URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

13. Juni 2024 ( *1 )

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Richtlinien 2008/115/EG, 2013/32/EU und 2013/33/EU – Verfahren für die Zuerkennung internationalen Schutzes – Effektiver Zugang – Verfahren an der Grenze – Verfahrensgarantien – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Klagen gegen behördliche Entscheidungen, mit denen ein Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wird – Recht auf Verbleib im Hoheitsgebiet – Urteil des Gerichtshofs, mit dem eine Vertragsverletzung festgestellt wird – Nichtdurchführung – Art. 260 Abs. 2 AEUV – Finanzielle Sanktionen – Verhältnismäßigkeit und abschreckende Wirkung – Pauschalbetrag – Zwangsgeld“

In der Rechtssache C‑123/22

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 260 Abs. 2 AEUV, eingereicht am 21. Februar 2022,

Europäische Kommission, zunächst vertreten durch A. Azéma, L. Grønfeldt, A. Tokár und J. Tomkin, dann durch A. Azéma, A. Tokár und J. Tomkin als Bevollmächtigte,

Klägerin,

gegen

Ungarn, vertreten durch M. Z. Fehér als Bevollmächtigten,

Beklagter,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richterin O. Spineanu-Matei, der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. November 2023,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission,

festzustellen, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn (Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen) (C‑808/18, im Folgenden: Urteil Kommission/Ungarn von 2020, EU:C:2020:1029), und aus Art. 260 Abs. 1 AEUV verstoßen hat, dass es nicht alle Maßnahmen ergriffen hat, die sich aus diesem Urteil ergeben;

Ungarn zu verurteilen, an sie einen Pauschalbetrag in Höhe von 5468,45 Euro pro Tag und in einer Gesamthöhe von mindestens 1044000 Euro für den Zeitraum ab dem Tag der Verkündung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 bis zum Tag der Durchführung dieses Urteils durch den Beklagten oder bis zum Tag der Verkündung des vorliegenden Urteils – je nachdem, welcher Tag früher liegt – zu zahlen;

Ungarn zu verurteilen, an sie ein tägliches Zwangsgeld in Höhe von 16393,16 Euro für den Zeitraum ab dem Tag der Verkündung des vorliegenden Urteils bis zum Tag der Durchführung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 zu zahlen;

Ungarn die Kosten aufzuerlegen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2008/115/EG

2

Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98) lautet:

„Bei der Umsetzung dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise:

a)

das Wohl des Kindes,

b)

die familiären Bindungen,

c)

den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen,

und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“

3

Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.“

4

Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Rückkehrentscheidungen sowie – gegebenenfalls – Entscheidungen über ein Einreiseverbot oder eine Abschiebung ergehen schriftlich und enthalten eine sachliche und rechtliche Begründung sowie Informationen über mögliche Rechtsbehelfe.

Die Information über die Gründe kann begrenzt werden, wenn nach einzelstaatlichem Recht eine Einschränkung des Rechts auf Information vorgesehen ist, insbesondere um die nationale Sicherheit, die Landesverteidigung, die öffentliche Sicherheit oder die Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten zu gewährleisten.“

5

Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 lautet:

„Die betreffenden Drittstaatsangehörigen haben das Recht, bei einer zuständigen Justiz- oder Verwaltungsbehörde oder einem zuständigen Gremium, dessen Mitglieder unparteiisch sind und deren Unabhängigkeit garantiert wird, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 einzulegen oder die Überprüfung solcher Entscheidungen zu beantragen.“

Richtlinie 2013/32/EU

6

Art. 6 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) sieht vor:

„(1)   Stellt eine Person einen Antrag auf internationalen Schutz bei einer Behörde, die nach nationalem Recht für die Registrierung solcher Anträge zuständig ist, so erfolgt die Registrierung spätestens drei Arbeitstage nach Antragstellung.

Wird der Antrag auf internationalen Schutz bei anderen Behörden gestellt, bei denen derartige Anträge wahrscheinlich gestellt werden, die aber nach nationalem Recht nicht für die Registrierung zuständig sind, so gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass die Registrierung spätestens sechs Arbeitstage nach Antragstellung erfolgt.

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass diese anderen Behörden, bei denen wahrscheinlich Anträge auf internationalen Schutz gestellt werden, wie Polizei, Grenzschutz, Einwanderungsbehörden und Personal von Gewahrsamseinrichtungen, über die einschlägigen Informationen verfügen und ihr Personal das erforderliche, seinen Aufgaben und Zuständigkeiten entsprechende Schulungsniveau und Anweisungen erhält, um die Antragsteller darüber zu informieren, wo und wie Anträge auf internationalen Schutz gestellt werden können.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, tatsächlich die Möglichkeit hat, diesen so bald wie möglich förmlich zu stellen. Stellt der Antragsteller keinen förmlichen Antrag, so können die Mitgliedstaaten Artikel 28 entsprechend anwenden.

(3)   Unbeschadet des Absatzes 2 können die Mitgliedstaaten verlangen, dass Anträge auf internationalen Schutz persönlich und/oder an einem bestimmten Ort gestellt werden.

(4)   Ungeachtet des Absatzes 3 gilt ein Antrag auf internationalen Schutz als förmlich gestellt, sobald den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats ein vom Antragsteller vorgelegtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll, sofern nach nationalem Recht vorgesehen, zugegangen ist.

(5)   Beantragt eine große Zahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gleichzeitig internationalen Schutz, so dass es in der Praxis sehr schwierig ist, die Frist nach Absatz 1 einzuhalten, so können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass diese Frist auf 10 Arbeitstage verlängert wird.“

7

Art. 24 Abs. 3 dieser Richtlinie bestimmt:

„Wird festgestellt, dass Antragsteller besondere Verfahrensgarantien benötigen, so stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass diese Antragsteller angemessene Unterstützung erhalten, damit sie während der Dauer des Asylverfahrens die Rechte aus dieser Richtlinie in Anspruch nehmen und den sich aus dieser Richtlinie ergebenden Pflichten nachkommen können.

Kann eine solche angemessene Unterstützung nicht im Rahmen der Verfahren nach Artikel 31 Absatz 8 und Artikel 43 geleistet werden, insbesondere wenn die Mitgliedstaaten der Auffassung sind, dass der Antragsteller besondere Verfahrensgarantien benötigt, da er Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten hat, so wenden die Mitgliedstaaten Artikel 31 Absatz 8 und Artikel 43 nicht oder nicht mehr an. Wenden die Mitgliedstaaten Artikel 46 Absatz 6 auf Antragsteller an, auf die Artikel 31 Absatz 8 und Artikel 43 nach dem vorliegenden Unterabsatz nicht angewandt werden können, so gewähren sie zumindest die Garantien gemäß Artikel 46 Absatz 7.“

8

Art. 43 („Verfahren an der Grenze“) der Richtlinie lautet:

„(1)   Die Mitgliedstaaten können nach Maßgabe der Grundsätze und Garantien nach Kapitel II Verfahren festlegen, um an der Grenze oder in Transitzonen des Mitgliedstaats über Folgendes zu entscheiden:

a)

die Zulässigkeit eines an derartigen Orten gestellten Antrags gemäß Artikel 33 und/oder

b)

die Begründetheit eines Antrags in einem Verfahren nach Artikel 31 Absatz 8.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass eine Entscheidung im Rahmen der Verfahren nach Absatz 1 innerhalb einer angemessenen Frist ergeht. Ist innerhalb von vier Wochen keine Entscheidung ergangen, so wird dem Antragsteller die Einreise in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats gestattet, damit sein Antrag nach Maßgabe der anderen Bestimmungen dieser Richtlinie bearbeitet werden kann.

(3)   Wenn es aufgrund der Ankunft einer erheblichen Anzahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen an der Grenze oder in Transitzonen, die förmlich Anträge auf internationalen Schutz stellen, in der Praxis nicht möglich ist, die Bestimmungen des Absatzes 1 anzuwenden, können die genannten Verfahren auch in diesen Fällen und für die Zeit angewandt werden, in der die Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen normalerweise in der Nähe der Grenze oder Transitzone untergebracht werden.“

9

Art. 46 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2013/32 sieht vor:

„(5)   Unbeschadet des Absatzes 6 gestatten die Mitgliedstaaten den Antragstellern den Verbleib im Hoheitsgebiet bis zum Ablauf der Frist für die Ausübung des Rechts der Antragsteller auf einen wirksamen Rechtsbehelf und, wenn ein solches Recht fristgemäß ausgeübt wurde, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf.

(6)   Im Fall einer Entscheidung,

a)

einen Antrag im Einklang mit Artikel 32 Absatz 2 als offensichtlich unbegründet oder nach Prüfung gemäß Artikel 31 Absatz 8 als unbegründet zu betrachten, es sei denn, diese Entscheidungen sind auf die in Artikel 31 Absatz 8 Buchstabe h aufgeführten Umstände gestützt,

b)

einen Antrag gemäß Artikel 33 Absatz 2 Buchstaben a, b oder d als unzulässig zu betrachten,

c)

die Wiedereröffnung des nach Artikel 28 eingestellten Verfahrens des Antragstellers abzulehnen oder

d)

gemäß Artikel 39 den Antrag nicht oder nicht umfassend zu prüfen,

ist das Gericht befugt, entweder auf Antrag des Antragstellers oder von Amts wegen darüber zu entscheiden, ob der Antragsteller im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats verbleiben darf, wenn die Entscheidung zur Folge hat, das Recht des Antragstellers auf Verbleib in dem Mitgliedstaat zu beenden und wenn in diesen Fällen das Recht auf Verbleib in dem betreffenden Mitgliedstaat bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf im nationalen Recht nicht vorgesehen ist.“

Ungarisches Recht

Gesetz über das Asylrecht

10

In § 5 Abs. 1 des A menedékjogról szóló 2007. évi LXXX. törvény (Gesetz Nr. LXXX von 2007 über das Asylrecht) vom 29. Juni 2007 (Magyar Közlöny 2007/83, im Folgenden: Asylgesetz) heißt es:

