BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)
22. Dezember 2022 ( *1 )
„Rechtsmittel – Art. 182 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Öffentlicher Dienst – Ruhegehalt – Statut der Beamten der Europäischen Union – Art. 20 des Anhangs VIII – Gewährung einer Hinterbliebenenversorgung – Überlebender Ehegatte eines ehemaligen Beamten, der ein Ruhegehalt bezog – Nach der Zuerkennung von Invalidengeld für diesen Beamten geschlossene Ehe – Voraussetzung einer Mindestehedauer von fünf Jahren zum Zeitpunkt des Todes des Beamten – Art. 19 des Anhangs VIII – Vor der Zuerkennung von Invalidengeld für diesen Beamten geschlossene Ehe – Keine Voraussetzung einer Mindestehedauer – Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 20 des Anhangs VIII – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 20 – Grundsatz der Gleichbehandlung – Art. 21 Abs. 1 – Diskriminierungsverbot – Art. 52 Abs. 1 – Keine willkürliche oder im Hinblick auf das vom Unionsgesetzgeber verfolgte Ziel offensichtlich unangemessene Unterscheidung“
In den verbundenen Rechtssachen C‑313/21 P und C‑314/21 P
betreffend zwei Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 19. Mai 2021,
Rat der Europäischen Union, vertreten durch M. Alver und M. Bauer als Bevollmächtigte,
Rechtsmittelführer in der Rechtssache C‑313/21 P,
andere Parteien des Verfahrens:
FI,
Kläger im ersten Rechtszug,
Europäische Kommission, vertreten durch T. S. Bohr und B. Mongin als Bevollmächtigte,
Beklagte im ersten Rechtszug,
Europäisches Parlament,
Streithelfer im ersten Rechtszug,
und
Europäische Kommission, vertreten durch T. S. Bohr und B. Mongin als Bevollmächtigte,
Rechtsmittelführerin in der Rechtssache C‑314/21 P,
andere Parteien des Verfahrens:
FI,
Kläger im ersten Rechtszug,
Europäisches Parlament,
Rat der Europäischen Union, vertreten durch M. Alver und M. Bauer als Bevollmächtigte,
Streithelfer im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan (Berichterstatter) sowie der Richter N. Piçarra und N. Jääskinen,
Generalanwalt: A. Rantos,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund der nach Anhörung der Parteien und des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 182 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
1 |
Mit ihren Rechtsmitteln begehren der Rat der Europäischen Union (C‑313/21 P) und die Europäische Kommission (C‑314/21 P) die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 10. März 2021, FI/Kommission (T‑694/19, nicht veröffentlicht, EU:T:2021:122, im Folgenden: angefochtenes Urteil), mit dem das Gericht die Entscheidungen der Kommission vom 8. März 2019 und vom 1. April 2019, den Antrag von FI auf Gewährung von Hinterbliebenenversorgung abzulehnen (im Folgenden: streitige Entscheidungen), aufgehoben hat. |
Rechtlicher Rahmen
2 |
In Art. 1d des Statuts der Beamten der Europäischen Union (im Folgenden: Statut) heißt es: „(1) Bei der Anwendung dieses Statuts ist jede Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder einer sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung verboten. Für die Anwendung des Statuts werden nichteheliche Partnerschaften wie Ehen behandelt, sofern die Voraussetzungen nach Anhang VII Artikel 1 Absatz 2 Buchstabe c) erfüllt sind. (2) Im Hinblick auf die effektive Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben, die bei der Umsetzung aller Aspekte des Statuts als entscheidender Faktor zu berücksichtigen ist, hindert der Grundsatz der Gleichbehandlung die Organe der Europäischen Union nicht daran, zur Erleichterung der Berufstätigkeit des unterrepräsentierten Geschlechts oder zur Verhinderung bzw. zum Ausgleich von Benachteiligungen in der beruflichen Laufbahn spezifische Vergünstigungen beizubehalten oder zu beschließen. … (5) Führt eine unter das Statut fallende Person, die sich für benachteiligt hält, weil ihr gegenüber der oben ausgeführte Grundsatz der Gleichbehandlung nicht eingehalten wurde, Tatsachen an, die eine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung vermuten lassen, obliegt es dem Organ, nachzuweisen, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt worden ist. Diese Bestimmung ist in Disziplinarverfahren nicht anwendbar. (6) Jede Einschränkung des Diskriminierungsverbots und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist unter Angabe von objektiven und vertretbaren Gründen zu rechtfertigen; dabei sind die legitimen Ziele von allgemeinem Interesse im Rahmen der Personalpolitik zu berücksichtigen. Diese Ziele können insbesondere die Festsetzung eines bestimmten Alters für den Eintritt in den Ruhestand und eines Mindestalters für den Bezug des Ruhegehalts rechtfertigen.“ |
3 |
Art. 35 des Statuts bestimmt: „Der Beamte befindet sich in einer der nachstehend aufgeführten dienstrechtlichen Stellungen:
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4 |
Art. 47 des Statuts lautet: „Der Beamte scheidet endgültig aus dem Dienst aus durch:
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5 |
Art. 52 Abs. 1 und 2 des Statuts sieht vor: „Unbeschadet der Regelung in Artikel 50 wird der Beamte in den Ruhestand versetzt
Der Beamte kann auf seinen Antrag hin bis zu seinem 67. Lebensjahr weiterarbeiten, wenn die Anstellungsbehörde der Ansicht ist, dass der Antrag im dienstlichen Interesse gerechtfertigt ist, oder in Ausnahmefällen bis zu seinem 70. Lebensjahr; in diesem Fall wird der Beamte am letzten Tag des Monats, in dem er dieses Alter erreicht, automatisch in den Ruhestand versetzt.“ |
6 |
Art. 53 des Statuts lautet: „Sind bei einem Beamten nach Feststellung des Invaliditätsausschusses die Voraussetzungen des Artikels 78 erfüllt, so wird er am letzten Tag des Monats, in dem durch die Verfügung der Anstellungsbehörde festgestellt wird, dass der Beamte dauernd voll dienstunfähig ist, von Amts wegen in den Ruhestand versetzt.“ |
7 |
Art. 78 Abs. 1 des Statuts bestimmt: „Ein Beamter, der dauernd voll dienstunfähig geworden ist und deshalb einen Dienstposten seiner Funktionsgruppe nicht wahrnehmen kann, hat unter den in Anhang VIII Artikel 13 bis 16 vorgesehenen Bedingungen Anspruch auf Invalidengeld.“ |
8 |
In Art. 1 Abs. 2 Buchst. c von Anhang VII des Statuts heißt es: „Anspruch auf die Haushaltszulage hat: …
…“ |
9 |
Anhang VIII („Versorgungsordnung“) des Statuts enthält u. a. ein Kapitel 4 („Hinterbliebenenversorgung“), das die Art. 17 bis 29 dieses Anhangs umfasst. Art. 17 lautet: „Der überlebende Ehegatte eines Beamten, der sich bei seinem Tod in einer der dienstrechtlichen Stellungen nach Artikel 35 des Statuts befand, erhält, sofern die Ehe mindestens ein Jahr gedauert hat, vorbehaltlich des Artikels 1 Absatz 1 und des Artikels 22 eine Hinterbliebenenversorgung in Höhe von 60 v. H. des Ruhegehalts, das an den Beamten gezahlt worden wäre, wenn er – ohne Voraussetzung einer Mindestdienstzeit oder eines Mindestalters – im Zeitpunkt seines Todes hierauf Anspruch gehabt hätte. Die in Absatz 1 vorgesehene Dauer der Ehe bleibt außer Betracht, sofern aus der Ehe oder aus einer früheren Ehe des Beamten ein oder mehrere Kinder hervorgegangen sind und der überlebende Ehegatte für diese Kinder sorgt oder gesorgt hat oder wenn der Tod des Beamten auf ein Gebrechen oder eine Erkrankung, die er sich anlässlich der Ausübung seines Amtes zugezogen hat, oder auf einen Unfall zurückzuführen ist.“ |
10 |
Art. 18 von Anhang VIII des Statuts lautet: „Der überlebende Ehegatte des ehemaligen Beamten, der ein Ruhegehalt bezog, hat vorbehaltlich des Artikels 22 und sofern die Ehe vor dem Ausscheiden aus dem Dienst geschlossen worden war und mindestens ein Jahr bestand, Anspruch auf eine Hinterbliebenenversorgung in Höhe von 60 v. H. des Ruhegehalts, das der ehemalige Beamte am Tag seines Todes bezog. Die Hinterbliebenenversorgung beträgt mindestens 35 v. H. des letzten Grundgehalts, darf aber keinesfalls höher als das Ruhegehalt sein, das der ehemalige Beamte am Tag seines Todes bezog. Die Dauer der Ehe bleibt außer Betracht, sofern aus einer Ehe, die der Beamte vor seinem Ausscheiden aus dem Dienst eingegangen ist, ein oder mehrere Kinder hervorgegangen sind und der überlebende Ehegatte für diese Kinder sorgt oder gesorgt hat.“ |
11 |
Art. 19 von Anhang VIII des Statuts sieht vor: „Der überlebende Ehegatte eines ehemaligen Beamten, der Invalidengeld bezogen hat, hat vorbehaltlich des Artikels 22 dieses Anhangs Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung in Höhe von 60 v. H. des Invalidengelds, das der ehemalige Beamte am Tag seines Todes bezog, sofern er im Zeitpunkt der Zuerkennung des Invalidengelds mit dem ehemaligen Beamten verheiratet war. Die Hinterbliebenenversorgung muss mindestens 35 v. H. des letzten Grundgehalts betragen, darf aber keinesfalls höher als das Invalidengeld sein, das der ehemalige Beamte am Tag seines Todes bezog.“ |
12 |
Art. 20 von Anhang VIII des Statuts lautet: „Die in den Artikeln 17a, 18, 18a und 19 vorgesehene Dauer der Ehe bleibt außer Betracht, sofern die Ehe mit dem Beamten, auch wenn sie nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst geschlossen wurde, mindestens fünf Jahre gedauert hat.“ |
13 |
