SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

MEDINA

vom 18. April 2024(1)

Rechtssache C760/22

FP,

QV,

IN,

YL,

VD,

JF,

OL,

Beteiligte:

Sofiyska gradska prokuratura

(Vorabentscheidungsersuchen des Sofiyski gradski sad [Stadtgericht Sofia, Bulgarien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 und 48 – Richtlinie [EU] 2016/343 – Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren – Teilnahme an der Verhandlung aus der Ferne per Videokonferenz während der Covid‑19-Pandemie – Pflicht zur Anwesenheit in der Verhandlung“






I.      Einleitung

1.        Die Digitalisierung der Justiz hat erhebliche Auswirkungen auf die grundlegenden Verfahrensrechte in Strafverfahren, insbesondere auf das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung und die Wahrung der Rechte der Verteidigung. Die Notwendigkeit, die Kontinuität der Justiz während der Covid‑19-Pandemie sicherzustellen sowie das Allgemeininteresse am Schutz der öffentlichen Gesundheit haben die Mitgliedstaaten und Länder weltweit dazu veranlasst, den Einsatz von Videokonferenztechnologie in Strafverfahren entweder einzuführen oder deren Nutzung zu steigern und allgemein zu verbreiten(2). Das Wiederaufleben der Herausforderungen im Zusammenhang mit dem „Angeklagten in der Ferne“(3) führt zu heiklen Fragen nach dem angemessenen Gleichgewicht zwischen der Wahrnehmung grundlegender Verfahrensrechte in Strafverfahren und dem Einsatz digitaler Mittel zur effektiven Rechtspflege.

2.        Im Unionsrecht legt Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/343(4) das Verfahrensrecht von Verdächtigen und beschuldigten Personen fest, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein, was wiederum ein wesentlicher Bestandteil des in den Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerten Grundrechts auf ein faires Verfahren ist. Das Ausgangsverfahren wirft die Frage auf, ob diese Bestimmung einer Entscheidung eines Strafgerichts entgegensteht, eine beschuldigte Person zur Teilnahme an der Verhandlung per Videokonferenz zuzulassen, obwohl es dem nationalen Recht an einer speziellen Rechtsgrundlage für eine solche Art der Teilnahme fehlt. Der Gerichtshof hat somit erstmals Gelegenheit zur Auslegung des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung im Zusammenhang mit dem Einsatz von Videokonferenztechnologie oder anderen Fernkommunikationstechnologien.

II.    Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2016/343

3.        In den Erwägungsgründen 9, 33, 35 und 48 der Richtlinie 2016/343 heißt es:

„(9)      Mit dieser Richtlinie soll das Recht auf ein faires Verfahren in Strafverfahren gestärkt werden, indem gemeinsame Mindestvorschriften für bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung und das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung festgelegt werden.

(33)      Das Recht auf ein faires Verfahren ist eines der Grundprinzipien einer demokratischen Gesellschaft. Das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen, in der Verhandlung anwesend zu sein, beruht auf diesem Recht und sollte in der gesamten Union sichergestellt werden.

(35)      Das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen auf Anwesenheit in der Verhandlung gilt nicht absolut. Unter bestimmten Voraussetzungen sollten Verdächtige und beschuldigte Personen ausdrücklich oder stillschweigend, aber unmissverständlich erklären können, auf dieses Recht zu verzichten.

(48)      Da mit dieser Richtlinie Mindestvorschriften festgelegt werden, sollten die Mitgliedstaaten die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte ausweiten können, um ein höheres Schutzniveau zu gewährleisten. Das durch die Mitgliedstaaten gewährte Schutzniveau sollte nie unter den Standards der Charta oder der EMRK, wie sie vom Gerichtshof der Europäischen Union und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ausgelegt werden, liegen.“

4.        Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2016/343 bestimmt:

„Diese Richtlinie enthält gemeinsame Mindestvorschriften für

b)      das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren.“

5.        Art. 8 („Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung“) dieser Richtlinie sieht in den Abs. 1 und 2 vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.

(2)      Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass eine Verhandlung, die zu einer Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person führen kann, in seiner bzw. ihrer Abwesenheit durchgeführt werden kann, sofern

a)      der Verdächtige oder die beschuldigte Person rechtzeitig über die Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet wurde oder

b)      der Verdächtige oder die beschuldigte Person, nachdem er bzw. sie über die Verhandlung unterrichtet wurde, von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten wird, der entweder von dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person oder vom Staat bestellt wurde.“

 Bulgarisches Recht

6.        Art. 6a Abs. 2 des Zakon za merkite i deystviyata po vreme na izvanrednoto polozhenie, obyaveno s reshenie na Narodnoto sabranie ot 13.03.2020 i za preodolyavane na posleditsite (Gesetz über die Maßnahmen und Handlungen während des mit Beschluss der Nationalversammlung vom 13. März 2020 verhängten Ausnahmezustands und über die Bewältigung der Auswirkungen, im Folgenden: Gesetz über die Maßnahmen während des Ausnahmezustands), das bis zum 31. Mai 2022 galt, sah vor:

„Während des Ausnahmezustands bzw. der epidemischen Ausnahmesituation und während zwei Monaten nach seiner Aufhebung können öffentliche Gerichtsverhandlungen … aus der Ferne abgehalten werden, wenn eine unmittelbare und virtuelle Teilnahme der Parteien an der Verhandlung bzw. im Verfahren gewährleistet ist. Über die durchgeführten Verhandlungen werden Protokolle verfasst, die unverzüglich veröffentlicht werden, und die Verhandlungsnotizen werden bis zum Ablauf der Frist für die Berichtigung und Ergänzung des Protokolls aufbewahrt, sofern nicht ein Verfahrensgesetz etwas anderes bestimmt. Das Gericht … benachrichtigt die Beteiligten, wenn die Verhandlung aus der Ferne abgehalten werden soll.“

7.        In Art. 55 des Nakazatelno protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, im Folgenden: NPK) heißt es:

„Die beschuldigte Person hat folgende Rechte: … am Strafverfahren teilzunehmen.“

8.        Art. 269 NPK bestimmt:

„(1)      In Strafsachen, in denen der beschuldigten Person eine schwere Straftat vorgeworfen wird, ist deren Anwesenheit in der Gerichtsverhandlung zwingend.

(2)      Das Gericht kann anordnen, dass die beschuldigte Person auch in Rechtssachen erscheint, in denen ihre Anwesenheit nicht zwingend vorgeschrieben ist, wenn dies für die Ermittlung der objektiven Wahrheit erforderlich ist.

