SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PRIIT PIKAMÄE

vom 23. März 2023 ( 1 )

Rechtssache C‑209/22

Strafverfahren,

Beteiligte:

Rayonna prokuratura Lovech, TO Lukovit

(Vorabentscheidungsersuchen des Rayonen sad Lukovit [Rayongericht Lukovit, Bulgarien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren – Richtlinie 2012/13/EU – Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren – Richtlinie 2013/48/EU – Ermittlungsverfahren in Strafsachen – Zwangsmaßnahme der Leibesvisitation und der Beschlagnahme – Nationale Regelung, in der die Rechtsfigur des Verdächtigen nicht vorgesehen ist – Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der gerichtlichen Überprüfung von Maßnahmen zur Beweiserhebung“

I. Einleitung

1.

Dieses vom Rayonen sad Lukovit (Rayongericht Lukovit, Bulgarien) gemäß Art. 267 AEUV vorgelegte Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren ( 2 ), der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs ( 3 ), der Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie der Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Effektivität.

2.

Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens, das gegen AB wegen Besitzes illegaler Substanzen eingeleitet worden ist. Das vorlegende Gericht möchte im Wesentlichen wissen, wie eine Person angesichts des in den Richtlinien 2012/13 und 2013/48 vorgesehenen Rechts auf Belehrung und Unterrichtung sowie auf Zugang zu einem Rechtsbeistand geschützt werden sollte, wenn sie im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens einer Leibesvisitation unterzogen wird und in ihrem Besitz befindliche Gegenstände beschlagnahmt werden. Das vorlegende Gericht fragt auch nach der Reichweite der unionsrechtlich vorgeschriebenen gerichtlichen Überprüfung von Zwangsmaßnahmen zur Beweiserhebung. Die vorliegende Rechtssache wirft somit brisante Fragen nach der Wahrung der Rechte von Verdächtigen und beschuldigten Personen in Strafverfahren auf, zu denen sich der Gerichtshof im Interesse einer kohärenten Anwendung des Unionsrechts sowie eines wirksamen Grundrechtsschutzes im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wird äußern müssen.

II. Rechtlicher Rahmen

A.   Unionsrecht

1. Richtlinie 2012/13

3.

Art. 2 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 bestimmt:

„Diese Richtlinie gilt ab dem Zeitpunkt, zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.“

4.

Art. 3 („Recht auf Rechtsbelehrung“) der Richtlinie lautet:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mindestens über folgende Verfahrensrechte in ihrer Ausgestaltung nach dem innerstaatlichen Recht belehrt werden, um die wirksame Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen:

a)

das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts;

b)

den etwaigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung und die Voraussetzungen für diese Rechtsberatung;

c)

das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf gemäß Artikel 6;

d)

das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen;

e)

das Recht auf Aussageverweigerung.

(2)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die in Absatz 1 vorgesehene Rechtsbelehrung entweder mündlich oder schriftlich in einfacher und verständlicher Sprache erfolgt, wobei etwaige besondere Bedürfnisse schutzbedürftiger Verdächtiger oder schutzbedürftiger beschuldigter Personen berücksichtigt werden.“

5.

Art. 8 („Überprüfung und Rechtsbehelfe“) dieser Richtlinie lautet:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass jegliche Belehrung oder Unterrichtung der Verdächtigen oder beschuldigten Personen, die gemäß den Artikeln 3 bis 6 erfolgt, gemäß dem Verfahren für Aufzeichnungen nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats schriftlich festgehalten wird.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihre Rechtsanwälte das Recht haben, ein etwaiges Versäumnis oder die etwaige Verweigerung einer Belehrung oder Unterrichtung gemäß dieser Richtlinie durch die zuständigen Behörden nach den Verfahren des innerstaatlichen Rechts anzufechten.“

2. Richtlinie 2013/48

6.

Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 sieht vor:

„Diese Richtlinie gilt für Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise davon in Kenntnis gesetzt wurden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig sind oder beschuldigt werden, und unabhängig davon, ob ihnen die Freiheit entzogen wurde. Die Richtlinie gilt bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.“

7.

In Art. 3 dieser Richtlinie heißt es:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand so rechtzeitig und in einer solchen Art und Weise zukommt, dass die betroffenen Personen ihre Verteidigungsrechte praktisch und wirksam wahrnehmen können.

(2)   Verdächtige oder beschuldigte Personen können unverzüglich Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten. In jedem Fall können Verdächtige oder beschuldigte Personen ab dem zuerst eintretenden der folgenden Zeitpunkte Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten:

a)

vor ihrer Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden;

b)

ab der Durchführung von Ermittlungs- oder anderen Beweiserhebungshandlungen durch Ermittlungs- oder andere zuständige Behörden gemäß Absatz 3 Buchstabe c;

c)

unverzüglich nach dem Entzug der Freiheit;

d)

wenn der Verdächtige oder die beschuldigte Person vor ein in Strafsachen zuständiges Gericht geladen wurde, rechtzeitig bevor der Verdächtige oder die beschuldigte Person vor diesem Gericht erscheint.

(3)   Das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand umfasst Folgendes:

a)

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen das Recht haben, mit dem Rechtsbeistand, der sie vertritt, unter vier Augen zusammenzutreffen und mit ihm zu kommunizieren, auch vor der Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden;

b)

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen ein Recht darauf haben, dass ihr Rechtsbeistand bei der Befragung zugegen ist und wirksam daran teilnimmt. Diese Teilnahme erfolgt gemäß den Verfahren des nationalen Rechts, sofern diese Verfahren die wirksame Ausübung und den Wesensgehalt des betreffenden Rechts nicht beeinträchtigen. …

c)

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen mindestens das Recht haben, dass ihr Rechtsbeistand den folgenden Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen beiwohnt, falls diese in den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften vorgesehen sind und falls die Anwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Personen bei den betreffenden Handlungen vorgeschrieben oder zulässig ist:

i)

Identifizierungsgegenüberstellungen;

ii)

Vernehmungsgegenüberstellungen;

iii)

Tatortrekonstruktionen.

(6)   Unter außergewöhnlichen Umständen und nur im vorgerichtlichen Stadium können die Mitgliedstaaten vorübergehend von der Anwendung der nach Absatz 3 gewährten Rechte abweichen, wenn dies angesichts der besonderen Umstände des Falles durch einen der nachstehenden zwingenden Gründe gerechtfertigt ist:

b)

wenn ein sofortiges Handeln der Ermittlungsbehörden zwingend geboten ist, um eine erhebliche Gefährdung eines Strafverfahrens abzuwenden.“

8.

Art. 12 („Rechtsbehelfe“) der Richtlinie bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass Verdächtigen oder beschuldigten Personen in Strafverfahren sowie gesuchten Personen in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls bei Verletzung ihrer Rechte nach dieser Richtlinie ein wirksamer Rechtsbehelf nach nationalem Recht zusteht.

(2)   Unbeschadet der nationalen Vorschriften und Regelungen über die Zulässigkeit von Beweismitteln sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass in Strafverfahren bei der Beurteilung von Aussagen von Verdächtigen oder beschuldigten Personen oder von Beweisen, die unter Missachtung ihres Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand erhoben wurden, oder in Fällen, in denen gemäß Artikel 3 Absatz 6 eine Abweichung von diesem Recht genehmigt wurde, die Verteidigungsrechte und die Einhaltung eines fairen Verfahrens beachtet werden.“

B.   Bulgarisches Recht

9.

Nach Art. 54 des Nakazatelno protsesualen kodeks (Strafprozessordnung), in Kraft seit dem 29. April 2006 (DV Nr. 86 vom 28. Oktober 2005, im Folgenden: NPK), gilt als Beschuldigter, wer in dieser Eigenschaft unter den in diesem Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen und nach dem dort vorgesehenen Verfahren herangezogen wurde.

10.

Art. 55 („Rechte des Beschuldigten“) NPK sieht vor:

„(1)   Der Beschuldigte hat folgende Rechte: zu erfahren, wegen welcher Straftat er in dieser Eigenschaft herangezogen wurde und aufgrund welcher Beweise; zur Anklage auszusagen oder die Aussage zu verweigern; Einsicht in die Akten, auch in durch besondere Ermittlungsmethoden gewonnene Daten, zu erhalten und sich die erforderlichen Auszüge zu beschaffen; Beweise vorzulegen; sich am Strafverfahren zu beteiligen; Anträge zu stellen, Stellungnahmen abzugeben und Einwände zu erheben; sich als Letzter zu äußern; Handlungen anzufechten, die seine Rechte und legitimen Interessen beeinträchtigen; und einen Verteidiger zu erhalten. Der Beschuldigte hat das Recht, dass sein Verteidiger an Ermittlungs- und anderen Verfahrenshandlungen teilnimmt, die seiner Mitwirkung bedürfen, es sei denn, er verzichtet ausdrücklich darauf. …

(2)   Der Beschuldigte hat das Recht, allgemeine Informationen zu erhalten, die seine Wahl eines Verteidigers erleichtern. Er hat das Recht, mit seinem Verteidiger frei zu kommunizieren, unter vier Augen mit ihm zusammenzutreffen, Rechtsbeistand und Prozesskostenhilfe zu bekommen, einschließlich vor Beginn und während der Vernehmung und aller anderen Verfahrenshandlungen, an denen der Beschuldigte mitwirkt.

…“

11.

Art. 164 („Durchsuchung“) NPK bestimmt:

„(1)   Die Durchsuchung einer Person im Ermittlungsverfahren ohne richterliche Anordnung des zuständigen erstinstanzlichen Gerichts oder des erstinstanzlichen Gerichts, in dessen Bezirk die Handlung durchgeführt wird, ist zulässig:

1.

bei Festnahme;

2.

wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die bei der Durchsuchung anwesenden Personen für den Fall relevante Gegenstände oder Unterlagen versteckt haben.

(2)   Die Durchsuchung wird von einer Person des gleichen Geschlechts im Beisein von Durchsuchungszeugen des gleichen Geschlechts vorgenommen.

(3)   Das Protokoll über die durchgeführte Ermittlungshandlung wird dem Richter unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von 24 Stunden, zur Genehmigung vorgelegt.“

12.

Art. 212 („Ermittlungsverfahren“) NPK lautet:

„(1)   Das Ermittlungsverfahren wird mit Verfügung der Staatsanwaltschaft eingeleitet.

(2)   Bei Durchführung einer Besichtigung, einschließlich Leibesvisitation, Durchsuchung, Beschlagnahme und Befragung von Zeugen, gilt das Ermittlungsverfahren mit der Abfassung des Protokolls über die erste Ermittlungshandlung als eingeleitet, wenn ihre unverzügliche Durchführung die einzige Möglichkeit ist, Beweise zu erheben und zu sichern, sowie wenn eine Durchsuchung nach Art. 164 vorgenommen wird.

(3)   Die Ermittlungsbehörde, die die Handlung nach Abs. 2 durchgeführt hat, unterrichtet die Staatsanwaltschaft unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von 24 Stunden.“

13.

Art. 219 („Förmliche Beschuldigung und Vorlage der Verfügung“) NPK sieht vor:

„(1)   Wenn hinreichende Beweise für die Schuld einer Person an der Begehung eines Offizialdelikts erhoben wurden und kein Grund für die Einstellung des Strafverfahrens vorliegt, berichtet die Ermittlungsbehörde der Staatsanwaltschaft und zieht die Person durch Abfassung der entsprechenden Verfügung als Beschuldigten heran.

(2)   Die Ermittlungsbehörde kann die Person auch mit der Abfassung des Protokolls über die erste Ermittlungshandlung gegen sie als Beschuldigten heranziehen, wovon sie der Staatsanwaltschaft berichtet.

