URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
25. Januar 2024 ( *1 )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Art. 3 Abs. 2 Buchst. a – Art. 5 Abs. 1 – Art. 7 Abs. 1 – Ausgleichszahlungen für Fluggäste bei großer Verspätung von Flügen – Erfordernis des rechtzeitigen Einfindens zur Abfertigung“
In der Rechtssache C‑474/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 3. Mai 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Juli 2022, in dem Verfahren
Laudamotion GmbH
gegen
flightright GmbH
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer sowie der Richter N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec (Berichterstatter),
Generalanwältin: L. Medina,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
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der flightright GmbH, vertreten durch Rechtsanwälte M. Michel und R. Weist, |
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der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, P. Busche, J. Heitz und M. Hellmann als Bevollmächtigte, |
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der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun, K. Simonsson, G. Wilms und N. Yerrell als Bevollmächtigte, |
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 |
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a und der Art. 5 bis 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1). |
2 |
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Luftfahrtunternehmen Laudamotion GmbH und der Rechtshilfegesellschaft flightright GmbH – an die ein Fluggast seine Ansprüche gegen Laudamotion abgetreten hat – über eine Ausgleichszahlung wegen großer Verspätung eines Fluges, für den dieser Fluggast über eine bestätigte Buchung verfügte. |
Rechtlicher Rahmen
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Der zweite Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 lautet: „Nichtbeförderung und Annullierung oder eine große Verspätung von Flügen sind für die Fluggäste ein Ärgernis und verursachen ihnen große Unannehmlichkeiten.“ |
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Art. 2 Buchst. l dieser Verordnung definiert den Begriff „Annullierung“ als „die Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war“. |
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Art. 3 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 und 2 dieser Verordnung bestimmt: „(1) Diese Verordnung gilt
… (2) Absatz 1 gilt unter der Bedingung, dass die Fluggäste
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Art. 5 („Annullierung“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 sieht vor: „Bei Annullierung eines Fluges [wird] den betroffenen Fluggästen …
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Art. 6 („Verspätung“) Abs. 1 dieser Verordnung lautet: „Ist für ein ausführendes Luftfahrtunternehmen nach vernünftigem Ermessen absehbar, dass sich der Abflug
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Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt: „Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:
…“ |
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Art. 12 („Weiter gehender Schadensersatz“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 sieht vor: „Diese Verordnung gilt unbeschadet eines weiter gehenden Schadensersatzanspruchs des Fluggastes. Die nach dieser Verordnung gewährte Ausgleichsleistung kann auf einen solchen Schadensersatzanspruch angerechnet werden.“ |
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
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Ein Fluggast verfügte über eine bestätigte Buchung bei Laudamotion für einen für den 26. Juni 2018 geplanten Flug von Düsseldorf (Deutschland) nach Palma de Mallorca (Spanien). Da der Fluggast der Meinung war, dass er aufgrund der angekündigten Verspätung des Fluges einen Geschäftstermin verpassen würde, entschied er sich, den Flug nicht anzutreten. Dieser erreichte den Zielort mit drei Stunden und 32 Minuten Verspätung. |
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Der Fluggast trat seine Ansprüche an flightright ab, die bei dem zuständigen deutschen Gericht Klage auf Ausgleichszahlung in Höhe von 250 Euro gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 erhob. Nachdem flightright in erster Instanz unterlegen war, obsiegte sie in der Berufung. |
12 |
In Anbetracht der Rechtsprechung des Gerichtshofs, in der die Situation der Fluggäste von Flügen mit großer Verspätung, d. h. einer Verspätung von drei Stunden oder mehr bei ihrer Ankunft am Endziel, mit der Situation der Fluggäste annullierter Flüge gleichgesetzt wird, hat das Berufungsgericht Art. 3 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung dahin ausgelegt, dass ein Fluggast, der vor seinem Abflug über eine Verspätung von drei Stunden oder mehr unterrichtet wurde, die in den Art. 5 und 7 der Verordnung vorgesehene Ausgleichszahlung beanspruchen kann, selbst wenn er sich nicht am Flughafen eingefunden hat. |
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Laudamotion legte gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts Revision beim Bundesgerichtshof (Deutschland) ein, der das vorlegende Gericht ist. |