Art. 27 von Anhang VIII des Statuts hat folgenden Wortlaut: „Der geschiedene Ehegatte eines Beamten oder ehemaligen Beamten hat Anspruch auf die Hinterbliebenenversorgung nach den Vorschriften dieses Kapitels, sofern er nachweisen kann, dass er für sich selbst beim Tod seines früheren Ehegatten Anspruch auf eine Unterhaltszahlung zu dessen Lasten hatte, die entweder durch richterliche Entscheidung oder durch amtlich eingetragene und rechtswirksame Vereinbarung zwischen den ehemaligen Ehegatten festgelegt wurde. Die Hinterbliebenenversorgung darf jedoch die Unterhaltszahlung, die zum Zeitpunkt des Todes des früheren Ehegatten geleistet wurde, nicht übersteigen, wobei Letztere nach den Modalitäten des Artikels 82 des Statuts aktualisiert wird. Der Anspruch des geschiedenen Ehegatten erlischt, wenn er vor dem Tod seines früheren Ehegatten eine neue Ehe eingeht. Geht er nach dessen Tod eine neue Ehe ein, so findet Artikel 26 auf ihn Anwendung.“ |
Vorgeschichte der Rechtsstreitigkeiten und streitige Entscheidungen
14 |
Ab 2001 lebte FI in nicht ehelicher Lebensgemeinschaft mit einer Beamtin eines Unionsorgans, die 2005 wegen Dienstunfähigkeit von Amts wegen in den Ruhestand versetzt wurde und der Invalidengeld zuerkannt wurde. |
15 |
Am 12. Mai 2014 heirateten FI und diese Beamtin. Sie verstarb am 25. Januar 2019, weniger als fünf Jahre nach dem Zeitpunkt der Eheschließung. |
16 |
FI stellte in seiner Eigenschaft als überlebender Ehegatte einer ehemaligen Unionsbeamtin einen Antrag auf Gewährung einer Hinterbliebenenversorgung nach Kapitel 4 von Anhang VIII des Statuts. |
17 |
Das Amt für die Feststellung und Abwicklung individueller Ansprüche (PMO) der Kommission lehnte den Antrag von FI mit den streitigen Entscheidungen ab und führte zur Begründung aus, er erfülle die in Art. 20 von Anhang VIII des Statuts vorgesehenen Voraussetzungen für den Bezug einer Hinterbliebenenversorgung nicht, da seine Ehe mit der verstorbenen Beamtin, die nach deren Ausscheiden aus dem Dienst eingegangen worden sei, weniger als fünf Jahre gedauert habe. |
18 |
Die von FI dagegen eingelegte Beschwerde wurde zurückgewiesen. |
Klage und angefochtenes Urteil
19 |
Mit Klageschrift, die am 9. Oktober 2019 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob FI Klage auf Aufhebung der streitigen Entscheidungen. |
20 |
Das Europäische Parlament und der Rat wurden als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen. |
21 |
FI stützte seine Klage auf drei Klagegründe; mit dem ersten Klagegrund rügte er im Wesentlichen die Rechtswidrigkeit von Art. 20 des Anhangs VIII des Statuts im Hinblick auf den Grundsatz der Gleichbehandlung. |
22 |
Das Gericht stellte zum ersten Klagegrund fest, dass im Rahmen der Gewährung einer Hinterbliebenenversorgung die von Art. 19 des Anhangs VIII des Statuts erfasste Situation des überlebenden Ehegatten eines ehemaligen Unionsbeamten, der Invalidengeld bezogen und vor seiner Invalidisierung die Ehe geschlossen habe, und die von Art. 20 des Anhangs VIII des Statuts erfasste Situation des überlebenden Ehegatten eines ehemaligen Beamten, der Invalidengeld bezogen und nach seiner Invalidisierung die Ehe geschlossen habe, vergleichbar seien. Es liege eine Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte je nach dem Zeitpunkt der Eheschließung vor, denn dem überlebenden Ehegatten werde die Hinterbliebenenversorgung im Rahmen von Art. 19 des Anhangs VIII des Statuts unabhängig von der Ehedauer gewährt, im Rahmen von Art. 20 dieses Anhangs dagegen nur, sofern die Ehe mindestens fünf Jahre bestanden habe. Diese Ungleichbehandlung führe dazu, dass der überlebende Ehegatte eines ehemaligen Beamten, der nach dessen Invalidisierung die Ehe geschlossen habe, gegenüber dem überlebenden Ehegatten eines ehemaligen Beamten, der vor seiner Invalidisierung geheiratet habe, benachteiligt werde. |
23 |
Die durch Art. 20 von Anhang VIII des Statuts eingeführte Ungleichbehandlung sei im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) gesetzlich vorgesehen; zu prüfen sei, ob sie durch ein Ziel von allgemeinem Interesse gerechtfertigt werden könne und im Hinblick auf das verfolgte Ziel, insbesondere unter Berücksichtigung der in Rn. 48 des angefochtenen Urteils angeführten Rechtsprechung, verhältnismäßig sei. |
24 |
Insoweit sei hinsichtlich des im Allgemeininteresse liegenden Ziels der Betrugsprävention zwar anzuerkennen, dass die in einer Mindestehedauer bestehende Voraussetzung für die Eröffnung eines Anspruchs auf Hinterbliebenenversorgung sicherstellen könne, dass die Eheschließung nicht ausschließlich auf Erwägungen, die nichts mit einem gemeinsamen Lebensentwurf zu tun hätten – wie z. B. rein finanzielle Erwägungen oder Erwägungen im Zusammenhang mit der Erlangung eines Aufenthaltsrechts –, beruhe. Es sei jedoch unvernünftig, anzunehmen, dass die in Art. 20 von Anhang VIII des Statuts vorgesehene Voraussetzung einer Mindestehedauer von fünf Jahren – die in Art. 19 dieses Anhangs kein Gegenstück habe und von der es keine Ausnahme bei Vorlage objektiver Beweise für das Nichtvorliegen eines Betrugs gebe – erforderlich sein könnte, um das Ziel der Betrugsbekämpfung zu erreichen. |
25 |
Somit verstoße Art. 20 von Anhang VIII des Statuts gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung. Daher sei der von FI erhobenen Einrede der Rechtswidrigkeit stattzugeben, und die streitigen Entscheidungen seien aufzuheben. |
Anträge der Parteien und Verfahren vor dem Gerichtshof
26 |
Mit seinem Rechtsmittel in der Rechtssache C‑313/21 P beantragt der Rat,
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27 |
Mit ihrem Rechtsmittel in der Rechtssache C‑314/21 P beantragt die Kommission,
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28 |
Durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 30. Juni 2021 sind die vorliegenden Rechtssachen bis zur Verkündung des Urteils in den verbundenen Rechtssachen C‑116/21 P bis C‑118/21 P, C‑138/21 P und C‑139/21 P ausgesetzt worden. Nach der Verkündung des Urteils vom 14. Juli 2022, Kommission/VW u. a. (C‑116/21 P bis C‑118/21 P, C‑138/21 P und C‑139/21 P, EU:C:2022:557), ist das Verfahren durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 19. Juli 2022 fortgesetzt worden. |
29 |
Gemäß Art. 54 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs hat der Präsident des Gerichtshofs am 30. Juni 2021 die Rechtssachen C‑313/21 P und C‑314/21 P zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden. |
Zu den Rechtsmitteln
Zur Anwendung von Art. 182 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs
30 |
Nach Art. 182 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, wenn er bereits über eine oder mehrere Rechtsfragen entschieden hat, die mit den durch die Rechtsmittel- oder Anschlussrechtsmittelgründe aufgeworfenen übereinstimmen, und er das Rechtsmittel oder Anschlussrechtsmittel für offensichtlich begründet hält, es auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung der Parteien und des Generalanwalts durch mit Gründen versehenen Beschluss, der einen Verweis auf die einschlägige Rechtsprechung enthält, für offensichtlich begründet erklären. |
31 |
Die Kommission hat keine Einwände gegen die Anwendung dieses Artikels erhoben. |
32 |
Der Rat und FI sind der Aufforderung des Gerichtshofs, sich hierzu zu äußern, nicht nachgekommen. |
33 |
Die im Rahmen der vorliegenden Rechtssachen geltend gemachten Rechtsmittelgründe werfen Rechtsfragen auf, die mit denen übereinstimmen, über die der Gerichtshof im Urteil vom 14. Juli 2022, Kommission/VW u. a. (C‑116/21 P bis C‑118/21 P, C‑138/21 P und C‑139/21 P, EU:C:2022:557), entschieden hat. Folglich ist Art. 182 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs in den vorliegenden Rechtssachen anzuwenden. |
Zur Begründetheit
34 |
Der Rat stützt sein Rechtsmittel in der Rechtssache C‑313/21 P auf drei Rechtsmittelgründe, und zwar erstens auf Rechtsfehler in Bezug auf das Vorliegen einer Ungleichbehandlung, zweitens auf Rechtsfehler in Bezug auf den Umfang der gerichtlichen Kontrolle der vom Unionsgesetzgeber getroffenen Entscheidungen durch das Gericht und drittens auf Rechtsfehler hinsichtlich der Rechtfertigung der Ungleichbehandlung. |
35 |
Die Kommission stützt ihr Rechtsmittel in der Rechtssache C‑314/21 P auf drei Rechtsmittelgründe, und zwar erstens auf einen Rechtsfehler in Bezug auf die Kriterien für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der vom Unionsgesetzgeber getroffenen Entscheidungen sowie einen Verstoß gegen die Begründungspflicht, zweitens auf einen Rechtsfehler bei der Auslegung des Diskriminierungsverbots und drittens auf einen Rechtsfehler bei der Auslegung von Art. 52 Abs. 1 der Charta sowie mehrere Verstöße gegen die Begründungspflicht. |
Zum ersten Rechtsmittelgrund in der Rechtssache C‑313/21 P sowie zum dritten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes und zum zweiten Rechtsmittelgrund in der Rechtssache C‑314/21 P
– Vorbringen der Parteien
36 |
Mit diesen Rechtsmittelgründen bzw. ihren Teilen machen der Rat und die Kommission geltend, das Gericht habe im angefochtenen Urteil den Grundsatz der Gleichbehandlung und das Diskriminierungsverbot rechtsfehlerhaft ausgelegt, indem es zu Unrecht zu dem Ergebnis gelangt sei, dass eine Ungleichbehandlung vorliege, weil die von den Art. 19 und 20 des Anhangs VIII des Statuts erfassten Situationen vergleichbar seien und auf diese vergleichbaren Situationen unterschiedliche Regelungen angewandt würden. |
37 |