(3)   In der Verfügung über die Heranziehung als Beschuldigter und im Protokoll über die Ermittlungshandlung nach Abs. 2 werden angegeben:

1.

Datum und Ort der Ausstellung;

2.

die ausstellende Behörde;

3.

der vollständige Name der Person, die als Beschuldigter herangezogen wird, die ihr zur Last gelegte Tat und deren rechtliche Einordnung;

4.

die Beweise, auf die sich die Heranziehung stützt, sofern dadurch die Ermittlungen nicht behindert werden;

5.

die freiheitsbeschränkende Maßnahme, falls eine solche angeordnet wird;

6.

die Rechte des Beschuldigten nach Art. 55, einschließlich des Rechts auf Aussageverweigerung sowie des Rechts auf Wahl- oder Pflichtverteidiger.

(8)   Die Ermittlungsbehörde darf keine Ermittlungshandlungen durchführen, an denen der Beschuldigte mitwirkt, bevor sie nicht ihren Pflichten nach Abs. 1 bis 7 nachgekommen ist.“

III. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

14.

Der beim Rayonen sad Lukovit (Rayongericht Lukovit) anhängige Ausgangsrechtsstreit betrifft den Antrag eines Staatsanwalts der Rayonna prokuratura Lovech (Rayonstaatsanwaltschaft Lovech, Bulgarien) auf nachträgliche Genehmigung einer gegenüber AB erfolgten Leibesvisitation und Beschlagnahme.

15.

Am 8. Februar 2022 hielten drei Polizeiinspektoren der Stadt Lukovit (Bulgarien) ein Kraftfahrzeug zur Kontrolle an, das von IJ gesteuert wurde und in dem sich auch dessen Mitfahrer AB und KL befanden. Bevor der Fahrer des Fahrzeugs einem Drogentest unterzogen wurde, erklärten AB und KL gegenüber den Polizeiinspektoren, dass sie Betäubungsmittel mit sich führten. Diese Mitteilung wurde an den diensthabenden Ermittlungsbeamten des Rayonpolizeikommissariats Lukovit weitergegeben, der ein Protokoll über die mündliche Meldung einer Straftat aufnahm.

16.

Da der Drogentest des Fahrers positiv ausfiel, kontrollierte ein Polizeiinspektor das Fahrzeug. Außerdem wurde AB einer Leibesvisitation unterzogen, worüber ein Protokoll „über eine Durchsuchung und Beschlagnahme in dringenden Fällen zur nachträglichen richterlichen Genehmigung“ abgefasst wurde. In diesem Protokoll gab der ermittelnde Polizeibeamte an, die Durchsuchung sei wegen hinreichender Anhaltspunkte für den Besitz gesetzlich verbotener Gegenstände und im Rahmen des vom Rayonno upravlenye Lukovit (Rayonpolizeikommissariat Lukovit, Bulgarien) eingeleiteten Ermittlungsverfahrens erfolgt.

17.

Bei dieser Durchsuchung wurde ein Betäubungsmittel bei AB gefunden. Daraufhin unterrichtete der ermittelnde Polizeibeamte am 8. Februar 2022 den Staatsanwalt der Rayonna prokuratura Lovech (Rayonstaatsanwaltschaft Lukovit, Bulgarien) über die Ergebnisse der Durchsuchung und darüber, dass er ein Ermittlungsverfahren in dieser Sache eingeleitet habe. Im Rahmen des bereits eingeleiteten Ermittlungsverfahrens machte AB im Anschluss an die Durchsuchung auf der Polizeidienststelle eine schriftliche Aussage, in der er bestätigte, dass die bei ihm entdeckten Substanzen Betäubungsmittel zum Eigenverbrauch seien.

18.

Am 9. Februar 2022 reichte der Staatsanwalt beim Rayonen sad Lukovit (Rayongericht Lukovit) einen Antrag auf Genehmigung des Protokolls über die bei AB vorgenommene Leibesvisitation und Beschlagnahme ein.

19.

Das vorlegende Gericht hat Zweifel daran, ob die im nationalen Recht geregelte gerichtliche Überprüfung von Zwangsmaßnahmen zur Beweiserhebung im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren eine hinreichende Garantie für die Wahrung der Rechte von Verdächtigen und beschuldigten Personen bietet, wie sie in den Richtlinien 2012/13 und 2013/48 vorgesehen ist.

20.

Insbesondere weist dieses Gericht darauf hin, dass es keine klare nationale Rechtsvorschrift über den Umfang der gerichtlichen Überprüfung von Zwangsmaßnahmen zur Beweiserhebung im Ermittlungsverfahren gebe und dass nach der nationalen Rechtsprechung die Überprüfung der Durchsuchung, der Leibesvisitation und der Beschlagnahme auf deren formelle Rechtmäßigkeit beschränkt sei. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) habe die Republik Bulgarien mehrfach wegen Verstoßes gegen die Art. 3 und 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verurteilt.

21.

Das bulgarische Recht kenne nicht den Begriff des „Verdächtigen“, wohl aber den Begriff des „Beschuldigten“ kraft Verfügung des Staatsanwalts oder der Ermittlungsbehörde, wobei es gängige Praxis der Polizei und der Staatsanwaltschaft sei, im Stadium des Ermittlungsverfahrens den Zeitpunkt hinauszuzögern, ab dem eine Person als „Beschuldigter“ angesehen wird, und dadurch faktisch die Pflichten zur Wahrung der Rechte von Verdächtigen zu umgehen.

22.

In der nationalen Lehre und Praxis werde angenommen, dass das zuständige Gericht, selbst wenn nach seiner Überzeugung die Verteidigungsrechte des Betroffenen nicht gewahrt worden seien, dessen Heranziehung als Beschuldigter nicht überprüfen dürfe, da es andernfalls die verfassungsrechtliche Befugnis der Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung verletzen würde. In einem solchen Fall müsse das Gericht, das die Zwangsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren überprüfe, die Ermittlungshandlung hinnehmen, solange sie unter Dringlichkeitsbedingungen vorgenommen worden sei, selbst wenn dabei die Verteidigungsrechte beeinträchtigt würden.

23.

Auch wenn dem nationalen Recht die Rechtsfigur des „Verdächtigen“ nicht bekannt sei, könnte Art. 219 Abs. 2 NPK grundsätzlich die Verteidigungsrechte solcher Personen gewährleisten, deren Schuld zwar nicht hinreichend erwiesen sei, die aber wegen der erforderlichen Durchführung von Ermittlungshandlungen den verfahrensrechtlichen Status von „Beschuldigten“ und dadurch Zugang zu den Rechten aus Art. 55 NPK erhielten, die den Anforderungen der Richtlinien 2012/13 und 2013/48 genügten. Diese Verfahrensbestimmung sei jedoch unklar und werde missverständlich sowie widersprüchlich oder gar überhaupt nicht angewandt.

24.

Für das vorlegende Gericht steht außer Frage, dass AB im vorliegenden Fall – ungeachtet der Lösungen im nationalen Recht – den Status einer „wegen einer Straftat angeklagten“ Person im Sinne der EMRK in der Auslegung durch die Rechtsprechung des EGMR habe. Nach dem derzeit geltenden nationalen Recht könne eine Person aber nur dann ihre Verteidigungsrechte wahrnehmen, wenn sie den Status eines Beschuldigten erlangt habe, was vom Willen der Behörde abhänge, die die Ermittlungen unter der Aufsicht des Staatsanwalts durchführe. Das Versäumnis, in einem frühen Stadium des Strafverfahrens über die Rechte zu belehren und Zugang zu einem Rechtsbeistand zu gewähren, sei ein nicht heilbarer Verfahrensfehler, der die Ordnungsmäßigkeit und Fairness des gesamten späteren Strafverfahrens gefährden könne.

25.

Unter diesen Umständen hat der Rayonen sad Lukovit (Rayongericht Lukovit) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Fallen Sachverhalte, in denen bei der Untersuchung einer Straftat im Zusammenhang mit dem Besitz von Betäubungsmitteln gegen eine natürliche Person, von der die Polizei annimmt, dass sie im Besitz von Betäubungsmitteln ist, Zwangsmaßnahmen in Gestalt der Leibesvisitation und der Beschlagnahme durchgeführt wurden, in den Anwendungsbereich der Richtlinien 2012/13 und 2013/48?

2.

Falls die erste Frage bejaht wird, welchen Status hat eine solche Person im Sinne dieser Richtlinien, wenn das nationale Recht die Rechtsfigur des „Verdächtigen“ nicht kennt und die Person nicht durch amtliche Mitteilung als „Beschuldigter“ herangezogen wurde? Ist einer solche Person das Recht auf Belehrung und Unterrichtung sowie auf Zugang zu einem Rechtsbeistand zu gewähren?

3.

Lassen der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit und das Willkürverbot eine nationale Regelung wie Art. 219 Abs. 2 NPK zu, die vorsieht, dass die Ermittlungsbehörde eine Person als Beschuldigten auch mit der Abfassung des Protokolls über die erste gegen sie gerichtete Ermittlungshandlung heranziehen kann, wenn das nationale Recht die Rechtsfigur des „Verdächtigen“ nicht kennt und die Verteidigungsrechte nach dem nationalen Recht erst ab dem Zeitpunkt der förmlichen Heranziehung als „Beschuldigter“ entstehen, die wiederum im Ermessen der Ermittlungsbehörde liegt? Beeinträchtigt ein solches nationales Verfahren die wirksame Ausübung und den Wesensgehalt des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand nach Art. 3 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2013/48?

4.

Lässt der Grundsatz der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts eine nationale Praxis zu, nach der die gerichtliche Überprüfung von Zwangsmaßnahmen zur Beweiserhebung, einschließlich der Leibesvisitation und der Beschlagnahme im Ermittlungsverfahren, keine Prüfung zulässt, ob ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen die von den Art. 47 und 48 der Charta, den Richtlinien 2012/13 und 2013/48 garantierten Grundrechte von Verdächtigen und Beschuldigten begangen wurde?

5.

Lässt das Rechtsstaatsprinzip eine nationale Regelung und Rechtsprechung zu, wonach das Gericht nicht befugt ist, die Heranziehung einer Person als Beschuldigter zu überprüfen, obwohl ausschließlich von diesem formalen Akt abhängt, ob ihr Verteidigungsrechte zustehen, wenn gegen sie Zwangsmaßnahmen zu Ermittlungszwecken durchgeführt werden?

IV. Verfahren vor dem Gerichtshof

26.

Die Vorlageentscheidung vom 18. März 2022 ist am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen.

27.

Die niederländische und die ungarische Regierung sowie die Europäische Kommission haben innerhalb der Frist von Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union schriftliche Erklärungen eingereicht.

28.

In der Generalversammlung vom 17. Januar 2023 hat der Gerichtshof beschlossen, keine mündliche Verhandlung abzuhalten.

V. Rechtliche Würdigung

A.   Vorbemerkungen

29.

Nach Art. 67 AEUV bildet die Union „einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem die Grundrechte und die verschiedenen Rechtsordnungen und ‑traditionen der Mitgliedstaaten geachtet werden“. Da die gegenseitige Anerkennung der Urteile und anderen gerichtlichen Entscheidungen als Grundpfeiler der justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen innerhalb der Union gilt, setzt sie offenkundig gegenseitiges Vertrauen in die jeweiligen Justizsysteme voraus. Die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen kann in der Tat nur in einem Klima des Vertrauens vollständig zum Tragen kommen, in dem nicht nur die Justizbehörden, sondern alle an Strafverfahren beteiligten Akteure Entscheidungen der Justizbehörden anderer Mitgliedstaaten als denen ihrer eigenen Justizbehörden gleichwertig ansehen. Die Angleichung des Strafrechts, einschließlich der Bestimmungen zum Schutz der Verfahrensrechte und ‑garantien, ist deshalb eines der vorrangigen Instrumente, um die gegenseitige Anerkennung zu fördern und die Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden zu erleichtern ( 4 ).

