URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

12. Oktober 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen – Richtlinie 93/13/EWG – Wirkungen der Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Klausel – Wille des Verbrauchers, den Vertrag durch Änderung der darin enthaltenen missbräuchlichen Klausel aufrechtzuerhalten – Befugnisse des nationalen Gerichts“

In der Rechtssache C‑645/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberstes Gericht Litauens) mit Entscheidung vom 12. Oktober 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Oktober 2022, in dem Verfahren

R. A. u. a.

gegen

Luminor Bank AS, handelnd durch die Niederlassung der Luminor Bank AS Lietuvos skyrius,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin O. Spineanu‑Matei (Berichterstatterin), des Richters S. Rodin und der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: A. M. Collins,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Luminor Bank AS, handelnd durch die Niederlassung der Luminor Bank AS Lietuvos skyrius, vertreten durch K. Karpickis, A. Klezys, Advokatai, und A. Sovaitė,

der litauischen Regierung, vertreten durch K. Dieninis, S. Grigonis und V. Kazlauskaitė-Švenčionienė als Bevollmächtigte,

der portugiesischen Regierung, vertreten durch P. Barros da Costa, A. Cunha, I. Gameiro und L. Medeiros als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaitė und N. Ruiz García als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen R. A. u. a. gegen die Luminor Bank AS, handelnd durch die Niederlassung der Luminor Bank AS Lietuvos skyrius, wegen der Missbräuchlichkeit von Klauseln in mehreren zwischen diesen Parteien geschlossenen Darlehensverträgen und der sich daraus ergebenden Folgen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 21 und 24 der Richtlinie 93/13 heißt es:

„Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass in von einem Gewerbetreibenden mit Verbrauchern abgeschlossenen Verträgen keine missbräuchlichen Klauseln verwendet werden. …

Die Gerichte oder Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten müssen über angemessene und wirksame Mittel verfügen, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln in Verbraucherverträgen ein Ende gesetzt wird“.

4

Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest; sie sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“

5

Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.“

Litauisches Recht

6

Art. 6.2284 Abs. 8 des Lietuvos Respublikos civilinis kodeksas (Zivilgesetzbuch der Republik Litauen) bestimmt:

„Stellt das Gericht fest, dass eine oder mehrere Vertragsklausel(n) missbräuchlich ist/sind, so ist/sind diese Klausel(n) ab Vertragsschluss unwirksam, während die übrigen Vertragsklauseln für die Parteien verbindlich bleiben, sofern der Vertrag ohne die missbräuchlichen Klauseln aufrechterhalten werden kann.“

7

Art. 353 Abs. 1 und 2 des Lietuvos Respublikos civilinio proceso kodeksas (Zivilprozessordnung der Republik Litauen) sieht vor:

„(1)   Das Kassationsgericht überprüft im Rahmen der Kassationsbeschwerde die angefochtenen Urteile und/oder Beschlüsse im Hinblick auf die Rechtsanwendung. Das Kassationsgericht ist an die vom erstinstanzlichen Gericht und vom Berufungsgericht festgestellten Tatsachen gebunden.

(2)   Das Gericht ist befugt, über die Grenzen einer Kassationsbeschwerde hinauszugehen, wenn das öffentliche Interesse dies erfordert und wenn die Rechte und berechtigten Interessen einer Person, der Gesellschaft oder des Staates verletzen würden, falls nicht über die Grenzen der Kassationsbeschwerde hinausgegangen würde. …“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8

Im Jahr 2008 schlossen die Kläger des Ausgangsverfahrens mit der Beklagten des Ausgangsverfahrens mehrere Verträge über Darlehen in Schweizer Franken (im Folgenden: streitige Verträge), mit denen sie bei der Beklagten Darlehen in Schweizer Franken aufnahmen, bestehende, auf Euro und litauische Litas lautende Darlehen in Schweizer Franken umwandelten oder bei anderen Banken in anderen Währungen als Schweizer Franken aufgenommene Darlehen refinanzierten. Die in dieser Weise gewährten Darlehen sollten in Schweizer Franken zurückgezahlt werden. Aufgrund der erheblichen Abwertung des litauischen Litas gegenüber dem Schweizer Franken hat sich der zurückzuzahlende Betrag in den Jahren nach Abschluss der streitigen Verträge fast verdoppelt.