(3)      Sofern es der Ermittlung der objektiven Wahrheit nicht entgegensteht, kann die Sache in Abwesenheit der beschuldigten Person verhandelt werden, wenn:

1.      sich diese nicht an der von ihr angegebenen Adresse befindet oder diese geändert hat, ohne die zuständige Behörde darüber zu unterrichten;

2.      ihr Aufenthaltsort in Bulgarien nicht bekannt ist und auch nach gründlicher Nachforschung nicht zu ermitteln ist;

3.      sie ordnungsgemäß geladen wurde, keinen triftigen Grund für ihr Nichterscheinen angegeben hat und das in Art. 247c Abs. 1 NPK geregelte Verfahren eingehalten wurde;

4.      sie sich außerhalb des bulgarischen Hoheitsgebiets befindet und:

(a)      ihr Wohnsitz unbekannt ist;

(b)      sie aus anderen Gründen nicht vorgeladen werden kann;

(c)      sie ordnungsgemäß geladen wurde und keinen triftigen Grund für ihr Nichterscheinen angegeben hat.“

9.        Art. 115 Abs. 2 NPK bestimmt:

„Die beschuldigte Person darf nicht durch einen beauftragten Richter oder per Videokonferenz vernommen werden, es sei denn, sie befindet sich im Ausland und es steht der Ermittlung der objektiven Wahrheit nicht entgegen.“

10.      Art. 474 Abs. 1 NPK bestimmt:

„Eine Justizbehörde eines anderen Staates kann die Vernehmung einer Person, die Zeuge oder Sachverständiger im Strafverfahren ist und sich in der Republik Bulgarien aufhält, per Video- oder Telefonkonferenz sowie eine Vernehmung mit Teilnahme der beschuldigten Person nur dann durchführen, wenn dies nicht im Widerspruch zu den wesentlichen Grundsätzen des bulgarischen Rechts steht. Die beschuldigte Person kann per Videokonferenz nur mit ihrer Zustimmung und nach Einigung der beteiligten bulgarischen Justizbehörden und der Justizbehörden des anderen Staates über die Modalitäten der Videokonferenz befragt werden.“

III. Kurze Darstellung des Sachverhalts und des Ausgangsverfahrens

11.      FP wird wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zum Zweck der Bereicherung und der gemeinschaftlichen Begehung von Steuerstraftaten nach Art. 255 des Nakazatelen kodeks (Strafgesetzbuch, im Folgenden: NK) angeklagt. Dabei handelt es sich um eine schwere Straftat nach dem NK.

12.      FP hat seit Beginn des Verfahrens einen Verteidiger mandatiert.

13.      Mit Urteil vom 11. April 2019 wurde FP vom ehemaligen Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) für schuldig befunden und zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, die mit einer Frist von drei Jahren zur Bewährung ausgesetzt wurde. Dieses Urteil wurde im Berufungsverfahren aufgehoben. Der Fall wurde zur erneuten Verhandlung an eine andere Kammer des ehemaligen Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht), den Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) – das vorlegende Gericht – zurückverwiesen. Die erneute Verhandlung des Falls begann am 30. Juni 2021.

14.      In der öffentlichen Vorverhandlung vom 12. Oktober 2021 bat FP um eine Teilnahme am Verfahren aus der Ferne via Online-Kommunikationsverbindung mit Bild- und Tonübertragung, da er in Großbritannien lebe und arbeite. Er erklärte, dass er alle Verfahrensunterlagen kenne und dass seine Rechte durch die Teilnahme aus der Ferne nicht verletzt würden.

15.      Der Anwalt von FP war physisch im Gerichtssaal anwesend und erklärte, dass alle neuen Unterlagen elektronisch an FP übermittelt werden könnten, damit dieser sie rechtzeitig prüfen könne. Der Anwalt von FP erklärte ferner, dass die Beratungen mit seinem Mandanten über eine separate Verbindung erfolgen könnten, die mit Unterbrechung der Videoübertragung und außerhalb des Gerichtssaals stattfinden könne.

16.      Auf der Grundlage von Art. 6a Abs. 2 des Gesetzes über die Maßnahmen während des Ausnahmezustands und vorbehaltlich der Einhaltung gerichtlich festgelegter Garantien und Bedingungen gestattete das vorlegende Gericht FP die Teilnahme an der öffentlichen Verhandlung vom 12. Oktober 2021 aus der Ferne. In den folgenden Verhandlungen, mit Ausnahme derjenigen vom 28. Februar 2022, bei der er physisch anwesend war, nahm FP per Videokonferenz teil.

17.      In der für den 13. Juni 2022 anberaumten Anhörung äußerte FP den Wunsch, weiterhin aus der Ferne am Verfahren teilzunehmen. Das vorlegende Gericht hatte jedoch Zweifel, ob diese Möglichkeit nach bulgarischem Recht noch bestehe, da Art. 6a Abs. 2 des Gesetzes über die Maßnahmen während des Ausnahmezustands mit Wirkung vom 31. Mai 2022 außer Kraft getreten sei. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der NPK die Möglichkeit der Teilnahme von beschuldigten Personen am Gerichtsverfahren per Videokonferenz nur in bestimmten Fällen vorsehe, von denen keiner im Hinblick auf das vorliegende Verfahren einschlägig sei. Dem vorlegenden Gericht zufolge verbietet das bulgarische Recht den Einsatz von Videokonferenztechnologie jedoch nicht ausdrücklich.

18.      In Anbetracht des Fehlens einer spezifischen Rechtsgrundlage schlug der Verteidiger von FP vor, seinem Mandanten die Teilnahme an der Verhandlung aus der Ferne zu gestatten und ihn zugleich als abwesend zu behandeln.

19.      Das vorlegende Gericht stimmte dem Vorschlag, FP als abwesend anzusehen, nicht zu. Es vertrat die Auffassung, dass FP, auch wenn er nicht physisch im Gerichtssaal anwesend sei, wirksam an der Verhandlung teilnehmen könne.

20.      In Ermangelung einer Rechtsgrundlage im nationalen Recht, die den Einsatz von Videokonferenztechnologie zulässt, hielt das vorlegende Gericht die Prüfung für erforderlich, ob es mit der Richtlinie 2016/343 vereinbar ist, der beschuldigten Person freizustellen, wie sie ihre Pflicht zur Anwesenheit im Strafverfahren erfüllt. Das vorlegende Gericht hegt insoweit Zweifel, ob FP als anwesend anzusehen ist, insoweit seine Rechte nicht verletzt und alle Maßnahmen getroffen worden sind, um sicherzustellen, dass kein wesentlicher Unterschied zwischen seiner physischen Anwesenheit im Gerichtssaal und seiner Teilnahme am Verfahren über eine Online-Verbindung vorliegt.

21.      In Anbetracht dieser Erwägungen hat das Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Würde das Recht des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung gemäß Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 33 und 44 der Richtlinie 2016/343 verletzt, wenn er an den in der Strafsache durchgeführten Gerichtsverhandlungen auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin über eine Onlineverbindung teilnimmt, sofern er durch einen von ihm bevollmächtigten, im Sitzungssaal anwesenden Rechtsanwalt verteidigt wird und sofern die Verbindung es ihm ermöglicht, den Gang des Verfahrens zu verfolgen, Beweismittel zu benennen und von Beweismitteln Kenntnis zu nehmen, er ohne technische Hindernisse angehört werden kann und ihm eine wirksame und vertrauliche Kommunikation mit dem Rechtsanwalt gewährleistet wird?

22.      FP, die ungarische und die lettische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

IV.    Würdigung

A.      Zur Umformulierung der Vorlagefrage

23.      Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren(5).

24.      Im vorliegenden Fall ergibt sich die Frage des vorlegenden Gerichts aus dem Umstand, dass der NPK zwar die Anwesenheit der beschuldigten Person im Strafverfahren vorschreibt, wenn dieser eine schwere Straftat vorgeworfen wird, nicht aber die Möglichkeit vorsieht, per Videokonferenz an diesem Verfahren teilzunehmen. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass die Online-Teilnahme in bestimmten Situationen möglich ist, nämlich im vorgerichtlichen Stadium und in anderen speziellen Verfahren. Diese Situationen liegen im Ausgangsverfahren jedoch nicht vor(6).