30.

Die Richtlinien 2012/13 und 2013/48 sind Teil einer Reihe legislativer Maßnahmen zur Einführung gemeinsamer Mindestvorschriften für Verfahrensrechte. Die Richtlinie 2012/13 legt Normen fest, die bei der Belehrung von Personen anzuwenden sind, welche der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, während die Richtlinie 2013/48 Normen zum Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren festlegt. Diese Rechte sind als Ausprägung des Rechts auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren in Strafsachen in den Art. 47 und 48 der Charta sowie in Art. 6 EMRK verankert, was ihnen in der Rechtsordnung der Union Verfassungsrang verleiht.

31.

Die Republik Bulgarien ist wie alle anderen Mitgliedstaaten zur Umsetzung dieser Richtlinien in ihre innerstaatliche Rechtsordnung verpflichtet. Insoweit ist zu beachten, dass die Kommission zwar erwähnt hat, sie habe in dieser Sache gegen die Republik Bulgarien kürzlich ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, dass sich der Gerichtshof im vorliegenden Vorabentscheidungsverfahren jedoch im Rahmen seiner Zuständigkeit gemäß Art. 267 AEUV auf die Auslegung des einschlägigen Unionsrechts beschränken muss. Dies hindert das nationale Gericht gewiss nicht daran, die notwendigen Konsequenzen aus einer dem nationalen Recht eventuell entgegenstehenden Auslegung zu ziehen, um den Vorrang des Unionsrechts zu gewährleisten.

32.

Die ersten beiden Vorlagefragen betreffen die Anwendbarkeit der Richtlinien 2012/13 und 2013/48 auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens. Gegenstand der drei anderen Vorlagefragen ist dagegen im Kern die Unionsrechtskonformität der geltenden bulgarischen Regelung, die einige vom vorlegenden Gericht beschriebene Besonderheiten aufweist. Da die zweite und die fünfte Frage sich inhaltlich überschneiden, werde ich sie gemeinsam prüfen. Schließlich werde ich die vierte Frage vor der dritten behandeln, da sie eine Auslegung der Richtlinien 2012/13 und 2013/48 im Licht der Art. 47 und 48 der Charta erfordert.

B.   Zur ersten Vorlagefrage

1. Kriterien für die Anwendung der Richtlinien 2012/13 und 2013/48

33.

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Kern wissen, ob die Richtlinien 2012/13 und 2013/48 Anwendung finden, wenn in einem Ermittlungsverfahren gegen eine einer Straftat verdächtige Person eine Zwangsmaßnahme, insbesondere eine Durchsuchung und/oder eine Beschlagnahme, durchgeführt wurde. Damit diese Frage beantwortet werden kann, muss zunächst der Anwendungsbereich der beiden Richtlinien geklärt werden.

34.

Wie wir im Folgenden sehen werden, geht es in erster Linie darum, durch Auslegung der einschlägigen Bestimmungen zu ermitteln, in welchem Stadium des Strafverfahrens die durch diese Richtlinien verbürgten Verfahrensrechte der betroffenen Person zu gewähren sind. Die Art der gegen diese Person im Rahmen des Strafverfahrens ergriffenen Maßnahmen ist ebenfalls ein Anhaltspunkt, um die Anwendbarkeit der genannten Richtlinien zu klären.

35.

Was den Anwendungsbereich der Richtlinie 2012/13 betrifft, so bestimmt deren Art. 2 Abs. 1, dass die Richtlinie für Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren „ab dem Zeitpunkt [gilt], zu dem [diese] von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren“ ( 5 ).

36.

Wie aus dem 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/13 hervorgeht, soll das Recht auf Belehrung über die den Verdächtigen und beschuldigten Personen zustehenden Rechte ein faires Strafverfahren dadurch gewährleisten, dass die Verteidigungsrechte von Beginn des Verfahrens an wirksam ausgeübt werden können. Daher heißt es in diesem Erwägungsgrund weiter, dass „diese Belehrung umgehend im Laufe des Verfahrens und spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde erfolgen“ ( 6 ) sollte.

37.

Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 sieht ebenfalls vor, dass diese „ab dem Zeitpunkt [gilt], zu dem [die Verdächtigen oder die beschuldigten Personen] von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise davon in Kenntnis gesetzt wurden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig sind oder beschuldigt werden, und unabhängig davon, ob ihnen die Freiheit entzogen wurde“ ( 7 ). Außerdem heißt es in den Erwägungsgründen 12 und 19 der Richtlinie 2013/48, dass die Mitgliedstaaten, um ein faires Verfahren zu gewährleisten, sicherstellen sollten, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen „unverzüglich“ ( 8 ) Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten.

38.

Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, wird der jeweilige Anwendungsbereich der Richtlinien 2012/13 und 2013/48 in ihrem Art. 2 nahezu gleichlautend definiert ( 9 ). Allerdings enthält die jüngere der beiden Richtlinien, d. h. die Richtlinie 2013/48, die zusätzliche Klarstellung, dass die Unterrichtung „durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise“ erfolgen kann. Meines Erachtens lässt sich diese Präzisierung, die zur Effizienz der Richtlinien beiträgt, auch auf die Richtlinie 2012/13 übertragen.

39.

Aus den vorerwähnten Bestimmungen sowie den einschlägigen Erwägungsgründen ergibt sich somit, dass die Richtlinien 2012/13 und 2013/48 Anwendung finden, sobald zwei Voraussetzungen erfüllt sind: Die betroffene Person wird erstens tatsächlich der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt und wurde zweitens von den zuständigen Behörden durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise davon in Kenntnis gesetzt, dass sie verdächtigt oder beschuldigt wird. Ich werde diese beiden Kriterien genauer erläutern, bevor ich sie auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwende.

40.

Obwohl im Interesse einer effizienten Anwendung dieser Richtlinien auf alle denkbaren Sachverhalte keine übermäßig hohen Anforderungen an die Form dieser Mitteilung gestellt werden sollten, darf meines Erachtens kein Zweifel daran bestehen, dass die betroffene Person verdächtigt wird. Dieses Erfordernis ist nicht nur wichtig, um die betroffene Person vor Unklarheiten bezüglich ihrer Rechtsstellung zu bewahren, sondern auch deshalb, weil die zuständigen Behörden eine Reihe von Verpflichtungen einzuhalten haben, deren Verletzung Verfahrensfehler verursachen kann, wodurch die Entscheidungen dieser Behörden rechtswidrig werden können. Um ein solches Szenario zu vermeiden, sollten die zuständigen Behörden dafür sorgen, dass die betroffene Person weiß, dass sie verdächtigt wird.

41.

Die entsprechende Belehrung muss „umgehend“, jedenfalls aber „spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung“ des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durch die Polizei im Rahmen des Strafverfahrens erfolgen. Dem Umstand, dass die Richtlinien 2012/13 und 2013/48 auf einen Zeitraum und nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt„im Laufe des Verfahrens“abstellen, wie der 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/13 nahelegt, lässt sich entnehmen, dass die Behörden zwar einen gewissen Spielraum bei der Wahl des Zeitpunkts haben, zu dem sie die betroffene Person belehren, dass es hierbei aber zu keiner übermäßigen Verzögerung kommen darf, die diese Person an der Ausübung ihrer Verteidigungsrechte hindern würde. Die Rechtsbelehrung muss also, um wirksam zu sein, in einem frühen Verfahrensstadium erfolgen ( 10 ).

42.

Der Gerichtshof ist sich der Bedeutung einer solchen Belehrung unter besonders prekären Umständen, insbesondere wenn die Freiheit der betroffenen Person bedroht ist, bewusst und hat entschieden, dass „Personen, die im Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben, ab dem Zeitpunkt, zu dem der gegen sie gerichtete Verdacht es in einem anderen Kontext als dem der Dringlichkeit rechtfertigt, dass die zuständigen Behörden ihre Freiheit durch Zwangsmaßnahmen einschränken, so schnell wie möglich … über ihre Rechte belehrt werden müssen“ ( 11 ).

43.

Außerdem heißt es im 20. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/48 in Bezug auf den Zeitpunkt, zu dem die betroffene Person spätestens belehrt werden muss: „Im Sinne dieser Richtlinie umfasst die Befragung nicht die vorläufige Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungsbehörden zu dem Zweck, … festzustellen, ob Ermittlungen eingeleitet werden sollten, beispielsweise im Laufe einer Straßenkontrolle oder bei regelmäßigen Stichprobenkontrollen, wenn ein Verdächtiger oder eine beschuldigte Person noch nicht identifiziert worden ist“ ( 12 ).

2. Anwendung der ermittelten Kriterien auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens

44.

Wendet man diese beiden Kriterien auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens an, so kommt es für die Beantwortung der ersten Frage entscheidend darauf an, ob gegen AB bereits zum Zeitpunkt der Durchsuchung und Beschlagnahme tatsächlich ein Verdacht bestand und ob ihm dies bei der Durchführung der Zwangsmaßnahmen mitgeteilt wurde. Ausweislich der Sachverhaltsdarstellung in der Vorlageentscheidung hat sich AB vor der Durchsuchung und Beschlagnahme mit der Angabe, Betäubungsmittel zu besitzen, selbst belastet. Sein Geständnis wurde als mündliche Meldung einer Straftat zu Protokoll genommen. Auf dieser Grundlage wurde AB angewiesen, die in seinem Besitz befindlichen Betäubungsmittel herauszugeben.

45.

Daraus lässt sich schließen, dass AB verdächtigt wurde, eine strafbare Handlung begangen zu haben. Denn die Anwendung dieser speziellen Strafverfolgungsmaßnahmen deutet unmissverständlich darauf hin, dass AB als „Verdächtiger“ behandelt wurde. AB dürfte sich dessen bewusst gewesen sein, zumal sein Geständnis unmittelbar zur Folge hatte, dass er einer Leibesvisitation und einer Beschlagnahme unterzogen wurde. Die beiden in Nr. 39 der vorliegenden Schlussanträge genannten Voraussetzungen für die Anwendung der Richtlinien 2012/13 und 2013/48 waren meines Erachtens daher ab dem Zeitpunkt erfüllt, als AB gegenüber der Polizei erklärte, dass er Betäubungsmittel besitze.

3. Für die Anwendbarkeit der Richtlinien 2012/13 und 2013/48 irrelevante Aspekte

46.

Der Vollständigkeit halber sollte ich kurz erläutern, warum es aus meiner Sicht für die Anwendbarkeit der Richtlinien 2012/13 und 2013/48 im vorliegenden Fall unerheblich ist, dass AB von der Polizei nicht offiziell über die Einleitung eines Strafverfahrens gegen ihn und über seinen Status in diesem Verfahren „unterrichtet“ wurde.

47.

Erstens geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor ( 13 ), dass „eine Unterrichtung des Betroffenen durch die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats genügt, auf welche Weise auch immer sie erfolgt“, und dass „[n]icht von Belang ist …, auf welchem Wege eine solche Information [ihm] zugeht“. Diese zur Richtlinie 2013/48 ergangene Rechtsprechung, die sich auch auf die Richtlinie 2012/13 übertragen lässt, bestätigt die Auslegung, dass keine übermäßig hohen Anforderungen an die Form einer solchen Unterrichtung gestellt werden dürfen.