9

Da die Kläger des Ausgangsverfahrens bestimmte Klauseln dieser Verträge für missbräuchlich hielten, erhoben sie 2017 beim Vilniaus apygardos teismas (Regionalgericht Vilnius, Litauen) Klage, u. a. auf Umstellung des Schweizer Franken auf Euro unter Berücksichtigung des am Tag der Gewährung der betreffenden Darlehen geltenden Wechselkurses sowie auf Neuberechnung aller Raten, die die Kläger zur Rückzahlung des Darlehens (Kapital und Zinsen) in Schweizer Franken gezahlt hatten, in Euro unter Berücksichtigung des am Tag dieser Zahlungen geltenden Wechselkurses.

10

Mit Entscheidung des vorgenannten Gerichts vom 20. November 2018, die in der Berufungsinstanz am 5. Mai 2020 durch Beschluss des Lietuvos apeliacinis teismas (Berufungsgericht Litauens) bestätigt wurde, wurde der Antrag der Kläger des Ausgangsverfahrens zurückgewiesen.

11

Daraufhin legten diese beim Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberstes Gericht Litauens) Kassationsbeschwerde ein. Mit Urteil vom 14. April 2021 verwies dieses Gericht die Rechtssache an den Lietuvos apeliacinis teismas (Berufungsgericht Litauens) zur erneuten Prüfung der Missbräuchlichkeit der betreffenden Klauseln der streitigen Verträge zurück. Nach Ansicht des Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberstes Gericht Litauens) entbindet die Tatsache, dass die Beklagte des Ausgangsverfahrens ihrer Verpflichtung, das Risiko von Wechselkursschwankungen des Schweizer Franken mitzuteilen, nachgekommen sei, das Gericht nicht von der Verpflichtung, zu prüfen, ob diese Klauseln missbräuchlich seien.

12

Mit Beschluss vom 4. Mai 2021 forderte der Lietuvos apeliacinis teismas (Berufungsgericht Litauens) die Kläger des Ausgangsverfahrens auf, sich dazu zu äußern, wie die betreffenden Klauseln der streitigen Verträge ihrer Ansicht nach im Fall der Feststellung ihrer Missbräuchlichkeit geändert werden müssten. Diese gaben an, dass sie die Änderung dieser Klauseln wie in der Klageschrift ausgeführt beantragten, nämlich, im Wesentlichen, durch die Umstellung von Schweizer Franken auf Euro zu dem Wechselkurs, der am Tag der Gewährung der betreffenden Darlehen gegolten habe. Die Beklagte des Ausgangsverfahrens hingegen wandte sich gegen die Feststellung der Missbräuchlichkeit dieser Klauseln sowie gegen deren Änderung, da es in der litauischen Rechtsordnung keine dispositiven Vorschriften gebe.

13

Mit Entscheidung vom 2. September 2021 erklärte der Lietuvos apeliacinis teismas (Berufungsgericht Litauens) die Klauseln der streitigen Verträge über die Währung, auf die die betreffenden Darlehen lauteten, für missbräuchlich, da sie nicht dem Transparenzgebot entsprächen, und änderte die Verträge zu dem am Tag der Gewährung der Darlehen geltenden Wechselkurs dahin ab, dass sie auf Euro lauten, indem es den in den Verträgen enthaltenen Referenzindex (den LIBOR CHF) durch den Euribor ersetzte. Eine solche Lösung entspreche den Grundsätzen von Billigkeit, Treu und Glauben und Angemessenheit sowie den mit der Richtlinie 93/13 verfolgten Zielen.

14

Die Beklagte des Ausgangsverfahrens legte beim Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberstes Gericht Litauens), dem vorlegenden Gericht, Kassationsbeschwerde gegen diese Entscheidung ein und machte geltend, dass der Lietuvos apeliacinis teismas (Berufungsgericht Litauens) die betreffenden Klauseln der streitigen Verträge zu Unrecht als missbräuchlich eingestuft habe und dass dieses Gericht nicht berechtigt gewesen sei, die Klauseln zu ändern, da es im litauischen Recht keine dispositiven Vorschriften gebe, die die Klauseln ersetzen könnten, und ihre Änderung auf der Grundlage der Grundsätze von Billigkeit, Treu und Glauben und Angemessenheit nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 verboten sei.

