Rechtssache C-697/22 P
Koiviston Auto Helsinki Oy, ehemals Helsingin Bussiliikenne Oy
gegen
Europäische Kommission
Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 29. Juli 2024
„Rechtsmittel – Staatliche Beihilfen – SA.33846 (2015/C) (ex 2014/NN) (ex 2011/CP) – Der Veröffentlichung des Beschlusses über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens nachfolgende wesentliche Frage – Ermittlung des Beihilfeempfängers – Verpflichtung zur Veröffentlichung eines abgeänderten Einleitungsbeschlusses – Recht des Beihilfeempfängers auf Stellungnahme – Wesentliche Formvorschrift – Unvereinbarkeit mit dem Binnenmarkt – Von der Europäischen Kommission angeordnete Rückforderung der Beihilfe – Zurückzufordernder Betrag – Zuständigkeit des betreffenden Mitgliedstaats“
Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Verwaltungsverfahren – Pflicht der Kommission, die Beteiligten zur Äußerung aufzufordern – Wesentliche Formvorschrift – Tragweite – Pflicht der Kommission, im Beschluss über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens die wesentlichen Sach- und Rechtsfragen zusammenzufassen – Im Beschluss über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens als Beihilfeempfänger genanntes Unternehmen, das im Anschluss von einer anderen Gesellschaft übernommen wird – Endgültiger Beschluss, mit dem die Pflicht zur Rückzahlung der Beihilfe aufgrund der wirtschaftlichen Kontinuität auf die übernehmende Gesellschaft ausgeweitet wird – Pflicht der Kommission, einen Berichtigungs- oder Ausweitungsbeschluss zum Beschluss über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens zu erlassen, mit dem diese Ausweitung der Rückzahlungspflicht bekannt gegeben wird
(Art. 108 Abs. 2 AEUV; Verordnung 2015/1589 des Rates, Art. 6 Abs. 1)
(vgl. Rn. 45-56, 60, 61)
Staatliche Beihilfen – Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe – Wiederherstellung der früheren Lage – Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Fehlen
(Art. 108 AEUV)
(vgl. Rn. 79, 80)
Staatliche Beihilfen – Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe – Bestimmung des Schuldners im Fall der Übertragung von Aktiva – Durch die Beihilfe begünstigtes Unternehmen, das im Lauf des förmlichen Prüfverfahrens von einer anderen Gesellschaft übernommen wird – Ausweitung der Rückzahlungspflicht auf die übernehmende Gesellschaft bei wirtschaftlicher Kontinuität – Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – Tragweite – Auf den Betrag des Wettbewerbsvorteils, der der übernehmenden Gesellschaft tatsächlich verblieben ist, beschränkte Rückzahlung der Beihilfe
(Art. 108 Abs. 2 AEUV)
(vgl. Rn. 81)
Staatliche Beihilfen – Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe – Berechnung des zurückzufordernden Betrags – Möglichkeit für die Kommission, die Berechnung des genauen zurückzufordernden Betrags den nationalen Behörden zu überlassen – Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Fehlen
(Art. 108 AEUV)
(vgl. Rn. 83-85)
Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Verwaltungsverfahren – Pflicht der Kommission, die Beteiligten zur Äußerung aufzufordern – Wesentliche Formvorschrift – Tragweite – Pflicht der Kommission, im Beschluss über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens die wesentlichen Sach- und Rechtsfragen zusammenzufassen – Verstoß – Folge – Nichtigerklärung des nach dem förmlichen Prüfverfahren erlassenen Beschlusses
(Art. 108 Abs. 2 und Art. 263 Abs. 2 AEUV)
(vgl. Rn. 92)
Zusammenfassung
Der Gerichtshof gibt dem Rechtsmittel der Koiviston Auto Helsinki Oy (ehemals Helsingin Bussiliikenne Oy) gegen das Urteil Helsingin Bussiliikenne/Kommission (im Folgenden: angefochtenes Urteil) ( 1 ) statt und geht dabei auf die Verfahrenspflichten ein, die der Kommission im Rahmen des förmlichen Prüfverfahrens nach Art. 108 Abs. 2 AEUV gegenüber einer Entität obliegen, die die wirtschaftliche Tätigkeit des ursprünglichen Empfängers einer staatlichen Beihilfe fortführt und die aufgrund der Anwendung des Kriteriums der wirtschaftlichen Kontinuität zur Rückzahlung der Beihilfe verpflichtet ist. Außerdem äußert er sich zur jeweiligen Rolle der Kommission und des betreffenden Mitgliedstaats bei der Berechnung der Beihilfe, die vom Erwerber von Vermögenswerten des Beihilfeempfängers zurückzufordern ist. Die Gesellschaft Helsingin Bussiliikenne (im Folgenden: alte HelB), die zu 100 % im Eigentum der Stadt Helsinki (Finnland) stand, betrieb Buslinien im Raum Helsinki und bot Charterbeförderungs- und Busleasingdienste an. Im Dezember 2015 wurde die alte HelB an die Gesellschaft Viikin Linja Oy verkauft. Gemäß den Bestimmungen des Kaufvertrags wurde diese in Helsingin Bussiliikenne Oy (im Folgenden: neue HelB) umbenannt.
