URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

9. November 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Anerkennung von Urteilen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in einem anderen Mitgliedstaat – Rahmenbeschluss 2008/909/JI – Art. 3 Abs. 4 und Art. 8 – Ablehnung der Vollstreckung – Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundrecht auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht – Systemische oder allgemeine Mängel im Ausstellungsmitgliedstaat – Zweistufige Prüfung – Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung einer von einem Mitgliedstaat verhängten Freiheitsstrafe – Vollstreckung dieser Strafe durch einen anderen Mitgliedstaat“

In der Rechtssache C‑819/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Aachen (Deutschland) mit Entscheidung vom 6. Dezember 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Dezember 2021, in dem Verfahren

Staatsanwaltschaft Aachen,

Beteiligter:

M. D.,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin O. Spineanu-Matei, der Richter J.‑C. Bonichot (Berichterstatter) und S. Rodin sowie der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der niederländischen Regierung, vertreten durch K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und K. Herrmann als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. Mai 2023

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 4 und Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (ABl. 2008, L 327, S. 27) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2008/909) in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens über den Antrag auf Anerkennung und Vollstreckung eines Urteils, mit dem M. D. von einem polnischen Gericht zu einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, in Deutschland.

Rechtlicher Rahmen

3

Die Erwägungsgründe 5 und 13 des Rahmenbeschlusses 2008/909 lauten:

„(5)

Die Verfahrensrechte in Strafverfahren sind ein entscheidendes Element, um wechselseitiges Vertrauen unter den Mitgliedstaaten im Rahmen der justiziellen Zusammenarbeit zu gewährleisten. Die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten, die von einem besonderen wechselseitigen Vertrauen in die Rechtssysteme der übrigen Mitgliedstaaten geprägt sind, ermöglichen es, dass Entscheidungen der Behörden des Ausstellungsstaats von dem Vollstreckungsstaat anerkannt werden. Daher sollte eine Weiterentwicklung der Zusammenarbeit, die in den Übereinkünften des Europarats betreffend die Vollstreckung von Strafurteilen vorgesehen ist, in Betracht gezogen werden, insbesondere in Fällen, in denen in einem anderen Mitgliedstaat ein Strafurteil gegen einen Unionsbürger ergangen ist und gegen die betreffende Person eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wurde. Ungeachtet des Erfordernisses, dass für die verurteilte Person angemessene Rechtsgarantien vorgesehen sein müssen, sollte ihre Beteiligung in dem Verfahren nicht länger davon geprägt sein, dass die Übermittlung eines Urteils an einen anderen Mitgliedstaat zum Zwecke der Anerkennung des Urteils und der Vollstreckung der verhängten Sanktion in allen Fällen an die Zustimmung dieser Person gebunden ist.

(13)

Dieser Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte und wahrt die in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union anerkannten Grundsätze, die auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, insbesondere in deren Kapitel VI, zum Ausdruck kommen. Die Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses dürfen nicht so ausgelegt werden, als untersagten sie es, die Vollstreckung einer Entscheidung abzulehnen, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Sanktion zum Zwecke der Bestrafung einer Person aus Gründen ihres Geschlechts, ihrer Rasse, Religion, ethnischen Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache, politischen Überzeugung oder sexuellen Ausrichtung verhängt wurde oder dass die Stellung dieser Person aus einem dieser Gründe beeinträchtigt werden kann.“

4

In Art. 3 („Zweck und Geltungsbereich“) des Rahmenbeschlusses 2008/909 heißt es:

„(1)   Zweck dieses Rahmenbeschlusses ist es, im Hinblick auf die Erleichterung der sozialen Wiedereingliederung der verurteilten Person die Regeln festzulegen, nach denen ein Mitgliedstaat ein Urteil anerkennt und die verhängte Sanktion vollstreckt.

(2)   Dieser Rahmenbeschluss gilt, wenn sich die verurteilte Person im Ausstellungsstaat oder im Vollstreckungsstaat aufhält.

(4)   Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze gemäß Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union.“

5

Art. 4 („Kriterien für die Übermittlung eines Urteils und einer Bescheinigung an einen anderen Mitgliedstaat“) des Rahmenbeschlusses 2008/909 bestimmt:

„(1)   Sofern sich die verurteilte Person im Ausstellungs- oder Vollstreckungsstaat aufhält und ihre Zustimmung erteilt hat, wenn dies aufgrund von Artikel 6 erforderlich ist, kann ein Urteil zusammen mit der Bescheinigung, für die das in Anhang I wiedergegebene Standardformular zu verwenden ist, an einen der folgenden Mitgliedstaaten übermittelt werden:

a)

an den Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit der verurteilten Person, in dem sie lebt, oder

b)

an den Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit der verurteilten Person, in den sie, auch wenn sie nicht dort lebt, aufgrund einer Ausweisungs- oder Abschiebungsanordnung, die im Urteil oder in einer infolge des Urteils getroffenen gerichtlichen Entscheidung oder Verwaltungsentscheidung oder anderen Maßnahme enthalten war, nach der Entlassung aus dem Strafvollzug abgeschoben werden wird, oder

c)

an einen Mitgliedstaat, auf den die Buchstaben a oder b nicht zutreffen und dessen zuständige Behörde der Übermittlung des Urteils und der Bescheinigung an diesen Mitgliedstaat zustimmt.

…“

6

In Art. 8 („Anerkennung des Urteils und Vollstreckung der Sanktion“) des Rahmenbeschlusses 2008/909 heißt es:

„(1)   Die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats erkennt ein gemäß Artikel 4 und im Verfahren gemäß Artikel 5 übermitteltes Urteil an und ergreift unverzüglich alle für die Vollstreckung der Sanktion erforderlichen Maßnahmen, es sei denn, sie beschließt, einen der Gründe für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung gemäß Artikel 9 geltend zu machen.