48.

Zweitens lassen die besonderen Umstände des Ausgangsverfahrens, nämlich die Tatsache, dass AB der Polizei aus eigenem Antrieb den Besitz von Betäubungsmitteln gestand, keinen Zweifel an der Einleitung eines solchen Strafverfahrens zu. Wie oben bereits erwähnt, muss sich AB darüber im Klaren gewesen sein, denn dieses Geständnis hatte eine Leibesvisitation und eine Beschlagnahme durch die Polizei zur Folge. In Anbetracht dessen musste er damit rechnen, ab diesem Zeitpunkt als „Verdächtiger“ behandelt zu werden. Folglich sind die dergestalt ergriffenen Maßnahmen als einer „Unterrichtung“ im Sinne des jeweiligen Art. 2 Abs. 1 der Richtlinien 2012/13 und 2013/48 gleichwertig zu betrachten.

49.

Drittens ist es für die Anwendung dieser Richtlinien aus meiner Sicht irrelevant, dass das Recht eines Mitgliedstaats – wie offenbar das bulgarische Recht – den Begriff des „Verdächtigen“ formell nicht kennt. Hierbei handelt es sich um einen autonomen Begriff des Unionsrechts, der als rechtliches Kriterium den Anwendungsbereich der Richtlinien 2012/13 und 2013/48 erschließt und daher in allen Mitgliedstaaten einheitlich auszulegen ist. Insoweit möchte ich daran erinnern, dass sich das nationale Recht an die Unionsrechtsordnung anzupassen hat und nicht umgekehrt. Da die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, diese Richtlinien und die ihnen inhärenten spezifischen Begriffe ordnungsgemäß in ihre jeweilige innerstaatliche Rechtsordnung umzusetzen, können sie nicht mit Erfolg auf etwaige Unzulänglichkeiten oder Lücken in ihrem Recht verweisen, um sich ihren Verpflichtungen zu entziehen.

4. Antwort auf die erste Vorlagefrage

50.

Infolgedessen ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass die Richtlinien 2012/13 und 2013/48 Anwendung finden, wenn in einem Ermittlungsverfahren gegen eine einer Straftat verdächtige Person Zwangsmaßnahmen, insbesondere eine Leibesvisitation und/oder eine Beschlagnahme, durchgeführt wurden.

C.   Zur zweiten und zur fünften Vorlagefrage

1. Verbot willkürlich restriktiver Maßnahmen, die eine wirksame Ausübung der mit dem Status des „Verdächtigen“ verbundenen Verfahrensrechte beeinträchtigen könnten

51.

Mit seiner zweiten und seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht im Kern wissen, welchen Status eine Person im Sinne der Richtlinien 2012/13 und 2013/48 hat, wenn das nationale Recht die Rechtsfigur des „Verdächtigen“ nicht kennt und die Person nicht durch amtliche Mitteilung als „formellen“ Akt als „beschuldigte Person“ herangezogen wurde. Das vorlegende Gericht fragt auch, ob dieser Person das Recht auf Belehrung und Unterrichtung sowie das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand zu gewähren sind. Obwohl die Antwort auf diese Frage den vorstehenden Ausführungen entnommen werden kann, halte ich es für angebracht, im Interesse der Klarheit die Prüfung einiger rechtlicher Aspekte zu vertiefen.

52.

Wie bei der Prüfung der ersten Frage dargelegt, ist die verfahrensrechtliche Stellung einer Person unter den in der Vorlageentscheidung beschriebenen Umständen die eines „Verdächtigen“ im Sinne der Richtlinien 2012/13 und 2013/48. Da es sich hierbei um einen autonomen Begriff des Unionsrechts handelt, genießt die betreffende Person wegen der Anwendbarkeit dieser Richtlinien auf den vorliegenden Fall diese Verfahrensstellung, obwohl sie nicht durch offizielle Mitteilung als „beschuldigte Person“ herangezogen wurde, wie es nach geltendem nationalen Recht hätte geschehen müssen. Es genügt, dass sie faktisch verdächtigt wird, eine Straftat begangen zu haben, ohne dass dieser Verdacht in einer gesonderten Verfügung oder Mitteilung förmlich festgehalten werden müsste.

53.

Eine gegenteilige Auslegung, wonach die Wahrnehmung der in den Richtlinien 2012/13 und 2013/48 garantierten Rechte ausschließlich vom Erlass eines „formellen“ Akts der Behörden abhängen sollte, wäre willkürlich restriktiv und würde nicht gewährleisten, dass die in diesen Richtlinien verankerten Rechte wirksam ausgeübt werden könnten. Denn es bestünde die nicht zu unterschätzende Gefahr, dass sich die betroffene Person selbst belasten würde, weil sie mangels einer entsprechenden Mitteilung seitens der nationalen Behörden über ihre Rechte im Unklaren wäre. Ein solches Ergebnis würde die Grundsätze eines fairen Verfahrens in Strafsachen entscheidend untergraben. Die zuständigen nationalen Behörden können sich jedoch nicht mit Erfolg auf Unzulänglichkeiten oder Lücken in ihrem Recht berufen, um sich ihren unionsrechtlichen Verpflichtungen zu entziehen, sondern haben vielmehr die uneingeschränkte Ausübung der durch diese Richtlinien garantierten Verfahrensrechte zu gewährleisten.

54.

Wie sich aus der Prüfung der ersten Frage ergibt, muss die Rechtsbelehrung zwingend in einem frühen Verfahrensstadium erfolgen ( 14 ), wobei der Gerichtshof klargestellt hat, dass diese Belehrung „so schnell wie möglich“„ab dem Zeitpunkt [erfolgen muss], zu dem der gegen [die betroffenen Personen] gerichtete Verdacht es in einem anderen Kontext als dem der Dringlichkeit rechtfertigt, dass die zuständigen Behörden ihre Freiheit durch Zwangsmaßnahmen einschränken“ ( 15 ). Im Interesse eines wirksamen Schutzes der betroffenen Person würde ich hinzufügen, dass diese Anforderung nicht nur gelten sollte, wenn diese Person den gravierendsten Zwangsmaßnahmen wie Festnahme oder vorläufigem Freiheitsentzug ausgesetzt ist, sondern auch dann, wenn der Verdacht gegen sie andere Zwangsmaßnahmen mit signifikanten Eingriffen in die Grundrechte rechtfertigt.

55.

Daher hätte es meines Erachtens im Einklang mit der Richtlinie 2012/13 gestanden, wenn AB unverzüglich über seine Rechte informiert worden wäre, als die Polizei aufgrund seines Geständnisses beschloss, eine Leibesvisitation vorzunehmen und die in seinem Besitz befindlichen Betäubungsmittel zu beschlagnahmen. AB hatte nämlich offensichtlich von dem Moment an, als er sich selbst vor der Polizei belastete, mit allen den zuständigen Behörden zu Gebote stehenden Strafverfolgungsmaßnahmen zu rechnen. Außerdem konnte AB wegen der gegen ihn ergriffenen Zwangsmaßnahmen zwar implizit davon ausgehen, dass er zu einem „Verdächtigen“ geworden war. Dies kann jedoch eine vollständige Belehrung über seine Verfahrensrechte nicht ersetzen.

56.

Was speziell das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand betrifft, sieht Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2013/48 vor, dass Verdächtigen und beschuldigten Personen ein solches Recht „unverzüglich“ bzw. „so rechtzeitig und in einer solchen Art und Weise zukommt, dass die betroffenen Personen ihre Verteidigungsrechte praktisch und wirksam wahrnehmen können“, jedenfalls aber „vor ihrer Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden“ (Hervorhebung nur hier). Zwar kann, wie in Nr. 43 der vorliegenden Schlussanträge dargelegt, die vorläufige Befragung durch die Polizei bei einer „Straßenkontrolle“ oder „regelmäßigen Stichprobenkontrolle“ nicht als eine „Befragung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/48 angesehen werden, doch lässt sich den Angaben des vorlegenden Gerichts entnehmen, dass AB auf jeden Fall in einem späteren Stadium der Ermittlungen einer derartigen Befragung unterzogen worden ist. Konkret heißt es dazu in der Vorlageentscheidung: „Im Lauf des bereits eingeleiteten Ermittlungsverfahrens forderte der [diensthabende Inspektor der Kriminalpolizei] nach Durchführung der Durchsuchung zu einem nicht genau angegebenen Zeitpunkt und an einem nicht genau angegebenen Ort (vermutlich auf der Polizeidienststelle) AB zu einer schriftlichen Aussage nach dem Gesetz über das Ministerium für Innere Angelegenheiten auf.“ Daher hätte AB nach meiner Meinung spätestens in diesem Stadium des Verfahrens Zugang zu einem Rechtsbeistand gewährt werden müssen.

2. Antwort auf die zweite und die fünfte Vorlagefrage

57.

Infolgedessen schlage ich vor, auf die zweite und die fünfte Vorlagefrage zu antworten, dass der Begriff „Verdächtiger“ im Sinne der Richtlinien 2012/13 und 2013/48 ein autonomer Begriff des Unionsrechts ist. Eine Person, die tatsächlich verdächtigt wird, eine Straftat begangen zu haben, hat die Eigenschaft eines „Verdächtigen“ im Sinne dieser Richtlinien, auch wenn das nationale Recht diesen verfahrensrechtlichen Status nicht kennt und der verdächtigten Person die ihr zustehenden Rechte nicht gewährt. Diese Richtlinien stehen einer nationalen Regelung und Praxis entgegen, wonach die Verteidigungsrechte erst dann entstehen, wenn die betroffene Person förmlich als „Beschuldigter“ herangezogen wird und dies als Voraussetzung für die Geltung der im nationalen Recht vorgesehenen Verfahrensrechte und ‑garantien unter voller Wahrung des Ermessens der Ermittlungsbehörde erfolgt, die nicht verpflichtet ist, die tatsächlich verdächtigte Person unverzüglich über den gegen sie bestehenden Verdacht zu unterrichten.

D.   Zur vierten Vorlagefrage

1. Vereinbarkeit des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf mit einer auf die Einhaltung formeller Anforderungen beschränkten gerichtlichen Überprüfung

58.

Mit seiner vierten Vorlagefrage, die meines Erachtens vor der dritten zu behandeln ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinien 2012/13 und 2013/48 sowie die Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Rechtsprechung entgegenstehen, wonach das Gericht anlässlich der nachträglichen gerichtlichen Genehmigung von Zwangsmaßnahmen zur Beweiserhebung für eine strafrechtliche Ermittlung nicht überprüfen darf, ob die durch diese Richtlinien und Artikel garantierten Grundrechte von Verdächtigen und beschuldigten Personen verletzt wurden.

59.

Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, zwar sei nach Art. 164 Abs. 3 NPK die aufgrund eines Protokolls im strafrechtlichen Vorverfahren erfolgte Leibesvisitation nachträglich vom Gericht zu überprüfen; diese Überprüfung beziehe sich nach der einschlägigen nationalen Rechtsprechung aber nur auf die formellen Anforderungen, von denen die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme und der daraus resultierenden Beschlagnahme abhänge, während das zuständige Gericht nicht prüfen dürfe, ob die durch die Richtlinien 2012/13 und 2013/48 garantierten Rechte beachtet worden seien.

60.