Sie sind der Ansicht, das Gericht habe in den Rn. 57 und 58 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerhaft angenommen, dass der Zeitpunkt der Eheschließung der einzige für die Anwendung von Art. 19 oder Art. 20 des Anhangs VIII des Statuts entscheidende Gesichtspunkt sei und dass daher die von diesen Bestimmungen erfassten Situationen vergleichbar seien. Hätte das Gericht alle für diese Situationen kennzeichnenden Umstände berücksichtigt, hätte es aber feststellen müssen, dass zwischen den Beamten im aktiven Dienst und denen, die Invalidengeld bezögen und aus dem Dienst eines Unionsorgans ausgeschieden seien, ein wesentlicher und objektiver Unterschied bestehe. Dieser Unterschied betreffe ihre jeweilige Rechtssituation, insbesondere im Hinblick auf die beruflichen Rechte und Pflichten, die Erstere im Gegensatz zu Letzteren nach dem Statut während ihrer gesamten Dienstzeit zu beachten hätten. |
38 |
Im Einzelnen heben sowohl der Rat als auch die Kommission hervor, dass der im aktiven Dienst befindliche Beamte – anders als ehemalige Beamte, die nicht mehr arbeiten müssten – Beiträge zum Versorgungssystem zu leisten habe, ein Grundgehalt beziehe, das über dem Ruhegehalt liege, das ihm gewährt werde, wenn er in den Ruhestand trete, an seinem Dienstort wohnen müsse und Anspruch auf Auslands- und Expatriierungszulage sowie auf Reisekostenerstattung habe. Diese Erwägungen zeigten, dass die Situation eines ehemaligen Beamten, der nach seiner Invalidisierung heirate, es anders als im Fall eines Beamten, der noch während seines aktiven Dienstes heirate, nicht ohne Weiteres erfordere, dass der überlebende Ehegatte ein Ersatzeinkommen in Form der Hinterbliebenenversorgung erhalte. |
39 |
Die Kommission trägt ferner vor, die Situation der Beamten, die unter Art. 19 von Anhang VIII des Statuts fielen, unterscheide sich in persönlicher Hinsicht von der Situation der unter dessen Art. 20 fallenden Beamten. Zum einen hätten die ehemaligen Beamten, die Invalidengeld bezögen, im Allgemeinen eine geringere Lebenserwartung als die Beamten, die kein Invalidengeld bezögen. Dies trage zwangsläufig zu einer Erhöhung der Betrugsgefahr bei und erkläre damit die unterschiedliche Behandlung. Zum anderen sei die Gefahr eines Missbrauchs oder Betrugs geringer, wenn der überlebende Ehegatte den Beamten vor dessen Invalidisierung geheiratet und ihn anschließend während der gesamten Ehedauer bis zu seinem Tod unterstützt habe, während es im Fall einer Eheschließung nach der Invalidisierung und dem Ausscheiden des Beamten aus dem Dienst nicht offensichtlich unangemessen sei, eine Ehedauer von fünf Jahren zu verlangen, damit es einen objektiven Nachweis für die Solidarität und die gegenseitige Unterstützung der Ehegatten gebe. |
40 |
Der Rat und die Kommission fügen hinzu, das Gericht habe es in Rn. 55 des angefochtenen Urteils zu Unrecht abgelehnt, die Konsequenzen aus Rn. 33 seines Urteils vom 17. Juni 1993, Arauxo-Dumay/Kommission (T‑65/92, EU:T:1993:47), zu ziehen, in dem es hervorgehoben habe, dass zwischen den von Art. 19 und den von Art. 20 des Anhangs VIII des Statuts erfassten Situationen ein Unterschied bestehe. Der diesem Urteil zugrunde liegende Gedankengang sei trotz des unterschiedlichen Sachverhalts auf den vorliegenden Fall übertragbar. |
41 |
Die Kommission macht überdies geltend, das Gericht habe in Rn. 56 des angefochtenen Urteils bei seiner Analyse zu Unrecht den Zweck der in Art. 20 von Anhang VIII des Statuts vorgesehenen Mindestehedauer außer Acht gelassen; er bestehe, wie sich aus den Rn. 87 und 88 des Urteils vom 19. Dezember 2019, HK/Kommission (C‑460/18 P, EU:C:2019:1119), ergebe, darin, Erbvereinbarungen zu unterbinden und mithin zu verhindern, dass die Ehe allein mit dem Ziel geschlossen werde, eine Hinterbliebenenversorgung zu erlangen, ohne dass ihr tatsächliche und beständige Beziehungen zwischen den betreffenden Personen zugrunde lägen. Somit habe das Gericht dem Kriterium, wonach bei der Beurteilung der Vergleichbarkeit von Sachverhalten sämtliche sie kennzeichnenden Merkmale sowie alle für die jeweilige Stellung bei jedem der zu vergleichenden Sachverhalte geltenden Rechtsvorschriften zu berücksichtigen seien, nicht Rechnung getragen. Insbesondere habe das Gericht, indem es in dieser Randnummer des angefochtenen Urteils davon ausgegangen sei, dass eine nach der Zuerkennung von Invalidengeld geschlossene Ehe die Lage des überlebenden Ehegatten in Bezug auf seine Vermögensrechte im Vergleich zu der Situation, die Gegenstand von Art. 19 des Anhangs VIII des Statuts sei, nicht wesentlich verändere – abgesehen davon, dass diese Erwägung in keiner Weise begründet worden sei –, die Gefahr außer Acht gelassen, dass eine solche Ehe den Vorwand für den Abschluss von Erbvereinbarungen bilde. Es lasse sich nämlich nicht leugnen, dass in Anbetracht der Situation des Beamten, der nach der Invalidisierung heirate, die Betrugs- und Missbrauchsrisiken größer seien als bei einem Beamten, der davor geheiratet habe. |
– Würdigung durch den Gerichtshof
42 |
Vorab ist auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs hinzuweisen, wonach die in Art. 20 der Charta niedergelegte Gleichheit vor dem Gesetz ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist, nach dem vergleichbare Situationen nicht unterschiedlich und unterschiedliche Situationen nicht gleichbehandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt ist (Urteil vom 14. Juli 2022, Kommission/VW u. a., C‑116/21 P bis C‑118/21 P, C‑138/21 P und C‑139/21 P, EU:C:2022:557, Rn. 95 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
43 |
Das für die Feststellung einer Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes geltende Erfordernis der Vergleichbarkeit der Situationen ist anhand aller sie kennzeichnenden Merkmale zu beurteilen, insbesondere im Hinblick auf den Gegenstand und das Ziel des Rechtsakts, mit dem die Unterscheidung vorgenommen wird; dabei sind die Grundsätze und Ziele des Regelungsbereichs zu berücksichtigen, in den der Rechtsakt fällt. Soweit sich die Situationen nicht miteinander vergleichen lassen, verstößt ihre unterschiedliche Behandlung nicht gegen die in Art. 20 der Charta garantierte Gleichheit vor dem Gesetz (Urteil vom 14. Juli 2022, Kommission/VW u. a., C‑116/21 P bis C‑118/21 P, C‑138/21 P und C‑139/21 P, EU:C:2022:557, Rn. 96 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
44 |
Im Licht dieser Rechtsprechung ist das Vorbringen des Rates und der Kommission zu prüfen, wonach das Gericht im angefochtenen Urteil zu Unrecht den Schluss gezogen habe, dass die von den Bestimmungen der Art. 19 und 20 von Anhang VIII des Statuts erfassten Situationen vergleichbar seien und dass diese vergleichbaren Situationen nach Maßgabe des Zeitpunkts der Eheschließung ungleich behandelt würden. |
45 |
Insoweit hat das Gericht in den Rn. 50, 51 und 54 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass die Art. 19 und 20 von Anhang VIII des Statuts, sofern die in Art. 20 aufgestellte Voraussetzung der Mindestehedauer eingehalten werde, die Gewährung einer Hinterbliebenenversorgung an den überlebenden Ehegatten ausschließlich nach der Rechtsnatur der Bindungen zwischen ihm und dem verstorbenen Ehegatten bezweckten. Das Gericht hat ferner darauf hingewiesen, dass die genannten Bestimmungen dem überlebenden Ehegatten ein Ersatzeinkommen verschaffen sollten, das den Verlust der Einkünfte des verstorbenen Ehegatten, eines ehemaligen Beamten, der sich vor seinem Tod nicht mehr im aktiven Dienst befunden habe, teilweise ausgleichen solle. |
46 |
Das Gericht ist daher im Wesentlichen davon ausgegangen, dass der Gegenstand und das Ziel dieser beiden Bestimmungen von Anhang VIII des Statuts im Hinblick auf die oben in Rn. 43 angeführte Rechtsprechung, auf die das Gericht in Rn. 44 des angefochtenen Urteils selbst hingewiesen hat, weitgehend übereinstimmen. Nach Auffassung des Gerichts besteht das Hauptmerkmal der jeweiligen Hinterbliebenenversorgung in der Rechtsnatur der Bindungen zwischen dem überlebenden Ehegatten als der Person, der diese Bestimmungen einen Anspruch einräumen, und dem verstorbenen ehemaligen Beamten. Der einzige Unterschied bei der Anwendung der Art. 19 und 20 von Anhang VIII des Statuts liege, wie sich eindeutig aus Rn. 52 des angefochtenen Urteils ergebe, darin, ob die Ehe vor oder nach der Zuerkennung des Invalidengelds für den Beamten geschlossen worden sei, wobei Art. 20 im Gegensatz zu Art. 19 eine Mindestehedauer vorsehe. |
47 |
Unter diesen Umständen hat das Gericht keinen Rechtsfehler begangen, als es zum einen in Rn. 57 des angefochtenen Urteils feststellte, dass die von den Art. 19 und 20 von Anhang VIII des Statuts erfassten Situationen vergleichbar seien, und zum anderen in den Rn. 52 und 58 des angefochtenen Urteils davon ausgegangen ist, dass sich die von diesen Bestimmungen erfassten Situationen nur in Bezug auf das Verhältnis zwischen dem Zeitpunkt der Eheschließung und dem Zeitpunkt der Zuerkennung des Invalidengelds unterschieden. |
48 |
Der Rat und die Kommission machen jedoch erstens geltend, dass sich die von den Art. 19 und 20 des Anhangs VIII des Statuts erfassten Situationen wesentlich und objektiv gerade dadurch unterschieden, dass der Beamte zum Zeitpunkt der Eheschließung im Rahmen der ersten Bestimmung noch im Dienst eines Unionsorgans gestanden habe, während er im Rahmen der zweiten Bestimmung aufgrund seiner Invalidisierung und der Zuerkennung von Invalidengeld sein Amt nicht mehr habe ausüben können. Das Gericht habe somit diesen kennzeichnenden Umstand bei seiner Beurteilung der Vergleichbarkeit der Situationen nicht hinreichend berücksichtigt. |