15

Mit Teilurteil vom 25. August 2022 bestätigte das vorlegende Gericht die Entscheidung des Lietuvos apeliacinis teismas (Berufungsgericht Litauens) vom 2. September 2021, soweit die betreffenden Klauseln der streitigen Verträge für missbräuchlich erklärt worden waren, und nahm das Verfahren hinsichtlich der von diesem Gericht vorgenommenen Änderung dieser Verträge wieder auf.

16

Vor dem vorlegenden Gericht machen die Kläger des Ausgangsverfahrens geltend, dass aufgrund des passiven Verhaltens der Beklagten des Ausgangsverfahrens keine Einigung über eine etwaige Änderung der für missbräuchlich erklärten Klauseln habe erzielt werden können. Sie machen ferner geltend, dass sie der Aufrechterhaltung dieser Klauseln nicht zustimmten, und beantragen in erster Linie, die streitigen Verträge in der in der Klageschrift angegebenen Weise zu ändern. Für den Fall, dass davon ausgegangen werden sollte, dass es keine rechtliche Grundlage für eine solche Änderung gebe, beantragen die Kläger des Ausgangsverfahrens die Nichtigerklärung der Verträge und die Restitution der auf der Grundlage dieser Verträge erbrachten Leistungen. Die Beklagte des Ausgangsverfahrens beantragt, die Verträge ex nunc für nichtig zu erklären.

17

Das vorlegende Gericht stellt sich die Frage, welche Folgen die Feststellung der Missbräuchlichkeit der betreffenden Klauseln der streitigen Verträge hat, da die Kläger des Ausgangsverfahrens beantragt haben, dass die Verträge aufrechterhalten und die Klauseln geändert werden. Insoweit führt das vorlegende Gericht aus, im vorliegenden Fall sei unbestritten, dass die Verträge ohne die Klauseln nicht aufrechterhalten werden könnten. Es weist darauf hin, dass der Lietuvos apeliacinis teismas (Berufungsgericht Litauens) nicht geprüft habe, ob eine etwaige Nichtigerklärung der streitigen Verträge für die Kläger des Ausgangsverfahrens besonders nachteilige Folgen gehabt hätte. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist das Fehlen einer solchen Prüfung darauf zurückzuführen, dass die Klageschrift nicht auf die Nichtigerklärung dieser Verträge, sondern einzig auf deren Änderung abziele, sowie darauf, dass Art. 265 Abs. 2 bzw. Art. 320 Abs. 2 der Zivilprozessordnung der Republik Litauen es dem Gericht erster Instanz bzw. dem Berufungsgericht untersagten, über die bei ihnen gestellten Anträge hinauszugehen.

18

Folglich stellt sich das vorlegende Gericht erstens die Frage, ob das Berufungsgericht die Änderung der streitigen Verträge vornehmen durfte, ohne zuvor zu prüfen, ob die Nichtigerklärung der Verträge für die Kläger des Ausgangsverfahrens besonders nachteilige Folgen hätte. Die Antwort auf diese Frage hänge davon ab, welche Bedeutung dem Willen der Kläger des Ausgangsverfahren, die Verträge durch Änderung ihrer missbräuchlichen Klauseln aufrechtzuerhalten, beizumessen sei.

19

Das vorlegende Gericht möchte zweitens wissen, ob die Antwort auf diese Frage davon abhängig ist, ob das nationale Gericht die Möglichkeit habe, eine im Vertrag enthaltene missbräuchliche Klausel durch eine dispositive Vorschrift oder eine Bestimmung des nationalen Rechts, die im gegenseitigen Einvernehmen der Parteien des betreffenden Vertrags anwendbar sei, zu ersetzen.