Bei der Prüfung dieser Frage ist zunächst zu beachten, dass nach Art. 47 der Charta jede Person, deren durch das Unionsrecht garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Außerdem wird nach Art. 48 Abs. 2 der Charta jedem Angeklagten die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet. Im vorliegenden Fall steht außer Frage, dass diese Bestimmungen anwendbar sind, denn das Ausgangsverfahren betrifft eine Situation, in der die bulgarischen Behörden Unionsrecht im Sinne von Art. 51 der Charta durchführen. Da mit der fraglichen bulgarischen Regelung die Richtlinien 2012/13 und 2013/48 umgesetzt werden sollen, die Verdächtigen und/oder beschuldigten Personen das Recht auf Belehrung und Unterrichtung sowie das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren gewährleisten, fällt diese Regelung in den Anwendungsbereich der Charta. Wie der Gerichtshof wiederholt festgestellt hat, bauen die beiden Richtlinien auf den u. a. in den Art. 47 und 48 der Charta genannten Rechten auf und sollen diese Rechte fördern ( 16 ).

61.

Zur Auslegung der Richtlinie 2012/13 ist darauf hinzuweisen, dass nach deren Art. 8 Abs. 2 „Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihre Rechtsanwälte das Recht haben [müssen], ein etwaiges Versäumnis oder die etwaige Verweigerung einer Belehrung oder Unterrichtung gemäß dieser Richtlinie durch die zuständigen Behörden nach den Verfahren des innerstaatlichen Rechts anzufechten“ (Hervorhebung nur hier). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs steht angesichts der Bedeutung des durch Art. 47 der Charta geschützten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf sowie des klaren, an keine Bedingungen geknüpften und präzisen Wortlauts von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 die letztgenannte Bestimmung jeder nationalen Maßnahme entgegen, die ein Hindernis für die Ausübung wirksamer Rechtsbehelfe im Fall der Verletzung der durch die Richtlinie geschützten Rechte darstellt ( 17 ). Der Gerichtshof hat entschieden, dass die gleiche Auslegung bei Art. 12 der Richtlinie 2013/48 geboten ist, wonach „Verdächtigen oder beschuldigten Personen in Strafverfahren … bei Verletzung ihrer Rechte nach dieser Richtlinie ein wirksamer Rechtsbehelf nach nationalem Recht zusteht“ ( 18 ).

62.

Folglich sind die Mitgliedstaaten nach diesen beiden Richtlinien verpflichtet, bei einer Verletzung der darin verankerten Rechte einen wirksamen Rechtsbehelf vorzusehen, um ein faires Verfahren und die wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte zu gewährleisten. Allerdings wird gemäß Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 und Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 das Recht, etwaige Verletzungen dieser Rechte anzufechten, nach „den Verfahren des innerstaatlichen Rechts“ bzw. „nach nationalem Recht“ gewährt. Diese Bestimmungen regeln also weder die Modalitäten, nach denen es möglich sein muss, Verletzungen dieser Rechte zu rügen, noch den Zeitpunkt, zu dem dies im Verlauf des Strafverfahrens geschehen kann, so dass den Mitgliedstaaten ein gewisses Ermessen bei der Gestaltung der konkreten Rechtsbehelfe verbleibt.

63.

Diese Auslegung der Bestimmungen der Richtlinien 2012/13 und 2013/48 wird durch die jeweiligen Erwägungsgründe bestätigt. So heißt es im 36. Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/13, das Recht, ein etwaiges Versäumnis oder eine etwaige Verweigerung der Belehrung oder Unterrichtung oder der Offenlegung von bestimmten Unterlagen gemäß dieser Richtlinie durch die zuständigen Behörden anzufechten, ziehe „nicht die Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach sich, ein besonderes Rechtsbehelfsverfahren, einen gesonderten Mechanismus oder ein Beschwerdeverfahren vorzusehen, in dessen Rahmen das Versäumnis oder die Verweigerung angefochten werden kann“ (Hervorhebung nur hier). Der 50. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/48 geht in dieselbe Richtung, soweit er im Wesentlichen besagt, die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, für die Beachtung der Verteidigungsrechte und des Grundsatzes des fairen Verfahrens zu sorgen, lasse die nationalen Vorschriften oder Regelungen bezüglich der Zulässigkeit von Beweisen unberührt und sollte „die Mitgliedstaaten nicht daran hindern, eine Regelung beizubehalten, wonach einem Gericht alle vorhandenen Beweismittel vorgelegt werden können, ohne dass die Zulässigkeit dieser Beweismittel Gegenstand einer gesonderten oder vorherigen Beurteilung ist“ (Hervorhebung nur hier). Demnach gilt der Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten, wobei aber die durch das Unionsrecht gesetzten Grenzen zu beachten sind.

2. Beschränkung der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie durch den Äquivalenz- und den Effektivitätsgrundsatz

64.

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es mangels einer einschlägigen Unionsregelung nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten jeweils Sache von deren innerstaatlichem Recht, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen. Nach dem nunmehr in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit dürfen die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nicht weniger günstig ausgestaltet sein als die für entsprechende innerstaatliche Klagen (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz). Diese Erfordernisse in Bezug auf Äquivalenz und Effektivität sind Ausdruck der allgemeinen Verpflichtung der Mitgliedstaaten, den gerichtlichen Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, einschließlich der Verteidigungsrechte, zu gewährleisten ( 19 ).

65.

Dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten muss deshalb Rechnung getragen werden, weil die Richtlinien 2012/13 und 2013/48 auf der Rechtsgrundlage von Art. 82 Abs. 2 AEUV erlassen wurden, der nur die Festlegung von Mindestvorschriften für die „Rechte des Einzelnen“ im Strafverfahren zulässt. Der Gesetzgeber wollte hiermit die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung erleichtern, worauf ich in den vorliegenden Schlussfolgerungen hingewiesen habe ( 20 ). Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass diese Richtlinien nur zu einem Mindestmaß an Harmonisierung der Strafverfahren im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts der Union beitragen und somit nicht als vollständige und abschließende Instrumente gelten können. Ausweislich des 40. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2012/13 und des 54. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2013/48 steht es den Mitgliedstaaten daher frei, die in diesen Richtlinien vorgesehenen Rechte auszuweiten, um auch in davon nicht ausdrücklich erfassten Situationen ein höheres Schutzniveau zu bieten, wobei das Schutzniveau nie unter den Standards der EMRK in der Auslegung durch die Rechtsprechung des EGMR liegen darf ( 21 ).

66.

Was den Äquivalenzgrundsatz anbelangt, so deutet nichts in den dem Gerichtshof vorliegenden Akten darauf hin, dass dieser Grundsatz durch die fragliche nationale Rechtsprechung missachtet würde, wonach das zuständige Gericht im Verfahren der nachträglichen gerichtlichen Genehmigung von Zwangsmaßnahmen zur Beweiserhebung für eine strafrechtliche Ermittlung nur die formellen Anforderungen an die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahmen, nicht aber die Beachtung der durch die Richtlinien 2012/13 und 2013/48 garantierten Rechte prüfen darf. Denn diese Rechtsprechung gilt unabhängig davon, ob die Zwangsmaßnahme unter Missachtung eines im nationalen Recht oder im Unionsrecht verankerten Individualrechts erlassen wurde.

67.

Dagegen bezweifelt das vorlegende Gericht, dass diese nationale Praxis mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar ist. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR verweist es darauf, dass ein außergerichtliches Geständnis eines Verdächtigen ohne anwaltlichen Beistand in diesem frühen Stadium zu einer Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens und einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK führen könne. Die Rechtsprechung der nationalen Gerichte lehne es einheitlich ab, Informationen von Personen als Beweise anzuerkennen, die zwar faktisch verdächtigt, aber häufig als Zeugen zu ihren eigenen Taten befragt würden. Das vorlegende Gericht bezweifelt aber, dass diese prozessuale, beweisrechtliche Sanktion die Beachtung der in der Charta vorgesehenen und in den Richtlinien 2012/13 und 2013/48 konkretisierten Verteidigungsrechte der Einzelnen hinreichend garantieren könne.

68.

Zu dem vorerwähnten Effektivitätsgrundsatz ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht die Mitgliedstaaten nicht dazu zwingt, neben den nach innerstaatlichem Recht bereits bestehenden Rechtsbehelfen neue zu schaffen, es sei denn, es gibt nach dem System der betreffenden nationalen Rechtsordnung keinen Rechtsbehelf, mit dem wenigstens inzident die Wahrung der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleistet werden könnte, oder die einzige Möglichkeit für den Einzelnen, Zugang zu einem Gericht zu erlangen, bestünde darin, eine Rechtsverletzung begehen zu müssen ( 22 ).

69.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen innerstaatlichen Stellen zu prüfen. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens ( 23 ).

70.

Nach dieser Rechtsprechung ist für die Beurteilung der Frage, ob der Effektivitätsgrundsatz gewahrt ist, nicht die Prüfung sämtlicher in einem Mitgliedstaat bestehender Rechtsbehelfe, sondern eine kontextbezogene Prüfung der Bestimmung, die gegen diesen Grundsatz verstoßen soll, erforderlich. Dies kann bedeuten, dass weitere Verfahrensbestimmungen, die im Zusammenhang mit dem Rechtsbehelf anwendbar sind, dessen Effektivität angezweifelt wird, oder Rechtsbehelfe, die denselben Zweck wie dieser Rechtsbehelf haben, zu prüfen sind ( 24 ). Nach Ansicht des Gerichtshofs sind die ergangenen Entscheidungen daher nur das Ergebnis von Einzelfallbeurteilungen, die unter Berücksichtigung des gesamten tatsächlichen und rechtlichen Zusammenhangs der jeweiligen Rechtssache vorgenommen wurden und nicht automatisch auf andere Bereiche als die übertragen werden können, in deren Rahmen sie getroffen wurden ( 25 ).

3. Merkmale der gerichtlichen Überprüfung durch die bulgarischen Gerichte

71.

Was die Prüfung des vorliegenden Falles betrifft, so ergibt sich meines Erachtens sowohl aus dem Wortlaut als auch aus den Zielen von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 und Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 sowie aus den Erläuterungen in den vorerwähnten Erwägungsgründen, dass es nicht gegen das Unionsrecht verstößt, wenn ein Mitgliedstaat die gerichtliche Kontrolle von Zwangsmaßnahmen zur Beweiserhebung auf deren formelle Rechtmäßigkeit beschränkt, sofern der Tatrichter anschließend im Rahmen des Strafverfahrens überprüfen darf, ob die Rechte der betroffenen Person aus den genannten Richtlinien im Licht der Grundrechte gewahrt wurden. Das Vorabentscheidungsersuchen legt nahe, dass dies speziell im bulgarischen Recht der Fall ist. Denn wie in Nr. 67 der vorliegenden Schlussanträge erwähnt, lehnen die bulgarischen Gerichte es ab, Informationen, die unter Missachtung der den Verdächtigen im Strafverfahren garantierten Verfahrensrechte erlangt wurden, als Beweise anzuerkennen.

72.