25.      FP, die beschuldigte Person des Ausgangsverfahrens, wurde die Teilnahme an der Verhandlung bis zu einem bestimmten Stadium des Verfahrens gestattet, solange das Gesetz über die Maßnahmen während des Ausnahmezustands anwendbar war. Nach Auslaufen dieses Gesetzes und in Ermangelung einer anderen Rechtsvorschrift, die eine Online-Teilnahme an der Verhandlung vorsieht, beantragte FP die fortgesetzte Teilnahme an der Verhandlung aus der Ferne bei gleichzeitiger Behandlung als abwesend. Das vorlegende Gericht gab diesem Antrag nicht statt, da es der Ansicht war, dass die Behandlung von FP als abwesend seiner tatsächlichen Teilnahme am Verfahren nicht entspreche. Das vorlegende Gericht vertrat die Auffassung, dass es FP die Entscheidung überlassen könne, wie er seiner Pflicht zur Anwesenheit im Strafverfahren (gemäß Art. 269 Abs. 1 NPK) erfülle, und diesem – vorbehaltlich der Gewährleistung einer vollumfänglichen Teilnahme an dem Verfahren – die Online-Teilnahme ermöglichen könne. Es zweifelt jedoch an der Vereinbarkeit dieser Entscheidung mit Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343.

26.      Im Licht des Vorhergehenden stellt das vorlegende Gericht im Wesentlichen die Frage, ob Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen ist, dass er es einem Strafgericht verwehrt, einer nach nationalem Recht zur Anwesenheit bei der Verhandlung verpflichteten beschuldigten Person die Möglichkeit einzuräumen, per Videokonferenz am Verfahren teilzunehmen, obwohl das nationale Recht keine ausdrückliche Bestimmung enthält, die diese Art der Teilnahme zulässt.

B.      Allgemeine Grundsätze zum Recht beschuldigter Personen auf Anwesenheit in der Verhandlung

27.      Nach Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.

28.      Die allgemeinen Grundsätze im Zusammenhang mit der Ausübung des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung sind in der Rechtsprechung des Gerichtshofs unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entwickelt worden.

29.      Der Gerichtshof hat insbesondere darauf hingewiesen, dass die Richtlinie 2016/343 nach ihrem 47. Erwägungsgrund die in der Charta und in der EMRK anerkannten Grundrechte und Grundsätze, darunter das Recht auf ein faires Verfahren, die Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte, wahrt(7).

30.      Wie aus dem 33. Erwägungsgrund dieser Richtlinie hervorgeht, beruht das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen, in der Verhandlung anwesend zu sein, auf dem Recht auf ein faires Verfahren, das in Art. 6 EMRK verankert ist, dem, wie es in den Erläuterungen zur Charta heißt, Art. 47 Abs. 2 und 3 sowie Art. 48 der Charta entsprechen. Der Gerichtshof muss daher darauf achten, dass seine Auslegung dieser Bestimmungen ein Schutzniveau gewährleistet, das das in Art. 6 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierte Schutzniveau nicht verletzt(8).

31.      Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergibt sich, dass das Erscheinen einer beschuldigten Person von entscheidender Bedeutung im Interesse eines fairen Strafverfahrens ist, wobei die Verpflichtung, dieser Person das Recht zu gewährleisten, im Gerichtssaal anwesend zu sein, insoweit eines der wesentlichen Merkmale von Art. 6 EMRK darstellt(9).

32.      Darüber hinaus folgt aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK jeder angeklagten Person das Recht verleiht, „sich selbst zu verteidigen [oder] sich durch einen Verteidiger … verteidigen zu lassen“, aber nicht festlegt, wie dieses Recht auszuüben ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat daher bekräftigt, dass die EMRK „den Vertragsstaaten die Wahl der Mittel überlässt, mit denen sie die Wahrung [dieses Rechts] in ihrem Rechtssystem gewährleisten, wobei der Gerichtshof lediglich zu prüfen hat, ob die von ihnen gewählte Methode den Erfordernissen eines fairen Verfahrens entspricht“(10).

33.      In diesem Zusammenhang hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hervorgehoben, dass in Anbetracht der Verteidigungsrechte, die u. a. durch Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK garantiert werden, die Möglichkeit der beschuldigten Person, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, das Recht dieser Person impliziert, sich tatsächlich an der sie betreffenden Verhandlung zu beteiligen(11). Im Allgemeinen umfasst dieses Recht u. a. nicht nur das Recht, anwesend zu sein, sondern auch das Recht, der Verhandlung zuzuhören und zu folgen(12).

34.      Auf der Grundlage dieser Erwägungen hat der Gerichtshof festgestellt, dass das in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 verankerte Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung in der Weise gewährleistet werden muss, dass es in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens in einer Art und Weise ausgeübt werden kann, die den Erfordernissen eines fairen Verfahrens entspricht. Dieses Recht beschränkt sich somit nicht darauf, die bloße Anwesenheit der beschuldigten Person bei den mündlichen Verhandlungen zu gewährleisten, die im Rahmen des sie betreffenden Verfahrens stattfinden, sondern verlangt, dass diese Person in die Lage versetzt werden muss, sich tatsächlich daran zu beteiligen und zu diesem Zweck die Verteidigungsrechte auszuüben(13).

C.      Einsatz von Videokonferenztechnologie in Strafverfahren nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

35.      Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bestimmte Fragen im Zusammenhang mit der Durchführung von Verhandlungen per Videokonferenz unter dem Gesichtspunkt des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK geprüft. Seiner Rechtsprechung lassen sich insoweit Leitprinzipien entnehmen(14).

36.      Seitens des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aufgestellte Grundsätze für den Einsatz von Online-Verhandlungen ergeben sich aus der Grundsatzentscheidung Marcello Viola/Italien(15). Dieser Fall betraf die behauptete Verletzung von Art. 6 EMRK im Zusammenhang mit dem von den italienischen Rechtsvorschriften vorgesehenen Einsatz von Videokonferenztechnologie in Strafverfahren. Diese Rechtsvorschriften wurden im Rahmen der Bekämpfung von Mafiastraftaten erlassen. Beim Vorliegen bestimmter restriktiver, gesetzlich festgelegter Voraussetzungen ermöglichten sie es Strafgerichten, die Teilnahme beschuldigter Personen an der Verhandlung aus der Ferne anzuordnen.

37.      Im Urteil wies der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vorab auf die grundlegenden Prinzipien im Zusammenhang mit der fundamentalen Bedeutung des Rechts der beschuldigten Person hin, bei der Verhandlung anwesend zu sein und effektiv an der Verhandlung teilzunehmen(16).

38.      Zur Anwendung dieser Prinzipien auf den konkreten Fall stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zunächst fest, dass die Teilnahme an dem Verfahren per Videokonferenz ausdrücklich im italienischen Recht vorgesehen sei, das die Anwendungsfälle von Videokonferenztechnologie, die für eine entsprechende Anordnung zuständige Behörde und die technischen Modalitäten der Einrichtung einer audiovisuellen Verbindung bestimme. Er wies darauf hin, dass der italienische Verfassungsgerichtshof dieses Recht für mit der (italienischen) Verfassung und der EMRK vereinbar erklärt habe.