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Dieses Gericht weist darauf hin, dass sich der betroffene Fluggast entgegen Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 nicht spätestens 45 Minuten vor der veröffentlichten Abflugzeit zur Abfertigung eingefunden habe, obwohl diese Formalität nach Art. 2 Buchst. l und Art. 5 dieser Verordnung nur bei Annullierung des Fluges ausgeschlossen sei. Der Fluggast könnte jedoch aufgrund der vom Gerichtshof im Urteil vom 19. November 2009, Sturgeon u. a. (C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716), vorgenommenen Gleichsetzung der großen Ankunftsverspätung eines Fluges mit der Annullierung eines Fluges von einer solchen Formalität befreit werden. |
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Allerdings wiesen die Annullierung eines Fluges und die große Verspätung eines Fluges nicht unerhebliche Unterschiede auf. Im Fall einer Annullierung stehe nämlich fest, dass der geplante Flug nicht durchgeführt werde, so dass es folgerichtig sei, von den Fluggästen nicht zu verlangen, sich zur Abfertigung einzufinden, um zur Geltendmachung des Ausgleichsanspruchs nach den Art. 5 und 7 der Verordnung Nr. 261/2004 berechtigt zu sein. Dagegen lägen, selbst wenn die Verspätung eines Fluges vor dessen Durchführung wahrscheinlich erscheine, möglicherweise spätestens 45 Minuten vor der Abflugzeit noch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass der Flug mit einer Verspätung von drei Stunden oder mehr durchgeführt werde. |
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Auch der Beschluss vom 24. Oktober 2019, easyJet Airline (C‑756/18, EU:C:2019:902), lege nahe, dass ein Fluggast, um eine Ausgleichszahlung wegen der großen Verspätung eines Fluges zu erhalten, mit dem er nicht befördert worden sei, sich jedenfalls zur Abfertigung eingefunden haben müsse, was er mit der Bordkarte oder einem anderen Beweismittel nachweisen könne. |
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Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass für die Anwendung von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 eine große Ankunftsverspätung eines Fluges grundsätzlich nicht mit der Annullierung eines Fluges gleichgesetzt werden könne. Daher sei ein Fluggast nur dann von der Pflicht befreit, sich zur Abfertigung einzufinden, wenn der Flug bei der Ankunft drei Stunden oder mehr verspätet sei und eine mit einer Annullierung vergleichbare Situation vorliege. Dies könnte der Fall sein, wenn die Fluggäste spätestens 45 Minuten vor der veröffentlichten Abflugzeit über hinreichende Anhaltspunkte dafür verfügten, dass der Flug nur mit einer Verspätung von drei Stunden oder mehr bei der Ankunft am Zielort durchgeführt werden könne. |
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Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
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Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
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Zunächst ist festzustellen, dass der Ausgangsrechtsstreit seinen Ursprung im verspäteten Abflug eines Flugzeugs hat. Kern dieses Rechtsstreits sind indes die etwaigen Auswirkungen dieser Verspätung. Der Kläger des Ausgangsverfahrens verlangt nämlich eine Ausgleichszahlung wegen der wahrscheinlichen Verspätung des betreffenden Fluges bei der Ankunft am Endziel, die ihn daran gehindert hätte, rechtzeitig zu einem Geschäftstermin zu gelangen, der in Palma de Mallorca stattfinden sollte. Da Art. 6 der Verordnung Nr. 261/2004 sich jedoch nur auf die Verspätung eines Fluges gegenüber der planmäßigen Abflugzeit bezieht und die pauschale Ausgleichszahlung, auf die ein Fluggast nach Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 Anspruch hat, wenn sein Flug das Endziel drei Stunden oder mehr nach der planmäßigen Ankunftszeit erreicht, somit nicht von der Einhaltung der in Art. 6 der Verordnung genannten Voraussetzungen abhängt (Urteil vom 26. Februar 2013, Folkerts, C‑11/11, EU:C:2013:106, Rn. 36 und 37), ist der Ausgangsrechtsstreit ausschließlich im Hinblick auf die Art. 3, 5 und 7 der Verordnung zu prüfen. |
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Daher ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass ein Fluggast, um die in Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehene Ausgleichszahlung im Fall einer Verspätung von drei Stunden oder mehr gegenüber der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit zu erhalten, sich rechtzeitig zur Abfertigung eingefunden haben muss. |