Mit anderen Worten: Die derzeitige Rechtsprechung der bulgarischen Gerichte erlaubt es, Informationen und Beweise unberücksichtigt zu lassen, die unter Missachtung unionsrechtlicher Vorschriften, hier von Art. 3 der Richtlinie 2012/13 über die Rechtsbelehrung des Verdächtigen und von Art. 3 der Richtlinie 2013/48 über den Zugang zu einem Rechtsbeistand, erlangt wurden. In einem Strafverfahren eventuell festgestellte Unregelmäßigkeiten bleiben also nicht ungeahndet ( 26 ). Es scheint vielmehr, dass jeder Verdächtige eine Verletzung seiner Rechte im Strafverfahren geltend machen kann. Somit weist der in der bulgarischen Rechtsordnung offenbar angewandte Mechanismus Ähnlichkeiten mit den in anderen Mitgliedstaaten entwickelten Mechanismen auf, ob diese nun im geschriebenen Recht (Verfassungs-/Strafrecht) oder im Gewohnheitsrecht geregelt sind. Im Übrigen haben diese Mechanismen ihren Ursprung nicht selten gerade in der Rechtsprechung der nationalen Gerichte. Es erweist sich somit, dass das bulgarische Verfahrensrecht in seiner Auslegung durch die zuständigen Gerichte nicht geeignet ist, dem Verdächtigen die Ausübung seines Rechts, nach Maßgabe der nationalen Verfahren eine Verletzung seiner vorerwähnten Verfahrensrechte zu beanstanden, praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren. Zwar äußert das vorlegende Gericht insoweit gewisse Bedenken, u. a. hinsichtlich der Eignung der im bulgarischen Recht vorgesehenen Mechanismen zur Wahrung der Rechte des Verdächtigen; das Vorabentscheidungsersuchen enthält jedoch keine ausreichenden Anhaltspunkte, die diese These stützen könnten.

73.

Im Übrigen macht das vorlegende Gericht keine Angaben dazu, welche Maßnahmen durch die Gesetzgebung oder die Rechtsprechung erlassen bzw. weiterentwickelt werden könnten, um den Schutz der Verfahrensrechte des Verdächtigen im Rahmen eines Strafverfahrens zu stärken. Da sich die bulgarische Regierung nicht an der vorliegenden Rechtssache beteiligt hat, kann sich der Gerichtshof nur auf die vom vorlegenden Gericht übermittelten Angaben stützen. Angesichts dessen ist es aus meiner Sicht keinesfalls Aufgabe des Gerichtshofs, den zuständigen Behörden mögliche Reformen vorzuschlagen, vor allem wenn man sich die Vielfalt der in den verschiedenen Mitgliedstaaten bekannten Mechanismen und Rechtsbehelfe zur Umsetzung der Richtlinien 2012/13 und 2013/48 vergegenwärtigt. Die Rolle des Gerichtshofs im vorliegenden Fall muss sich vielmehr auf die Prüfung der Frage beschränken, ob die Ausübung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird. Unter Berücksichtigung der verfügbaren Informationen ist diese Frage zu verneinen.

74.

Eine Analyse im Licht der Art. 47 und 48 der Charta, auf die das vorlegende Gericht verweist, scheint mir nicht geeignet, an dieser Schlussfolgerung etwas zu ändern. Was insbesondere Art. 47 der Charta betrifft, der das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz garantiert, so zwingt das Unionsrecht die Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht dazu, vor ihren nationalen Gerichten neben den nach nationalem Recht bereits bestehenden Rechtsbehelfen neue zu schaffen, um den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte zu gewährleisten. Etwas anderes gilt nur, wenn es nach dem System der betreffenden nationalen Rechtsordnung keinen Rechtsbehelf gibt, mit dem wenigstens inzident die Wahrung der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleistet werden könnte ( 27 ). Wie das vorlegende Gericht selbst einräumt, trifft dies im vorliegenden Fall jedoch nicht zu.

75.

Aus den in den vorherigen Nummern dargelegten Gründen neige ich zu der Annahme, dass das bulgarische Strafprozessrecht in seiner Auslegung durch die nationalen Gerichte keine Bedenken hinsichtlich des Effektivitätsgrundsatzes aufwirft. Dieser Grundsatz steht einer auf die formellen Anforderungen einer Zwangsmaßnahme wie etwa einer Durchsuchung beschränkten gerichtlichen Überprüfung – bei der nicht kontrolliert wird, ob die Rechte aus den Richtlinien 2012/13 und 2013/48 im Licht der Grundrechte beachtet wurden – nicht entgegen, vorausgesetzt, dass eine solche Beachtung im Strafverfahren vom Tatrichter geprüft werden darf, der über die Schuld von AB entscheidet. Es wird jedoch Sache des vorlegenden Gerichts sein, das die geltenden Verfahrensvorschriften unmittelbar kennt, die entsprechenden Überprüfungen vorzunehmen und gegebenenfalls alle gebotenen Konsequenzen zu ziehen, um die Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten.

76.

Dabei ist zu beachten, dass sich der Einzelne nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs in allen Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor den nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen kann, wenn dieser die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt hat ( 28 ). Der Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung entschieden, dass es sich bei Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13, Art. 12 der Richtlinie 2013/48 und Art 47 der Charta um klare, an keine Bedingungen geknüpfte und präzise Bestimmungen handelt ( 29 ). Folglich haben sie unmittelbare Wirkung. Personen, die wie AB im Ausgangsverfahren nach bulgarischem Recht faktisch „Verdächtige“ sind, müssen daher die Möglichkeit haben, sich unmittelbar auf die Rechtsbehelfe zu berufen, die in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 und Art. 12 der Richtlinie 2013/48 in Verbindung mit den Art. 47 und 48 der Charta vorgesehen sind.

4. Antwort auf die vierte Vorlagefrage

77.

Infolgedessen schlage ich vor, auf die vierte Vorlagefrage zu antworten, dass das Unionsrecht, namentlich der Effektivitätsgrundsatz, einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, die gerichtliche Überprüfung von Zwangsmaßnahmen zur Beweiserhebung auf deren formelle Rechtmäßigkeit zu beschränken, wenn der Tatrichter anschließend im Rahmen des Strafverfahrens prüfen darf, ob die Rechte der betroffenen Person aus den Richtlinien 2012/13 und 2013/48 in Verbindung mit den Art. 47 und 48 der Charta gewahrt wurden.

E.   Zur dritten Vorlagefrage

1. Vorschlag zur Umformulierung der Frage

78.

Mit seiner dritten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit und das Willkürverbot sowie die Richtlinie 2013/48, insbesondere deren Art. 3 Abs. 3 Buchst. b, dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach nur Personen, die förmlich als „Beschuldigte“ herangezogen wurden, die Rechte aus dieser Richtlinie erhalten, während der Zeitpunkt dieser Heranziehung im Ermessen der Ermittlungsbehörde liegt.

79.

Die Antwort auf diese Frage dürfte sich meines Erachtens klar aus der Prüfung der vorhergehenden Fragen ergeben. Wie in den vorliegenden Schlussanträgen bereits dargelegt ( 30 ), wäre eine Auslegung, wonach die Wahrnehmung der in den Richtlinien 2012/13 und 2013/48 garantierten Rechte ausschließlich vom Erlass eines „formellen“ Akts der nationalen Behörden abhängen sollte, willkürlich restriktiv und würde nicht gewährleisten, dass die in den Richtlinien verankerten Rechte wirksam ausgeübt werden könnten. Es scheint in der Tat mit dem Erfordernis gemäß Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2013/48, wonach die betroffene Person „unverzüglich“ die Unterstützung eines Rechtsbeistands erhalten muss ( 31 ), nicht vereinbar zu sein, die tatsächliche Ausübung dieses Rechts allein in das Ermessen der zuständigen Behörden zu stellen.

80.

Wenngleich die dritte Frage angesichts der vorstehenden Erörterungen auf den ersten Blick überflüssig erscheinen mag, wird der Gerichtshof bei seiner Antwort zwangsläufig die besonderen Umstände des Ausgangsverfahrens berücksichtigen müssen, d. h. die Tatsache, dass dieses den Antrag auf nachträgliche gerichtliche Genehmigung der Durchsuchung und der Beschlagnahme der bei AB entdeckten Stoffe betrifft. Im Folgenden werde ich die dritte Frage im Hinblick auf diese Umstände prüfen. So gesehen scheint das vorlegende Gericht eher zu fragen, ob Art. 3 der Richtlinie 2013/48 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es zulässt, dass eine Leibesvisitation und eine Beschlagnahme illegaler Gegenstände stattfinden, ohne dass der betroffenen Person das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand zugestanden wird.

81.

Sollte der Gerichtshof die dritte Frage im vorgeschlagenen Sinne verstehen, wäre zunächst darauf hinzuweisen, dass Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2013/48 insofern strenge Anforderungen aufstellt, als er vorsieht, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen „unverzüglich“ und „in jeden Fall“ab dem zuerst eintretenden der vier in dieser Bestimmung unter a bis d aufgeführten konkreten Ereignissen Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten müssen. Da die Durchsuchung und die Beschlagnahme illegaler Gegenstände an sich nicht zu den in dieser Bestimmung genannten Ereignissen gehören, wäre eine Verletzung des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand grundsätzlich zu verneinen, es sei denn, die Umstände des Falles entsprechen den Kriterien für eines oder mehrere dieser konkreten Ereignisse, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. Dabei mögen die folgenden Überlegungen dem vorlegenden Gericht bei der Anwendung eben dieser Bestimmung von Nutzen sein.

2. Zum Recht des Verdächtigen, vor seiner Befragung durch die Polizei Zugang zu einem Rechtsbeistand zu erhalten

82.

Gemäß Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/48 können Verdächtige oder beschuldigte Personen vor ihrer Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten. Diese Bestimmung stellt eine Kodifizierung der Rechtsprechung des EGMR dar ( 32 ), wonach das in Art. 6 Abs. 1 EMRK verankerte Recht auf ein faires Verfahren grundsätzlich verlangt, dass der Zugang zu einem Rechtsbeistand ab der ersten Befragung eines Verdächtigen durch die Polizei gewährt wird, sofern nicht unter Berücksichtigung der außergewöhnlichen Umstände des Falles nachgewiesen wird, dass es zwingende Gründe für eine Einschränkung dieses Rechts gibt ( 33 ). Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass AB nach der Durchsuchung auf der Polizeidienststelle befragt wurde, wobei er eine Aussage machte und sein Geständnis schriftlich bestätigte. Es sieht aber so aus, als sei AB nicht über sein Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand belehrt worden und als habe er dieses Recht auch nicht tatsächlich wahrgenommen, was im Hinblick auf die durch die Richtlinie 2013/48 garantierten Rechte problematisch ist. Aus meiner Sicht kann ein solches Vorgehen der für die Strafverfolgung zuständigen Behörden nicht als mit den Anforderungen der Richtlinie 2013/48 vereinbar angesehen werden.

3. Zum Recht des Verdächtigen, nach dem Entzug seiner Freiheit unverzüglich Zugang zu einem Rechtsbeistand zu erhalten

83.

Unabhängig von den vorstehenden Erwägungen stellt sich die Frage, ob AB zum Zeitpunkt der Durchsuchung sein Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand hätte geltend machen können, obwohl in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2013/48 diese Zwangsmaßnahme nicht ausdrücklich erwähnt ist. Dies träfe meines Erachtens zu, wenn die Situation, in der sich AB befand, als „Entzug der Freiheit“ im Sinne der Fallgruppe von Art. 3 Abs. 2 Buchst. c dieser Richtlinie verstanden werden könnte. Da die Vorlageentscheidung hierzu keine eindeutigen Angaben enthält, muss das vorlegende Gericht selbst prüfen, ob die Umstände des Ausgangsverfahrens als „Freiheitsentzug“ im Sinne dieser Bestimmung gewertet werden können.

a) Erwägungen für den Fall, dass die Durchsuchung im Rahmen einer Verkehrskontrolle durchgeführt wurde

84.