49 |
Wie das Gericht in Rn. 53 des angefochtenen Urteils zutreffend ausgeführt hat, unterscheidet sich die Rechtsnatur der Bindungen zwischen dem überlebenden Ehegatten und dem verstorbenen Beamten jedoch weder danach, ob der Beamte zum Zeitpunkt der Eheschließung in einem Dienstverhältnis stand oder nicht, noch nach der Höhe der an das Versorgungssystem der Union gezahlten oder noch zu zahlenden Beiträge. Ob die Heirat des verstorbenen Beamten vor oder nach der Zuerkennung von Invalidengeld stattfand, ist zudem, wie das Gericht in Rn. 56 des angefochtenen Urteils festgestellt hat, nicht geeignet, die Situation des überlebenden Ehegatten im Hinblick auf seine Vermögensrechte, zu denen der Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung als Ersatzeinkommen gehört, wesentlich zu verändern. |
50 |
Der Zeitpunkt der Eheschließung richtet sich nämlich allein nach dem Willen der zukünftigen Ehegatten. Er beruht auf einer freien Entscheidung des Beamten aufgrund einer Vielzahl von Erwägungen, die weder notwendigerweise noch ausschließlich die Berücksichtigung der mit dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Dienstverhältnisses verbundenen Umstände implizieren. Entgegen dem Vorbringen des Rates und der Kommission kann es daher keinen entscheidenden Einfluss auf die Beurteilung der Vergleichbarkeit der betreffenden Situationen anhand der oben in Rn. 43 genannten Kriterien und insbesondere des Gegenstands und des Ziels der Art. 19 und 20 von Anhang VIII des Statuts (siehe oben, Rn. 45) haben, ob der Beamte zu diesem Zeitpunkt invalidisiert worden war und somit sein Amt nicht mehr ausüben konnte. Die Ausführungen des Gerichts, auf die in der vorstehenden Randnummer hingewiesen wird, beruhen insoweit im Wesentlichen auf diesem Gegenstand, diesem Ziel sowie dem oben in Rn. 46 genannten Hauptmerkmal des Anspruchs auf Hinterbliebenenversorgung. |
51 |
Zwar hat es, wie sich ebenfalls aus Rn. 46 des vorliegenden Beschlusses ergibt, Einfluss auf die Voraussetzung der Mindestdauer der Ehe, ob dem Beamten zum Zeitpunkt der Eheschließung Invalidengeld bewilligt worden war und ob er sein Amt nicht mehr ausüben konnte. Während eine solche Voraussetzung nicht besteht, wenn die Ehe geschlossen wurde, bevor dem Beamten Invalidengeld zuerkannt wurde, und er somit noch sein Amt ausübte, muss die Ehe mindestens fünf Jahre bestanden haben, wenn der Beamte heiratet, nachdem ihm diese Leistung bewilligt wurde und als er nicht mehr in der Lage war, sein Amt auszuüben. |
52 |
Wie sich aus den Rn. 49 und 50 des vorliegenden Beschlusses ergibt, sind jedoch weder die Frage der Ausübung des Amtes noch der Zeitpunkt der Eheschließung relevante Gesichtspunkte im Stadium der Vergleichbarkeit der Situationen, da sie in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit Gegenstand, Zweck und Hauptmerkmal des Anspruchs auf Hinterbliebenenversorgung im Sinne der Art. 19 und 20 von Anhang VIII des Statuts stehen. |
53 |
Aus diesem Grund ist in entsprechender Heranziehung der Ausführungen des Gerichtshofs zur Hinterbliebenenversorgung nach Art. 17 von Anhang VIII des Statuts in Rn. 70 des Urteils vom 19. Dezember 2019, HK/Kommission (C‑460/18 P, EU:C:2019:1119), davon auszugehen, dass die Gewährung der Hinterbliebenenversorgung vom Grundsatz her „ausschließlich“ von der Rechtsnatur der Bindungen zwischen der betreffenden Person und dem verstorbenen Beamten abhängt, auch wenn der Gerichtshof in Rn. 89 seines Urteils anerkannt hat, dass die Mindestdauer der Ehe ebenfalls eine Bedingung dafür darstellt, dass der überlebende Ehegatte in den Genuss der Hinterbliebenenversorgung kommt. |
54 |
Dem System der Hinterbliebenenversorgung des öffentlichen Dienstes der Union liegt nämlich die Rechtsnatur der Bindungen zwischen den Ehegatten zugrunde, da dies eine der Gewährung jeder Art von Hinterbliebenenversorgung im Sinne der Art. 17 bis 20 und 27 von Anhang VIII des Statuts gemeinsame Voraussetzung ist. Die Voraussetzung der Mindestdauer der Ehe ist zur Voraussetzung der Rechtsnatur der Bindungen zwischen den Ehegatten akzessorisch, da sie nur konkretisieren soll, wie lange die rechtliche Bindung bestanden haben muss, damit die Hinterbliebenenversorgung gewährt wird. Diese akzessorische Voraussetzung wird zudem für manche Arten der Hinterbliebenenversorgung, etwa für die in den Art. 19 und 27 von Anhang VIII des Statuts genannten, nicht übernommen. |
55 |
Zu Recht hat das Gericht daher in den Rn. 51 und 53 des angefochtenen Urteils bei seiner Begründung zu Recht auf die Bedeutung der rechtlichen Bindung zwischen den Ehegatten als den das System der Hinterbliebenenversorgung der Union kennzeichnenden Hauptgesichtspunkt abgestellt und ist zu dem Schluss gekommen, dass die Zuerkennung von Invalidengeld oder die Ausübung des Amtes keine Auswirkung auf diese Bindung habe. |
56 |
Der Rat und die Kommission tragen zweitens vor, die Situation eines ehemaligen Beamten, der heirate, nachdem ihm Invalidengeld bewilligt worden sei und er sein Amt nicht mehr ausüben könne, erfordere es anders als im Fall eines Beamten, der noch während seines aktiven Dienstes heirate, nicht ohne Weiteres, dass dem überlebenden Ehegatten ein Ersatzeinkommen gewährt werde. Insoweit genügt der Hinweis, dass der Anspruch auf eine Hinterbliebenenversorgung im Sinne der Art. 18 und 20 von Anhang VIII des Statuts, wie das Gericht in Rn. 56 des angefochtenen Urteils unter Bezugnahme auf Rn. 69 des Urteils vom 19. Dezember 2019, HK/Kommission (C‑460/18 P, EU:C:2019:1119), zutreffend ausgeführt hat, nicht voraussetzt, dass der überlebende Ehegatte aufgrund seiner Einnahmen- und Vermögenssituation nicht in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, und damit den Nachweis erbringt, dass er vom Verstorbenen finanziell abhängig war. |
57 |
Drittens macht die Kommission geltend, das Gericht habe dem Zweck der in Art. 20 von Anhang VIII des Statuts, nicht aber in Art. 19 dieses Anhangs, vorgesehenen Mindestdauer der Ehe nicht Rechnung getragen; dieser bestehe, wie sich aus Rn. 89 des Urteils vom 19. Dezember 2019, HK/Kommission (C‑460/18 P, EU:C:2019:1119), ergebe, darin, den Abschluss betrügerischer oder missbräuchlicher Erbvereinbarungen zu verhindern. In Bezug auf eine solche Missbrauchs- oder Betrugsgefahr unterschieden sich die von den beiden Artikeln erfassten Situationen in persönlicher Hinsicht. Hierzu genügt der Hinweis, dass dieser Gesichtspunkt im Stadium der Vergleichbarkeit der Situationen nicht von Relevanz ist. Dieses Argument bezieht sich nämlich auf die Rechtfertigung des Erfordernisses einer Mindestdauer der Ehe, so dass es erst im Stadium der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer etwaigen Ungleichbehandlung eine Rolle spielen kann. |
58 |
Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass entgegen dem Vorbringen der Kommission und des Rates die Schlussfolgerungen, zu denen das Gericht in den Rn. 57 und 58 des angefochtenen Urteils gelangt ist, nicht rechtsfehlerhaft sind. |
59 |
Unter diesen Umständen geht das Vorbringen des Rates und der Kommission, das Gericht habe es in Rn. 55 des angefochtenen Urteils zu Unrecht abgelehnt, die Konsequenzen aus Rn. 33 des Urteils vom 17. Juni 1993, Arauxo-Dumay/Kommission (T‑65/92, EU:T:1993:47), zu ziehen, ins Leere. Selbst wenn dies zutreffen sollte, hätten die Schlussfolgerungen des Gerichts zur Vergleichbarkeit der Situationen nämlich, unabhängig von den Ausführungen in Rn. 55 des angefochtenen Urteils, eine hinreichende Grundlage in dessen Rn. 50 bis 54 und 56. |
60 |
Folglich sind der erste Rechtsmittelgrund in der Rechtssache C‑313/21 P sowie der dritte Teil des ersten Rechtsmittelgrundes und der zweite Rechtsmittelgrund in der Rechtssache C‑314/21 P als unbegründet zurückzuweisen. |
Zum zweiten Rechtsmittelgrund in der Rechtssache C‑313/21 P und zu den ersten beiden Teilen des ersten Rechtsmittelgrundes in der Rechtssache C‑314/21 P
– Vorbringen der Parteien
61 |
Mit diesen Rechtsmittelgründen werfen der Rat und die Kommission dem Gericht im Wesentlichen vor, in den angefochtenen Urteilen einen Rechtsfehler in Bezug auf den Umfang der gerichtlichen Kontrolle begangen zu haben. |
62 |
Diese beiden Organe machen geltend, das Gericht habe in Rn. 48 Satz 2 des angefochtenen Urteils eine Rechtsprechung der Union angewandt, die zu dem völlig anderen Kontext personalpolitischer Entscheidungen in Situationen, in denen dem Gesetzgeber mehrere Optionen offenstünden, entwickelt worden sei. Mithin habe das Gericht insbesondere in Rn. 80 des angefochtenen Urteils zu Unrecht den Schluss gezogen, dass die Entscheidung des Unionsgesetzgebers hinsichtlich der in Art. 20 von Anhang VIII des Statuts festgelegten Mindestehedauer schlicht „unvernünftig“ sei. Damit habe es eine Kontrolle vorgenommen, die über den „offensichtlich ungeeigneten oder unangemessenen“ Charakter der in Rede stehenden Maßnahme im Verhältnis zu dem von den zuständigen Organen verfolgten Ziel, das im vorliegenden Fall in der Verhinderung von Rechtsmissbrauch und Betrug sowie im Schutz der Finanzen der Union bestehe, hinausgegangen sei. Das Gericht habe so seine eigene Beurteilung an die Stelle der Beurteilung des Unionsgesetzgebers gesetzt und daher die Grenzen der Rechtmäßigkeitskontrolle überschritten. |
