats aus der Union nicht mehr die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt (Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers I, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 52).

43

Da die Unionsverträge nach Art. 50 Abs. 3 EUV zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Austrittsabkommens, d. h. ab dem 1. Februar 2020, keine Anwendung mehr auf das Vereinigte Königreich finden, haben die Staatsangehörigen dieses Staates zu diesem Zeitpunkt den Unionsbürgerstatus verloren. Folglich besitzen sie nach Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 AEUV nicht mehr das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen in ihrem Wohnmitgliedstaat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers I, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 55 und 58) oder das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in diesem Mitgliedstaat.

44

In Anbetracht der Fragen des vorlegenden Gerichts ist zum einen klarzustellen, dass dieses Ergebnis nicht dadurch in Frage gestellt wird, dass einem Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs wie EP das Wahlrecht im Vereinigten Königreich aufgrund einer Rechtsvorschrift dieses Staates genommen wird, nach der ein Staatsangehöriger des Vereinigten Königreichs, der sich seit mehr als 15 Jahren im Ausland aufhält, nicht mehr berechtigt ist, an den Wahlen in diesem Staat teilzunehmen.

45

Diese Regel entspricht nämlich einer von diesem ehemaligen Mitgliedstaat und nunmehrigen Drittstaat getroffenen Entscheidung in Bezug auf das Wahlrecht. Außerdem ist der von seinen Staatsangehörigen erlittene Verlust des Unionsbürgerstatus und, damit verbunden, des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in ihrem Wohnmitgliedstaat eine automatische Folge allein des vom Vereinigten Königreich gemäß Art. 50 Abs. 1 EUV souverän gefassten Beschlusses, aus der Union auszutreten und damit ein Drittstaat zu werden. Daher können weder die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten noch deren Gerichte verpflichtet sein, im Einzelfall die Folgen des Verlusts des Unionsbürgerstatus für die betroffene Person anhand des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers I, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 59 bis 62).

46

Zum anderen bestätigt Art. 1 Abs. 1 des Wahlakts, gelesen in Verbindung mit Art. 7 dieses Akts, nur, dass die Mitglieder des Europäischen Parlaments nach den in diesem Art. 1 genannten Modalitäten gewählt werden. Ein Staatsangehöriger des Vereinigten Königreichs wie EP kann daher nach dem Austritt dieses Staates aus der Union auf der Grundlage von Art. 1 des Wahlakts in seinem Wohnmitgliedstaat kein aktives Wahlrecht für die Wahlen zum Europäischen Parlament haben.

47

Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass das Austrittsabkommen ebenso wie für das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen, das in der Rechtssache in Rede stand, in der das Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers I (C‑673/20, EU:C:2022:449), ergangen ist, auch keine Bestimmung enthält, die den Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, die ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat vor Ende des Übergangszeitraums im Einklang mit dem Unionsrecht ausgeübt haben, ein aktives und passives Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in ihrem Wohnmitgliedstaat verleiht.

48

Folglich waren die Mitgliedstaaten ab dem 1. Februar 2020 nicht mehr dazu verpflichtet, Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs für die Zwecke der Anwendung von Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 AEUV sowie der Art. 39 und 40 der Charta den Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats gleichzustellen, und damit auch nicht dazu, den in ihrem Hoheitsgebiet wohnenden Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen zuzuerkennen, das nach diesen Bestimmungen Personen verliehen wird, die als Staatsangehörige eines Mitgliedstaats den Unionsbürgerstatus besitzen (Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers I, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 71).

49

Diese Auslegung des Austrittsabkommens vermag weder durch die verschiedenen vom vorlegenden Gericht genannten Bestimmungen des Primärrechts der Union noch durch die von ihm angeführte Rechtsprechung in Frage gestellt zu werden.

50

Hierzu ist zunächst klarzustellen, dass die in der EMRK niedergelegten Grundrechte zwar, wie Art. 6 Abs. 3 EUV bestätigt, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind und dass nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die in ihr enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden; die EMRK stellt jedoch, solange die Union ihr nicht beigetreten ist, kein Rechtsinstrument dar, das formell in die Unionsrechtsordnung übernommen wurde (Urteil vom 16. Juli 2020, Facebook Ireland und Schrems, C‑311/18, EU:C:2020:559, Rn. 98 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51

Unter diesen Umständen hat der Gerichtshof entschieden, dass die Auslegung des Unionsrechts und die Prüfung der Gültigkeit von Unionsrechtsakten anhand der durch die Charta garantierten Grundrechte vorzunehmen sind (Urteil vom 16. Juli 2020, Facebook Ireland und Schrems, C‑311/18, EU:C:2020:559, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung).