„Der Asylbewerber hat

a)

unter den in diesem Gesetz geregelten Voraussetzungen das Recht, sich im ungarischen Hoheitsgebiet aufzuhalten, und gemäß den einschlägigen besonderen Rechtsvorschriften Anspruch auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels für das ungarische Hoheitsgebiet;

…“

11

§ 80/H des Asylgesetzes lautet:

„In einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation sind die Bestimmungen der Kapitel I bis IV und V/A bis VIII anzuwenden, vorbehaltlich der in den §§ 80/I bis 80/K vorgesehenen Ausnahmen.“

12

§ 80/J Abs. 1 des Asylgesetzes sieht vor:

„(1)   Der Asylantrag ist persönlich bei der zuständigen Behörde und ausschließlich in der Transitzone zu stellen, es sei denn, der Asylbewerber

a)

ist Gegenstand einer die persönliche Freiheit beschränkenden Zwangsmaßnahme, Maßnahme oder Verurteilung,

b)

ist Gegenstand einer von der für Asylsachen zuständigen Behörde angeordneten Haftmaßnahme,

c)

hält sich rechtmäßig im ungarischen Hoheitsgebiet auf und beantragt nicht die Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung.“

Gesetz über die Staatsgrenzen

13

§ 5 des Az államhatárról szóló 2007. évi LXXXIX. törvény (Gesetz Nr. LXXXIX von 2007 über die Staatsgrenzen) vom 4. Juli 2007 (Magyar Közlöny 2007/88, im Folgenden: Gesetz über die Staatsgrenzen) bestimmt:

„(1)   Nach dem vorliegenden Gesetz ist es möglich, im ungarischen Hoheitsgebiet einen Streifen von 60 Metern ab der Außengrenze im Sinne von Art. 2 Nr. 2 [der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1)] oder ab den Grenzmarkierungen zu nutzen, um Anlagen zum Schutz der Ordnung an der Grenze … zu errichten, einzusetzen und zu betreiben sowie Aufgaben der nationalen Verteidigung und Sicherheit, des Katastrophenschutzes, der Grenzüberwachung, des Asyls und der Migrationspolizei zu erfüllen.

(1b)   In einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation kann die Polizei im ungarischen Hoheitsgebiet ausländische Staatsangehörige, die sich illegal dort aufhalten, festnehmen und bis zum Eingang der nächstgelegenen Anlage im Sinne von Absatz 1 begleiten, es sei denn, dass der Verdacht einer Straftat besteht.

…“

Urteil Kommission/Ungarn von 2020

14

Im Urteil Kommission/Ungarn von 2020 entschied der Gerichtshof, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, aus Art. 6, Art. 24 Abs. 3, Art. 43 und Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 und aus den Art. 8, 9 und 11 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96) verstoßen hat, dass es

vorgesehen hat, dass Anträge auf internationalen Schutz von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die aus Serbien einreisen und im ungarischen Hoheitsgebiet das Verfahren auf internationalen Schutz in Anspruch nehmen möchten, nur in den Transitzonen von Röszke (Ungarn) und Tompa (Ungarn) gestellt werden können, und zugleich eine ständige und allgemeine Verwaltungspraxis eingeführt hat, mit der die Zahl der Antragsteller, die pro Tag in diese Transitzonen einreisen dürfen, drastisch beschränkt wird;

ein allgemeines System der Inhaftnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, in den Transitzonen von Röszke und Tompa geschaffen hat, ohne die in Art. 24 Abs. 3 und in Art. 43 der Richtlinie 2013/32 sowie in den Art. 8, 9 und 11 der Richtlinie 2013/33 festgelegten Garantien einzuhalten;

die Abschiebung aller illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen mit Ausnahme derjenigen, die im Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben, gestattet hat, ohne die in Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 festgelegten Verfahren und Garantien einzuhalten;

die Ausübung des Rechts der Personen, die internationalen Schutz beantragt haben und unter Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 fallen, auf Verbleib im ungarischen Hoheitsgebiet von unionsrechtswidrigen Voraussetzungen abhängig gemacht hat.

Vorverfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof

15

Mit Schreiben vom 26. Januar 2021 forderte die Generaldirektorin der Generaldirektion Migration und Inneres der Kommission die ungarische Regierung auf, ihr mitzuteilen, welche Maßnahmen ergriffen wurden, um dem Urteil Kommission/Ungarn von 2020 in vollem Umfang nachzukommen.

16

Am 26. Februar 2021 antwortete die ungarische Regierung auf dieses Schreiben und gab an, dass die Transitzonen von Röszke und Tompa nach der Verkündung des Urteils vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367), geschlossen worden seien. Damit sei Ungarn dem Urteil Kommission/Ungarn von 2020 in Bezug auf die Inhaftnahme von Asylbewerbern nachgekommen.

17

In Bezug auf den Zugang zum Verfahren auf internationalen Schutz und die Abschiebung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger sah sich die ungarische Regierung bei der Durchführung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 im Hinblick auf die Erfüllung der Verpflichtungen Ungarns aus dem Unionsrecht mit einem „Verfassungsdilemma“ konfrontiert. Daher rief sie am 25. Februar 2021 das Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht, Ungarn) an, um zu klären, ob das Magyarország Alaptörvénye (Grundgesetz Ungarns) einer Auslegung dahin zugänglich sei, dass Ungarn eine sich aus dem Unionsrecht ergebende Verpflichtung erfüllen könne, die in Ermangelung praktischer Wirksamkeit der Unionsvorschriften dazu führen könne, dass sich ein illegal im Hoheitsgebiet Ungarns aufhältiger Drittstaatsangehöriger dort auf unbestimmte Zeit aufhalte und damit faktisch Teil der ungarischen Bevölkerung werde.

18

Am 9. Juni 2021 richtete die Kommission ein Aufforderungsschreiben an Ungarn (im Folgenden: Aufforderungsschreiben), da Ungarn ihrer Ansicht nach nicht die sich aus dem Urteil Kommission/Ungarn von 2020 ergebenden Maßnahmen ergriffen hatte, und forderte Ungarn gemäß Art. 260 Abs. 2 AEUV auf, sich innerhalb von zwei Monaten zu äußern. Das Aufforderungsschreiben bezog sich auf die vier in jenem Urteil festgestellten Verstöße.

19

Am 9. August 2021 antwortete die ungarische Regierung auf das Aufforderungsschreiben und erklärte, sie sei nicht in der Lage, sich zur Durchführbarkeit des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 zu äußern, bevor nicht das Verfahren vor dem Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht) (siehe oben, Rn. 17) abgeschlossen sei. Sie ersuchte die Kommission, die Fortsetzung des Verfahrens zur Durchsetzung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 vom Ausgang dieses Verfahrens vor dem Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht) abhängig zu machen, um „die Achtung des Verfassungsdialogs zu garantieren“. Entgegen den Ausführungen der Kommission, die sich auf den „unbegrenzten Vorrang“ des Unionsrechts berufe, hätten die Verfassungsvorschriften Vorrang vor dem Unionsrecht.

20

Am 7. Dezember 2021 erließ das Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht) die Entscheidung Nr. 32/2021 (XII.20), mit der es wie folgt urteilte: Erstens könne Ungarn eine geteilte Zuständigkeit ausüben, solange die Europäische Union sie nicht wirksam ausübe. Zweitens müsse der ungarische Staat, wenn die unzureichende Ausübung einer geteilten Zuständigkeit durch die Union zu einer Verletzung des Rechts auf Identität der im Hoheitsgebiet Ungarns wohnhaften Personen führen könne, den Schutz dieses Rechts gewährleisten. Drittens sei der Schutz des unveräußerlichen Rechts Ungarns, zu bestimmen, dass sein Hoheitsgebiet unantastbar sei, welches seine Bevölkerung und seine Regierungsform sei und wie sein Staatswesen aufgebaut sei, Teil seiner Verfassungsidentität.

21

Da die Kommission der Ansicht war, dass dem Urteil Kommission/Ungarn von 2020 nach wie vor nicht nachgekommen sei, hat sie am 21. Februar 2022 die vorliegende Klage erhoben.

22

Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 1. April 2022 ist das Verfahren auf Antrag der Kommission gemäß Art. 55 Abs. 1 Buchst. b der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ausgesetzt worden. Mit Entscheidung vom 21. September 2022 hat der Präsident des Gerichtshofs ebenfalls auf Antrag der Kommission nach Art. 55 Abs. 2 der Verfahrensordnung die Fortsetzung des Verfahrens entschieden.

Zur Klage

Zur Vertragsverletzung

Vorbringen der Parteien

23

Die Kommission räumt vorab ein, dass die Transitzonen von Röszke und Tompa geschlossen worden seien. Daher enthält die Klageschrift keine Ausführungen zu dem zweiten im Urteil Kommission/Ungarn von 2020 festgestellten Verstoß, der die allgemeine Inhaftnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, in diesen Transitzonen betrifft.

24

Desgleichen bezieht sich die Klageschrift, was den vierten in jenem Urteil festgestellten Verstoß betrifft, nämlich die Verletzung des Rechts der Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, bis zum Ablauf der Frist für die Ausübung ihres Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und bei fristgemäßer Ausübung dieses Rechts bis zur Entscheidung über diesen Rechtsbehelf im ungarischen Hoheitsgebiet zu verbleiben, nur auf andere Situationen als eine durch eine massive Zuwanderung herbeigeführte Krisensituation. In den Rn. 290 und 291 des Urteils Kommission/Ungarn von 2020, so die Kommission, habe der Gerichtshof nämlich einen Verstoß in Bezug auf eine durch eine massive Zuwanderung herbeigeführte Krisensituation nur wegen des Systems der allgemeinen Inhaftnahme in den Transitzonen von Röszke und Tompa festgestellt, das mit der Schließung dieser Transitzonen keinen Bestand mehr habe.