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Nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 gilt diese Verordnung für Fluggäste, die auf Flughäfen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt, einen Flug antreten, sofern diese Fluggäste erstens über eine bestätigte Buchung für den betreffenden Flug verfügen und sich zweitens – außer im Fall einer Annullierung des geplanten Fluges gemäß Art. 5 der Verordnung – rechtzeitig zur Abfertigung einfinden. Da die beiden Voraussetzungen kumulativ sind, kann das Sicheinfinden eines Fluggasts zur Abfertigung nicht aufgrund dessen vermutet werden, dass er über eine bestätigte Buchung für den betreffenden Flug verfügt (Beschluss vom 24. Oktober 2019, easyJet Airline, C‑756/18, EU:C:2019:902, Rn. 25). Es ist klarzustellen, dass die praktische Wirksamkeit von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a verlangt, dass sich die Fluggäste rechtzeitig am Flughafen, genauer gesagt bei einem Vertreter des ausführenden Luftfahrtunternehmens, zur Beförderung zum vorgesehenen Zielort einfinden, auch wenn sie sich vor ihrer Anreise zum Flughafen bereits online registriert haben. |
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Im vorliegenden Fall beruhen die Fragen des vorlegenden Gerichts auf der Prämisse, dass sich der betreffende Fluggast nicht rechtzeitig zur Abfertigung eingefunden hat. Unter diesen Umständen setzt die Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 261/2004 voraus, dass im Rahmen ihres Art. 3 Abs. 2 Buchst. a die große Verspätung eines Fluges bei der Ankunft am Endziel, d. h. eine Verspätung von drei Stunden oder mehr, mit einer Annullierung eines Fluges im Sinne von Art. 5 der Verordnung gleichgesetzt wird. |
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Hierzu ist erstens festzustellen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass die Art. 5 und 7 der Verordnung Nr. 261/2004 im Licht des Grundsatzes der Gleichbehandlung dahin auszulegen sind, dass die Fluggäste verspäteter Flüge im Hinblick auf die Anwendung des in Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehenen Ausgleichsanspruchs den Fluggästen annullierter Flüge gleichgestellt werden können und diesen Ausgleichsanspruch geltend machen können, wenn sie wegen eines verspäteten Fluges einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden, d. h., wenn sie ihr Endziel nicht früher als drei Stunden nach der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. November 2009, Sturgeon u. a., C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716, Rn. 60, 61 und 69, und vom 7. Juli 2022, SATA International – Azores Airlines [Ausfall des Betankungssystems], C‑308/21, EU:C:2022:533, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
24 |
Im Urteil vom 19. November 2009, Sturgeon u. a. (C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716, Rn. 49, 52 und 60), hatte der Gerichtshof Art und Ausmaß der Unannehmlichkeiten und Schäden, die einem Fluggast eines annullierten Fluges, der warten musste, bis ihm ein Alternativflug angeboten wurde, entstanden, mit denen eines Fluggasts, dessen Flug verspätet war, verglichen. Letzterer musste also warten, bis das Flugzeug abflugbereit war, und hatte sich zwangsläufig zur Abfertigung eingefunden, da er sich am Flugsteig eingefunden hatte. Beide Kategorien von Fluggästen mussten daher Geduld aufbringen, um ihr Endziel zu erreichen, so dass sie unbestreitbar einen Schaden in Form eines Zeitverlusts erlitten hatten, der angesichts seines irreversiblen Charakters nur durch eine Ausgleichszahlung ersetzt werden kann. Diese Fluggäste, die ähnliche Schäden erlitten hatten, konnten nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung nicht unterschiedlich behandelt werden. |
25 |
Der entscheidende Gesichtspunkt, der den Gerichtshof dazu veranlasst hat, die große Verspätung eines Fluges bei der Ankunft mit der Annullierung eines Fluges gleichzusetzen, besteht darin, dass die Fluggäste eines Fluges mit großer Verspätung ebenso wie die Fluggäste eines annullierten Fluges einen Schaden erleiden, der in einem irreversiblen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr besteht und der nur durch eine Ausgleichszahlung ersetzt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. November 2009, Sturgeon u. a., C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716, Rn. 52, 53 und 61, vom 23. Oktober 2012, Nelson u. a., C‑581/10 und C‑629/10, EU:C:2012:657, Rn. 54, und vom 12. März 2020, Finnair, C‑832/18, EU:C:2020:204, Rn. 23). Im Fall der Annullierung eines Fluges oder einer großen Verspätung eines Fluges bei der Ankunft an seinem Endziel ist der in Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehene Ausgleichsanspruch somit untrennbar mit dem Vorliegen dieses Zeitverlusts von drei Stunden oder mehr verbunden. |
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Ein Fluggast, der sich, wie dies beim Kläger des Ausgangsverfahrens der Fall zu sein scheint, nicht zum Flughafen begeben hat, weil er über hinreichende Anhaltspunkte verfügte, um zu dem Schluss zu gelangen, dass der Flug erst mit großer Verspätung an seinem Endziel ankommen werde, hat aber aller Wahrscheinlichkeit nach keinen solchen Zeitverlust erlitten. |