52

Nach dieser Klarstellung ist erstens zu Art. 21 der Charta, in dem das auch in Art. 18 Abs. 1 AEUV vorgesehene Diskriminierungsverbot verankert ist, darauf hinzuweisen, dass sich das in Art. 12 des Austrittsabkommens enthaltene Verbot jeder Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit im Sinne dieses Art. 18 Abs. 1 AEUV in Bezug auf die in Art. 10 dieses Abkommens genannten Personen im Aufnahmestaat im Sinne von Art. 9 Buchst. c des Abkommens und im Arbeitsstaat im Sinne von Art. 9 Buchst. d des Abkommens schon nach dem Wortlaut dieses Art. 12 auf Teil Zwei des Abkommens bezieht (Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers I, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 76).

53

Es ist jedoch festzustellen, dass – ebenso wie das aktive und passive Wahlrecht der in Art. 10 Buchst. b des Austrittsabkommens genannten Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs bei den Kommunalwahlen im Wohnmitgliedstaat – auch das aktive und passive Wahlrecht dieser Staatsangehörigen bei den Wahlen zum Europäischen Parlament nicht in den Anwendungsbereich von Teil Zwei des Austrittsabkommens fällt.

54

Somit kann sich ein Staatsangehöriger des Vereinigten Königreichs wie EP, der sein Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat vor Ende des Übergangszeitraums im Einklang mit dem Unionsrecht ausgeübt hat und danach weiter dort wohnt, nicht mit Erfolg auf das in Rn. 52 des vorliegenden Urteils genannte Diskriminierungsverbot oder auch auf Art. 21 der Charta berufen, um das aktive und passive Wahlrecht zum Europäischen Parlament in seinem Wohnmitgliedstaat zu beanspruchen, das er infolge der souveränen Entscheidung des Vereinigten Königreichs, aus der Union auszutreten, verloren hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers I, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 77).

55

Außerdem ist noch klarzustellen, dass Art. 18 Abs. 1 AEUV im Fall einer etwaigen Ungleichbehandlung zwischen Angehörigen der Mitgliedstaaten und Drittstaatsangehörigen keine Anwendung findet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers I, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56

Was zweitens Art. 39 der Charta betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass dieser Artikel nicht zu den Bestimmungen des Unionsrechts gehört, die auf Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs im Übergangszeitraum oder danach anwendbar sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers I, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 70 und 75). Daher können diese Staatsangehörigen nicht auf der Grundlage einer Auslegung des Austrittsabkommens im Licht dieses Art. 39 ein aktives und passives Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in ihrem Wohnmitgliedstaat beanspruchen.

57

Zu den drittens vom vorlegenden Gericht angeführten Art. 1, 7, 11 und 41 der Charta genügt die Feststellung, dass sich ein Staatsangehöriger des Vereinigten Königreichs wie EP auch nicht auf der Grundlage einer Auslegung des Abkommens im Licht der genannten Art. 1, 7, 11 und 41 auf das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in seinem Wohnmitgliedstaat berufen kann, da andernfalls gegen den Wortlaut von Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 Abs. 2 AEUV, von Art. 39 der Charta sowie der Bestimmungen des Austrittsabkommens verstoßen würde.

58

Zu dem viertens vom vorlegenden Gericht angeführten Urteil vom 12. September 2006, Spanien/Vereinigtes Königreich (C‑145/04, EU:C:2006:543), ist festzustellen, dass die auf dieses Urteil zurückgehende Rechtsprechung nicht auf einen Sachverhalt wie den des Ausgangsverfahrens übertragbar ist.

59

In der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, wurde der Gerichtshof nämlich gefragt, ob ein Mitgliedstaat unter Berücksichtigung des Standes des Gemeinschaftsrechts zum maßgeblichen Zeitpunkt Personen, die keine Unionsbürger waren, aber in seinem Hoheitsgebiet wohnten, das aktive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament gewähren könne.

60

Dies war der Hintergrund, vor dem der Gerichtshof in Rn. 78 dieses Urteils entschieden hat, dass „beim derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts die einzelnen Mitgliedstaaten dafür zuständig sind, unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts die Personen zu bestimmen, die das aktive und passive Wahlrecht für die Wahlen zum Europäischen Parlament haben, und dass es nicht gegen die Artikel 189 EG, 190 EG, 17 EG und 19 EG verstößt, wenn die Mitgliedstaaten dieses aktive und passive Wahlrecht bestimmten Personen zuerkennen, die enge Verbindungen mit ihnen aufweisen, ohne eigene Staatsangehörige oder in ihrem Hoheitsgebiet ansässige Unionsbürger zu sein“.

61

Im Unterschied zu der Rechtssache, die zum Urteil vom 12. September 2006, Spanien/Vereinigtes Königreich (C‑145/04, EU:C:2006:543), geführt hat, geht es in der vorliegenden Rechtssache nicht um die Frage, ob die Mitgliedstaaten Personen, die keine Unionsbürger sind, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament zuerkennen dürfen, sondern darum, ob diese Mitgliedstaaten verpflichtet sind, dieses Recht Personen zu gewähren, die keine Unionsbürger mehr sind, nämlich Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, die nach dem Austritt dieses Staates aus der Union am 1. Februar 2020 in ihrem Hoheitsgebiet wohnen.