25

Die Schließung der Transitzonen von Röszke und Tompa reiche jedoch nicht aus, um die Durchführung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 sicherzustellen. Gleiches gelte für die im Kontext der Covid-19-Pandemie vorgenommenen Änderungen des Asylgesetzes im Juni 2020 durch das A veszélyhelyzet megszűnésével összefüggő átmeneti szabályokról és a járványügyi készültségről szóló 2020. évi LVIII. törvény (Gesetz Nr. LVIII von 2020 über Übergangsregelungen im Zusammenhang mit der Beendigung der Gefahrenlage und über die Epidemievorsorge) vom 17. Juni 2020 (Magyar Közlöny 2020/144, im Folgenden: Gesetz von 2020), denn diese Änderungen seien unionsrechtswidrig. Diese Unionsrechtswidrigkeit wurde von der Kommission auch in der Rechtssache geltend gemacht, in der das Urteil vom 22. Juni 2023, Kommission/Ungarn (Absichtserklärung im Vorfeld eines Asylantrags) (C‑823/21, im Folgenden: Urteil Kommission/Ungarn von 2023, EU:C:2023:504), ergangen ist.

26

Die ungarische Regierung, so die Kommission weiter, habe im Übrigen implizit anerkannt, dass die im Urteil Kommission/Ungarn von 2020 festgestellten Verstöße andauerten, da sie erklärt habe, bis zum Erlass der Entscheidung des Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht) (siehe oben, Rn. 20) nicht in der Lage zu sein, sich zur Durchführbarkeit dieses Urteils zu äußern.

27

Was als Erstes den effektiven Zugang zum Verfahren auf internationalen Schutz betreffe, folge aus den Rn. 104 und 106 des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 sowie aus Tenor 1 erster Gedankenstrich dieses Urteils, dass Ungarn, um dem Urteil nachzukommen, die erforderlichen Maßnahmen ergreifen müsse, damit Drittstaatsangehörige oder Staatenlose ihr Recht, im Hoheitsgebiet Ungarns, einschließlich an seinen Grenzen, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, wirksam ausüben könnten.

28

Insbesondere erfordere die Durchführung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 die Änderung von § 80/J Abs. 1 des Asylgesetzes, wonach in einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation Anträge auf internationalen Schutz mit wenigen Ausnahmen nur in den betreffenden Transitzonen gestellt werden könnten. Ungarn habe diese Bestimmung jedoch weder aufgehoben noch geändert. Da die Transitzonen von Röszke und Tompa geschlossen worden seien, sei es unmöglich, solche Anträge im Hoheitsgebiet Ungarns zu stellen.

29

Im Übrigen habe bei Ablauf der im Aufforderungsschreiben gesetzten Frist eine durch eine massive Zuwanderung herbeigeführte Krisensituation im gesamten ungarischen Hoheitsgebiet fortbestanden. Die A tömeges bevándorlás okozta válsághelyzet Magyarország egész területére történő elrendeléséről, valamint a válsághelyzet elrendelésével, fennállásával és megszüntetésével összefüggő szabályokról szóló 41/2016. (III. 9.) Korm. rendelet (Regierungsverordnung Nr. 41/2016 [III. 9] über die Ausrufung einer Krisensituation aufgrund massiver Zuwanderung im gesamten Hoheitsgebiet Ungarns und mit Vorschriften über die Ausrufung, das Bestehen und das Ende der Krisensituation) vom 9. März 2016 (Magyar Közlöny 2016/33) sei nämlich von der ungarischen Regierung kraft § 1 der A tömeges bevándorlás okozta válsághelyzet Magyarország egész területére történő elrendeléséről, valamint a válsághelyzet elrendelésével, fennállásával és megszüntetésével összefüggő szabályokról szóló 41/2016. (III. 9.) Korm. rendelet módosításáról szóló 509/2021. (IX. 3.) Korm. rendelet (Regierungsverordnung Nr. 509/2021 [IX. 3] zur Änderung der Regierungsverordnung Nr. 41/2016 [III. 9] über die Ausrufung einer Krisensituation aufgrund massiver Zuwanderung im gesamten Hoheitsgebiet Ungarns und mit Vorschriften über die Ausrufung, das Bestehen und das Ende der Krisensituation) vom3. September 2021 (Magyar Közlöny 2021/162) bis zum 7. März 2022 verlängert worden. In der Folge seien die Rechtsvorschriften zur Regelung der durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation bis mindestens 7. März 2024 verlängert worden.

30

Was das Gesetz von 2020 anbelange, so werde damit nur eine gesonderte Übergangsregelung wegen der Covid-19-Pandemie eingeführt. Jedenfalls könne dieses Gesetz nicht als Maßnahme zur Durchführung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 angesehen werden, da es vor der Verkündung dieses Urteils im speziellen Kontext der Covid-19-Pandemie erlassen worden sei und zunächst nur bis zum 31. Dezember 2020 habe gelten sollen, bevor es bis zum 31. Dezember 2023 verlängert worden sei.

31

Ungarn behaupte auch gar nicht, dass dem Urteil Kommission/Ungarn von 2020 mit dem Gesetz von 2020 nachgekommen werden solle. Dass dieses Gesetz wegen der Komplexität des ungarischen Asylsystems Gegenstand eines Verfahrens nach Art. 258 AEUV in der Rechtssache, in der das Urteil Kommission/Ungarn von 2023 ergangen ist, gewesen sei, habe daher die Verteidigungsrechte Ungarns im vorliegenden Fall nicht beeinträchtigt.

32

Was als Zweites die Abschiebung illegal in Ungarn aufhältiger Drittstaatsangehöriger betreffe, sei § 5 Abs. 1b des Gesetzes über die Staatsgrenzen weder aufgehoben noch geändert worden. Nach der ungarischen Regelung könnten daher noch immer Drittstaatsangehörige, die sich illegal im ungarischen Hoheitsgebiet aufhielten, mit Ausnahme derjenigen, die einer Straftat verdächtig seien, entgegen den Rn. 253 und 254 sowie Tenor 1 dritter Gedankenstrich des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 abgeschoben werden. Insoweit sei dem Internetauftritt der ungarischen Polizei zu entnehmen, dass Ungarn die rechtswidrige Abschiebung von illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen nicht eingestellt habe, was von Ungarn auch nicht bestritten werde.

33

Was als Drittes das Recht von Personen, die internationalen Schutz beantragten, anbelange, in einer anderen Situation als einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation im ungarischen Hoheitsgebiet zu verbleiben, so habe Ungarn § 5 Abs. 1 Buchst. a des Asylgesetzes, der außerhalb einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation anwendbar sei, nicht geändert.

34

Daher blieben die im ungarischen Recht geregelten Voraussetzungen für die Wahrnehmung des in Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Rechts auf Verbleib im Hoheitsgebiet entgegen den Anforderungen, die sich aus den Rn. 288 und 289 sowie Tenor 1 vierter Gedankenstrich des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 ergäben, „unklar“. In Anbetracht der Rn. 297 bis 301 jenes Urteils sei eine Änderung der nationalen Rechtsvorschriften geboten, da es bei dem vom Gerichtshof festgestellten Verstoß nicht um eine unionsrechtswidrige Praxis gehe, sondern um eine unzureichende Umsetzung des Unionsrechts in ungarisches Recht.

35

Ungarn beantragt, die Klage, soweit sie den Zugang zum Verfahren auf internationalen Schutz betrifft, als unzulässig und im Übrigen als unbegründet abzuweisen.

36

Vorab äußert Ungarn die Auffassung, die „zentralen Punkte“ des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 seien nicht mehr relevant, da die Transitzonen von Röszke und Tompa seit dem 20. Mai 2020 nicht mehr genutzt würden. Darüber hinaus sei das Vorbringen der Kommission vor dem Hintergrund der Entwicklung der Migrationslage auf der „Westbalkanroute“ und der großen Zahl der Vertriebenen aus der Ukraine unangemessen und unbegründet.

37

Was als Erstes den Zugang zum Verfahren auf internationalen Schutz betreffe, sei die Klage unzulässig.

38

Sämtliche Feststellungen im Urteil Kommission/Ungarn von 2020 zu den Transitzonen von Röszke und Tompa seien nämlich wegen deren Schließung gegenstandslos geworden. Es ergebe keinen Sinn, von „Begrenzungen“ des Zugangs zum Verfahren auf internationalen Schutz in diesen Transitzonen zu sprechen, da das Stellen einer „begrenzten Zahl“ von Anträgen dort nicht mehr möglich sei.

39

Zwar enthalte die ungarische Regelung weiterhin Bestimmungen über die Transitzonen, doch seien diese Bestimmungen seit dem 26. Mai 2020 aufgrund des Inkrafttretens des Gesetzes von 2020 unanwendbar. Mit diesem Gesetz werde eine vom Asylgesetz abweichende Übergangsregelung eingeführt, nach welcher der Zugang zu einem Verfahren auf internationalen Schutz im Hoheitsgebiet Ungarns an die Einleitung eines Vorverfahrens bei einer diplomatischen Vertretung Ungarns in einem Drittstaat gebunden sei.

40

Da aber die Vereinbarkeit des Gesetzes von 2020 mit Art. 6 der Richtlinie 2013/32 Gegenstand der Rechtssache, in der das Urteil Kommission/Ungarn von 2023 ergangen ist, gewesen sei, habe die Kommission nicht parallel ein weiteres, auf Art. 260 Abs. 2 AEUV gestütztes Verfahren in Bezug auf denselben behaupteten Verstoß einleiten dürfen, ohne die Verteidigungsrechte Ungarns und den Grundsatz der Rechtssicherheit zu verletzen.

41

Insoweit sei eine Prüfung dieses Gesetzes durch den Gerichtshof im Verfahrensrahmen von Art. 258 AEUV gerechtfertigt, da es sich in einen neuen Kontext einfüge, der im Urteil Kommission/Ungarn von 2020 nicht geprüft worden sei. Die Rechtssache, in der das Urteil Kommission/Ungarn von 2023 ergangen ist, habe jedoch auch die Frage des Fortbestands des im Urteil Kommission/Ungarn von 2020 festgestellten Verstoßes gegen Art. 6 der Richtlinie 2013/32 zum Gegenstand. Die Feststellung einer Vertragsverletzung in der vorliegenden Rechtssache durch den Gerichtshof ließe daher das Vorbringen Ungarns in dem Verfahren nach Art. 258 AEUV hinsichtlich des Verstoßes gegen Art. 6 der Richtlinie 2013/32 ins Leere laufen, worin eine Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte Ungarns in jener Rechtssache läge.