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Es ist darauf hinzuweisen, dass ein Zeitverlust kein infolge der Verspätung entstandener Schaden ist, sondern eine Unannehmlichkeit darstellt, wie andere Begleiterscheinungen der Fälle von Nichtbeförderung, Flugannullierung oder großer Verspätung, zu denen etwa ein Mangel an Komfort oder der Umstand gehört, vorübergehend nicht über normalerweise verfügbare Kommunikationsmittel zu verfügen (Urteil vom 23. Oktober 2012, Nelson u. a., C‑581/10 und C‑629/10, EU:C:2012:657, Rn. 51), oder der Umstand, sich nicht weiter um seine persönlichen, familiären, sozialen oder beruflichen Angelegenheiten kümmern zu können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. September 2014, Germanwings, C‑452/13, EU:C:2014:2141, Rn. 20 und 21). |
28 |
Da insoweit alle Fluggäste verspäteter Flüge den Zeitverlust, der zu einer Ausgleichszahlung nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 führt, in gleicher Weise erleiden, kann dieser durch eine standardisierte Maßnahme ausgeglichen werden, ohne dass es einer Beurteilung der individuellen Situation jedes einzelnen betroffenen Fluggasts bedarf. Eine solche Maßnahme kann daher sofort angewandt werden (Urteil vom 23. Oktober 2012, Nelson u. a., C‑581/10 und C‑629/10, EU:C:2012:657, Rn. 52). |
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Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in den Rn. 33 bis 36 und 39 des Urteils vom 19. November 2009, Sturgeon u. a. (C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716), das insbesondere durch das Urteil vom 21. Dezember 2021, Corendon Airlines (C‑395/20, EU:C:2021:1041, Rn. 18), bestätigt wurde, festgestellt hat, dass annullierte und verspätete Flüge zwei klar getrennte Kategorien von Flügen darstellen, da die Annullierung gemäß Art. 2 Buchst. l der Verordnung im Gegensatz zur Verspätung eines Fluges Folge der Nichtdurchführung eines geplanten Fluges ist. |
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Hat aber ein Flug eine große Verspätung, soll er durchgeführt werden, so dass die Abfertigung vorgenommen werden muss. Daraus folgt, dass die Fluggäste eines verspäteten Fluges nicht von der in Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 ausdrücklich vorgesehenen Pflicht, sich zur Abfertigung einzufinden, befreit werden können. |
31 |
Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich somit, dass im Rahmen von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung die große Verspätung eines Fluges bei der Ankunft am Endziel nicht mit der Annullierung eines Fluges gleichzusetzen ist. |
32 |
Schließlich ist klarzustellen, dass ein Schaden, der durch das Versäumen eines Geschäftstermins verursacht wurde, als individueller Schaden anzusehen ist, der durch die spezifische Situation des betroffenen Fluggasts bedingt ist, und daher nicht durch die Gewährung der in Art. 7 Abs. 1 der Verordnung vorgesehenen Ausgleichszahlung ersetzt werden kann, die standardisiert und unverzüglich nur solche Schäden wiedergutmachen soll, die für alle betroffenen Fluggäste praktisch identisch sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Rusu, C‑354/18, EU:C:2019:637, Rn. 28, 30, 31 und 33). |
33 |
Ein solcher individueller Schaden kann jedoch Gegenstand eines „weiter gehenden Schadensersatzes“ im Sinne von Art. 12 der Verordnung Nr. 261/2004 sein, der voraussetzt, dass der Anspruch auf das nationale Recht oder das Völkerrecht gestützt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. Juli 2019, Rusu, C‑354/18, EU:C:2019:637, Rn. 35 und 36, sowie vom 8. Juni 2023, Austrian Airlines [Repatriierungsflug], C‑49/22, EU:C:2023:454, Rn. 36). |
34 |
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass ein Fluggast, um die in Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehene Ausgleichszahlung im Fall einer großen Verspätung eines Fluges, d. h. einer Verspätung von drei Stunden oder mehr gegenüber der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit, zu erhalten, sich rechtzeitig zur Abfertigung eingefunden haben muss oder, wenn er sich bereits online registriert hat, sich rechtzeitig am Flughafen bei einem Vertreter des ausführenden Luftfahrtunternehmens eingefunden haben muss. |
Zur zweiten Frage
35 |
In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten, da es unerheblich ist, ob dem Fluggast hinreichend gesicherte Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass der Flug erst mit großer Verspätung an seinem Endziel ankommen wird. |
Kosten
36 |
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt: |
Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 |
ist dahin auszulegen, dass |
ein Fluggast, um die in Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehene Ausgleichszahlung im Fall einer großen Verspätung eines Fluges, d. h. einer Verspätung von drei Stunden oder mehr gegenüber der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit, zu erhalten, sich rechtzeitig zur Abfertigung eingefunden haben muss oder, wenn er sich bereits online registriert hat, sich rechtzeitig am Flughafen bei einem Vertreter des ausführenden Luftfahrtunternehmens eingefunden haben muss. |
Jürimäe Lenaerts Piçarra Jääskinen Gavalec Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 25. Januar 2024. Der Kanzler A. Calot Escobar Die Kammerpräsidentin K. Jürimäe |
( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.