39.      Im Übrigen betonte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass diese Methode, sofern sie nicht durch das innerstaatliche Recht und einschlägige internationale Übereinkünfte untersagt sei, für die Erhebung von Zeugen- oder Sachverständigenbeweisen, gegebenenfalls unter Beteiligung einer angeklagten Person, zulässig sei. Er verwies insoweit auf mehrere völkerrechtliche Abkommen mit Ausnahme der EMRK(17).

40.      Vor diesem Hintergrund entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass „die Teilnahme des Angeklagten am Verfahren durch Videokonferenz an sich der [EMRK] nicht zuwiderläuft“. Gleichwohl erkannte er, dass es die Pflicht des Gerichts sei, sicherzustellen, dass die Inanspruchnahme dieser Maßnahme in jedem einzelnen Fall einem legitimen Zweck diene und Bedingungen für die Beweiserhebung sichergestellt seien, die den Anforderungen an ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK entsprächen(18).

41.      Mit Blick auf den konkreten Fall vertrat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Auffassung, dass die Teilnahme des Klägers an der Berufungsverhandlung per Videokonferenz legitime Zwecke im Sinne der EMRK verfolge, nämlich die Aufrechterhaltung der Ordnung, die Verhütung von Straftaten, den Schutz von Zeugen und Opfern von Straftaten in Bezug auf deren Rechte auf Leben, Freiheit und Sicherheit sowie die Einhaltung des Erfordernisses einer „angemessenen Frist“ in Gerichtsverfahren(19). Im Anschluss an die Prüfung, ob die Verfahrensmodalitäten die Verteidigungsrechte beachteten, schlussfolgerte er, dass das Recht auf ein faires Verfahren nicht verletzt worden sei.

42.      In der nachfolgenden Rechtsprechung zum Einsatz von Videokonferenztechnologie in Strafverfahren hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Grundsätze aus Marcello Viola herangezogen, meist im Hinblick auf die Frage der Wirksamkeit der rechtlichen Vertretung einer per Videokonferenztechnologie auftretenden beschuldigten Person(20). So hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in ihrem Urteil im Fall Sakhnovskiy/Russland(21) bekräftigt, dass Videokonferenztechnologie als Form der Teilnahme am Verfahren als solche nicht mit dem Begriff des fairen und öffentlichen Verfahrens unvereinbar sei. Allerdings müsse sichergestellt sein, dass die beschuldigte Person das Verfahren ohne technische Hindernisse verfolgen und gehört werden könne und dass eine effektive und vertrauliche Kommunikation mit einem Rechtsbeistand gewährleistet sei(22).

43.      Die bestehende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Einsatz von Videokonferenztechnologie betrifft vorwiegend Situationen, in denen der Einsatz von Videokonferenztechnologie eher außergewöhnlich ist und in denen die beschuldigte Person den Einsatz einer solchen Methode der Teilnahme am Verfahren gerügt hat. Bislang gab es keinen Fall, in dem die beschuldigte Person umgekehrt das Fehlen eines rechtlichen Rahmens, der eine Teilnahme an der Verhandlung aus der Ferne ermöglicht, als Verletzung des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung beanstandet(23).

44.      Interessanterweise rügte der Beschwerdeführer im Fall Dijkhuizen/Niederlande, dass sein Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden sei, weil er daran gehindert worden sei, der Verhandlung physisch oder per Videokonferenz beizuwohnen(24). In diesem Fall wurde der Kläger in einem Drittland festgehalten, das die Auslieferung tatverdächtiger Inhaftierter an andere Staaten untersagte. Obwohl das niederländische Recht die Möglichkeit bereithielt, per Videokonferenz an der Verhandlung teilzunehmen, lehnte der Kläger diese Form der Teilnahme wiederholt ab. Er stellte erst in einem fortgeschrittenen Stadium des Verfahrens einen entsprechenden Antrag. Zu diesem Zeitpunkt hätte das Verfahren erneut vertagt werden müssen, damit das inländische Gericht alle erforderlichen Vorkehrungen hätte treffen können. Das inländische Gericht befand daher, dass die beschuldigte Person auf ihr Recht auf eine Teilnahme per Videokonferenz verzichtet habe(25). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied, dass in Anbetracht der besonderen Umstände dieses Falls keine Verletzung von Art. 6 vorliege.

45.      Auch wenn eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren in Anbetracht der Umstände des Falls verneint wurde, bleibt Dijkhuizen/Niederlande ein relevantes Beispiel. Es verdeutlicht, dass es Situationen geben kann, in denen die beschuldigte Person per Videokonferenz bei der Verhandlung anwesend sein möchte. Videokonferenztechnologie kann als Mittel zur Vereinfachung der Ausübung des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in solchen Situationen eingesetzt werden, in denen es für die beschuldigte Person unmöglich oder äußerst schwierig wäre, der Verhandlung physisch beizuwohnen.

46.      In diesem Zusammenhang erscheint es mir wichtig anzumerken, dass die Europäische Kommission für die Wirksamkeit der Justiz (CEPEJ) des Europarats „Leitlinien zum Umgang mit Videokonferenztechnologie in Gerichtsverfahren“ erlassen hat (im Folgenden: CEPEJ-Leitlinien)(26). Die CEPEJ-Leitlinien enthalten eine Reihe wichtiger Maßnahmen, die Staaten und Gerichte befolgen sollten, um sicherzustellen, dass der Einsatz von Videokonferenzen in Gerichtsverfahren nicht das in Art. 6 EMRK verankerte Recht auf ein faires Verfahren beeinträchtigt. Die Leitlinien enthalten vier Grundprinzipien, eine Reihe von Leitlinien, die unter Betonung der Besonderheiten von Strafverfahren für alle Gerichtsverfahren gelten, sowie eine Reihe von Leitlinien zu organisatorischen und technischen Fragen im Zusammenhang mit Videokonferenztechnologie.

47.      Die in den CEPEJ-Leitlinien dargelegten Prinzipien betonen die Wichtigkeit der steten Wahrung des Rechts auf ein faires Verfahren, des Legalitätsprinzips, der Fairness im Verfahren und der Verteidigungsrechte. Im Einzelnen besagt das erste Prinzip der CEPEJ-Leitlinien, dass alle Garantien für ein faires Verfahren nach der EMRK auch für Verhandlungen aus der Ferne und in allen Gerichtsverfahren gelten. Nach dem zweiten Prinzip „[sollen] Staaten … einen Rechtsrahmen schaffen, der eine klare Grundlage dafür bietet, dass Gerichte im Rahmen von Gerichtsverfahren Verhandlungen aus der Ferne durchführen können“. Nach dem dritten Prinzip „… ist [es] Sache des Gerichts, innerhalb des geltenden Rechtsrahmens zu entscheiden, ob eine bestimmte Verhandlung aus der Ferne durchzuführen ist, um die Fairness des Verfahrens insgesamt zu gewährleisten“. Schließlich besagt das vierte Prinzip, dass „[d]as Gericht … das Recht einer Partei auf wirksamen Beistand durch einen Rechtsanwalt sowie der Vertraulichkeit ihrer Kommunikation in allen Gerichtsverfahren gewährleisten [soll]“.