63 |
Die Kommission bringt darüber hinaus vor, das Gericht sei, obwohl es seine Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Art. 20 des Anhangs VIII nach eigenem Bekunden auf die Art. 20 und 21 der Charta gestützt habe, von der Rechtsprechung des Gerichtshofs abgewichen, wonach die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Unionsrechtsakts im Hinblick auf die Grundrechte jedenfalls nicht auf einem Vorbringen beruhen könne, das sich auf die Konsequenzen dieses Rechtsakts in einem Einzelfall stütze. Das Gericht habe nämlich in Rn. 77 des angefochtenen Urteils aufgrund der besonderen tatsächlichen Umstände des vorliegenden Falles Art. 20 von Anhang VIII des Statuts für rechtswidrig erklärt. |
– Würdigung durch den Gerichtshof
64 |
Das Gericht hat in den Rn. 46 bis 48 des angefochtenen Urteils auf die in Art. 52 Abs. 1 der Charta genannten Erfordernisse sowie auf die Rechtsprechung zur Kontrolle der Verhältnismäßigkeit einer Ungleichbehandlung hingewiesen. Sodann hat es in Rn. 49 des angefochtenen Urteils entschieden, dass es im Fall der Vergleichbarkeit der Situationen, auf die sich die Art. 19 und 20 von Anhang VIII des Statuts jeweils bezögen, prüfen müsse, ob es nicht unvernünftig erscheine, dass der Unionsgesetzgeber die eingeführte Ungleichbehandlung für geeignet und erforderlich halte, um das Allgemeinwohlziel zu erreichen, das mit der Voraussetzung der Mindestehedauer in Art. 20 von Anhang VIII des Statuts verfolgt werde. Nachdem es zu dem Ergebnis gekommen war, dass die Situationen vergleichbar seien, hat es diese Analyse ab Rn. 62 des angefochtenen Urteils vorgenommen. |
65 |
Wie der Rat und die Kommission geltend machen, geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass bei statutarischen Bestimmungen wie den hier in Rede stehenden unter Berücksichtigung des in diesem Zusammenhang weiten Ermessens des Unionsgesetzgebers der in Art. 20 der Charta niedergelegte Grundsatz der Gleichbehandlung nur dann missachtet wird, wenn der Unionsgesetzgeber eine willkürliche oder im Hinblick auf das Ziel der fraglichen Regelung offensichtlich unangemessene Differenzierung vornimmt (Urteil vom 14. Juli 2022, Kommission/VW u. a., C‑116/21 P bis C‑118/21 P, C‑138/21 P und C‑139/21 P, EU:C:2022:557, Rn. 127 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
66 |
Diese Rechtsprechung ist im Rahmen der Prüfung des in Art. 52 Abs. 1 der Charta aufgestellten Erfordernisses der Verhältnismäßigkeit anwendbar (Urteil vom 14. Juli 2022, Kommission/VW u. a., C‑116/21 P bis C‑118/21 P, C‑138/21 P und C‑139/21 P, EU:C:2022:557, Rn. 128). |
67 |
Im vorliegenden Fall hat das Gericht in Rn. 49 des angefochtenen Urteils ausgeführt, es sei zu prüfen, ob es nicht unvernünftig erscheine, dass der Unionsgesetzgeber die eingeführte Ungleichbehandlung für geeignet und erforderlich halte, um das Allgemeinwohlziel zu erreichen, das mit der in Art. 20 von Anhang VIII des Statuts vorgesehenen Voraussetzung der Mindestehedauer verfolgt werde. |
68 |
Nach der oben in den Rn. 65 und 66 angeführten Rechtsprechung hätte es sich aber auf die Prüfung beschränken müssen, ob die in der genannten Bestimmung in Verbindung mit Art. 19 des Anhangs VIII vorgenommene Differenzierung willkürlich oder im Hinblick auf das verfolgte Allgemeinwohlziel offensichtlich unangemessen erscheint. Durch die fehlerhafte Prüfung des Erfordernisses der Verhältnismäßigkeit hat das Gericht den Umfang seiner gerichtlichen Kontrolle verkannt und somit einen Rechtsfehler begangen. Ohne diesen Fehler hätte das Gericht nämlich andere Erwägungen angestellt und wäre eventuell zu anderen Schlussfolgerungen gelangt als denen, die es in den Rn. 80, 81 und 83 des angefochtenen Urteils gezogen hat. |
69 |
Diese Verkennung des Umfangs der gerichtlichen Kontrolle hat sich auch auf Rn. 67 des angefochtenen Urteils übertragen. Ausgehend von dieser Randnummer hat das Gericht nämlich geprüft, ob die in Art. 20 von Anhang VIII des Statuts vorgesehene Voraussetzung einer Mindestehedauer von fünf Jahren für sich genommen und unabhängig von Art. 19 dieses Anhangs im Hinblick auf Art. 52 Abs. 1 der Charta insofern verhältnismäßig ist, als sie nicht offensichtlich über das hinausgeht, was zur Erreichung des vom Unionsgesetzgeber verfolgten Ziels erforderlich ist. Wie sich aus Rn. 66 des vorliegenden Beschlusses ergibt, hätte sich das Gericht aber auch im Rahmen dieser Bestimmung der Charta auf die Prüfung beschränken müssen, ob die im vorliegenden Fall festgestellte Unterscheidung, die darin besteht, dass in den unter Art. 20 von Anhang VIII des Statuts fallenden Situationen die Mindestehedauer fünf Jahre beträgt, während es in den unter Art. 19 dieses Anhangs fallenden Situationen keine Mindestdauer gibt, obwohl sie im Übrigen insgesamt vergleichbar sind, als willkürlich oder offensichtlich unangemessen im Hinblick auf das diesen beiden Bestimmungen gemeinsame Ziel des Unionsgesetzgebers anzusehen ist. |
70 |
Unter diesen Umständen ist dem zweiten Rechtsmittelgrund in der Rechtssache C‑313/21 P und dem zweiten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes in der Rechtssache C‑341/21 P stattzugeben, ohne dass das übrige Vorbringen des Rates und der Kommission geprüft zu werden braucht. |
71 |
Ohne dass es einer Prüfung des dritten Rechtsmittelgrundes in der Rechtssache C‑313/21 P oder des ersten Teils des ersten Rechtsmittelgrundes und des dritten Rechtsmittelgrundes in der Rechtssache C‑314/21 P bedarf, ist daher den Rechtsmitteln stattzugeben und das angefochtene Urteil aufzuheben. |
Zu den Klagen vor dem Gericht
72 |
Nach Art. 61 Abs. 1 Satz 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann der Gerichtshof im Fall der Aufhebung der Entscheidung des Gerichts den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist. |
73 |
Im vorliegenden Fall ist insbesondere in Anbetracht des Umstands, dass sich die Aufhebungsklage in der Rechtssache T‑694/19 auf Gründe stützt, die vor dem Gericht streitig erörtert wurden und deren Prüfung keine prozessleitende Maßnahme oder Beweiserhebung erfordert, davon auszugehen, dass diese Klage entscheidungsreif ist, so dass endgültig über sie zu entscheiden ist. |
74 |
Zur Stützung ihrer Klage vor dem Gericht hat FI vier Klagegründe geltend gemacht, und zwar erstens die Rechtswidrigkeit von Art. 20 des Anhangs VIII des Statuts, zweitens einen Rechtsfehler bei der Anwendung der Art. 18 und 20 dieses Anhangs, drittens einen Fehler bei der Auslegung des Begriffs „Ehegatte“ im Sinne der Unionsregelung für die Hinterbliebenenversorgung und viertens einen offensichtlichen Beurteilungsfehler in Form mangelnder Berücksichtigung seiner besonderen Situation. |
Zum ersten Klagegrund: Rechtswidrigkeit von Anhang VIII Art. 20 des Statuts
75 |
Mit seinem ersten Klagegrund macht FI geltend, Art. 20 von Anhang VIII des Statuts verstoße, soweit er eine Voraussetzung der Mindestehedauer von fünf Jahren aufstelle, gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung und das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters, der Art des rechtlichen Bandes der Lebensgemeinschaft sowie der Behinderung. |
Zum ersten Teil des ersten Klagegrundes: Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung
76 |
Diesen Teil des Klagegrundes stützt FI darauf, dass Art. 20 von Anhang VIII des Statuts gegen den u. a. in Art. 20 der Charta und in Art. 1d des Statuts vorgesehenen Grundsatz der Gleichbehandlung verstoße und somit rechtswidrig sei, weil er die Gewährung der Hinterbliebenenversorgung an den überlebenden Ehegatten ausschließe, sofern eine nach der Zuerkennung von Invalidengeld an den verstorbenen Ehegatten geschlossene Ehe weniger als fünf Jahre gedauert habe, während diese Voraussetzung der Mindestehedauer nach Art. 19 von Anhang VIII des Statuts nicht bestehe, wenn die Ehe vor der Zuerkennung von Invalidengeld geschlossen worden sei. |
77 |
Die Kommission, unterstützt durch das Parlament und den Rat, tritt diesem Vorbringen entgegen. |
78 |
Gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. |
79 |
Überdies stellt der Grundsatz der Gleichbehandlung einen allgemeinen, in Art. 20 der Charta verankerten Grundsatz des Unionsrechts dar, der in dem in Art. 21 Abs. 1 der Charta niedergelegten Diskriminierungsverbot eine besondere Ausprägung findet. Auf diese beiden Grundsätze wird auch in Art. 1d des Statuts hingewiesen (Urteil vom 14. Juli 2022, Kommission/VW u. a., C‑116/21 P bis C‑118/21 P, C‑138/21 P und C‑139/21 P, EU:C:2022:557, Rn. 140 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
80 |
Wie bereits oben in Rn. 42 ausgeführt, verlangt der allgemeine Grundsatz der Gleichbehandlung entsprechend den Anforderungen von Art. 52 Abs. 1 der Charta vom Unionsgesetzgeber, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist. Eine unterschiedliche Behandlung ist gerechtfertigt, wenn sie auf einem objektiven und angemessenen Kriterium beruht, d. h., wenn sie im Zusammenhang mit einem rechtlich zulässigen Ziel steht, das mit der in Rede stehenden Regelung verfolgt wird, und wenn die unterschiedliche Behandlung in angemessenem Verhältnis zu dem mit ihr verfolgten Ziel steht (Urteil vom 14. Juli 2022, Kommission/VW u. a., C‑116/21 P bis C‑118/21 P, C‑138/21 P und C‑139/21 P, EU:C:2022:557, Rn. 142 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