42

Im Übrigen werde in der Klageschrift der Inhalt der Bestimmungen, die im Anschluss an die Verkündung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 erlassen worden seien, nicht dargelegt, was den Gerichtshof daran hindere, in der Sache zu entscheiden.

43

Hilfsweise macht Ungarn geltend, dass dieser Teil der Klage unbegründet sei. Zum einen habe der ungarische Gesetzgeber eine Regelung erlassen, die von § 80/J des Asylgesetzes abrücke. Zum anderen würden im Urteil Kommission/Ungarn von 2020 ausdrücklich die Regelung und die Praxis in Bezug auf die Transitzonen von Röszke und Tompa angesprochen. Die in dem betreffenden Teil des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 untersuchte Situation habe jedoch keinen Bestand mehr.

44

Was als Zweites die Abschiebung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger nach jenseits des Grenzzauns betreffe, sei die Aufrechterhaltung von § 5 Abs. 1b des Gesetzes über die Staatsgrenzen wegen des zunehmenden Migrationsdrucks auf der „Westbalkan-Migrationsroute“ und der großen Zahl von Flüchtlingen aus der Ukraine seit Februar 2022 gerechtfertigt. Außerdem müsse vor einer Änderung dieser Bestimmung die Entscheidung des Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht) in einer Rechtssache abgewartet werden, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des schriftlichen Verfahrens noch anhängig sei und in der es auf Veranlassung durch das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) um die Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung gehe.

45

Was als Drittes das Recht von Personen, die internationalen Schutz beantragten, anbelange, in einer anderen Situation als einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation im ungarischen Hoheitsgebiet zu verbleiben, habe der Gerichtshof im Urteil Kommission/Ungarn von 2020 entschieden, dass im Rahmen von § 5 Abs. 1 Buchst. a des Asylgesetzes das Recht auf Verbleib im ungarischen Hoheitsgebiet an Voraussetzungen geknüpft werden könne.

46

Abgesehen davon habe in den betreffenden Rechtsvorschriften die fakultative Möglichkeit, das Recht auf Verbleib in diesem Gebiet an Voraussetzungen zu knüpfen, keinen Niederschlag gefunden. Daher sei es nicht erforderlich, erneut legislativ tätig zu werden. In der Praxis schritten die ungarischen Behörden zu keiner Ausweisung, solange die den Asylantrag ablehnende behördliche Entscheidung nicht bestandskräftig geworden sei. Die Kommission habe insoweit auf keine Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidung Bezug genommen, die dies in Frage stellen würde.

Würdigung durch den Gerichtshof

– Zur Zulässigkeit der Klage

47

Ungarn hält die Klage für unzulässig, soweit sie den Zugang zum Verfahren auf internationalen Schutz betrifft.

48

Als Erstes macht Ungarn mit seinem Vorbringen, dass durch die Schließung der Transitzonen von Röszke und Tompa die im Urteil Kommission/Ungarn von 2020 zu diesen Transitzonen getroffenen Feststellungen gegenstandslos geworden seien und dass mit dem Gesetz von 2020 eine vom Asylgesetz abweichende Übergangsregelung eingeführt worden sei, im Wesentlichen geltend, dass es die Maßnahmen ergriffen habe, die sich aus jenem Urteil in Bezug auf den Zugang zum Verfahren auf internationalen Schutz ergäben. Dabei handelt es sich um ein Vorbringen, das nicht unter die Prüfung der Zulässigkeit der Klage, sondern unter die Prüfung ihrer Begründetheit fällt.

49

Als Zweites ist das Vorbringen einer Verletzung des Grundsatzes der Rechtssicherheit sowie der Verteidigungsrechte Ungarns durch die Parallelität der Fragen in der Rechtssache, in der das Urteil Kommission/Ungarn von 2023 ergangen ist, zurückzuweisen, da in jener Rechtssache ein abschließendes und mithin rechtskräftiges Urteil ergangen ist.

50

Als Drittes beanstandet Ungarn, die Kommission habe in ihrer Klageschrift den Inhalt der Bestimmungen des Gesetzes von 2020 nicht dargelegt.

51

Nach ständiger Rechtsprechung zu Art. 120 Buchst. c der Verfahrensordnung muss insoweit die Klageschrift den Streitgegenstand klar und deutlich angeben und eine kurze Darstellung der geltend gemachten Klagegründe enthalten, damit der Beklagte sein Verteidigungsvorbringen vorbereiten und der Gerichtshof seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. Daraus folgt insbesondere, dass sich die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die die Klage gestützt wird, zusammenhängend und verständlich aus der Klageschrift selbst ergeben müssen (Urteil vom 21. Dezember 2023, Kommission/Dänemark [Höchstparkdauer], C‑167/22, EU:C:2023:1020, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

52

Diesen Erfordernissen ist im vorliegenden Fall genügt. Die Kommission hat nämlich in ihrer Klageschrift zusammenhängend und genau die Gründe angegeben, aus denen sie zu der Auffassung gelangt ist, dass Ungarn nicht die Maßnahmen ergriffen habe, die erforderlich seien, um die Durchführung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 sicherzustellen. Sie hat u. a. auf die im Juni 2020 im Kontext der Covid-19-Pandemie vorgenommenen Änderungen des Asylgesetzes Bezug genommen und klargemacht, dass ihrer Ansicht nach das Urteil Kommission/Ungarn von 2020 mit diesen Bestimmungen nicht durchgeführt werde, die, wie von ihr in der Rechtssache, in der das Urteil Kommission/Ungarn von 2023 ergangen ist, geltend gemacht, unionsrechtswidrig seien.

53

Die Klageschrift ermöglicht Ungarn und dem Gerichtshof daher ein genaues Erfassen des Standpunkts der Kommission, was notwendig ist, damit Ungarn sich sachgerecht verteidigen und der Gerichtshof überprüfen kann, ob es die Maßnahmen ergriffen hat, die sich aus dem Urteil Kommission/Ungarn von 2020 ergeben.

54

Demnach ist die Klage zulässig.

– Zur Begründetheit

55

Nach Art. 260 Abs. 2 AEUV kann die Kommission, wenn ein Mitgliedstaat nach ihrer Auffassung die Maßnahmen nicht getroffen hat, die sich aus einem Urteil ergeben, mit dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass dieser Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen hat, den Gerichtshof anrufen, nachdem sie dem Mitgliedstaat zuvor Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat, wobei sie die Höhe des von dem Mitgliedstaat zu zahlenden Pauschalbetrags oder Zwangsgelds benennt, die sie den Umständen nach für angemessen hält.

56

Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung des Vorliegens einer Vertragsverletzung nach Art. 260 Abs. 2 AEUV ist derjenige des Ablaufs der Frist, die in dem nach dieser Bestimmung versandten Aufforderungsschreiben gesetzt wurde (Urteil vom 14. Dezember 2023, Kommission/Rumänien [Stilllegung von Deponien], C‑109/22, EU:C:2023:991, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

57

In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die an der Ausübung der gesetzgebenden Gewalt beteiligten Stellen des betreffenden Mitgliedstaats verpflichtet sind, die nationalen Rechtsvorschriften, die Gegenstand eines Vertragsverletzungsurteils waren, so zu ändern, dass sie mit den Anforderungen des Unionsrechts in Einklang gebracht werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. [Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters], C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

58

Ferner ist darauf hinzuweisen, dass der Tenor eines Vertragsverletzungsurteils, in dem die vom Gerichtshof festgestellte Vertragsverletzung bezeichnet wird, für die Bestimmung der Maßnahmen, die der Mitgliedstaat zu ergreifen hat, um dem Urteil vollständig nachzukommen, von besonderer Bedeutung ist. Zu lesen ist der Tenor vor dem Hintergrund der Entscheidungsgründe des Urteils (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Oktober 2013, Kommission/Deutschland, C‑95/12, EU:C:2013:676, Rn. 37 und 40 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

59

Im vorliegenden Fall entschied der Gerichtshof im Urteil Kommission/Ungarn von 2020 auf einen Verstoß Ungarns gegen seine Verpflichtungen, was erstens den Zugang zum Verfahren auf internationalen Schutz, zweitens die Inhaftnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, in den Transitzonen von Röszke und Tompa, drittens die Abschiebung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger und viertens das Recht der Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, auf Verbleib im ungarischen Hoheitsgebiet bis zum Ablauf der Frist für die Ausübung ihres Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und bei fristgemäßer Ausübung dieses Rechts bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf betrifft.

60

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass sich die Klageschrift der Kommission nicht auf die Inhaftnahme der Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, in den Transitzonen von Röszke und Tompa bezieht und dass sie sich hinsichtlich des Rechts der Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, auf Verbleib im ungarischen Hoheitsgebiet nur auf andere Situationen als eine durch eine massive Zuwanderung herbeigeführte Krisensituation bezieht.

61

Was als Erstes den Zugang zum Verfahren auf internationalen Schutz betrifft, ergibt sich die Beschreibung des Verstoßes, um den es geht, aus dem einleitenden Text und dem ersten Gedankenstrich von Tenor 1 des Urteils Kommission/Ungarn von 2020.

62

Aus dem einleitenden Text von Tenor 1 geht hervor, dass es sich um einen Verstoß gegen die Verpflichtungen Ungarns aus Art. 6 der Richtlinie 2013/32 handelt.

63

Dieser Verstoß wurde aufgrund der in Tenor 1 erster Gedankenstrich geschilderten Konstellation festgestellt, in der die Vorgabe, dass Anträge auf internationalen Schutz von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die aus Serbien einreisen, in den Transitzonen von Röszke und Tompa gestellt werden müssen, mit einer ständigen und allgemeinen Verwaltungspraxis zusammentrifft, mit der die Zahl der Antragsteller, die pro Tag in diese Transitzonen einreisen dürfen, drastisch beschränkt wird.