48.      Speziell im Hinblick auf Strafverfahren legen die CEPEJ-Leitlinien fest, dass in Fällen, in denen „… Rechtsvorschriften keine freie und auf Kenntnis der Sachlage gegründete Zustimmung des Angeklagten vorschreiben, … die Entscheidung des Gerichts über dessen Teilnahme an der Verhandlung aus der Ferne einem legitimen Zweck dienen [sollte]“. Sie unterstreichen zudem die Bedeutung der Gewährleistung einer wirksamen Teilnahme des Angeklagten und seines Rechtsbeistands.

49.      Mithin ergibt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und den CEPEJ-Leitlinien, dass die Teilnahme an Gerichtsverhandlungen aus der Ferne mit der EMRK vereinbar sein kann, sofern alle Garantien für ein faires Verfahren eingehalten werden. Die Vereinbarkeit der Teilnahme aus der Ferne mit dem Recht auf ein faires Verfahren muss anhand des jeweils geltenden Rechtsrahmens und der darin festgelegten Bedingungen und Modalitäten geprüft werden, denen der Einsatz von Videokonferenztechnologie unterliegt.

D.      Einsatz von Videokonferenztechnologie in Strafverfahren nach dem Unionsrecht

50.      Der Einsatz von Videokonferenztechnologie in nationalen Strafverfahren ist auf Unionsebene nicht harmonisiert. Die Harmonisierung der Vorschriften für den Einsatz von Videokonferenztechnologie betrifft nur grenzüberschreitende Sachverhalte, die unter spezielle Rechtsvorschriften der Union fallen(27). Die jüngste Entwicklung in dieser Hinsicht ist der Erlass der Verordnung (EU) 2023/2844(28).

51.      Die Anwendung dieser Verordnung lässt die in der Charta und im Unionsrecht, z. B. in den Richtlinien über Verfahrensrechte – darunter die Richtlinie 2016/343 – verankerten Verfahrensrechte unberührt; das gilt insbesondere für das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung(29). Darüber hinaus gelten die in ihr festgelegten Bestimmungen über den Einsatz von Videokonferenz- oder anderen Fernkommunikationstechnologien für Anhörungen in Verfahren der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen nicht für Anhörungen mittels Videokonferenz- oder anderen Fernkommunikationstechnologien zu Zwecken der Beweisaufnahme oder der Durchführung einer Verhandlung, die zu einer Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen oder eines Beschuldigten führen könnte(30).

52.      Da die Verordnung 2023/2844 auf den Ausgangsfall keine Anwendung findet, sind weitere Ausführungen zu ihren Bestimmungen entbehrlich. Es genügt der Hinweis, dass ihre Bestimmungen die Bedeutung der Erteilung der Einwilligung der beschuldigten oder verurteilten Personen zum Einsatz von Videokonferenztechnologie in Verfahren der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen anerkennen(31). Zudem müssen die besonderen Umstände des Falls den Einsatz dieser Technologie rechtfertigen. Diese Verordnung enthält auch spezifische Maßgaben dafür, dass die Fernkommunikationstechnologie den Grundsätzen des Datenschutzes und einem hohen Cybersicherheitsniveau entspricht(32).

E.      Zu der Frage, ob Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 die Teilnahme an der Verhandlung per Videokonferenz gestattet

53.      In diesem Abschnitt der Analyse wird der Frage nachgegangen, ob die Mitgliedstaaten vorsehen können, dass das in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 verankerte Recht auf „Anwesenheit“ in der Verhandlung per Videokonferenz ausgeübt werden kann, insbesondere wenn die beschuldigte Person dies ausdrücklich beantragt hat und die Voraussetzungen für ihre effektive Teilnahme gegeben sind.

54.      Im Einklang mit der oben angeführten Rechtsprechung(33) muss der Gerichtshof darauf achten, dass seine Auslegung von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 ein Schutzniveau gewährleistet, das nicht hinter dem in Art. 6 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierten Schutzniveau zurückbleibt.

55.      Aus dem Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 geht klar hervor, dass die Mitgliedstaaten Verdächtigen und beschuldigten Personen ermöglichen müssen, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein(34).

56.      Der Gerichtshof hat diese Bestimmung im Urteil HN (Verfahren eines aus dem Hoheitsgebiet abgeschobenen Angeklagten) im Zusammenhang mit der Frage ausgelegt, ob die Mitgliedstaaten vorsehen können, dass eine solche Anwesenheit zwingend ist. Insoweit hat der Gerichtshof festgestellt, dass Art. 8 der Richtlinie 2016/343 lediglich das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen auf Anwesenheit in der sie betreffenden Verhandlung sowie Ausnahmen von diesem Recht vorsieht und begrenzt, ohne jedoch den Mitgliedstaaten vorzuschreiben oder ihnen zu verbieten, eine Verpflichtung für alle Verdächtigen oder beschuldigten Personen vorzusehen, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein(35).

57.      Im selben Zusammenhang hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass diese Richtlinie nach ihrem Art. 1 zum Gegenstand hat, gemeinsame Mindestvorschriften für bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung in Strafverfahren sowie das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren festzulegen, nicht aber, eine abschließende Harmonisierung des Strafverfahrens vorzunehmen(36).

58.      Die Richtlinie 2016/343 beschränkt sich gemäß ihrem zehnten Erwägungsgrund auf die Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften zum Schutz der Verfahrensrechte Verdächtiger und beschuldigter Personen, mit denen das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege gestärkt und auf diese Weise die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen erleichtert werden soll(37).

59.      Zudem kann diese Richtlinie, da mit ihr nur ein Mindestmaß an Harmonisierung angestrebt wird, nicht so verstanden werden, dass sie ein vollständiges und abschließendes Instrument darstellt(38).

60.      Angesichts des begrenzten Umfangs der mit dieser Richtlinie vorgenommenen Harmonisierung und des Umstands, dass diese nicht die Frage regelt, ob die Mitgliedstaaten das Erscheinen der Verdächtigen oder beschuldigten Personen in der sie betreffenden Verhandlung verlangen können, hat der Gerichtshof entschieden, dass die Frage der zwingenden Anwesenheit allein Sache des nationalen Rechts ist(39).

61.      Diese Argumentation lässt sich auf die Frage übertragen, ob die Mitgliedstaaten vorsehen können, dass das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung auf Antrag der beschuldigten Person per Videokonferenz ausgeübt werden kann. Die Bestimmung sagt nichts über eine derartige Möglichkeit aus und regelt erst recht nicht die Durchführung einer Strafverhandlung per Videokonferenz. In Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 wird die tragende Bedeutung des Erscheinens der beschuldigten Person für die Zwecke der Gewährleistung eines fairen Verfahrens anerkannt. Die grundlegende Garantie des Rechts auf Anwesenheit umfasst als Mindeststandard das Recht, physisch im Gerichtssaal anwesend zu sein. Angesichts der Bedeutung der grundlegenden Garantie der physischen Anwesenheit Verdächtiger und beschuldigter Personen kann dieses Recht nicht gegen den Willen der beschuldigten Person durch eine virtuelle Anwesenheit ersetzt werden(40). Ferner muss jede Einschränkung des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung einem legitimen Zweck dienen und mit Art. 52 der Charta vereinbar sein.