81 |
Wie oben in Rn. 43 ausgeführt, ist das für die Feststellung einer Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes geltende Erfordernis der Vergleichbarkeit der Situationen anhand aller sie kennzeichnenden Merkmale zu beurteilen, insbesondere im Hinblick auf den Gegenstand und das Ziel des Rechtsakts, mit dem die Unterscheidung vorgenommen wird; dabei sind die Grundsätze und Ziele des Regelungsbereichs zu berücksichtigen, in den der Rechtsakt fällt. Soweit sich die Situationen nicht miteinander vergleichen lassen, verstößt ihre unterschiedliche Behandlung nicht gegen die in Art. 20 der Charta garantierte Gleichheit vor dem Gesetz. |
82 |
Ferner ist auf die oben in Rn. 65 angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs hinzuweisen, wonach bei statutarischen Bestimmungen wie den hier in Rede stehenden unter Berücksichtigung des in diesem Zusammenhang weiten Ermessens des Unionsgesetzgebers der Grundsatz der Gleichbehandlung nur dann missachtet wird, wenn der Unionsgesetzgeber eine willkürliche oder im Hinblick auf das Ziel der fraglichen Regelung offensichtlich unangemessene Differenzierung vornimmt. |
83 |
Im Licht dieser Rechtsprechung und der Anforderungen von Art. 52 Abs. 1 der Charta ist die von FI erhobene Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 20 des Anhangs VIII des Statuts anhand des in Art. 20 der Charta verankerten und in Art. 1d des Statuts aufgeführten Grundsatzes der Gleichbehandlung zu prüfen. |
84 |
Zunächst ist aus den oben in den Rn. 45 bis 60 genannten Gründen davon auszugehen, dass die in den Art. 19 und 20 von Anhang VIII des Statuts genannten Situationen vergleichbar sind. |
85 |
Sodann ist festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber dadurch, dass er in Art. 19 des Anhangs VIII des Statuts, anders als in Art. 20 dieses Anhangs, keine Voraussetzung der Mindestdauer der Ehe vorgesehen hat, vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich behandelt hat. |
86 |
Ferner ist zu prüfen, ob diese Ungleichbehandlung mit Art. 20 der Charta vereinbar ist, weil sie die in deren Art. 52 Abs. 1 genannten, oben in Rn. 78 angeführten Kriterien erfüllt. |
87 |
Erstens steht fest, dass diese Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta gesetzlich vorgesehen ist, da sie sich aus Art. 20 von Anhang VIII des Statuts in Verbindung mit Art. 19 dieses Anhangs ergibt. Während der letztgenannte Artikel keine Mindestehedauer vorsieht, enthält Art. 20 eine mit genauen Zahlenangaben versehene Voraussetzung für die Mindestdauer der Ehe, die den Umfang der Einschränkung der Ausübung des Rechts auf Gleichbehandlung definiert (vgl., zur Tragweite des Erfordernisses, dass jede Einschränkung der Ausübung von Grundrechten gesetzlich vorgesehen sein muss, Urteil vom 26. April 2022, Polen/Parlament und Rat, C‑401/19, EU:C:2022:297, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
88 |
Zweitens wahrt die Einschränkung des Systems der Hinterbliebenenversorgung durch die in Rede stehende unterschiedliche Behandlung im Einklang mit Art. 52 Abs. 1 der Charta den Wesensgehalt des Grundsatzes der Gleichbehandlung. Sie stellt nämlich diesen Grundsatz nicht als solchen in Frage, da sie sich nur auf die begrenzte Problematik der Mindestehedauer bezieht, die bei überlebenden Ehegatten verstorbener Beamter oder verstorbener ehemaliger Beamter vorliegen muss, damit sie in den Genuss einer Hinterbliebenenversorgung kommen, ohne dass den unter Art. 20 von Anhang VIII des Statuts fallenden Ehegatten die Möglichkeit genommen wird, ebenso wie die unter Art. 19 dieses Anhangs fallenden Ehegatten eine solche Versorgung zu erhalten. |
89 |
Drittens entspricht diese Einschränkung einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta, und zwar der Verhinderung von Rechtsmissbrauch und Betrug; deren Verbot stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der von den Rechtsunterworfenen zu beachten ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 49). Der Gerichtshof hat nämlich bereits entschieden, dass die Bedingung, wonach die Ehe eine bestimmte Zeit gedauert haben muss, damit dem überlebenden Ehegatten die Hinterbliebenenversorgung zusteht, sicherstellen soll, dass es die Beziehungen zwischen den betreffenden Personen tatsächlich gab und dass sie beständig waren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, HK/Kommission, C‑460/18 P, EU:C:2019:1119, Rn. 89). Es handelt sich um ein einheitliches und für alle überlebenden Ehegatten, die von Art. 20 des Anhangs VIII des Statuts erfasst werden, unterschiedslos geltendes Kriterium, mit dem nicht das Vorliegen von Missbrauch oder Betrug bei den überlebenden Ehegatten vermutet, sondern verhindert werden soll, dass ein solcher Missbrauch oder Betrug begangen wird. |
90 |
Was viertens die Prüfung der Verhältnismäßigkeit betrifft, ist im Rahmen der Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer Bestimmung des Unionsrechts im Hinblick auf den Grundsatz der Gleichbehandlung und aufgrund des weiten Ermessens, über das der Unionsgesetzgeber in Bezug auf statutarische Vorschriften verfügt (siehe oben, Rn. 65 und 82), zu prüfen, ob Art. 20 von Anhang VIII des Statuts, indem er vorsieht, dass bei einem überlebenden Ehegatten, der einen Beamten geheiratet hat, nachdem diesem Invalidengeld bewilligt wurde, eine Mindestehedauer von fünf Jahren vorliegen muss, während es nach Art. 19 von Anhang VIII des Statuts keine solche Voraussetzung gibt, wenn die Ehe mit einem Beamten vor der Bewilligung von Invalidengeld geschlossen wurde, eine willkürliche oder eine im Hinblick auf die in der vorstehenden Randnummer genannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung offensichtlich unangemessene Differenzierung schafft. |
91 |
Wie die Kommission, unterstützt durch das Parlament und den Rat, in ihren Schriftsätzen im Wesentlichen ausgeführt hat, erscheint es weder willkürlich noch offensichtlich unangemessen, in Art. 20 von Anhang VIII des Statuts eine Mindestdauer der Ehe zu verlangen, obwohl Art. 19 dieses Anhangs keine solche zeitliche Voraussetzung enthält. In dem in Art. 20 genannten Fall, der dadurch gekennzeichnet ist, dass die Ehe geschlossen wird, nachdem dem Beamten Invalidengeld zuerkannt wurde, kann der Anreiz zu Missbrauch oder Betrug nämlich zum einen dadurch begünstigt werden, dass sich ein Beamter, der so schwer erkrankt ist, dass er für dienstunfähig erklärt wurde und deshalb seinen Dienstposten nicht mehr wahrnehmen kann (Art. 78 Abs. 1 des Statuts), in einem Zustand der Schwäche und Abhängigkeit befinden mag, und zum anderen durch die möglichen finanziellen Implikationen der Dienstunfähigkeit, da sich der Ehegatte des Beamten zur Eheschließung veranlasst gesehen haben mag, weil er hofft, dass er, weil die Lebenserwartung des Beamten aufgrund seiner Erkrankung deutlich unter dem Durchschnitt liegen wird, in jüngeren Jahren und für einen potenziell sehr langen Zeitraum in den Genuss der Hinterbliebenenversorgung kommen kann. |
92 |
Dagegen hängt der Umstand, dass Art. 19 von Anhang VIII des Statuts im Gegensatz zu Art. 20 dieses Anhangs keine Mindestdauer der Ehe vorsieht, nach den schriftlichen Erklärungen der Kommission und des Parlaments damit zusammen, dass für ein bereits verheiratetes Paar die Invalidisierung des Unionsbeamten meist unvorhergesehen eintritt und die Situation dieses Paares völlig verändert, so dass die Missbrauchs- oder Betrugsgefahr gering sein dürfte und deshalb vom Unionsgesetzgeber außer Acht gelassen wurde, wie er dies auch im Rahmen von Art. 17 Abs. 2 und Art. 18 Abs. 2 von Anhang VIII des Statuts getan hat, um Fällen Rechnung zu tragen, in denen der Tod des Beamten auf ein Gebrechen oder eine Erkrankung, die er sich anlässlich der Ausübung seines Amtes zugezogen hat, oder auf einen Unfall zurückzuführen ist oder in denen der überlebende Ehegatte für Kinder sorgt oder gesorgt hat, die aus einer von dem Beamten vor seinem Ausscheiden aus dem Dienst eingegangenen Ehe hervorgegangen sind. |
93 |
Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass der Unionsgesetzgeber dadurch, dass er in Art. 20 von Anhang VIII des Statuts zur Verhinderung von Missbrauch und Betrug eine Mindestehedauer von fünf Jahren festgelegt hat, während es in den von Art. 19 dieses Anhangs erfassten Situationen keine Mindestehedauer gibt, im Rahmen des ihm zustehenden weiten Ermessens keine willkürliche oder offensichtlich unangemessene Unterscheidung vorgenommen hat. |
94 |
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die in Art. 20 von Anhang VIII des Statuts vorgesehene Ungleichbehandlung mit Art. 20 der Charta vereinbar ist, so dass der erste Teil des ersten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen ist. |
Zum zweiten Teil des ersten Klagegrundes: Verstoß gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters
95 |
FI macht einen Verstoß gegen das in Art. 21 Abs. 1 der Charta verankerte und in Art. 1d Abs. 1 des Statuts angeführte Verbot der Diskriminierung wegen des Alters geltend, der darin bestehen soll, dass Art. 20 von Anhang VIII des Statuts ältere Beamte erfasse, die nach ihrem Eintritt in den Ruhestand geheiratet hätten, während Art. 19 dieses Anhangs für den Fall gelte, dass die Heirat stattfinde, bevor dem Beamten Invalidengeld zuerkannt werde, und somit Beamte erfasse, die sich noch im aktiven Dienst befänden und mithin deutlich jünger seien. Die in Art. 20 von Anhang VIII des Statuts aufgestellte Voraussetzung einer Mindestdauer der nach dem Ausscheiden des verstorbenen Beamten aus dem Dienst geschlossenen Ehe stelle somit eine Diskriminierung der unter diese Bestimmung fallenden Paare wegen ihres Alters dar. |