64

Der Gerichtshof entschied insoweit namentlich in Rn. 106 jenes Urteils, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 6 der Richtlinie 2013/32 gewährleisten müssen, dass die Betroffenen, wenn sie eine entsprechende Absicht bekunden, in der Lage sind, das Recht, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, auch an den Grenzen der Mitgliedstaaten wirksam auszuüben, damit dieser Antrag registriert wird und innerhalb der in der Richtlinie festgelegten Fristen förmlich gestellt und geprüft werden kann. Wie in Rn. 104 jenes Urteils festgestellt, besteht nämlich das eigentliche Ziel der Richtlinie 2013/32 und insbesondere ihres Art. 6 Abs. 1 darin, einen effektiven, einfachen und schnellen Zugang zum Verfahren auf internationalen Schutz zu gewährleisten.

65

Daher gebietet die Durchführung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 in Bezug auf den Zugang zum Verfahren auf internationalen Schutz, dass Ungarn alle Maßnahmen ergreift, die erforderlich sind, um einen effektiven, einfachen und schnellen Zugang zum Verfahren auf internationalen Schutz zu gewährleisten.

66

Bei Ablauf der im Aufforderungsschreiben gesetzten Frist, also am 9. August 2021, war Ungarn dieser Anforderung jedoch nicht nachgekommen.

67

Entgegen dem Vorbringen Ungarns reicht insoweit die Schließung der Transitzonen von Röszke und Tompa nicht aus, um einen effektiven, einfachen und schnellen Zugang zum Verfahren auf internationalen Schutz zu gewährleisten. Zwischen den Parteien ist nämlich unstreitig, dass für den Zugang zum Verfahren auf internationalen Schutz bei Ablauf der im Aufforderungsschreiben gesetzten Frist die Regelung des Gesetzes von 2020 galt.

68

Hierzu stellte der Gerichtshof in Tenor 1 des Urteils Kommission/Ungarn von 2023 fest, dass Ungarn gegen seine Verpflichtungen aus Art. 6 der Richtlinie 2013/32 verstoßen hat, indem es für bestimmte Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die sich in seinem Hoheitsgebiet oder an seinen Grenzen befinden, die Möglichkeit, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, von der vorherigen Abgabe einer Absichtserklärung bei einer ungarischen Botschaft in einem Drittstaat und von der Erteilung eines Reisedokuments für die Einreise in das ungarische Hoheitsgebiet abhängig gemacht hat.

69

Aus den Rn. 8 bis 13 und 37 jenes Urteils geht hervor, dass sich diese Feststellung auf die Bestimmungen des Gesetzes von 2020 über den Zugang zum Verfahren auf internationalen Schutz bezieht, deren Anwendung daher nicht als taugliche Durchführung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 angesehen werden kann.

70

Klarzustellen ist auch, dass die Maßnahmen, die sich aus einem Urteil des Gerichtshofs, mit dem eine Vertragsverletzung festgestellt wird, ergeben, notwendigerweise mit den Bestimmungen des Unionsrechts, deren Verletzung in dem Urteil festgestellt wurde – im vorliegenden Fall also Art. 6 der Richtlinie 2013/32 –, vereinbar sein und deren ordnungsgemäße Anwendung ermöglichen müssen. Wie vom Gerichtshof im Urteil Kommission/Ungarn von 2023 entschieden, ist dies hier aber bei den Bestimmungen des Gesetzes von 2020 über den Zugang zum Verfahren auf internationalen Schutz nicht der Fall.

71

Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass Ungarn nicht die Maßnahmen ergriffen hat, die erforderlich sind, um dem Urteil Kommission/Ungarn von 2020 in Bezug auf den Zugang zum Verfahren auf internationalen Schutz nachzukommen.

72

Als Zweites stellte der Gerichtshof zur Abschiebung illegal in Ungarn aufhältiger Drittstaatsangehöriger in Tenor 1 dritter Gedankenstrich des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 fest, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 verstoßen hat, dass es die Abschiebung aller illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen mit Ausnahme derjenigen, die im Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben, gestattet hat, ohne die in den genannten Bestimmungen festgelegten Verfahren und Garantien einzuhalten.

73

Ungarn bestreitet nicht, dass § 5 Abs. 1b des Gesetzes über die Staatsgrenzen, der nach Rn. 254 jenes Urteils die nationale Bestimmung ist, die diese Feststellung rechtfertigte, bei Ablauf der im Aufforderungsschreiben gesetzten Frist, d. h. am 9. August 2021, immer noch in Kraft war. Es hält diese Situation jedoch wegen des Migrationsdrucks auf der „Westbalkan-Migrationsroute“ und der Zahl der Vertriebenen aus der Ukraine für gerechtfertigt.

74

Ein Mitgliedstaat kann sich aber nicht auf praktische, administrative, finanzielle oder interne Schwierigkeiten berufen, um die Nichteinhaltung der aus dem Unionsrecht folgenden Verpflichtungen zu rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juni 2023, Kommission/Slowakei [Recht auf kostenfreien Rücktritt], C‑540/21, EU:C:2023:450, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung).

75

Als Drittes ergibt sich in Bezug auf das Recht von Personen, die internationalen Schutz beantragen, in einer anderen Situation als einer durch eine massive Zuwanderung herbeigeführten Krisensituation bis zum Ablauf der Frist für die Ausübung ihres Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und bei fristgemäßer Ausübung dieses Rechts bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf im ungarischen Hoheitsgebiet zu verbleiben, die Feststellung im Urteil Kommission/Ungarn von 2020, dass Ungarn gegen seine Verpflichtungen aus Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 verstoßen hat, aus Tenor 1 vierter Gedankenstrich dieses Urteils.

76

Diese Feststellung geht auf die Ausführungen in den Rn. 289 und 301 jenes Urteils zurück, wonach die von einem Mitgliedstaat festgelegten Modalitäten für die Ausübung des in Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 verankerten Rechts auf Verbleib in seinem Hoheitsgebiet hinreichend klar und bestimmt sein müssen, damit die Person, die internationalen Schutz beantragt hat, Kenntnis vom genauen Umfang eines solchen Rechts erlangen kann und damit beurteilt werden kann, ob die betreffenden Modalitäten insbesondere mit den Richtlinien 2013/32 und 2013/33 im Einklang stehen.

77

Aus Rn. 297 jenes Urteils geht hervor, dass nach dem Vorbringen Ungarns die Voraussetzungen, auf die § 5 Abs. 1 des Asylgesetzes Bezug nehme, darin bestehen, dass der Betroffene dem gesetzlich festgelegten Status als Antragsteller entsprechen müsse und darüber hinaus der ihm gegebenenfalls auferlegten Pflicht nachzukommen habe, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten.

78

Wie in Rn. 298 des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 festgestellt, gab Ungarn aber zum einen nicht an, welche Vorschrift des Asylgesetzes genau bestimmen soll, dass das Recht auf Verbleib im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats von der Einhaltung einer Voraussetzung in Bezug auf den Aufenthaltsort abhängig gemacht wird.

79

Zum anderen ist, wie in Rn. 300 jenes Urteils festgestellt, die in der Beachtung des gesetzlich festgelegten Status als Person, die internationalen Schutz beantragt hat, bestehende Voraussetzung, von der, wie Ungarn selbst angab, das aus § 5 Abs. 1 Buchst. a des Asylgesetzes resultierende Bleiberecht ebenfalls abhänge, diversen Auslegungen zugänglich und nimmt Bezug auf weitere, von Ungarn nicht konkretisierte Voraussetzungen.

80

Somit erfordert die Durchführung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 in Bezug auf den in Rede stehenden Verstoß unabhängig davon Änderungen der nationalen Regelung, dass, worauf sich Ungarn beruft, die ungarischen Behörden in der Praxis zu keiner Ausweisung schritten, solange die den Asylantrag ablehnende behördliche Entscheidung nicht bestandskräftig geworden sei.

81

Insoweit ist daran zu erinnern, dass eine bloße Verwaltungspraxis, die von der Verwaltung naturgemäß beliebig geändert werden kann und nur unzureichend bekannt ist, nicht als rechtswirksame Erfüllung der unionsrechtlichen Verpflichtungen angesehen werden kann (Urteil vom 24. Oktober 2013, Kommission/Spanien, C‑151/12, EU:C:2013:690, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

82

Bei Ablauf der im Aufforderungsschreiben gesetzten Frist, also am 9. August 2021, war aber § 5 Abs. 1 Buchst. a des Asylgesetzes immer noch unverändert in Kraft, was von Ungarn nicht bestritten wird.

83

Nach alledem ist festzustellen, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 260 Abs. 1 AEUV verstoßen hat, dass es nicht die Maßnahmen ergriffen hat, die sich aus dem Urteil Kommission/Ungarn von 2020 ergeben.

Zu den finanziellen Sanktionen

Vorbringen der Parteien

84

Da die Kommission der Ansicht ist, dass Ungarn dem Urteil Kommission/Ungarn von 2020 noch immer nicht nachgekommen sei, beantragt sie die Verurteilung Ungarns zur Zahlung eines Pauschalbetrags in Höhe von 5468,45 Euro, multipliziert mit der Zahl der Tage, die zwischen dem Tag der Verkündung jenes Urteils und entweder dem Tag seiner Durchführung durch Ungarn oder dem Tag der Verkündung des vorliegenden Urteils, sollte dieser Tag vor dem Tag der Durchführung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 liegen, verstrichen sein werden, wobei sich der Mindestpauschalbetrag auf 1044000 Euro belaufen sollte.

85

Ferner beantragt sie die Verurteilung Ungarns zur Zahlung eines Zwangsgelds in Höhe von 16393,16 Euro pro Tag ab dem Tag der Verkündung des vorliegenden Urteils bis zum Tag der Durchführung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 durch Ungarn.