Es gibt Hinweise darauf, dass die Durchsuchung an Ort und Stelle am Straßenrand stattgefunden hat, nachdem das Auto von der Polizei angehalten und kontrolliert worden war. In diesem Fall ist es meines Erachtens nicht vertretbar, anzunehmen, dass AB seiner Freiheit beraubt wurde. Denn eine solche Zwangsmaßnahme, die unmittelbar nach Auftreten von Anzeichen, dass eine Straftat begangen worden war, unter Zeitdruck durchgeführt wird, kann nach meinem Dafürhalten nicht mit einem „Freiheitsentzug“ gleichgesetzt werden. Es ist nicht zu vergessen, dass AB von der Polizei weder förmlich inhaftiert noch in Polizeigewahrsam verhört, sondern einfach bei einer Verkehrskontrolle angehalten worden war. Obwohl AB sich der Verkehrskontrolle nicht entziehen durfte, lassen die Umstände des Falles keine nennenswerte Einschränkung seiner Handlungsfreiheit erkennen. Jede gegenteilige Einschätzung liefe aus meiner Sicht nicht nur dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2013/48 zuwider, sondern wäre auch geeignet, ihren Geltungsbereich übermäßig auszuweiten. Dies ist aber überhaupt nicht notwendig, um einen wirksamen Schutz der Grundrechte im Rahmen einer strafrechtlichen Ermittlung zu gewährleisten, wie ich nachstehend darlegen werde.

85.

Wie ich in diesen Schlussanträgen ausgeführt habe, sind die durch die Richtlinien 2012/13 und 2013/48 garantierten Rechte eine Ausprägung des Rechts auf ein faires Verfahren in Strafsachen ( 34 ). Insoweit ist auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs hinzuweisen, wonach die Richtlinie 2013/48 u. a. das in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerte Recht, sich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen, sowie die durch Art. 48 Abs. 2 der Charta gewährleisteten Verteidigungsrechte fördern soll ( 35 ). Außerdem stützt sich die Richtlinie 2013/48 laut ihrem zwölften Erwägungsgrund auf die in der Charta, insbesondere in deren Art. 6, 47 und 48, verankerten Rechte, indem sie die Art. 5 und 6 EMRK in der Auslegung durch den EGMR konkretisiert. Daher sind die Bestimmungen dieser Richtlinie im Licht von Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK auszulegen, der ausdrücklich das Recht auf rechtlichen Beistand vorsieht.

86.

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass der EGMR festgestellt hat, eine Durchsuchung anlässlich einer Verkehrskontrolle, bei der selbstbelastende Aussagen gemacht worden seien, lasse keine signifikante Einschränkung der Handlungsfreiheit der betroffenen Person erkennen lässt, die ausreichen könnte, um einen Anspruch auf Rechtsbeistand bereits in diesem Stadium des Verfahrens zu begründen. Der EGMR hat sich im Wesentlichen auf dieselben Argumente gestützt, wie ich sie in Nr. 84 der vorliegenden Schlussanträge dargelegt habe: das Fehlen einer förmlichen Inhaftierung oder einer polizeilichen Vernehmung der betroffenen Person in Polizeigewahrsam, d. h. freiheitsentziehender Maßnahmen, die das Eingreifen eines Rechtsbeistands rechtfertigen könnten. Daher verstößt meines Erachtens eine im Rahmen einer Verkehrskontrolle am Straßenrand ohne Rechtsbeistand vorgenommene Durchsuchung für sich genommen nicht gegen Art. 3 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2013/48.

b) Erwägungen für den Fall, dass die Durchsuchung auf der Polizeidienststelle durchgeführt wurde

87.

Hingegen wäre eine andere Beurteilung nicht auszuschließen, falls die Durchsuchung durchgeführt worden wäre, während AB seiner Freiheit beraubt war, wenn sie beispielsweise auf der Polizeidienststelle stattgefunden hätte. In diesem Fall könnte argumentiert werden, dass AB „unverzüglich“ das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand hätte gewährt werden müssen, da seine Situation von Art. 3 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2013/48 erfasst werde. Das vorlegende Gericht wird gegebenenfalls eine Reihe von Kriterien zu berücksichtigen haben, die ich im Folgenden erläutern werde, um festzustellen, ob im vorliegenden Fall von einem „Entzug der Freiheit“ im Sinne dieser Bestimmung gesprochen werden kann.

88.

Die Rechtsprechung des EGMR zur Auslegung von Art. 5 Abs. 1 EMRK erscheint mir besonders bedeutsam, da diese Bestimmung eine erschöpfende Liste zulässiger Gründe für eine Freiheitsentziehung enthält. Sie proklamiert das „Recht auf Freiheit“ und bezieht sich somit nicht nur auf Einschränkungen der Freizügigkeit, die unter Art. 2 des am 16. September 1963 in Straßburg unterzeichneten Protokolls Nr. 4 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, durch das gewisse Rechte und Freiheiten gewährleistet werden, die nicht bereits in der Konvention oder im ersten Zusatzprotokoll enthalten sind, fallen, sondern auf die physische Freiheit einer Person; die Bestimmung soll sicherstellen, dass niemand willkürlich seiner Freiheit beraubt wird ( 36 ). Nach Buchst. c dieses Abs. 1 ist dies der Fall, wenn die betreffende Person „festgenommen“ oder „in Haft gehalten“ wird, um sie der zuständigen Gerichtsbehörde vorzuführen, sofern der begründete Verdacht dafür besteht, dass sie eine strafbare Handlung begangen hat. Genauso dürfte es sich meines Erachtens bei AB verhalten, unabhängig davon, dass das fragliche Verfahren nur eine Vorstufe des Strafverfahrens betrifft, nämlich die nachträgliche gerichtliche Genehmigung der gegenüber AB ergriffenen Zwangsmaßnahmen. Durch diese Maßnahmen sollen gerade die notwendigen Beweise für die Entscheidung beschafft werden, ob gegen die betreffende Person ein Strafverfahren einzuleiten ist. Das in Rede stehende gerichtliche Verfahren ist daher als Bestandteil des gesamten Strafverfahrens zu betrachten, so dass Art. 5 Abs. 1 EMRK auf den vorliegenden Fall Anwendung findet.

89.

Der vorerwähnte Begriff der „Freiheitsentziehung“ beinhaltet sowohl einen objektiven Aspekt, d. h. die Inhaftierung einer Person an einem bestimmten räumlich begrenzten Ort für eine nicht unerhebliche Dauer, als auch einen subjektiven Aspekt, d. h. die Tatsache, dass diese Person in ihre Inhaftierung nicht wirksam eingewilligt hat ( 37 ). Zu den zu berücksichtigenden objektiven Umständen gehören die Möglichkeit, den Ort der Inhaftierung zu verlassen, die Intensität der Überwachung und Kontrolle der Bewegungsfreiheit der inhaftierten Person, der Grad ihrer Isolation und die ihr gebotenen Gelegenheiten für soziale Kontakte ( 38 ). Der EGMR hat entschieden, dass von der konkreten Situation des Einzelnen auszugehen und eine Reihe von Faktoren wie die Art, die Dauer, die Wirkungen und die Form der Durchführung der fraglichen Maßnahme zu berücksichtigen sei ( 39 ). Die Unterscheidung zwischen „Entziehung“ und „Einschränkung“ der Freiheit hänge nur vom Grad oder von der Intensität, nicht aber von der Art oder vom Wesen der betreffenden Maßnahme ab. Die Einordnung in die eine oder andere Kategorie erweise sich bisweilen als mühsam, da sie in manchen Grenzfällen eine reine Ermessenssache sei. Dennoch sei eine Entscheidung zwingend geboten, da die Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit von Art. 5 EMRK davon abhänge ( 40 ). Werde bei der Ausübung polizeilicher Festnahme- und Durchsuchungsbefugnisse Zwang angewendet, so deute dies, ungeachtet der Kürze dieser Maßnahmen, auf eine „Freiheitsentziehung“ hin ( 41 ). Für die Entscheidung, ob eine „Freiheitsentziehung“vorliege, spiele es keine Rolle, dass eine Person nicht in Handschellen gelegt, inhaftiert oder auf andere Weise körperlich festgehalten werde ( 42 ).

90.

Demzufolge hat der EGMR festgestellt, dass eine „Freiheitsentziehung“ im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c EMRK vorliege, wenn der betroffenen Person jegliche Bewegungsfreiheit gänzlich entzogen worden sei, auch wenn ihre Festnahme und Durchsuchung nur von kurzer Dauer gewesen sei. Es reiche aus, dass sie gezwungen worden sei, an ihrem Aufenthaltsort zu bleiben und sich durchsuchen zu lassen ( 43 ), und dass ihr bei einer Weigerung Festnahme, Polizeigewahrsam und/oder Strafverfolgung gedroht habe ( 44 ). Die Anwendung polizeilicher Gewalt, insbesondere beim Transport der betroffenen Person zur Polizeidienststelle oder bei ihrer Festsetzung an diesem Ort, sei ein entscheidendes Element für eine dahin gehende Qualifizierung ( 45 ). Laut EGMR deutet das Verbot, die Polizeidienststelle unerlaubt zu verlassen, auf ein Zwangselement hin, das die Kriterien von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c EMRK erfüllen kann ( 46 ).

c) Vom vorlegenden Gericht vorzunehmende Überprüfungen

91.

Da das Vorabentscheidungsersuchen keine genaueren Angaben dazu enthält, was mit AB auf der Polizeidienststelle geschehen ist, sollte das vorlegende Gericht darauf hingewiesen werden, dass es die insoweit erforderlichen Nachforschungen anzustellen hat. Sollte es feststellen, dass die Durchsuchung bei einer Verkehrskontrolle in einer Situation wie in Nr. 84 der vorliegenden Schlussanträge beschrieben stattgefunden hat, müsste es meines Erachtens einen Verstoß gegen das in Art. 3 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2013/48 verankerte Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand verneinen können. Denn mangels einer nennenswerten Einschränkung der Handlungsfreiheit von AB scheint mir eine solche Situation nicht als „Freiheitsentzug“ eingestuft werden zu können.

92.

Dagegen müsste das vorlegende Gericht grundsätzlich eine Verletzung dieses Rechts feststellen können, wenn die Durchsuchung auf der Polizeidienststelle unter Umständen stattgefunden haben sollte, die gemäß den in den vorherigen Nummern der vorliegenden Schlussanträge genannten Kriterien eine „Freiheitsentziehung“ darstellen. Abgesehen davon hat der EGMR in seiner Rechtsprechung seit Langem anerkannt, dass der rechtliche Beistand in Ausnahmefällen verzögert oder zeitweilig eingeschränkt werden kann. Selbst wenn zwingende Gründe ausnahmsweise die Verweigerung des Zugangs zu einem Anwalt rechtfertigen können, darf nach dieser Rechtsprechung jedoch eine solche Einschränkung – was immer ihre Rechtfertigung sein mag – die Rechte aus Art. 6 EMRK nicht ungebührlich beeinträchtigen ( 47 ).

93.

Der EGMR hat betont, die Verteidigungsrechte würden grundsätzlich irreparabel verletzt, wenn belastende Aussagen, die bei einer polizeilichen Vernehmung gemacht worden seien, ohne dass ein Rechtsbeistand zur Verfügung gestanden habe, als Grundlage für eine Verurteilung herangezogen würden ( 48 ). Daher wird das vorlegende Gericht zu prüfen haben, ob es ausnahmsweise wegen zwingender Gründe gerechtfertigt war, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand einzuschränken, wobei es die Folgen einer solchen Einschränkung für die Fairness des Verfahrens insgesamt wird berücksichtigen müssen. Für die vorliegende Analyse ist festzuhalten, dass der Sachverhalt, wie er sich aus den Akten ergibt, keine zwingenden Gründe erkennen lässt, die die Verweigerung von Rechtsbeistand rechtfertigen könnten.