20

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts sind diese beiden Fragen zu bejahen. So stünde eine Bejahung der ersten Frage im Einklang mit dem Ziel der Richtlinie 93/13, das insbesondere darin bestehe, die Ausgewogenheit zwischen den Parteien herzustellen und dabei grundsätzlich die Wirksamkeit eines Vertrags in seiner Gesamtheit aufrechtzuerhalten, nicht aber darin, sämtliche Verträge, die missbräuchliche Klauseln enthalten, für nichtig zu erklären (Urteil vom 15. März 2012, Pereničová und Perenič, C‑453/10, EU:C:2012:144, Rn. 31). Dann könnte auch die zweite Frage bejaht werden, denn wenn die Möglichkeit bestehe, die im Vertrag enthaltene missbräuchliche Klausel durch eine dispositive Vorschrift oder eine Bestimmung des nationalen Rechts, die im gegenseitigen Einvernehmen der Parteien des betreffenden Vertrags anwendbar sei, zu ersetzen, und der Verbraucher beantrage, den Vertrag durch Änderung der darin enthaltenen missbräuchlichen Klausel aufrechtzuerhalten, müsse das nationale Gericht über die Frage einer Änderung dieser Klausel entscheiden können, ohne zuvor die Folgen der Nichtigerklärung des Vertrags in seiner Gesamtheit zu prüfen.

21

Dagegen müsse das Gericht, wenn es keine geeignete dispositive Vorschrift im nationalen Recht gebe bzw. wenn die Parteien kein entsprechendes Einvernehmen erzielen könnten, über die Nichtigerklärung des betreffenden Vertrags in seiner Gesamtheit entscheiden, und zwar unabhängig von dem vom Verbraucher zum Ausdruck gebrachten Willen, es sei denn, dieser bekunde den Wunsch, die missbräuchlichen Klauseln aufrechtzuerhalten. Dabei habe das Gericht alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um den Verbraucher vor den besonders nachteiligen Folgen dieser Nichtigerklärung zu schützen.

22

Da es in vorliegenden Fall im litauischen Recht keine dispositiven Vorschriften gebe, die die für missbräuchlich erklärten Klauseln der streitigen Verträge ersetzen könnten, und sich die Parteien nicht einvernehmlich auf eine anwendbare Bestimmung geeinigt hätten, könne der von den Klägern des Ausgangsverfahrens zum Ausdruck gebrachte Wille, die Verträge aufrechtzuerhalten und die Klauseln zu ändern, das Gericht nicht daran hindern, über die Nichtigerklärung der Verträge zu entscheiden.

23

Der Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberstes Gericht Litauens) hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sind Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen, dass ein Gericht, wenn ein Verbraucher den Willen bekundet, einen Vertrag durch die Ersetzung einer darin enthaltenen missbräuchlichen Klausel aufrechtzuerhalten, nach Feststellung, dass der Vertrag nach dem Wegfall der für missbräuchlich befundenen Klausel nicht aufrechterhalten werden kann, über die Frage der Ersetzung der missbräuchlichen Klausel entscheiden kann, ohne zuvor die Möglichkeit zu prüfen, den Vertrag in seiner Gesamtheit für nichtig zu erklären?

2.

Hängt die Antwort auf die erste Frage davon ab, ob das nationale Gericht die Möglichkeit hat, die im Vertrag enthaltene missbräuchliche Klausel durch eine dispositive Vorschrift oder eine Bestimmung des nationalen Rechts, die im gegenseitigen Einvernehmen der Parteien des betreffenden Vertrags anwendbar ist, zu ersetzen?

Zu den Vorlagefragen

24

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht, soweit es um die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 ersucht, Fragen hinsichtlich der Folgen der Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel hat. Somit sind die Vorlagefragen in Anbetracht der Angaben in der Vorlageentscheidung so zu verstehen, dass sie sich allein auf Art. 6 Abs. 1 beziehen.

25

Daher ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass ein nationales Gericht, wenn es festgestellt hat, dass ein Vertrag nach Aufhebung einer missbräuchlichen Klausel nicht aufrechterhalten werden kann, und der betreffende Verbraucher den Willen zum Ausdruck bringt, dass dieser Vertrag durch Änderung dieser Klausel aufrechterhalten werden soll, über die zur Wiederherstellung der tatsächlichen Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien zu ergreifenden Maßnahmen entscheiden kann, ohne zuvor die Folgen einer Nichtigerklärung des Vertrags in seiner Gesamtheit zu prüfen. Im Übrigen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es insoweit von Bedeutung ist, dass das Gericht die Möglichkeit hat, diese Klausel durch eine dispositive Bestimmung des innerstaatlichen Rechts oder durch eine Bestimmung, die im Fall einer entsprechenden Vereinbarung der Parteien anwendbar ist, zu ersetzen.