Auf eine Beschwerde hin leitete die Kommission ein förmliches Prüfverfahren in Bezug auf mehrere Ausrüstungs- und Betriebsmittelkredite ein, die die Stadt Helsinki in den Jahren 2002 bis 2012 zugunsten der alten HelB und ihrer Rechtsvorgängerin HKL-Bussiliikenne gewährt hatte (im Folgenden: streitige Maßnahmen). Der Beschluss über die Einleitung dieses Verfahrens wurde am 10. April 2015 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht ( 2 ), und die Beteiligten wurden aufgefordert, innerhalb eines Monats nach dieser Veröffentlichung Stellung zu nehmen. Die Kommission, die im Juni 2015 über die bevorstehende Veräußerung der alten HelB an die neue HelB informiert worden war, erhielt keine Stellungnahme von Letzterer.
Mit Beschluss vom 28. Juni 2019 (im Folgenden: streitiger Beschluss) ( 3 ) stellte die Kommission fest, dass die streitigen Maßnahmen eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe darstellten, die die Republik Finnland von der Begünstigten zurückfordern müsse. Die Kommission stellte fest, dass zwischen der alten HelB und der neuen HelB eine wirtschaftliche Kontinuität bestehe, und weitete die Pflicht zur Rückzahlung der rechtswidrigen Beihilfe auf die neue HelB aus.
Nachdem die Klage der neuen HelB gegen den streitigen Beschluss vom Gericht abgewiesen worden war, legte diese gegen dessen Urteil ein Rechtsmittel ein.
Würdigung durch den Gerichtshof
Als Erstes prüft der Gerichtshof den Rechtsmittelgrund, mit dem geltend gemacht wird, das Gericht habe rechtsfehlerhaft entschieden, dass die Kommission keine wesentliche Formvorschrift verletzt habe, indem sie es unterlassen habe, der neuen HelB im förmlichen Verfahren zur Prüfung der streitigen Beihilfe Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.
Nach Auffassung der Rechtsmittelführerin war die Kommission nach der Veräußerung der alten HelB verpflichtet, den Beschluss zur Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens zu berichtigen oder zu ergänzen, da diese Veräußerung einen neuen Gesichtspunkt darstelle, der nicht in dem genannten Beschluss enthalten sei.
Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass die Kommission gemäß Art. 108 Abs. 2 AEUV, wenn sie die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens hinsichtlich einer Beihilfemaßnahme beschließt, den Beteiligten Gelegenheit zu einer Stellungnahme geben muss. Diese Verpflichtung hat den Charakter einer wesentlichen Formvorschrift, da sie eine wesentliche Verfahrensvoraussetzung darstellt, die untrennbar mit der korrekten Willensbildung oder Willensäußerung des Urhebers des Rechtsakts verbunden ist. Insoweit ist die Veröffentlichung einer Mitteilung im Amtsblatt der Europäischen Union ein angemessenes Mittel zur Unterrichtung aller Beteiligten über die Einleitung eines förmlichen Prüfverfahrens und zum Erhalt aller Auskünfte von den Beteiligten, die dazu beitragen können, der Kommission Klarheit über ihr weiteres Vorgehen zu verschaffen.
Um die Beteiligten in die Lage zu versetzen, sachgerecht Stellung zu nehmen, müssen allerdings die wesentlichen Sach- und Rechtsfragen, wie in Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2015/1589 ( 4 ) vorgesehen, in dem veröffentlichten Beschluss ausdrücklich und klar genannt werden. Diese Fragen sollen im förmlichen Prüfverfahren im Hinblick auf den Erlass des endgültigen Beschlusses geprüft werden, mit dem die Kommission über das Vorliegen und die Vereinbarkeit der fraglichen staatlichen Beihilfe sowie gegebenenfalls über die Verpflichtung zur Rückforderung dieser Beihilfe entscheidet.