94.

Schließlich ist der Vollständigkeit halber anzumerken, dass das vorlegende Gericht, da eine Verwaltungs- oder Gerichtspraxis in der Regel das geltende nationale Recht widerspiegelt, sofern es sich nicht um einen vereinzelten Verstoß gegen dieses Recht handelt, aufgrund der Schlüsse, die es aus seiner Sachverhaltswürdigung ziehen wird, auch feststellen können dürfte, ob Art. 3 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2013/48 der fraglichen nationalen Regelung entgegensteht.

4. Antwort auf die dritte Vorlagefrage

95.

Infolgedessen ist die dritte Vorlagefrage dahin zu beantworten, dass Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2013/48 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es zulässt, dass bei einer „Befragung“ durch die Polizei (Ereignis im Sinne von Buchst. a dieses Absatzes) oder nach einem „Entzug der Freiheit“ (Ereignis im Sinne von Buchst. c dieses Absatzes) eine Leibesvisitation und eine Beschlagnahme illegaler Gegenstände vorgenommen werden, ohne dass der betroffenen Person unverzüglich das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gewährt wird. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob die Umstände des Ausgangsverfahrens unter einen dieser beiden Tatbestände fallen.

VI. Ergebnis

96.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Rayonen sad Lukovit (Rayongericht Lukovit, Bulgarien) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.

Die Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren und die Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs finden Anwendung, wenn in einem Ermittlungsverfahren gegen eine einer Straftat verdächtige Person Zwangsmaßnahmen, insbesondere eine Leibesvisitation und/oder eine Beschlagnahme, durchgeführt wurden.

2.

Der Begriff „Verdächtiger“ im Sinne der Richtlinien 2012/13 und 2013/48 ist ein autonomer Begriff des Unionsrechts. Eine Person, die tatsächlich verdächtigt wird, eine Straftat begangen zu haben, hat die Eigenschaft eines „Verdächtigen“ im Sinne dieser Richtlinien, auch wenn das nationale Recht diesen verfahrensrechtlichen Status nicht kennt und der verdächtigten Person die ihr zustehenden Rechte nicht gewährt. Diese Richtlinien stehen einer nationalen Regelung und Praxis entgegen, wonach die Verteidigungsrechte erst dann entstehen, wenn die betroffene Person förmlich als „Beschuldigter“ herangezogen wird und dies als Voraussetzung für die Geltung der im nationalen Recht vorgesehenen Verfahrensrechte und ‑garantien unter voller Wahrung des Ermessens der Ermittlungsbehörde erfolgt, die nicht verpflichtet ist, die tatsächlich verdächtigte Person unverzüglich über den gegen sie bestehenden Verdacht zu unterrichten.

3.

Das Unionsrecht, namentlich der Effektivitätsgrundsatz, hindert einen Mitgliedstaat nicht daran, die gerichtliche Überprüfung von Zwangsmaßnahmen zur Beweiserhebung auf deren formelle Rechtmäßigkeit zu beschränken, wenn der Tatrichter anschließend im Rahmen des Strafverfahrens prüfen darf, ob die Rechte der betroffenen Person aus den Richtlinien 2012/13 und 2013/48 in Verbindung mit den Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewahrt wurden.

4.

Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2013/48 steht einer nationalen Regelung entgegen, die es zulässt, dass bei einer „Befragung“ durch die Polizei oder nach einem „Entzug der Freiheit“ eine Leibesvisitation und eine Beschlagnahme illegaler Gegenstände vorgenommen werden, ohne dass der betroffenen Person unverzüglich das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gewährt wird. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob die Umstände des Ausgangsverfahrens unter einen dieser beiden Tatbestände fallen.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) ABl. 2012, L 142, S. 1.

( 3 ) ABl. 2013, L 294, S. 1.

( 4 ) Zerouki-Cottin, D., „À propos de la directive du 22 octobre 2013 relative au droit à l’avocat et de ses suites“, Revue internationale de droit pénal, Bd. 85, 2014/3-4, Nr. 20; Suominen, A., „The sensitive relationship between the different means of legal integration: mutual recognition and approximation“ in Brière, C., und Weyembergh, A. (Hrsg.), The needed balances in EU criminal law, Hart Publishing, Oxford 2017, S. 170.

( 5 ) Hervorhebung nur hier.

( 6 ) Hervorhebung nur hier.

( 7 ) Hervorhebung nur hier.

( 8 ) Hervorhebung nur hier.

( 9 ) Urteil vom 19. September 2019, Rayonna prokuratura Lom (C‑467/18, EU:C:2019:765, Rn. 38).

( 10 ) Vgl. Nr. 25 meiner Schlussanträge in der Rechtssache K. B. und F. S. (Prüfung von Amts wegen in Strafsachen) (C 660/21, EU:C:2023:52).

( 11 ) Urteil vom 19. September 2019, Rayonna prokuratura Lom (C‑467/18, EU:C:2019:765, Rn. 53). Hervorhebung nur hier.

( 12 ) Hervorhebung nur hier.

( 13 ) Urteil vom 12. März 2020, VW (Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand bei Nichterscheinen vor Gericht) (C‑659/18, EU:C:2020:201, Rn. 25 und 26). Hervorhebung nur hier.

( 14 ) Siehe Nr. 41 der vorliegenden Schlussanträge.

( 15 ) Urteil vom 19. September 2019, Rayonna prokuratura Lom (C‑467/18, EU:C:2019:765, Rn. 53). Hervorhebung nur hier.

( 16 ) Vgl. Urteile vom 5. Juni 2018, Kolev u. a. (C-612/15, EU:C:2018:392, Rn. 88 und 104), vom 12. März 2020, VW (Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand bei Nichterscheinen vor Gericht) (C‑659/18, EU:C:2020:201, Rn. 44), vom 14. Mai 2020, Staatsanwaltschaft Offenburg (C‑615/18, EU:C:2020:376, Rn. 71), sowie vom 21. Oktober 2021, ZX (Berichtigung der Anklageschrift) (C‑282/20, EU:C:2021:874, Rn. 26).

( 17 ) Urteil vom 19. September 2019, Rayonna prokuratura Lom (C‑467/18, EU:C:2019:765, Rn. 57).

( 18 ) Urteil vom 19. September 2019, Rayonna prokuratura Lom (C‑467/18, EU:C:2019:765, Rn. 58). Hervorhebung nur hier.

( 19 ) Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. März 2010, Alassini u. a. (C‑317/08 bis C‑320/08, EU:C:2010:146, Rn. 49), vom 27. Juni 2013, Agrokonsulting-04 (C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 35 und 36), sowie vom 1. August 2022, TL (Fehlende Dolmetschleistungen und Übersetzungen) (C‑242/22 PPU, EU:C:2022:611, Rn. 75).

( 20 ) Siehe Nr. 29 der vorliegenden Schlussanträge.

( 21 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juni 2019, Moro (C‑646/17, EU:C:2019:489, Rn. 36 und 54), und entsprechend Urteil vom 19. September 2018, Milev (C‑310/18 PPU, EU:C:2018:732, Rn. 47).

( 22 ) Urteil vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia (C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 62).

( 23 ) Urteile vom 14. Dezember 1995, Peterbroeck (C‑312/93, EU:C:1995:437, Rn. 14), vom 7. Juni 2007, van der Weerd u. a. (C‑222/05 bis C‑225/05, EU:C:2007:318, Rn. 33), und vom 11. September 2019, Călin (C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 42).

( 24 ) Urteil vom 28. Juni 2022, Kommission/Spanien (Verstoß des Gesetzgebers gegen das Unionsrecht) (C‑278/20, EU:C:2022:503, Rn. 59 und 60).

( 25 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. November 2002, Cofidis (C‑473/00, EU:C:2002:705, Rn. 37).

( 26 ) In meinen Schlussanträgen in der Rechtssache K. B. und F. S. (Prüfung von Amts wegen in Strafsachen) (C 660/21, EU:C:2023:52, Nrn. 64 und 65) habe ich darauf hingewiesen, dass nach französischem Strafprozessrecht Informationen und Beweismittel, die unter Verstoß gegen die Vorgaben des Unionsrechts – in jenem Fall die Art. 3 und 4 der Richtlinie 2012/13 – gewonnen worden waren, außer Acht gelassen werden durften. Ich habe argumentiert, dass die Existenz derartiger Verfahrensregeln die Wirksamkeit des Unionsrechts gewährleiste und das Verbot für das vorlegende Gericht, von Amts wegen eine aus der verspäteten Belehrung von Angeklagten über ihr Aussageverweigerungsrecht hergeleitete Einrede der Nichtigkeit des Verfahrens – einen Nichtigkeitsgrund privater Natur – zu prüfen, nicht gegen den Effektivitätsgrundsatz verstoße.

( 27 ) Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 143).

( 28 ) Urteil vom 1. Juli 2010, Gassmayr (C‑194/08, EU:C:2010:386, Rn. 44 und 45).

( 29 ) Urteil vom 19. September 2019, Rayonna prokuratura Lom (C‑467/18, EU:C:2019:765, Rn. 57 und 58).

( 30 ) Siehe Nr. 53 der vorliegenden Schlussanträge.

( 31 ) Siehe Nr. 56 der vorliegenden Schlussanträge.

( 32 ) Vgl. in diesem Sinne Mitsilegas, V., EU Criminal Law, Hart Publishing, Oxford, 2022 (2. Aufl.), S. 267.

( 33 ) EGMR, Urteil vom 27. November 2008, Salduz/Türkei (CE:ECHR:2008:1127JUD003639102, § 55).

( 34 ) Siehe Nr. 30 der vorliegenden Schlussanträge.

( 35 ) Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a. (C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 104).

( 36 ) EGMR, Urteil vom 23. April 2015, François/Frankreich (CE:ECHR:2015:0423JUD002669011, § 47).

( 37 ) EGMR, Urteil vom 17. Januar 2012, Stanev/Bulgarien (CE:ECHR:2012:0117JUD003676006, § 117).

( 38 ) EGMR, Urteil vom 16. Juni 2005, Storck/Deutschland (CE:ECHR:2005:0616JUD006160300, § 73).

( 39 ) EGMR, Urteil vom 23. Februar 2017, De Tommaso/Italien (CE:ECHR:2017:0223JUD004339509, § 80).

( 40 ) EGMR, Urteil vom 9. April 2019, Tarek und Depe/Türkei (CE:ECHR:2019:0409JUD007047212, § 53).

( 41 ) EGMR, Urteil vom 21. Juni 2011, Shimovolos/Russland (CE:ECHR:2011:0621JUD003019409, § 50).

( 42 ) EGMR, Urteil vom 23. Juli 2013, M. A./Zypern (CE:ECHR:2013:0723JUD004187210, § 193).

( 43 ) EGMR, Urteil vom 11. Oktober 2016, Kasparov/Russland (CE:ECHR:2016:1011JUD005365907, § 46).

( 44 ) EGMR, Urteil vom 12. Januar 2010, Gillan und Quinton/Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2010:0112JUD000415805, § 57).

( 45 ) EGMR, Urteil vom 24. Juni 2008, Foka/Türkei (CE:ECHR:2008:0624JUD002894095, § 78).

( 46 ) EGMR, Urteil vom 26. Juni 2014, Krupko u. a./Russland (CE:ECHR:2014:0626JUD002658707, § 36).

( 47 ) EGMR, Urteil vom 13. September 2016, Ibrahim u. a./Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2016:0913JUD005054108, § 225).

( 48 ) EGMR, Urteil vom 12. Mai 2017, Simeonovi/Bulgarien (CE:ECHR:2017:0512JUD002198004, § 116).