62.      Allerdings schafft Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 – wie bereits ausgeführt – einen Rahmen für das Recht Verdächtiger und beschuldigter Personen auf Anwesenheit in der sie betreffenden Verhandlung. Da er nicht vorschreibt, wie dieses Recht auszuüben ist, belässt er den Mitgliedstaaten einen gewissen Spielraum bei der Wahl der Mittel, mit denen die Gewährleistung dieses Rechts in ihren Rechtssystemen sichergestellt werden soll, und ermöglicht es ihnen, zusätzliche Mittel vorzusehen, um die Anwesenheit bei der Verhandlung sicherzustellen. Aus dem 48. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 ergibt sich, dass die Mitgliedstaaten die in der Richtlinie festgelegten Rechte ausweiten können, um ein höheres Schutzniveau zu gewährleisten(41). Dieser Erwägungsgrund hält auch fest, dass das durch die Mitgliedstaaten gewährte Schutzniveau nie unter den Standards der Charta oder der EMRK, wie sie vom Gerichtshof und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ausgelegt werden, liegen sollte.

63.      Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 hindert die Mitgliedstaaten mithin nicht daran, zuzulassen, dass das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung auf ausdrücklichen Wunsch der beschuldigten Person per Videokonferenz oder mit Hilfe anderer Fernkommunikationstechniken ausgeübt wird.

64.      Jedoch gilt: Soweit die Mitgliedstaaten beschuldigten Personen gestatten, das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung aus der Ferne wahrzunehmen, dürfen die hierzu vorgesehenen Regelungen das von der Richtlinie 2016/343 verfolgte Ziel nicht unterlaufen(42). Deren neunter Erwägungsgrund hält insoweit fest, dass mit der Richtlinie das Recht auf ein faires Verfahren in Strafverfahren gestärkt werden soll, indem gemeinsame Mindestvorschriften für das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung festgelegt werden. Die Mitgliedstaaten müssen daher sicherstellen, dass das in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 verankerte Recht von Verdächtigen oder beschuldigten Personen auf Anwesenheit in der Verhandlung dergestalt gewährleistet ist, dass es in einer Art und Weise ausgeübt werden kann, die den Erfordernissen eines fairen Verfahrens gemäß Art. 47 Abs. 2 und 3 sowie Art. 48 der Charta entspricht. Insbesondere muss diese Person in der Lage sein, tatsächlich an der Verhandlung teilzunehmen und die Verteidigungsrechte wirksam auszuüben.

65.      Die lettische Regierung hat ausdrücklich und exemplarisch auf ihre nationalen Rechtsvorschriften verwiesen, die es beschuldigten Personen ermöglichen, vorbehaltlich ihrer uneingeschränkten und in Kenntnis der Sachlage erteilten Zustimmung per Videokonferenz an der Verhandlung teilzunehmen, und zwar in einer Weise, die das Recht auf ein faires Verfahren gewährleistet.

66.      In Fällen, in denen der einschlägige nationale Rechtsrahmen den Anforderungen an ein faires Verfahren genügt und in denen der Verdächtige oder die beschuldigte Person den Einsatz dieser Teilnahmemodalität beantragt und tatsächlich an der Verhandlung teilnimmt, kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese Person auf ihr durch Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 gewährleistetes Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung verzichtet hat.

67.      In Anbetracht der begrenzten Reichweite der mit der Richtlinie 2016/343 vorgenommenen Harmonisierung und des beschränkten Umfangs der im Ausgangsverfahren gestellten Frage erschiene der Versuch unangemessen, umfassende Überlegungen zu den Anforderungen an ein faires Verfahren aus der Ferne anzustellen. Ich werde mich auf folgende Bemerkung beschränken. Der Einsatz von Videokonferenztechnologie in Strafverfahren sowie die Digitalisierung von Gerichtsverfahren im weiteren Sinne sind keine eigenständigen Ziele, sondern Mittel zur Stärkung der Fairness von Strafverfahren(43) als Teil eines „menschenzentrierten“ Ansatzes der Justiz(44). In diesem Zusammenhang gestattet es Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 den Mitgliedstaaten, verdächtigen oder beschuldigten Personen die Möglichkeit zu eröffnen, aus der Ferne an Verhandlungen teilzunehmen, sofern sie hierbei die Wahrung des Rechts auf ein faires Verfahren sicherstellen.

F.      Anwendung auf den vorliegenden Fall

68.      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das vorlegende Gericht an der Möglichkeit zweifelt, der beschuldigten Person das Recht auf Teilnahme am Verfahren per Videokonferenz zuzuerkennen, ungeachtet des Fehlens einer speziellen Rechtsvorschrift im bulgarischen Recht, die eine solche Teilnahmemodalität für Personen vorsieht, die einer schweren Straftat angeklagt sind(45). Tatsächlich war die Rechtsvorschrift, die eine solche Art der Teilnahme während des durch die Covid‑19-Pandemie bedingten Ausnahmezustands gestattete, zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Ausgangsverfahren außer Kraft getreten.

69.      Die Zweifel des vorlegenden Gerichts konzentrieren sich daher auf die Vereinbarkeit der Entscheidung dieses Gerichts, die Teilnahme am Verfahren per Videokonferenz zu gestatten, mit Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 ungeachtet des Fehlens einer spezifischen Rechtsgrundlage.

70.      Die Antwort auf diese Zweifel ergibt sich aus der Analyse des vorstehenden Abschnitts. Soweit Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 den Einsatz von Videokonferenztechnologie in Strafverfahren nicht regelt, steht er nationalen Rechtsvorschriften wie etwa dem bulgarischen Recht nicht entgegen, die für als schwer eingestufte Straftaten eine Anwesenheitspflicht und Online-Teilnahmen im Allgemeinen nicht vorsehen. Beim gegenwärtigen Stand der Entwicklung des Unionsrechts ist es Sache der Mitgliedstaaten, zu entscheiden, ob und in welchen Fällen sie die Möglichkeit der Teilnahme an Strafverfahren aus der Ferne vorsehen(46).

71.      Art 8. Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 begründet ferner erst recht keine Wahlmöglichkeit beschuldigter oder verdächtiger Personen zwischen physischer Anwesenheit oder Anwesenheit per Videokonferenz.

72.      Zudem geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen nicht hervor, dass FP aufgrund des Fehlens technischer Mittel zur Ermöglichung einer Teilnahme aus der Ferne einer realen Möglichkeit beraubt wurde, sein Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung auszuüben(47).

73.      In Ermangelung einer Harmonisierung auf Unionsebene kann, wie im Wesentlichen von der Kommission hervorgehoben, nicht davon ausgegangen werden, dass Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens Anwendung findet, in dem ein Strafgericht den Einsatz von Videokonferenztechnologie gestattet, obwohl es an einer nationalen Regelung fehlt, die eine solche Art der Teilnahme erlaubt. Der Umstand, dass das vorlegende Gericht alle erforderlichen Maßnahmen ergreift, um sicherzustellen, dass die Videokonferenztechnologie im Einklang mit dem Recht auf ein faires Verfahren eingesetzt wird, ändert nichts an der vorstehenden Schlussfolgerung, da es weder eine Harmonisierung auf Unionsebene noch eine spezifische Rechtsgrundlage gibt. Die Rechtmäßigkeit einer einschlägigen Entscheidung des vorlegenden Gerichts ist daher anhand des nationalen Rechts zu prüfen.