Entstehen relevante Sach- oder Rechtsfragen nach dem Beschluss über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens, wie im vorliegenden Fall die Veräußerung der alten HelB an die neue HelB, wird die Verpflichtung der Kommission nur durch die Veröffentlichung eines ergänzenden Einleitungsbeschlusses erfüllt. Somit hat die Kommission dadurch, dass sie keinen solchen Beschluss erlassen hat, eine wesentliche Formvorschrift verletzt.
Als Zweites prüft der Gerichtshof den Rechtsmittelgrund, mit dem geltend gemacht wird, das Gericht habe gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen, indem es festgestellt habe, dass die Kommission nicht verpflichtet gewesen sei, zu bestimmen, inwieweit die sich aus den streitigen Maßnahmen ergebende staatliche Beihilfe von der neuen HelB zurückzufordern sei.
In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof klar, dass die Rückforderung einer rechtswidrigen staatlichen Beihilfe auf die Wiederherstellung der früheren Lage abzielt und nur dann als eine Maßnahme betrachtet werden kann, die außer Verhältnis zu den Zielen der Bestimmungen des AEU-Vertrags über staatliche Beihilfen steht, wenn der vom Beihilfeempfänger zurückzuzahlende Betrag den aktualisierten Betrag der von ihm erhaltenen Beihilfe übersteigt.
Wenn die Gesellschaft, die die rechtswidrige Beihilfe erhalten hat, von einer anderen Gesellschaft erworben wurde, die die Geschäftstätigkeit fortführt, muss die Beihilfe von Letzterer zurückgefordert werden, wenn erwiesen ist, dass dieser Gesellschaft der tatsächliche Nutzen des mit dem Erhalt dieser Beihilfe verbundenen Wettbewerbsvorteils verbleibt. In diesem Fall beschränkt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Rückzahlungspflicht auf den Betrag des Wettbewerbsvorteils, den sie tatsächlich behalten hat.
Im vorliegenden Fall hat die Kommission zwar im streitigen Beschluss die wirtschaftliche Kontinuität zwischen der alten HelB und der neuen HelB festgestellt und daraus den Schluss gezogen, dass die Verpflichtung zur Rückzahlung der rechtswidrigen Beihilfe auf Letztere ausgedehnt werden müsse, doch hat sie sich nicht dazu geäußert, in welchem Umfang der neuen HelB der Nutzen der Beihilfe für die alte HelB tatsächlich verblieb. Der Gerichtshof weist mit dem Gericht darauf hin, dass zwischen der Feststellung der wirtschaftlichen Kontinuität und der Bestimmung des Verhältnisses, in dem die rechtswidrige Beihilfe von deren Empfängern zurückzufordern ist, ein Unterschied besteht.
Das Gericht hat daher zu Recht entschieden, dass es Sache der Republik Finnland ist, den Betrag der staatlichen Beihilfe zu bestimmen, der von der neuen HelB zurückzufordern ist.
Gleichwohl hebt der Gerichtshof das angefochtene Urteil und den streitigen Beschluss auf, da der im Rahmen des ersten Rechtsmittelgrundes festgestellte Verstoß gegen eine wesentliche Formvorschrift von Rechts wegen zur Nichtigerklärung der Maßnahme führt.
( 1 ) Urteil des Gerichts vom 14. September 2022, Helsingin Bussiliikenne/Kommission (T-603/19, EU:T:2022:555).
( 2 ) Beschluss C(2015) 80 final vom 16. Januar 2015 betreffend die Maßnahme SA.33846 (2015/C) (ex 2014/NN) (ex 2011/CP) – Finnland – Helsingin Bussiliikenne Oy (ABl. 2015, C 116, S. 22).
( 3 ) Beschluss (EU) 2020/1814 der Kommission vom 28. Juni 2019 über die staatliche Beihilfe SA.33846 (2015/C) (ex 2014/NN) (ex 2011/CP) Finnlands zugunsten von Helsingin Bussiliikenne Oy (ABl. 2020, L 404, S. 10).
( 4 ) Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ABl. 2015, L 248, S. 9).