26

Zur Beantwortung dieser Fragen ist daran zu erinnern, dass es die Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ermöglichen muss, dass die Sach- und Rechtslage wiederhergestellt wird, in der sich der Verbraucher ohne die missbräuchliche Klausel befunden hätte (Urteil vom 12. Januar 2023, D. V. [Rechtsanwaltsvergütung – Abrechnung nach dem Zeitaufwand], C‑395/21, EU:C:2023:14, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 obliegt es dem nationalen Gericht, missbräuchliche Klauseln für unanwendbar zu erklären, damit sie den Verbraucher nicht binden, sofern der Verbraucher dem nicht widerspricht. Der Vertrag muss jedoch – abgesehen von der Änderung, die sich aus der Aufhebung der missbräuchlichen Klauseln ergibt – grundsätzlich unverändert fortbestehen, soweit dies nach den Vorschriften des innerstaatlichen Rechts rechtlich möglich ist (Urteil vom 12. Januar 2023, D. V. [Rechtsanwaltsvergütung – Abrechnung nach dem Zeitaufwand], C‑395/21, EU:C:2023:14, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28

Somit muss das nationale Gericht eine missbräuchliche Klausel dann nicht unangewendet lassen, wenn der Verbraucher nach einem Hinweis dieses Gerichts die Missbräuchlichkeit und Unverbindlichkeit nicht geltend machen möchte und damit dieser Klausel freiwillig und aufgeklärt zustimmt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Oktober 2019, Dziubak, C‑260/18, EU:C:2019:819, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29

Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass der Verbraucher, da das Schutzsystem, das die Richtlinie 93/13 bietet, keine Anwendung findet, wenn er nicht damit einverstanden ist, erst recht auf den nach diesem System gewährten Schutz vor den nachteiligen Folgen, die sich aus der Feststellung der Nichtigkeit des Vertrags in seiner Gesamtheit ergeben, verzichten dürfen muss, wenn er sich nicht auf diesen Schutz berufen möchte (Urteil vom 3. Oktober 2019, Dziubak,C‑260/18, EU:C:2019:819, Rn. 55).

30

Bringt der Verbraucher hingegen den Willen zum Ausdruck, dass er sich auf den Schutz, den die Richtlinie 93/13 bietet, berufen möchte, muss das nationale Gericht prüfen, ob der Vertrag im Hinblick auf die im nationalen Recht vorgesehenen Kriterien, abgesehen von der Änderung, die sich aus der Aufhebung der betreffenden missbräuchlichen Klausel ergibt, unverändert fortbestehen kann.

31

Diese Prüfung, ob ein Fortbestand des Vertrags ohne die missbräuchliche Klausel möglich ist, stellt eine objektive Prüfung dar, die das nationale Gericht anhand des nationalen Rechts und unabhängig davon vorzunehmen hat, ob der Verbraucher den Willen zum Ausdruck bringt, dass der Vertrag aufrechterhalten werden soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Oktober 2019, Dziubak, C‑260/18, EU:C:2019:819, Rn. 39 bis 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Sollte der Vertrag nach den einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts nach der Aufhebung der betreffenden missbräuchlichen Klausel nicht fortbestehen können, steht Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 seiner Nichtigerklärung nicht entgegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Januar 2023, D. V. [Rechtsanwaltsvergütung – Abrechnung nach dem Zeitaufwand], C‑395/21, EU:C:2023:14, Rn. 59).

33

Nur falls die Nichtigerklärung des Vertrags in seiner Gesamtheit für den Verbraucher besonders nachteilige Folgen hätte, sie für den Verbraucher etwa Rechtsunsicherheit bedeuten würde – wobei nicht lediglich auf rein wirtschaftliche Folgen abzustellen ist –, ist das nationale Gericht ausnahmsweise befugt, eine für nichtig erklärte missbräuchliche Klausel des in Rede stehenden Vertrags durch eine dispositive Bestimmung des nationalen Rechts oder eine im Fall einer entsprechenden Vereinbarung der Vertragsparteien anwendbare Vorschrift zu ersetzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Januar 2023, D. V. [Rechtsanwaltsvergütung – Abrechnung nach dem Zeitaufwand], C‑395/21, EU:C:2023:14, Rn. 60 bis 62).