74.      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen ist, dass er nicht den Einsatz von Videokonferenztechnologie in Strafverfahren regelt, über den die Mitgliedstaaten zu entscheiden haben. Insbesondere regelt diese Bestimmung nicht den Fall, dass ein Strafgericht einer nach nationalem Recht zur Anwesenheit in der Verhandlung verpflichteten beschuldigten Person die Möglichkeit einräumt, per Videokonferenz an dem Verfahren teilzunehmen, obwohl es im nationalen Recht keine ausdrückliche Bestimmung gibt, die eine solche Art der Teilnahme gestattet.

V.      Ergebnis

75.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren ist dahin auszulegen, dass er nicht den Einsatz von Videokonferenztechnologie in Strafverfahren regelt, über den die Mitgliedstaaten zu entscheiden haben. Insbesondere regelt diese Bestimmung nicht den Fall, dass ein Strafgericht einer nach nationalem Recht zur Anwesenheit in der Verhandlung verpflichteten beschuldigten Person die Möglichkeit einräumt, per Videokonferenz an dem Verfahren teilzunehmen, obwohl es im nationalen Recht keine ausdrückliche Bestimmung gibt, die eine solche Art der Teilnahme gestattet.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Vgl. OSZE‑Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte, The Functioning of Courts in the Covid-19 Pandemic: A Primer, 2. November 2020 (abrufbar unter https://www.osce.org/odihr/469170); Sanders, A., „Video-hearings in Europe before, during and after the Covid-19 Pandemic“, International Journal for Court Administration, Band 12, 2021, S. 1 bis 21.


3      Vgl. Poulin, A. B., „Criminal Justice and Videoconferencing Technology: The Remote Defendant“, Tulane Law Review, Band 78, 2004, S. 1089.


4      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1).


5      Urteil vom 30. Januar 2024, Direktor na Glavna direktsia „Natsionalna politsia“ pri MVR – Sofia (C‑118/22, EU:C:2024:97, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).


6      Aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt sich, dass der NPK die Möglichkeit einer Online-Teilnahme bei Aussagen der beschuldigten Person, bei Anordnung einer Untersuchungshaft im vorgerichtlichen Verfahren, bei der gerichtlichen Kontrolle dieser Untersuchungshaft oder bei Verfahren betreffend die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vorsieht.


7      Urteil vom 8. Dezember 2022, HYA u. a. (Unmöglichkeit, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen) (C‑348/21, EU:C:2022:965, Rn. 39).


8      Ebd. (Rn. 40).


9      Ebd. (Rn. 41) mit entsprechendem Verweis auf EGMR, 18. Oktober 2006, Hermi/Italien, CE:ECHR:2006:1018JUD001811402, § 58.


10      EGMR, 2. November 2010, Sakhnovskiy/Russland, CE:ECHR:2010:1102JUD002127203, § 95.


11      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2022, HYA u. a. (Unmöglichkeit, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen) (C‑348/21, EU:C:2022:965, Rn. 42); EGMR, 5. Oktober 2006, Marcello Viola/Italien, CE:ECHR:2006:1005JUD004510604, §§ 52 und 53; EGMR, 15. Dezember 2011, Al-Khawaja und Tahery/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2011:1215JUD002676605, § 142.


12      EGMR, 5. Oktober 2006, Marcello Viola/Italien, CE:ECHR:2006:1005JUD004510604, § 53.


13      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2022, HYA u. a. (Unmöglichkeit, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen) (C‑348/21, EU:C:2022:965, Rn. 44).


14      Vgl. „Key Theme – Article 6 (criminal limb), Hearings via video link“, Registry of the European Court of Human Rights (abrufbar unter https://ks.echr.coe.int/web/echr-ks/article-6-criminal).


15      EGMR, 5. Oktober 2006,  CE:ECHR:2006:1005JUD004510604, § 65.


16      Ebd., §§ 49 bis 62. Siehe oben, Nrn. 31 bis 33 der vorliegenden Schlussanträge.


17      Ebd., § 66, mit Erwähnung insbesondere des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen und des Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 29. Mai 2000.


18      Vgl. in diesem Sinne EGMR, 5. Oktober 2006, Marcello Viola/Italien, CE:ECHR:2006:1005JUD004510604, § 67, und EGMR, 27. November 2007, Asciutto/Italien, CE:ECHR:2007:1127JUD003579502, § 64.


19      EGMR, 5. Oktober 2006, Marcello Viola/Italien, CE:ECHR:2006:1005JUD004510604, § 72.


20      Diese Fälle betreffen hauptsächlich Russland. Vgl. Kamber, K., „The Right to a Fair Online Hearing“, Human Rights Law Review, Band 22, 2022, S. 1 bis 21, insbesondere S. 19.


21      EGMR, 2. November 2010, CE:ECHR:2010:1102JUD002127203.


22      Ebd., § 98.


23      Darüber hinaus hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte meines Wissens noch nicht ausdrücklich zu einer Beschwerde verhalten, die den allgemeinen Einsatz von Videokonferenztechnologie während der Pandemie als Mittel zur Gewährleistung der Kontinuität der Justiz während der Anordnung eines Notstands zum Gegenstand hat. Eine anhängige Beschwerde, Stephan Kucera/Österreich, Beschwerde Nr. 13810/22, betrifft eine auf Verfahrensregeln zur Verhinderung der Verbreitung von Covid‑19 beruhende österreichische Entscheidung zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung in einer Verwaltungsstrafsache per Videokonferenz.


24      EGMR, 8. Juni 2021, CE:ECHR:2021:0608JUD006159116.


25      Unter den besonderen Umständen des Falls und „in Anbetracht der Tatsache, dass die in Rede stehende Verhandlung Teil eines umfangreichen und komplexen Strafverfahrens mit sieben Verdächtigen war, die sich zu diesem Zeitpunkt alle in unterschiedlichen Ländern aufhielten“, sowie der „wiederholten und eindeutigen Weigerung“ des Beschwerdeführers, an einer Verhandlung per Videokonferenz mitzuwirken, vertrat der EGMR die Auffassung, dass das niederländische Berufungsgericht „berechtigt [war], den im Rahmen seines Schlussplädoyers gestellten Antrag des Rechtsbeistands des Beschwerdeführers, das Verfahren zur Ermöglichung seiner Teilnahme per Videokonferenz erneut zu verlängern, unbeachtet zu lassen“ (vgl. §§ 56, 60 und 61 des Urteils Dijkhuizen/Niederlande).


26      CEPEJ, Guidelines on videoconferencing in judicial proceedings, document adopted by the CEPEJ at its 36th plenary meeting, Juni 2021 (abrufbar unter https://edoc.coe.int/en/efficiency-of-justice/10706-guidelines-on-videoconferencing-in-judicial-proceedings.html).


27      Vgl. Art. 24 der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (ABl. 2014, L 130, S. 1), und Art. 10 des Übereinkommens – gemäß Artikel 34 des Vertrags über die Europäische Union vom Rat erstellt – über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. 2000, C 197, S. 3).


28      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2023 über die Digitalisierung der justiziellen Zusammenarbeit und des Zugangs zur Justiz in grenzüberschreitenden Zivil‑, Handels- und Strafsachen und zur Änderung bestimmter Rechtsakte im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit (ABl. L 2023/2844 vom 27. Dezember 2023).