62

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass das Austrittsabkommen im Licht der Charta dahin auszulegen ist, dass seit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union am 1. Februar 2020 Staatsangehörige dieses Staates, die ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat vor Ende des Übergangszeitraums ausgeübt haben, nicht mehr das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in ihrem Wohnmitgliedstaat besitzen.

Zur ersten Frage

63

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Beschluss 2020/135 im Hinblick auf Art. 6 Abs. 3 EUV, die Art. 1, 7, 11, 21, 39 und 41 der Charta sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ungültig ist, da das Austrittsabkommen Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, die ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat vor Ende des Übergangszeitraums ausgeübt haben, nicht das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in ihrem Wohnmitgliedstaat verleiht.

64

Was erstens die Prüfung der Gültigkeit des Beschlusses 2020/135 im Hinblick auf Art. 6 Abs. 3 EUV und die Art. 1, 7, 11, 21, 39 und 41 der Charta betrifft, ist in den Rn. 50 bis 57 des vorliegenden Urteils festgestellt worden, dass ein Staatsangehöriger des Vereinigten Königreichs, der vor Ende des Übergangszeitraums sein Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat im Einklang mit dem Unionsrecht ausgeübt hat und danach weiterhin dort wohnt, sich nach dem Austrittsabkommen und diesen Artikeln der Charta nicht auf das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in seinem Wohnmitgliedstaat berufen kann.

65

Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschluss 2020/135 gegen die genannten Artikel der Charta verstößt, soweit das mit dem Beschluss genehmigte Austrittsabkommen den Staatsangehörigen dieses ehemaligen Mitgliedstaats und nunmehrigen Drittstaats, die vor Ende des Übergangszeitraums ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat ausgeübt haben, nicht das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in ihrem Wohnmitgliedstaat verleiht.

66

Was zweitens die Prüfung der Gültigkeit des Beschlusses 2020/135 im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten kein Anhaltspunkt dafür ergibt, dass die Union als Vertragspartei des Austrittsabkommens dadurch die Grenzen ihres Ermessens bei der Gestaltung der auswärtigen Beziehungen überschritten hätte, dass sie nicht verlangt hat, dass in diesem Abkommen für die Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, die vor Ende des Übergangszeitraums ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat ausgeübt haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in ihrem Wohnmitgliedstaat vorgesehen wird.

67

Insoweit verfügen die Unionsorgane bei der Gestaltung der auswärtigen Beziehungen über eine große Bandbreite politischer Entscheidungsbefugnisse. In Ausübung ihrer außenpolitischen Prärogative können die Unionsorgane internationale Übereinkünfte schließen, die u. a. auf dem Grundsatz der Gegenseitigkeit und beiderseitiger Vorteile beruhen (Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers I, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung).

68

Sie sind daher nicht verpflichtet, Drittstaatsangehörigen einseitig Rechte wie das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Wohnmitgliedstaat einzuräumen, das im Übrigen nach Art. 20 Abs. 2 Buchst. b, Art. 22 AEUV und Art. 39 der Charta Unionsbürgern vorbehalten ist (vgl. entsprechend Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers I, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 99).

69

Daher kann dem Rat der Europäischen Union nicht vorgeworfen werden, mit dem Beschluss 2020/135 das Austrittsabkommen gebilligt zu haben, obwohl dieses den Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs nicht das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in ihrem Wohnmitgliedstaat, sei es im Übergangszeitraum oder danach, verleiht.

70

Was drittens den vom vorlegenden Gericht angeführten Umstand betrifft, dass bestimmte Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs wie EP nach der in Rn. 44 des vorliegenden Urteils genannten Regel, wonach ein Staatsangehöriger dieses Staates, der sich seit mehr als 15 Jahren im Ausland aufhält, nicht mehr berechtigt ist, an den Wahlen in diesem Staat teilzunehmen, ihr Wahlrecht im Vereinigten Königreich verlieren, ist darauf hinzuweisen, dass dies allein auf eine Bestimmung des Rechts eines Drittstaats und nicht auf das Unionsrecht zurückzuführen und somit für die Beurteilung der Gültigkeit des Beschlusses 2020/135 unerheblich ist (Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers I, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 101).

71

Folglich hat die Prüfung der ersten Frage nichts ergeben, was die Gültigkeit des Beschlusses 2020/135 berühren könnte.

Kosten

72

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Das am 17. Oktober 2019 angenommene und am 1. Februar 2020 in Kraft getretene Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft ist im Licht der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass seit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union am 1. Februar 2020 Staatsangehörige dieses Staates, die ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat vor Ende des Übergangszeitraums ausgeübt haben, nicht mehr das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in ihrem Wohnmitgliedstaat besitzen.

 

2.

Die Prüfung der ersten Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit des Beschlusses (EU) 2020/135 des Rates vom 30. Januar 2020 über den Abschluss des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft berühren könnte.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.