86

Unter Verweis auf ihre Mitteilung SEK(2005) 1658 („Anwendung von Artikel [260 AEUV]“) vom 12. Dezember 2005, wie sie insbesondere durch ihre Mitteilung „Anpassung der Berechnung der von der Kommission im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union vorgeschlagenen Pauschalbeträge und Zwangsgelder nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs“ vom 13. April 2021 (ABl. 2021, C 129, S. 1) aktualisiert wurde, tritt die Kommission dafür ein, die Höhe des oben in Rn. 84 genannten Pauschalbetrags durch Multiplikation eines einheitlichen Grundbetrags von 895 Euro mit einem Schwerekoeffizienten zu bestimmen. Das Ergebnis werde mit einem Faktor „n“, der insbesondere der Zahlungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaats Rechnung trage, und mit der Anzahl der Tage, die der in Rede stehende Verstoß andauere, multipliziert. Hinsichtlich der Berechnung der Höhe des vorstehend in Rn. 85 genannten täglichen Zwangsgelds sei der Grundbetrag auf 2683 Euro pro Tag festgesetzt und mit dem besagten Schwerekoeffizienten, einem Dauerkoeffizienten und dem Faktor „n“ zu multiplizieren.

87

Was als Erstes die Schwere des Verstoßes betrifft, tritt die Kommission für die Anwendung eines Schwerekoeffizienten von 13 auf einer Skala von 1 bis 20 ein.

88

Die Unionsvorschriften, gegen die verstoßen worden sei, seien von großer Bedeutung. Zum einen seien die Art. 6 und 46 der Richtlinie 2013/32 grundlegend, um die Wirksamkeit der Rechte zu gewährleisten, die durch das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete und am 22. April 1954 in Kraft getretene Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) in der durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzten Fassung sowie durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verbürgt würden. Zu nennen seien hierbei insbesondere das Recht auf Asyl, die Wahrung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Zum anderen beeinträchtige die Zuwiderhandlung im Zusammenhang mit den rechtswidrigen Abschiebungen mehrere grundlegende Bestimmungen der Richtlinie 2008/115.

89

Die Nichtdurchführung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 habe erhebliche Auswirkungen auf das öffentliche Interesse und auf Einzelinteressen. Die Kommission verweist zum einen darauf, dass sie seit 2015 sieben Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn im Bereich Asyl eingeleitet habe, von denen vier vor den Gerichtshof gelangt seien. In der anhaltenden Nichtbeachtung des Unionsrechts liege die Gefahr, dass ein Präzedenzfall für andere Mitgliedstaaten geschaffen werde und dass das Gemeinsame Europäische Asylsystem untergraben werde, indem die Verantwortung für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragten, an andere Mitgliedstaaten weitergegeben und der illegale Menschenhandel verstärkt würden. Zum anderen hätten die in Rede stehenden Verstöße schwerwiegende Auswirkungen auf Drittstaatsangehörige.

90

Darüber hinaus stellt die Kommission erschwerende Umstände fest. Ungarn habe mit ihr während des Vorverfahrens nicht zusammengearbeitet, denn es habe keine Angaben dazu gemacht, dass die für unionsrechtswidrig befundenen Bestimmungen irgendwie geändert oder aufgehoben worden wären. Zudem stellten die wiederholten Verstöße gegen das Unionsrecht im Bereich Migration und Asyl, die offenkundige Missachtung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts und die ausdrückliche Weigerung, einem Urteil des Gerichtshofs nachzukommen, äußerst schwerwiegende erschwerende Faktoren dar.

91

Was als Zweites die Dauer des Verstoßes betrifft, tritt die Kommission für die Anwendung eines Dauerkoeffizienten von 1 auf einer Skala von 1 bis 3 ein. Berücksichtigt werde dabei der Zeitraum von zehn Monaten, der zwischen dem Tag der Verkündung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 und dem Tag, an dem die Kommission die Anrufung des Gerichtshofs beschlossen habe, also dem 12. November 2021, verstrichen sei.

92

Was als Drittes den Faktor „n“ anbelangt, nimmt die Kommission die Erkenntnisse aus dem Urteil vom 20. Januar 2022, Kommission/Griechenland (Rückforderung von staatlichen Beihilfen – Ferronickel) (C‑51/20, EU:C:2022:36), wonach das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des betreffenden Mitgliedstaats den vorrangigen Faktor darstellt, wohingegen die Berücksichtigung seines institutionellen Gewichts nicht unerlässlich ist, zur Kenntnis, stützt aber ihren Antrag gleichwohl auf die Parameter, die in den oben in Rn. 86 genannten Mitteilungen ausgeführt werden. In diesem Zusammenhang tritt die Kommission dafür ein, den Faktor „n“ für Ungarn auf 0,47 festzusetzen.

93

Ungarn ist der Ansicht, die Kommission habe die Schwere des Verstoßes falsch beurteilt, indem sie die Schließung der Transitzonen von Röszke und Tompa, die neue ungarische Asylregelung, den zunehmenden Druck durch die illegale Migration und die Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine nicht berücksichtigt habe. Insbesondere sei die Ungarn vorgeworfene Vertragsverletzung aufgrund der Schließung dieser Transitzonen von viel begrenzterem Ausmaß als diejenige, die in der Rechtssache, in der das Urteil Kommission/Ungarn von 2020 ergangen sei, in Rede gestanden habe, was eine grundlegende Erwägung bei der Bewertung der Schwere des Verstoßes bilden müsse. Außerdem dürfe aufgrund des Verfahrens in der Rechtssache, in der das Urteil Kommission/Ungarn von 2023 ergangen ist, die Frage der Vereinbarkeit der Bestimmungen des Gesetzes von 2020 mit Art. 6 der Richtlinie 2013/32 bei der Beurteilung der Schwere des Verstoßes nicht berücksichtigt werden.

94

Im Übrigen habe Ungarn den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts nicht missachtet. Insoweit könne die Einleitung des Verfahrens vor dem Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht) (siehe oben, Rn. 17), um die Einhaltung des ungarischen Grundgesetzes sicherzustellen, nicht als erschwerender Umstand angesehen werden. Die ungarische Regierung habe die Durchführung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 nicht von der Entscheidung des Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht) (siehe oben, Rn. 20) abhängig gemacht, sondern diese Entscheidung lediglich abgewartet. Sie habe es auch nicht ausdrücklich abgelehnt, dem Urteil Kommission/Ungarn von 2020 nachzukommen, sondern im Gegensatz zur Kommission schlicht äußere Umstände berücksichtigt.

95

Schließlich ersucht Ungarn unter Bezugnahme auf Rn. 55 des Urteils vom 30. Mai 2013, Kommission/Schweden (C‑270/11, EU:C:2013:339), darum, als mildernden Umstand zu berücksichtigen, dass es bislang nie versäumt habe, ein Urteil des Gerichtshofs durchzuführen.

Würdigung durch den Gerichtshof

96

Vorab ist daran zu erinnern, dass das Verfahren nach Art. 260 Abs. 2 AEUV einen säumigen Mitgliedstaat veranlassen soll, ein Vertragsverletzungsurteil durchzuführen, und folglich die wirksame Anwendung des Unionsrechts gewährleisten soll; die in dieser Bestimmung vorgesehenen Maßnahmen – das Zwangsgeld und der Pauschalbetrag – dienen beide diesem Zweck (Urteil vom 14. Dezember 2023, Kommission/Rumänien [Stilllegung von Deponien], C‑109/22, EU:C:2023:991, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

97

Auch ist darauf hinzuweisen, dass es Sache des Gerichtshofs ist, in jeder Rechtssache und anhand der Umstände des Einzelfalls, mit dem er befasst ist, sowie nach Maßgabe des ihm erforderlich erscheinenden Grades an Überzeugungs- und Abschreckungswirkung die angemessenen finanziellen Sanktionen zu bestimmen, um insbesondere der Wiederholung ähnlicher Verstöße gegen das Unionsrecht vorzubeugen (Urteil vom 14. Dezember 2023, Kommission/Rumänien [Stilllegung von Deponien], C‑109/22, EU:C:2023:991, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

– Zum Pauschalbetrag

98

Nach ständiger Rechtsprechung müssen die Verurteilung zur Zahlung eines Pauschalbetrags und die gegebenenfalls erfolgende Festsetzung seiner Höhe in jedem Einzelfall von der Gesamtheit der maßgebenden Aspekte abhängig gemacht werden, die sich sowohl auf die Merkmale der festgestellten Vertragsverletzung als auch auf die Haltung beziehen, die der Mitgliedstaat eingenommen hat, der von dem auf der Grundlage von Art. 260 AEUV eingeleiteten Verfahren betroffen ist. Insoweit gewährt Art. 260 AEUV dem Gerichtshof ein weites Ermessen bei der Entscheidung darüber, ob es einen Grund für die Verhängung einer derartigen Sanktion gibt, sowie gegebenenfalls bei der Bemessung ihrer Höhe (Urteil vom 14. Dezember 2023, Kommission/Rumänien [Stilllegung von Deponien], C‑109/22, EU:C:2023:991, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).

99

Im vorliegenden Fall deutet die Gesamtheit der rechtlichen und tatsächlichen Aspekte, die zur Feststellung der Vertragsverletzung geführt haben, darauf hin, dass es, um einer künftigen Wiederholung ähnlicher Verstöße gegen das Unionsrecht wirksam vorzubeugen, des Erlasses einer abschreckenden Maßnahme wie der Verhängung eines Pauschalbetrags bedarf.

100

Unter diesen Umständen kommt es dem Gerichtshof zu, in Ausübung seines Ermessens diesen Pauschalbetrag so festzusetzen, dass er zum einen den Umständen angepasst ist und zum anderen in angemessenem Verhältnis zu den begangenen Verstößen steht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Dezember 2023, Kommission/Rumänien [Stilllegung von Deponien], C‑109/22, EU:C:2023:991, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung).

101

Zu den hierbei relevanten Faktoren zählen Aspekte wie die Schwere und die Dauer der festgestellten Verstöße sowie die Zahlungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaats (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Dezember 2023, Kommission/Rumänien [Stilllegung von Deponien], C‑109/22, EU:C:2023:991, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung).

102

Was als Erstes die Schwere der in Rede stehenden Verstöße betrifft, liegt, wenn einem Urteil des Gerichtshofs längere Zeit nicht nachgekommen wird, darin an sich eine schwere Beeinträchtigung des Legalitätsprinzips und der Rechtskraft in einer Union des Rechts.