29      55. Erwägungsgrund der Verordnung 2023/2844.


30      43. Erwägungsgrund der Verordnung 2023/2844.


31      Vgl. 44. Erwägungsgrund und Art. 6 der Verordnung 2023/2844. Gemäß Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 3 dieser Verordnung wird die Einwilligung freiwillig und unmissverständlich erteilt. Eine Ausnahme vom Erfordernis der Einwilligung besteht, wenn eine persönliche Anwesenheit in einer Anhörung „[u]nbeschadet des Grundsatzes eines fairen Verfahrens und des Rechts auf einen Rechtsbehelf gemäß dem nationalen Verfahrensrecht … eine tatsächliche gegenwärtig bestehende oder absehbare schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit darstellt“.


32      Siehe Erwägungsgründe 21 und 22 der Verordnung 2023/2844.


33      Nr. 30 der vorliegenden Schlussanträge.


34      Urteil vom 15. September 2022, HN (Verfahren eines aus dem Hoheitsgebiet abgeschobenen Angeklagten) (C‑420/20, EU:C:2022:679, Rn. 32).


35      Ebd. (Rn. 40).


36      Ebd. (Rn. 41).


37      Urteil vom 19. September 2018, Milev (C‑310/18 PPU, EU:C:2018:732, Rn. 46).


38      Urteil vom 13. Februar 2020, Spetsializirana prokuratura (Verhandlung in Abwesenheit der beschuldigten Person) (C‑688/18, EU:C:2020:94, Rn. 30).


39      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Februar 2020, Spetsializirana prokuratura (Verhandlung in Abwesenheit der beschuldigten Person) (C‑688/18, EU:C:2020:94, Rn. 42).


40      Siehe Nr. 48 oben der vorliegenden Schlussanträge. Vgl. auch European Criminal Bar Association, Statement of Principles on the use of Video-conferencing in Criminal Cases in a Post-Covid-19 World, 6. September 2020 (abrufbar unter https://www.ecba.org/extdocserv/20200906_ECBAStatement_videolink.pdf). Zur Bedeutung der Einwilligung ist anzumerken, dass der Conseil Constitutionnel (Verfassungsgerichtshof, Frankreich) in seiner bedeutenden Entscheidung Nr. 2020-872 QPC vom 15. Januar 2021, M. Krzystof B. (abrufbar unter https://www.conseil-constitutionnel.fr/decision/2021/2020872QPC.htm) eine im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie von der Regierung erlassenen Verordnung für verfassungswidrig erklärt hat, die den Rückgriff auf Videokonferenzen ohne Einwilligung der Beteiligten vor allen Strafgerichten, mit Ausnahme der Schwurgerichte, zuließ. Der Conseil Constitutionnel (Verfassungsgerichtshof) wies darauf hin, dass der Einsatz von Videokonferenztechnologie in einer Vielzahl von Fällen lediglich eine dem Gericht offenstehende, an keine rechtlichen Voraussetzungen geknüpfte Möglichkeit sei. Vgl. insoweit beispielhaft, Danet, A., „Visioconférence dans le procès pénal: « jeu du chat et de la souris »? “ Gazette du Palais, Nr. 11, 2021, S. 21 bis 24.


41      Diese Vorschrift spiegelt im Wesentlichen die Regelung in Art. 82 Abs. 2 AEUV, wonach der Erlass von Mindestvorschriften im Hinblick auf Rechte des Einzelnen im Strafverfahren die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, ein höheres Schutzniveau für den Einzelnen beizubehalten oder einzuführen.


42      Vgl. entsprechend Urteil vom 1. August 2022, TL (Keine Dolmetschleistungen und Übersetzungen) (C‑242/22 PPU, EU:C:2022:611, Rn. 77).


43      Siehe oben, Nr. 47.


44      Vgl. Nr. 5 der Schlussfolgerungen des Rates „Zugang zur Justiz – die Chancen der Digitalisierung nutzen“ (ABl. 2020, C 342 I, S. 1), in der bekräftigt wird, dass „die digitale Entwicklung der Justiz auf den Menschen ausgerichtet sein sollte und sich ständig an den Grundsätzen der Justizsysteme – nämlich der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit der Gerichte, der Garantie eines wirksamen Rechtsschutzes und dem Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren innerhalb einer angemessenen Frist – orientieren und mit ihnen in Einklang stehen muss“. Andernorts habe ich in meiner akademischen Funktion den Standpunkt vertreten, dass die Digitalisierung kein eigenständiges Ziel ist, sondern Teil eines „menschenzentrierten“ Ansatzes für die Justiz bildet, der darauf abzielt, das Grundrecht auf wirksamen Rechtsschutz zu fördern. Beispielhaft ist in dieser Hinsicht etwa die Situation einer beschuldigten Person, die aufgrund ihres Gesundheitszustands oder ihres Alters im Gerichtssaal nicht physisch anwesend sein kann: Medina, L., „People-centred Justice and the European Court of Justice“, Lex & Forum, Band 1, 2023, S. 5 bis 10, insbesondere S. 7. Vgl. auch Peristeridou, C. und de Vocht, D., „I’m Not a Cat! Remote Criminal Justice and a Human-Centred Approach to the Legitimacy of the Trial“, Maastricht journal of European and comparative law, Band 30, 2023, S. 97 bis 106.


45      Siehe Nr. 25 der vorliegenden Schlussanträge.


46      In diesem Zusammenhang gibt es eine Reihe von Ansätzen, die die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und ‑traditionen der Mitgliedstaaten widerspiegeln. Vgl. beispielhaft OSZE‑Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte, The Functioning of Courts in the Covid-19 Pandemic: A Primer, a. a. O., Fn. 2; Carrera, S., Mitsilegas, V. und Stefan, M., Criminal Justice, Fundamental Rights and the Rule of Law in the Digital Age, Report of CEPS and QMUL Task Force, CEPS, Queen Mary University of London, Brüssel, Mai 2021, S. 36 bis 45. In der akademischen Literatur wird auch die Gefahr einer „Entmenschlichung“ der Justiz oder das Risiko einer „Entzeremonialisierung des Gerichtsverfahrens“ diskutiert: Kamber, K., „The Right to a Fair Online Hearing“, Human Rights Law Review, Band 22, 2022, S. 1 bis 21; Leborne, J., „La vidéojustice: la justice pénale à l’ère de la vidéo“, Cahiers Droit, Sciences & Technologies, S. 93 bis 109; Funck, J. F., „La vidéoconférence en matière pénale: approche critique, pratique et prospective“, Journal des Tribunaux, 2021, S. 257 bis 264, insbesondere S. 264, der über die Zukunft der Strafjustiz nach der Pandemie reflektiert und feststellt: „dans un monde d’après, qu’il nous appartient de rendre meilleur, veillons à l’humanité de la justice“ („In einer Welt danach [(nach der Pandemie)], die wir zu einem besseren Ort machen müssen, haben wir die Menschlichkeit der Justiz sicherzustellen“).


47      FP machte beispielsweise nicht geltend, dass er im Vereinigten Königreich festgehalten würde, ohne sich nach Bulgarien begeben zu dürfen, oder dass sein Gesundheitszustand oder sein Alter ihn an der Reise nach Bulgarien hinderten.