34

Ferner muss nach der Rechtsprechung das nationale Gericht, wenn es keine dispositive Bestimmung des nationalen Rechts oder keine Bestimmung gibt, die im Fall einer Vereinbarung der Parteien auf den Vertrag anwendbar ist und an die Stelle der betreffenden missbräuchlichen Klauseln treten kann, und wenn die Nichtigerklärung des Vertrags für den Verbraucher besonders nachteilige Folgen hätte, unter Berücksichtigung seines gesamten innerstaatlichen Rechts alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um den Verbraucher vor diesen Folgen zu schützen und auf diese Weise die tatsächliche Ausgewogenheit der gegenseitigen Rechte und Pflichten der Vertragspartner wiederherzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. November 2020, Banca B., C‑269/19, EU:C:2020:954, Rn. 41).

35

Die Maßnahmen, die das nationale Gericht im Fall der Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel, deren Aufhebung die Nichtigkeit des Vertrags nach sich ziehen würde, ergreifen kann, sind nicht abschließend (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. November 2020, Banca B., C‑269/19, EU:C:2020:954, Rn. 40), mit der Maßgabe, dass das nationale Gericht nicht befugt ist, diesen Vertrag durch Abänderung des Inhalts dieser Klausel anzupassen (Urteile vom 26. März 2019, Abanca Corporación Bancaria und Bankia, C‑70/17 und C‑179/17, EU:C:2019:250, Rn. 53, sowie vom 12. Januar 2023, D. V. [Rechtsanwaltsvergütung – Abrechnung nach dem Zeitaufwand], C‑395/21, EU:C:2023:14, Rn. 65).

36

Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 einer Schließung von Lücken eines Vertrags, die durch die Aufhebung der darin enthaltenen missbräuchlichen Klauseln entstanden sind, allein auf der Grundlage von allgemeinen nationalen Vorschriften, die die in einem Rechtsgeschäft zum Ausdruck gebrachten Wirkungen auch nach den Grundsätzen der Billigkeit oder der Verkehrssitte bestimmen und bei denen es sich weder um dispositive Bestimmungen noch um Vorschriften handelt, die im Fall einer entsprechenden Vereinbarung der Vertragsparteien anwendbar sind, entgegensteht (Urteil vom 3. Oktober 2019, Dziubak, C‑260/18, EU:C:2019:819, Rn. 62).

37

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass zum einen der vom Verbraucher zum Ausdruck gebrachte Wille dahin, sich auf den Schutz zu berufen, den die Richtlinie 93/13 bietet, und dahin, dass ein Vertrag aufrechterhalten werden soll, das nationale Gericht nicht seiner Verpflichtung enthebt, objektiv und unter Berücksichtigung des nationalen Rechts zu prüfen, ob dieser Vertrag nach Aufhebung der betreffenden Klausel fortbestehen kann.

38

Zum anderen kann das Gericht, wenn es festgestellt hat, dass ein Vertrag nach Aufhebung einer solchen missbräuchlichen Klausel nicht aufrechterhalten werden kann, diese Klausel nicht durch eine dispositive Bestimmung des nationalen Rechts oder durch eine Bestimmung ersetzen, die im Fall einer entsprechenden Vereinbarung der Parteien auf den Vertrag anwendbar ist, oder, falls die jeweilige Rechtsordnung keine solchen Bestimmungen vorsieht, andere Maßnahmen ergreifen, um die tatsächliche Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Parteien wiederherzustellen, ohne zuvor zu prüfen und festzustellen, dass die Unwirksamkeit des Vertrags in seiner Gesamtheit besonders nachteilige Folgen für den betreffenden Verbraucher hätte.