103

Insoweit hat Ungarn trotz der Schließung der Transitzonen von Röszke und Tompa nicht die Maßnahmen ergriffen, die sich aus dem Urteil Kommission/Ungarn von 2020 in Bezug auf mehrere wesentliche Punkte jenes Urteils ergeben, nämlich den Zugang zum Verfahren auf internationalen Schutz, die Abschiebung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger und das Recht der Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, auf Verbleib im ungarischen Hoheitsgebiet bis zum Ablauf der Frist für die Ausübung ihres Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und bei fristgemäßer Ausübung dieses Rechts bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf.

104

In diesem Zusammenhang ist die Bedeutung der Bestimmungen zu unterstreichen, die Gegenstand der oben in Rn. 83 festgestellten Vertragsverletzung sind.

105

Erstens ist die Einhaltung von Art. 6 der Richtlinie 2013/32 erforderlich, um im Einklang mit dem in Art. 18 der Charta anerkannten Recht auf Asyl die Wirksamkeit der übrigen Bestimmungen dieser Richtlinie und damit der gemeinsamen Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz insgesamt zu gewährleisten.

106

Die Verletzung dieser grundlegenden Bestimmung verhindert nämlich systematisch jeden Zugang zum Verfahren auf internationalen Schutz, wodurch, was den betreffenden Mitgliedstaat anbelangt, die Anwendung der genannten Politik insgesamt, wie sie in Art. 78 AEUV niedergelegt ist, unmöglich gemacht wird.

107

Dass ein Mitgliedstaat die Anwendung einer gemeinsamen Politik insgesamt bewusst umgeht, stellt eine ganz neue und außergewöhnlich schwere Verletzung des Unionsrechts dar, die eine erhebliche Bedrohung für die Einheit dieses Rechts und den in Art. 4 Abs. 2 EUV genannten Grundsatz der Gleichheit der Mitgliedstaaten darstellt.

108

Im konkreten Fall der gemeinsamen Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz beeinträchtigt eine solche Verletzung sowohl das öffentliche Interesse als auch die Interessen von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen, die internationalen Schutz beantragen möchten, besonders schwerwiegend. Insbesondere wird durch die systematische Verhinderung des Stellens von Anträgen auf internationalen Schutz das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge in der durch das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzten Fassung, zu dessen Vertragsparteien alle Mitgliedstaaten gehören und das einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen darstellt, in Bezug auf den betreffenden Mitgliedstaat weitgehend ausgehöhlt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Januar 2024, Intervyuirasht organ na DAB pri MS [Frauen als Opfer häuslicher Gewalt], C‑621/21, EU:C:2024:47, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). Außerdem wird den Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen dadurch, dass sie an der ungarischen Grenze keinen Antrag auf internationalen Schutz stellen können, die tatsächliche Inanspruchnahme ihres in Art. 18 der Charta verbürgten Rechts, bei Ungarn um Asyl anzusuchen, vorenthalten (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Ungarn von 2023, Rn. 52).

109

Zweitens ist die Beachtung von Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 ihrerseits unerlässlich, um in Bezug auf Personen, die internationalen Schutz beantragen, die Effektivität des Grundsatzes des wirksamen gerichtlichen Schutzes der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte sicherzustellen, bei dem es sich um einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts handelt, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt, in den Art. 6 und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert ist und nunmehr in Art. 47 der Charta Niederschlag gefunden hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. September 2023, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România,C‑216/21, EU:C:2023:628, Rn. 59).

110

Drittens errichten die Art. 5, 6, 12 und 13 der Richtlinie 2008/115 für die Anwendung dieser Richtlinie grundlegende Garantien, namentlich im Hinblick auf das in Art. 19 der Charta verankerte Recht auf Schutz bei Abschiebung und Ausweisung.

111

Indem aber ein Mitgliedstaat, ohne diese Garantien zu beachten, die Abschiebung aller illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen mit Ausnahme derjenigen, die einer Straftat verdächtig sind, erlaubt, verkennt er die wesentlichen Anforderungen an die Verfahren zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, wobei es sich um einen Punkt handelt, der nach Art. 79 Abs. 2 Buchst. c AEUV einen Hauptbestandteil der gemeinsamen Einwanderungspolitik darstellt.

112

Im Übrigen verstärkt letztlich der Umstand, dass eine Rechtssache die Nichtdurchführung eines Urteils betrifft, das sich auf eine allgemeine und fortbestehende Praxis bezieht, noch die Schwere der in Rede stehenden Vertragsverletzung (Urteil vom 2. Dezember 2014, Kommission/Italien, C‑196/13, EU:C:2014:2407, Rn. 100).

113

Ungarn entzieht sich dadurch, dass es die Maßnahmen, die sich aus dem Urteil Kommission/Ungarn von 2020 ergeben, nicht ergreift, systematisch und bewusst der Anwendung der gemeinsamen Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz sowie den Vorschriften über die Rückführung illegal aufhältiger Personen im Rahmen der gemeinsamen Einwanderungspolitik, was einen außergewöhnlich schweren Verstoß gegen das Unionsrecht darstellt.

114

Zudem bewirkt das Verhalten Ungarns u. a., dass die ihm – auch in finanzieller Hinsicht – obliegende Verantwortung, für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz in der Union beantragen, zu sorgen, die Anträge gemäß den Verfahren für die Zuerkennung und die Aberkennung dieses Schutzes zu prüfen und unionsrechtskonforme Modalitäten für die Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger zu gewährleisten, auf die anderen Mitgliedstaaten übertragen wird.

115

In einem solchen Verhalten liegt ein äußerst schwerer Verstoß gegen den Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten, einschließlich in finanzieller Hinsicht, der gemäß Art. 80 AEUV für die gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz sowie für die gemeinsame Einwanderungspolitik gilt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2020, Kommission/Polen, Ungarn und Tschechische Republik [Vorübergehender Umsiedlungsmechanismus für internationalen Schutz beantragende Personen], C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, EU:C:2020:257, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung).

116

Insoweit ist daran zu erinnern, dass der Grundsatz der Solidarität einer der tragenden Grundsätze des Unionsrechts ist und zu den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Werten gehört, auf die sich die Union nach Art. 2 EUV gründet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 129 und die dort angeführte Rechtsprechung).

117

Dass ein Mitgliedstaat einseitig das Gleichgewicht zwischen den sich aus seiner Zugehörigkeit zur Union ergebenden Vorteilen und Pflichten stört, stellt die Wahrung des Grundsatzes der Gleichheit der Mitgliedstaaten vor dem Unionsrecht in Frage. Ein solcher Verstoß gegen die von den Mitgliedstaaten durch ihren Beitritt zur Union eingegangenen Solidaritätspflichten beeinträchtigt die Rechtsordnung der Union bis in ihre Grundfesten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Februar 1979, Kommission/Vereinigtes Königreich, 128/78, EU:C:1979:32, Rn. 12).

118

Aus alledem folgt, dass die Nichtdurchführung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 sowohl das öffentliche Interesse als auch private Interessen, namentlich diejenigen der Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen, die internationalen Schutz beantragen möchten, außerordentlich schwer beeinträchtigt.

119

Zwar ist zu berücksichtigen, dass gegen Ungarn zuvor noch nie ein Verfahren auf der Grundlage von Art. 260 AEUV eingeleitet wurde (vgl. entsprechend Urteil vom 14. Dezember 2023, Kommission/Rumänien [Stilllegung von Deponien], C‑109/22, EU:C:2023:991, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

120

Über die außergewöhnliche Schwere der in Rede stehenden Vertragsverletzung hinaus ist jedoch ebenfalls – als erschwerender Umstand – zu berücksichtigen, dass von Ungarn wiederholt Verstöße ausgingen (vgl. entsprechend Urteil vom 20. Januar 2022, Kommission/Griechenland [Rückforderung von staatlichen Beihilfen – Ferronickel], C‑51/20, EU:C:2022:36, Rn. 103), die zu verschiedenen sonstigen Verurteilungen im Bereich des internationalen Schutzes geführt haben (Urteile vom 2. April 2020, Kommission/Polen, Ungarn und Tschechische Republik [Vorübergehender Umsiedlungsmechanismus für internationalen Schutz beantragende Personen], C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, EU:C:2020:257, und vom 16. November 2021, Kommission/Ungarn [Pönalisierung der Unterstützung von Asylbewerbern], C‑821/19, EU:C:2021:930, sowie Urteil Kommission/Ungarn von 2023).

121

Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass die ungarische Regierung es nach ihrem Vorbringen für gerechtfertigt hielt, vor der Durchführung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 den Abschluss des von ihr beim Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht) eingeleiteten Verfahrens (siehe oben, Rn. 17) und dessen Entscheidung (siehe oben, Rn. 44) abzuwarten.

122

Hierzu ist daran zu erinnern, dass nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht dadurch beeinträchtigt werden dürfen, dass sich ein Mitgliedstaat auf Bestimmungen des nationalen Rechts beruft, auch wenn sie Verfassungsrang haben. Die Einhaltung der Verpflichtungen, die sich aus diesem Grundsatz ergeben, ist insbesondere erforderlich, um die Achtung der Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen sicherzustellen, und ist Ausdruck des in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit (Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen [Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern], C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).

123

Überdies verlängerte Ungarn im Anschluss an das Urteil Kommission/Ungarn von 2020, anstatt für dessen vollständige Durchführung zu sorgen, die zeitliche Anwendbarkeit der Bestimmungen des Gesetzes von 2020, die ihrerseits ebenfalls mit Art. 6 der Richtlinie 2013/32 unvereinbar waren, wie im Urteil Kommission/Ungarn von 2023 entschieden wurde.

124

Unter diesen Umständen zeigt das Verhalten Ungarns, dass Ungarn nicht entsprechend seiner Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit gehandelt hat, um die vom Gerichtshof im Urteil Kommission/Ungarn von 2020 festgestellte Vertragsverletzung abzustellen, was einen zusätzlichen erschwerenden Umstand darstellt (vgl. entsprechend Urteil vom 12. November 2019, Kommission/Irland [Windfarm Derrybrien], C‑261/18, EU:C:2019:955, Rn. 120).