96 |
Die Kommission, unterstützt durch das Parlament und den Rat, tritt diesem Vorbringen entgegen. |
97 |
Insoweit ist den Ausführungen der Kommission in ihrer Klagebeantwortung vor dem Gericht beizupflichten, dass der zweite Teil des ersten Klagegrundes von FI auf einer unzutreffenden Prämisse beruht. |
98 |
Die von den Art. 19 und 20 des Anhangs VIII des Statuts erfassten Situationen unterscheiden sich nämlich nur in Bezug auf das Verhältnis zwischen dem Zeitpunkt der Eheschließung und dem Zeitpunkt der Zuerkennung des Invalidengelds, nicht aber dem Zeitpunkt des Ausscheidens des Beamten aus dem Dienst durch die Versetzung in den Ruhestand (siehe oben, Rn. 47). |
99 |
Die Gewährung von Invalidengeld ist vom Alter des Beamten unabhängig, denn es kann Beamten jeden Alters zuerkannt werden. |
100 |
Dies gilt auch dann, wenn der Beamte – wie hier – gemäß Art. 53 des Statuts gleichzeitig mit seiner Invalidisierung und der Zuerkennung von Invalidengeld von Amts wegen in den Ruhestand versetzt wird. In einem solchen Fall hängt die Versetzung in den Ruhestand nämlich nicht von der Erreichung des in Art. 52 des Statuts festgelegten Ruhestandsalters ab, sondern allein vom Zeitpunkt der Zuerkennung von Invalidengeld, die, wie in der vorstehenden Randnummer ausgeführt, in jedem Alter stattfinden kann. |
101 |
Nach alledem beruht die von FI geltend gemachte Ungleichbehandlung nicht auf dem Alter im Sinne von Art. 21 Abs. 1 der Charta und Art. 1d Abs. 1 des Statuts, so dass Art. 20 von Anhang VIII des Statuts nicht aufgrund einer Diskriminierung wegen des Alters als rechtswidrig angesehen werden kann. Der zweite Teil des ersten Klagegrundes ist daher als unbegründet zurückzuweisen. |
Zum dritten Teil des ersten Klagegrundes: Verstoß gegen das Verbot der Diskriminierung wegen der Art des rechtlichen Bandes der Lebensgemeinschaft
102 |
Im Rahmen dieses Teils macht FI zum einen geltend, er werde infolge der in Art. 20 von Anhang VIII des Statuts getroffenen Unterscheidung zwischen verheirateten Paaren und Paaren, die in nicht ehelicher Partnerschaft lebten, aufgrund seines Familienstands diskriminiert, da die konkrete tatsächliche Situation dieser Gruppen im täglichen Leben übereinstimme. |
103 |
Zum anderen weist FI darauf hin, dass der Anwendungsbereich des Statuts durch Art. 1d Abs. 1 Unterabs. 2 des Statuts und Art. 1 Abs. 2 Buchst. c seines Anhangs VII auf andere Formen der Lebensgemeinschaft als die Zivilehe ausgedehnt worden sei, und zwar auf bestimmte eingetragene nicht eheliche Partnerschaften. Unter diesen Umständen sei das Diskriminierungsverbot im Einklang mit der Fortentwicklung der gesellschaftlichen Anschauungen auszulegen, und Art. 20 von Anhang VIII des Statuts sei auf alle nicht ehelichen Paare anzuwenden, die sich in einer vergleichbaren Situation befänden und daher gleichbehandelt werden müssten. |
104 |
Die Kommission, unterstützt durch das Parlament und den Rat, tritt diesem Vorbringen entgegen. |
105 |
Insoweit genügt der Hinweis, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass sich nicht eheliche Lebensgefährten hinsichtlich der Hinterbliebenenversorgung in einer Situation befinden, die weder mit der von Verheirateten noch mit der von Partnern einer eingetragenen nicht ehelichen Partnerschaft im Sinne von Art. 1d Abs. 1 Unterabs. 2 des Statuts vergleichbar ist und somit nicht die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 20 des Anhangs VIII des Statuts erfüllt, so dass diese Bestimmung nicht gegen den allgemeinen Grundsatz der Gleichbehandlung oder das Diskriminierungsverbot verstößt. Zudem trägt FI jedenfalls nicht vor, dass die nicht eheliche Lebensgemeinschaft nach nationalem Recht Verpflichtungen gleicher Art wie die sich aus der Eheschließung ergebenden begründe (vgl. entsprechend Urteil vom 19. Dezember 2019, HK/Kommission, C‑460/18 P, EU:C:2019:1119, Rn. 80, 84 und 85). |
106 |
Überdies befindet sich ein durch eine nicht eheliche Partnerschaft verbundenes Paar, dem – wie im Fall von FI und seiner Ehegattin vor ihrer Heirat – in ihrem Mitgliedstaat die Eheschließung nicht verwehrt ist, aus den Erwägungen, die in den Rn. 91 bis 94 des Beschlusses vom 22. Dezember 2022, Kommission/KM und Rat/KM (C‑341/21 P und C‑357/21 P), dargelegt werden, nicht in einer mit Paaren des gleichen Geschlechts, die durch eine eingetragene nicht eheliche Partnerschaft verbunden sind, aber keine Möglichkeit zur Eheschließung haben, vergleichbaren Situation, so dass Art. 20 von Anhang VIII des Statuts nicht aufgrund eines Verstoßes gegen das Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung rechtswidrig ist. |
107 |
FI befürwortet im Hinblick auf die Entwicklung der gesellschaftlichen Anschauungen eine weite Auslegung des Diskriminierungsverbots und von Art. 20 des Anhangs VIII des Statuts, wonach Letzterer alle nicht ehelichen Partnerschaften einschließlich nicht ehelicher Lebensgemeinschaften erfassen sollte; dazu genügt der Hinweis, dass es derzeit in den verschiedenen Mitgliedstaaten der Union nach wie vor keine allgemeine Gleichstellung der Ehe mit den übrigen Formen gesetzlicher Lebenspartnerschaften gibt. Da der Unionsgesetzgeber die Hinterbliebenenversorgung allein verheirateten Personen sowie Personen, die eine eingetragene nicht eheliche Partnerschaft im Sinne von Art. 1d Abs. 1 Unterabs. 2 des Statuts eingegangen sind, vorbehalten wollte, ist es nicht Sache des Unionsrichters, das Statut im Sinne einer Gleichstellung anderer rechtlicher oder tatsächlicher Gestaltungen mit der Ehe und solchen Partnerschaften auszulegen. Vielmehr obliegt es allein dem Gesetzgeber, gegebenenfalls Maßnahmen zu treffen, die insoweit eine Änderung herbeiführen (vgl. entsprechend Urteil vom 31. Mai 2001, D und Schweden/Rat, C‑122/99 P und C‑125/99 P, EU:C:2001:304, Rn. 37, 38 und 50). |
108 |
Nach alledem ist der dritte Teil des ersten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen. |
Zum vierten Teil des ersten Klagegrundes: Verstoß gegen das Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung
109 |
Mit diesem Teil, zu dem sich FI auch in seiner Stellungnahme zu den Streithilfeschriftsätzen des Parlaments und des Rates sowie in seiner Antwort vom 23. November 2020 auf schriftlich zu beantwortende Fragen des Gerichts äußert, macht er zum einen geltend, da sich die unter Art. 19 bzw. unter Art. 20 von Anhang VIII des Statuts fallenden überlebenden Partner insofern in der gleichen Situation befänden, als sie einem behinderten Beamten, der zum Zeitpunkt seines Todes Invalidengeld bezogen habe, Beistand geleistet hätten, verstoße die letztgenannte Bestimmung gegen das Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung, denn überlebenden Ehegatten wie ihm werde eine Hinterbliebenenversorgung allein deshalb verwehrt, weil ihre Ehe mit einem solchen Beamten erst nach der Zuerkennung von Invalidengeld geschlossen worden sei. |
110 |
Zum anderen trägt FI unter Berufung auf das Urteil vom 17. Juli 2008, Coleman (C‑303/06, EU:C:2008:415), vor, er sei Opfer einer „Mitdiskriminierung“ wegen der Behinderung seiner verstorbenen Ehefrau. Er habe sich täglich und in Vollzeit einer behinderten Person gewidmet, wie wenn er vom ersten Tag des Zusammenlebens an mit ihr verheiratet gewesen wäre und mit der gleichen Hingabe wie überlebende Ehegatten, die unter Art. 19 von Anhang VIII des Statuts fielen. Die Behinderung seiner Ehefrau habe Priorität vor allen anderen Erwägungen in Bezug auf ihren rechtlichen Status gehabt und sei deshalb der entscheidende tatsächliche Grund für ihre verspätete Eheschließung gewesen. |
111 |
Die Kommission, unterstützt durch das Parlament und den Rat, tritt diesem Vorbringen entgegen. |
112 |
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs liegt nur dann ein Fall der Diskriminierung wegen einer Behinderung im Sinne von Art. 21 Abs. 1 der Charta und von Art. 1d Abs. 1 des Statuts vor, wenn eine Person aufgrund einer Behinderung, unter der sie selbst oder ein Mitglied ihrer Familie leidet, in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung oder eine besondere Benachteiligung erfährt oder erfahren hat (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteile vom 17. Juli 2008, Coleman, C‑303/06, EU:C:2008:415, Rn. 56, und vom 26. Januar 2021, Szpital Kliniczny im. dra J. Babińskiego Samodzielny Publiczny Zakład Opieki Zdrowotnej w Krakowie, C‑16/19, EU:C:2021:64, Rn. 29). |
113 |
Selbst wenn man unterstellt, dass die Krankheit, die dazu geführt hat, dass die Ehefrau von FI invalidisiert wurde und dass ihr Invalidengeld zuerkannt wurde, als Behinderung einzustufen ist, beruht die von FI gerügte Ungleichbehandlung wegen der Behinderung seiner Ehefrau nicht auf dieser Behinderung. |
114 |
Wie die Kommission in ihren Schriftsätzen vor dem Gericht erläutert hat, hängt ihre Weigerung, FI eine Hinterbliebenenversorgung zu gewähren, nämlich nicht mit der Behinderung seiner Ehefrau zusammen, sondern mit der Entscheidung des Paares, die nicht eheliche Lebensgemeinschaft fortzuführen und erst nach der Zuerkennung des Invalidengelds die Ehe einzugehen, die weniger als fünf Jahre bestanden hatte, als die Ehefrau verstarb. |