39

Im vorliegenden Fall wurde beim Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberstes Gericht Litauens) eine Kassationsbeschwerde gegen ein Urteil des Lietuvos apeliacinis teismas (Berufungsgericht Litauens) eingereicht, mit dem das Berufungsgericht, nachdem es die Missbräuchlichkeit von Klauseln zum Hauptgegenstand der streitigen Verträge, nämlich den Klauseln über die Währung, auf die die betreffenden Darlehen lauteten, festgestellt hatte, dem Antrag der Kläger des Ausgangsverfahrens stattgegeben und diese Verträge geändert hat, ohne zuvor zu prüfen, welche Folgen eine etwaige Nichtigerklärung der Verträge für die Kläger des Ausgangsverfahrens hätte. Der Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberstes Gericht Litauens) bestätigte das im Rechtsmittel angefochtene Urteil hinsichtlich der Einstufung dieser Klauseln als „missbräuchlich“. Was hingegen die Folgen dieser Feststellung betrifft, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Berufungsgericht dem Antrag der Kläger des Ausgangsverfahrens, den Vertrag durch Änderung der betreffenden Klauseln aufrechtzuerhalten, stattgeben durfte, ohne zuvor geprüft zu haben, ob diese Nichtigerklärung besonders nachteilige Folgen für die Kläger des Ausgangsverfahrens hätte.

40

Wie sich aus der in Rn. 26 bis 38 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, stellt jedoch in dem Fall, dass sich die Kläger des Ausgangsverfahrens auf den Schutz, den die Richtlinie 93/13 bietet, berufen möchten und die streitigen Verträge nach Aufhebung der betreffenden missbräuchlichen Klauseln nach dem nationalen Recht nicht aufrechterhalten werden können, die Prüfung der Folgen einer Nichtigerklärung dieser Verträge eine Pflicht dar, die dem nationalen Gericht obliegt und die von dem von den Klägern des Ausgangsverfahrens zum Ausdruck gebrachten Willen, dass die Verträge durch Änderung dieser Klauseln aufrechterhalten werden sollen, unabhängig ist. Nur wenn diese Folgen einen derartigen Schweregrad erreichen, dass sie als „besonders nachteilig“ für die Kläger des Ausgangsverfahrens eingestuft werden können, ist dieses Gericht nämlich – sofern es weder dispositive Bestimmungen des nationalen Rechts noch Bestimmungen gibt, die im Fall einer entsprechenden Vereinbarung der Parteien auf den Vertrag anwendbar sind – befugt, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die tatsächliche Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Parteien wiederherzustellen, mit der Maßgabe, dass das Gericht nicht befugt ist, diesen Vertrag durch Abänderung des Inhalts dieser Klauseln anzupassen.

41

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass ein nationales Gericht, wenn es festgestellt hat, dass ein Vertrag nach Aufhebung einer missbräuchlichen Klausel nicht aufrechterhalten werden kann und der betreffende Verbraucher den Willen zum Ausdruck bringt, dass dieser Vertrag durch Änderung dieser Klausel aufrechterhalten werden soll, über die zur Wiederherstellung der tatsächlichen Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien zu ergreifenden Maßnahmen entscheidet, ohne zuvor die Folgen einer Nichtigerklärung des Vertrags in seiner Gesamtheit zu prüfen; dies gilt auch dann, wenn das Gericht die Möglichkeit hat, die betreffende Klausel durch eine dispositive Bestimmung des nationalen Rechts oder durch eine Bestimmung, die im Fall einer entsprechenden Vereinbarung der Parteien anwendbar ist, zu ersetzen.

Kosten

42

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen

 

ist dahin auszulegen, dass

 

er dem entgegensteht, dass ein nationales Gericht, wenn es festgestellt hat, dass ein Vertrag nach Aufhebung einer missbräuchlichen Klausel nicht aufrechterhalten werden kann und der betreffende Verbraucher den Willen zum Ausdruck bringt, dass dieser Vertrag durch Änderung dieser Klausel aufrechterhalten werden soll, über die zur Wiederherstellung der tatsächlichen Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien zu ergreifenden Maßnahmen entscheidet, ohne zuvor die Folgen einer Nichtigerklärung des Vertrags in seiner Gesamtheit zu prüfen; dies gilt auch dann, wenn das Gericht die Möglichkeit hat, die Klausel durch eine dispositive Bestimmung des nationalen Rechts oder durch eine Bestimmung, die im Fall einer entsprechenden Vereinbarung der Parteien anwendbar ist, zu ersetzen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Litauisch.