125

Schließlich ist klarzustellen, dass die Migrationsbewegungen der letzten Jahre, insbesondere die nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, im vorliegenden Fall nicht als mildernder Umstand angesehen werden können, da Ungarn weder in seinen schriftlichen Erklärungen noch in der mündlichen Verhandlung dargetan hat, inwiefern es aufgrund dieser Migrationsbewegungen daran gehindert gewesen wäre, die sich aus dem Urteil Kommission/Ungarn von 2020 ergebenden Maßnahmen zu ergreifen.

126

Als Zweites ist hinsichtlich der Dauer der in Rede stehenden Verstöße daran zu erinnern, dass bei ihrer Bemessung auf den Zeitpunkt abzustellen ist, zu dem der Gerichtshof den Sachverhalt prüft (Urteil vom 20. Januar 2022, Kommission/Griechenland [Rückforderung von staatlichen Beihilfen – Ferronickel], C‑51/20, EU:C:2022:36, Rn. 105 und die dort angeführte Rechtsprechung).

127

Um feststellen zu können, ob die dem Beklagten vorgeworfene Vertragsverletzung bis zur Prüfung des Sachverhalts durch den Gerichtshof angedauert hat, sind die Maßnahmen zu beurteilen, die nach den Angaben des Beklagten nach Ablauf der im Aufforderungsschreiben gesetzten Frist ergriffen wurden (Urteil vom 14. Dezember 2023, Kommission/Rumänien [Stilllegung von Deponien], C‑109/22, EU:C:2023:991, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

128

Ungarn hat jedoch keine Maßnahme aufgezeigt, die zwischen dem Ablauf dieser Frist und dem Ende des schriftlichen Verfahrens erlassen worden wäre und die oben in Rn. 83 getroffene Feststellung in Frage stellen könnte. In der mündlichen Verhandlung hat es angegeben, dass die einschlägige nationale Regelung seit dem Ende des schriftlichen Verfahrens keine Änderung erfahren habe.

129

Somit steht fest, dass die Vertragsverletzung mehr als drei Jahre nach dem Tag der Verkündung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 fortdauert, was eine beträchtliche Dauer darstellt.

130

Obwohl Art. 260 Abs. 1 AEUV die Frist, innerhalb deren die Durchführung eines Urteils erfolgen muss, nicht präzisiert, verlangt nämlich nach ständiger Rechtsprechung das Interesse an einer sofortigen und einheitlichen Anwendung des Unionsrechts, dass die Urteilsdurchführung sofort angegangen werden und innerhalb kürzestmöglicher Frist abgeschlossen sein muss (Urteil vom 14. Dezember 2023, Kommission/Rumänien [Stilllegung von Deponien], C‑109/22, EU:C:2023:991, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).

131

Was als Drittes die Zahlungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaats anbelangt, ist auf dessen BIP als vorrangigen Faktor abzustellen, ohne sein institutionelles Gewicht zu berücksichtigen. Hierbei ist auch die jüngste Entwicklung des BIP dieses Mitgliedstaats zu berücksichtigen, wie sie sich zum Zeitpunkt der Prüfung des Sachverhalts durch den Gerichtshof darstellt (Urteil vom 14. Dezember 2023, Kommission/Rumänien [Stilllegung von Deponien], C‑109/22, EU:C:2023:991, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).

132

In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen und insbesondere der außergewöhnlichen Schwere der in Rede stehenden Verstöße und der mangelnden loyalen Zusammenarbeit Ungarns zu deren Beendigung hält der Gerichtshof die Verhängung eines Pauschalbetrags, dessen Höhe auf 200000000 Euro festzusetzen ist, für angemessen.

133

Folglich ist Ungarn zur Zahlung eines Pauschalbetrags von 200000000 Euro an die Kommission zu verurteilen.

– Zum Zwangsgeld

134

Nach ständiger Rechtsprechung darf der Gerichtshof in Ausübung seines Ermessens auf dem betreffenden Gebiet kumulativ ein Zwangsgeld und einen Pauschalbetrag verhängen (Urteil vom 14. Dezember 2023, Kommission/Rumänien [Stilllegung von Deponien], C‑109/22, EU:C:2023:991, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).

135

Die Verhängung eines Zwangsgelds ist grundsätzlich nur insoweit gerechtfertigt, als die Vertragsverletzung, die sich aus der Nichtdurchführung eines früheren Urteils ergibt, bis zur Prüfung des Sachverhalts durch den Gerichtshof andauert (Urteil vom 14. Dezember 2023, Kommission/Rumänien [Stilllegung von Deponien], C‑109/22, EU:C:2023:991, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

136

Im vorliegenden Fall dauert, wie oben in Rn. 129 festgestellt, die Ungarn vorgeworfene Vertragsverletzung bis zur Prüfung des Sachverhalts durch den Gerichtshof an.

137

Unter diesen Umständen ist die Verurteilung Ungarns zur Zahlung eines Zwangsgelds ein angemessenes finanzielles Mittel, um Ungarn zu veranlassen, die Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um die festgestellte Vertragsverletzung zu beenden und für die vollständige Durchführung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020 zu sorgen (vgl. entsprechend Urteil vom 14. Dezember 2023, Kommission/Rumänien [Stilllegung von Deponien], C‑109/22, EU:C:2023:991, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

138

Insoweit ist nach ständiger Rechtsprechung das Zwangsgeld nach Maßgabe des Überzeugungsdrucks festzusetzen, der erforderlich ist, damit der betreffende Mitgliedstaat sein Verhalten ändert und das gerügte Verhalten beendet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Dezember 2023, Kommission/Rumänien [Stilllegung von Deponien], C‑109/22, EU:C:2023:991, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

139

Bei der Ausübung seines Ermessens auf diesem Gebiet hat der Gerichtshof das Zwangsgeld so festzusetzen, dass es zum einen den Umständen angepasst ist und zum anderen in einem angemessenen Verhältnis zur festgestellten Vertragsverletzung und zur Zahlungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaats steht (Urteil vom 14. Dezember 2023, Kommission/Rumänien [Stilllegung von Deponien], C‑109/22, EU:C:2023:991, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

140

Die Vorschläge der Kommission zur Höhe des Zwangsgelds können den Gerichtshof nicht binden und stellen lediglich einen nützlichen Bezugspunkt dar. Dem Gerichtshof muss es freistehen, das verhängte Zwangsgeld in der Höhe und in der Form festzusetzen, die er für angemessen hält, um den betreffenden Mitgliedstaat dazu zu veranlassen, die Nichterfüllung seiner unionsrechtlichen Verpflichtungen zu beenden (Urteil vom 14. Dezember 2023, Kommission/Rumänien [Stilllegung von Deponien], C‑109/22, EU:C:2023:991, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).

141

Bei der Festsetzung der Höhe eines Zwangsgelds sind zur Gewährleistung des Charakters des Zwangsgelds als Druckmittel im Hinblick auf eine einheitliche und wirksame Anwendung des Unionsrechts grundsätzlich die Schwere der Verstöße, deren Dauer und die Zahlungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaats als Grundkriterien heranzuziehen. Bei der Anwendung dieser Kriterien ist insbesondere zu berücksichtigen, welche Folgen die Nichtdurchführung für die privaten und die öffentlichen Interessen hat und wie dringend es ist, dass der betreffende Mitgliedstaat seinen Verpflichtungen nachkommt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Dezember 2023, Kommission/Rumänien [Stilllegung von Deponien], C‑109/22, EU:C:2023:991, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

142

Im vorliegenden Fall erachtet der Gerichtshof es angesichts aller rechtlichen und tatsächlichen Aspekte, die zur Feststellung der Vertragsverletzung geführt haben, sowie in Anbetracht der oben in den Rn. 102 bis 131 angestellten Erwägungen für angemessen, ein Zwangsgeld in Höhe von 900000 Euro pro Tag in Bezug auf Art. 6 und Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 sowie ein Zwangsgeld in Höhe von 100000 Euro pro Tag in Bezug auf die Art. 5, 6, 12 und 13 der Richtlinie 2008/115 zu verhängen.

143

Ungarn ist daher zu verurteilen, an die Kommission ein Zwangsgeld in Höhe von 900000 Euro pro Tag zu zahlen, um den sich die Durchführung der Maßnahmen verzögert, die erforderlich sind, um dem Urteil Kommission/Ungarn von 2020 nachzukommen, beginnend mit dem Tag der Verkündung des vorliegenden Urteils und bis zur vollständigen Durchführung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020, soweit es Art. 6 und Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 betrifft. Ferner ist Ungarn zu verurteilen, an die Kommission ein Zwangsgeld in Höhe von 100000 Euro pro Tag zu zahlen, um den sich die Durchführung der Maßnahmen verzögert, die erforderlich sind, um dem Urteil Kommission/Ungarn von 2020 nachzukommen, beginnend mit dem Tag der Verkündung des vorliegenden Urteils und bis zur vollständigen Durchführung des Urteils Kommission/Ungarn von 2020, soweit es die Art. 5, 6, 12 und 13 der Richtlinie 2008/115 betrifft.

Kosten

144

Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da Ungarn unterlegen ist, sind ihm gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Ungarn hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 260 Abs. 1 AEUV verstoßen, dass es nicht alle Maßnahmen ergriffen hat, die sich aus dem Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn (Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen) (C‑808/18, EU:C:2020:1029), ergeben.

 

2.

Ungarn wird verurteilt, an die Europäische Kommission einen Pauschalbetrag in Höhe von 200000000 Euro zu zahlen.

 

3.

Ungarn wird verurteilt, an die Europäische Kommission ab der Verkündung des vorliegenden Urteils bis zur Durchführung des Urteils vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn (Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen) (C‑808/18, EU:C:2020:1029), soweit dieses Art. 6 und Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes betrifft, ein Zwangsgeld in Höhe von 900000 Euro pro Tag zu zahlen.

 

4.

Ungarn wird verurteilt, an die Europäische Kommission ab der Verkündung des vorliegenden Urteils bis zur Durchführung des Urteils vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn (Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen) (C‑808/18, EU:C:2020:1029), soweit dieses die Art. 5, 6, 12 und 13 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger betrifft, ein Zwangsgeld in Höhe von 100000 Euro pro Tag zu zahlen.

 

5.

Ungarn trägt die Kosten.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Ungarisch.