115 |
Zu dem möglichen Einfluss der geltend gemachten Behinderung der Ehefrau von FI auf die verspätete Heirat des Paares genügt, wie in Rn. 50 des vorliegenden Beschlusses ausgeführt, der Hinweis, dass sich der Zeitpunkt der Eheschließung allein nach dem Willen der zukünftigen Ehegatten richtet und auf ihrer freien, aufgrund einer Vielzahl von Erwägungen getroffenen Entscheidung beruht, die weder notwendigerweise noch ausschließlich die Berücksichtigung der mit der Behinderung eines Ehegatten zusammenhängenden Umstände implizieren. Etwas anderes könnte nur unter außergewöhnlichen Umständen gelten, etwa dann, wenn es dem Behinderten unmöglich ist, seinen Willen zur Eheschließung zum Ausdruck zu bringen; solche Umstände sind im vorliegenden Fall von FI jedoch nicht angeführt worden. |
116 |
Daher ist der vierte Teil des ersten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen, so dass der gesamte erste Klagegrund, mit dem die Rechtswidrigkeit von Art. 20 des Anhangs VIII des Statuts im Hinblick auf den Grundsatz der Gleichbehandlung und das Diskriminierungsverbot geltend gemacht wird, unbegründet ist. |
Zum zweiten und zum dritten Klagegrund: Rechtsfehler bei der Anwendung der Art. 18 und 20 von Anhang VIII des Statuts sowie fehlerhafte Auslegung des Begriffs „Ehegatte“ im Sinne der im Statut vorgesehenen Regelung der Hinterbliebenenversorgung
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Mit diesen beiden Klagegründen, die zusammen zu behandeln sind, macht FI geltend, die Artikel des Statuts über die Hinterbliebenenversorgung, wie die Art. 18 und 20 seines Anhangs VIII, seien dahin auszulegen, dass sie sich auf das Zusammenleben als Paar bezögen, unabhängig davon, ob es sich um eine rechtliche oder eine tatsächliche Union handele. Insbesondere seien Personen, die, ohne verheiratet oder durch eine eingetragene nicht eheliche Partnerschaft im Sinne von Art. 1d Abs. 1 Unterabs. 2 des Statuts miteinander verbunden zu sein, während des in Art. 20 von Anhang VIII des Statuts vorgesehenen Zeitraums von fünf Jahren mit einem inzwischen verstorbenen Unionsbeamten zusammengelebt hätten, die gleichen Rechte zuzuerkennen. |
118 |
Die Gleichstellung des Begriffs „Ehegatte“ mit allen Formen gesetzlich anerkannten sowie tatsächlichen Zusammenlebens werde zudem durch die soziale Entwicklung der letzten Jahre gerechtfertigt, die zahlreiche Mitgliedstaaten dazu veranlasst habe, die Ehe an die übrigen Formen des Zusammenlebens anzugleichen oder zumindest das für die Ehe geltende System den nicht ehelichen Systemen anzunähern, so dass es nun nicht mehr möglich sei, den Begriff „Ehegatte“ allein auf das Verhältnis in der Zivilehe zu beschränken. Der Unionsgesetzgeber habe diese Entwicklung selbst begleitet, indem er das Statut in der Weise geändert habe, dass im Rahmen der Krankenversicherung der Unionsbeamten der unverheiratete Partner eines Beamten dem Ehegatten gleichgestellt worden sei. |
119 |
Die Kommission, unterstützt durch das Parlament und den Rat, tritt diesem Vorbringen entgegen. |
120 |
Vorab ist klarzustellen, dass sich, auch wenn FI im Rahmen seines zweiten Klagegrundes einen Rechtsfehler bei der Anwendung der Art. 18 und 20 von Anhang VIII des Statuts rügt, sowohl aus der logischen Struktur der Klageschrift als auch aus den Erläuterungen von FI in seiner Antwort vom 23. November 2020 auf schriftlich zu beantwortende Fragen des Gerichts ergibt, dass FI in seine Argumentation auch Art. 19 von Anhang VIII aufnehmen wollte, da dessen Art. 18 bis 20 eine Gesamtheit untrennbar miteinander verbundener Vorschriften bilden. Da die Organe in ihren Schriftsätzen ebenfalls unterstellt haben, dass sich der zweite Klagegrund von FI auch auf Art. 19 von Anhang VIII des Statuts bezieht, ist davon auszugehen, dass FI der Kommission im Rahmen dieses Klagegrundes vorwirft, Art. 20 von Anhang VIII in Verbindung mit dessen Art. 18 und 19 falsch angewandt zu haben. |
121 |
In der Sache sind der zweite und der dritte Klagegrund aus den oben in den Rn. 105 bis 107 dargelegten Gründen als unbegründet zurückzuweisen, wobei in Bezug auf das Argument von FI, dass der unverheiratete Partner eines Beamten im Rahmen der Krankenversicherung der Unionsbeamten dem Ehegatten gleichgestellt sei, der Hinweis genügt, dass diese auf einen ganz bestimmten Bereich des Statuts beschränkte Gleichstellung allein auf dem Willen des Gesetzgebers beruht und dass sie mangels ausdrücklicher Änderungen des übrigen Statuts nicht zur Stützung einer bereichsübergreifenden Verallgemeinerung im übrigen Statut herangezogen werden kann. |
Zum vierten Klagegrund: Offensichtlicher Beurteilungsfehler der Kommission aufgrund der Nichtberücksichtigung der besonderen Situation von FI
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FI weist darauf hin, dass bis zum Tod seiner Ehefrau im Jahr 2019 zunächst eine nicht eheliche Lebensgemeinschaft zwischen ihnen bestanden habe, bevor sie die Ehe geschlossen hätten, an deren fünfjährigem Bestehen nur etwa drei Monate gefehlt hätten. Während der gesamten Dauer ihres Zusammenlebens habe er seine Ehefrau gepflegt. Dass er unter solchen Umständen mit ihr zusammengelebt habe, lasse die Weigerung, ihm eine Hinterbliebenenversorgung zu gewähren, weil an der Erfüllung der in Art. 20 von Anhang VIII des Statuts vorgesehenen Mindestehedauer von fünf Jahren weniger als vier Monate fehlten, als besonders ungerecht erscheinen. Dadurch habe die Kommission einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen. |
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Ohne die von FI dargelegten Tatsachen in Abrede zu stellen, tritt die Kommission, unterstützt durch das Parlament und den Rat, diesem Vorbringen entgegen. |
124 |
Wie oben in Rn. 89 ausgeführt, handelt es sich bei der in Art. 20 von Anhang VIII des Statuts vorgesehenen Mindestehedauer von fünf Jahren um ein einheitliches und für alle überlebenden Ehegatten, die von dieser Bestimmung erfasst werden, unterschiedslos geltendes Kriterium, mit dem nicht das Vorliegen von Missbrauch oder Betrug bei den überlebenden Ehegatten vermutet, sondern verhindert werden soll, dass ein solcher Missbrauch oder Betrug begangen wird. |
125 |
Zudem kennt das Unionsrecht unbeschadet bestimmter vom Unionsgesetzgeber ausdrücklich vorgesehener Fälle keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz, wonach eine geltende Vorschrift des Unionsrechts von einer innerstaatlichen Behörde nicht angewandt werden kann, wenn sie für den Betroffenen eine Härte darstellt, die der Unionsgesetzgeber erkennbar zu vermeiden gesucht hätte, wenn er bei der Normsetzung an diesen Fall gedacht hätte (Urteil vom 26. Mai 2016, Ezernieki, C‑273/15, EU:C:2016:364, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
126 |
Wie der Gerichtshof im Übrigen bereits entschieden hat, ist es nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber, selbst wenn der Erlass einer allgemeinen abstrakten Regelung in Grenzfällen vereinzelt zu Unzuträglichkeiten führt, allgemeine Kategorien bildet, solange diese – wie oben in den Rn. 78 bis 116 zu Art. 20 von Anhang VIII des Statuts ausgeführt – nicht ihrem Wesen nach im Hinblick auf das verfolgte Ziel diskriminierend sind (Urteil vom 15. April 2010, Gualtieri/Kommission, C‑485/08 P, EU:C:2010:188, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
127 |
Unter diesen Umständen kann in der Weigerung der Kommission, FI eine Hinterbliebenenversorgung zu gewähren, weil die in Art. 20 von Anhang VIII des Statuts vorgesehene Mindestehedauer von fünf Jahren nicht vorlag, kein offensichtlicher Beurteilungsfehler gesehen werden. |
128 |
Daraus folgt, dass der vierte Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen ist, so dass die Klage von FI insgesamt abzuweisen ist. |
Kosten
129 |
Nach Art. 184 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel begründet ist und er den Rechtsstreit selbst endgültig entscheidet. |
130 |
Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. |
131 |
Da den Rechtsmitteln stattgegeben wurde und FI somit mit seinem Vorbringen unterlegen ist und da der Rat sowie die Kommission beantragt haben, ihm die Kosten aufzuerlegen, sind ihm neben ihren eigenen Kosten die Kosten aufzuerlegen, die diesen beiden Organen im ersten Rechtszug und in den vorliegenden Rechtsmittelverfahren entstanden sind. |
132 |
Das Parlament hat zwar nicht am Rechtsmittelverfahren teilgenommen, ist aber im ersten Rechtszug vor dem Gericht aufgetreten. Im Anschluss an die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Behandlung der Rechtssache T‑694/19 im vorliegenden Beschluss ist gemäß Art. 137 in Verbindung mit Art. 184 Abs. 2 der Verfahrensordnung erneut über die Kosten zu entscheiden, die diesem Organ im ersten Rechtszug entstanden sind. |
133 |
Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten und die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Unter diesen Umständen trägt das Parlament die ihm im ersten Rechtszug entstandenen Kosten. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) beschlossen: |
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Unterschriften |
( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.