…“

7

Art. 9 („Gründe für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung“) des Rahmenbeschlusses 2008/909 bestimmt:

„(1)   Die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats kann die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion versagen, wenn

i)

laut der Bescheinigung gemäß Artikel 4 die betroffene Person zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen ist, es sei denn, aus der Bescheinigung geht hervor, dass die betroffene Person im Einklang mit weiteren verfahrensrechtlichen Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts des Entscheidungsstaates

i)

rechtzeitig

entweder persönlich vorgeladen wurde und dabei von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, die zu der Entscheidung geführt hat, oder auf andere Weise tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Termin und Ort dieser Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, und zwar auf eine Weise, dass zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass sie von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte,

und

davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie zu der Verhandlung nicht erscheint;

oder

ii)

in Kenntnis der anberaumten Verhandlung ein Mandat an einen Rechtsbeistand, der entweder von der betroffenen Person oder vom Staat bestellt wurde, erteilt hat, sie bei der Verhandlung zu verteidigen, und bei der Verhandlung von diesem Rechtsbeistand tatsächlich verteidigt worden ist;

oder

iii)

nachdem ihr die Entscheidung zugestellt und sie ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann:

ausdrücklich erklärt hat, dass sie die Entscheidung nicht anficht;

oder

innerhalb der geltenden Frist keine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. kein Berufungsverfahren beantragt hat;

…“

8

Art. 17 („Für die Vollstreckung maßgebliches Recht“) des Rahmenbeschlusses 2008/909 sieht vor:

„(1)   Auf die Vollstreckung einer Sanktion ist das Recht des Vollstreckungsstaats anwendbar. Nur die Behörden des Vollstreckungsstaats können vorbehaltlich der Absätze 2 und 3 über die Vollstreckungsverfahren entscheiden und die damit zusammenhängenden Maßnahmen bestimmen; dies gilt auch für die Gründe einer vorzeitigen oder bedingten Entlassung.

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

9

M. D. ist polnischer Staatsangehöriger, hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland und wurde in Polen mit Urteil vom 7. August 2018 vom Sąd Rejonowy Szczecin-Prawobrzeże (Rayongericht Stettin-Prawobrzeże, Polen) zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten auf Bewährung verurteilt. Er war bei seinem Prozess nicht anwesend, obwohl nach Auskunft der polnischen Gerichte die Ladung zur Verhandlung an die Adresse in Polen geschickt worden war, die er im Rahmen des Ermittlungsverfahrens angegeben hatte.

10

Mit Beschluss vom 16. Juli 2019 widerrief dieses Gericht die ursprünglich gewährte Strafaussetzung zur Bewährung und ordnete die Vollstreckung der gegen M. D. verhängten Freiheitsstrafe an. Die Gründe für diesen Widerruf und insbesondere die Frage, ob er infolge einer neuen strafrechtlichen Verurteilung erfolgte, gehen aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten nicht eindeutig hervor.

11

Am 13. August 2020 erließ der Sąd Okręgowy w Szczecinie (Regionalgericht Stettin, Polen) einen Europäischen Haftbefehl, auf dessen Grundlage M. D. in Deutschland festgenommen wurde. Mit Entscheidung vom 17. Dezember 2020 verweigerte die Staatsanwaltschaft Köln (Deutschland) die Vollstreckung dieses Haftbefehls auf der Grundlage von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584) mit der Begründung, dass M. D. seinen gewöhnlichen Aufenthalt seit mehreren Jahren in Deutschland habe und seiner Auslieferung an die polnischen Behörden widersprochen habe.

12

Am 26. Januar 2021 übermittelte der Sąd Okręgowy w Szczecinie (Regionalgericht Stettin) der Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Deutschland) eine beglaubigte Abschrift des Urteils vom 7. August 2018 zusammen mit der in Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 genannten Bescheinigung für die Zwecke der Vollstreckung der gegen M. D. verhängten Freiheitsstrafe in Deutschland. Die Akte wurde an die örtlich zuständige Staatsanwaltschaft Aachen (Deutschland) weitergeleitet.

13

Nachdem die Staatsanwaltschaft Aachen M. D. vernommen und dieser erklärt hatte, dass er die Ladung zu der in Polen abgehaltenen Verhandlung nicht erhalten habe und die Vorwürfe gegen ihn unbegründet seien, beantragte sie mit Verfügung vom 2. November 2021 bei der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Aachen (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, dem Antrag auf Anerkennung und Vollstreckung des Urteils und des Beschlusses des Sąd Rejonowy Szczecin-Prawobrzeże (Rayongericht Stettin-Prawobrzeże) vom 7. August 2018 und vom 16. Juli 2019 stattzugeben und gegen M. D. eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten festzusetzen. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft Aachen sind sämtliche Voraussetzungen für die Vollstreckung des in Polen ergangenen Urteils erfüllt. Insbesondere seien die der Verurteilung zugrunde liegenden Taten, die im Zeitraum von März bis Juni 2009 begangen worden seien, nach deutschem Recht als veruntreuende Unterschlagung und Urkundenfälschung strafbar.

14

Das vorlegende Gericht fragt sich, ob es es wegen des Verstoßes Polens gegen Art. 47 Abs. 2 der Charta und Art. 2 EUV ablehnen kann, die gegen M. D. in Polen verhängte Freiheitsstrafe in Deutschland für vollstreckbar zu erklären. Es verfüge über Anhaltspunkte für systemische oder allgemeine Mängel des polnischen Justizsystems zum Zeitpunkt des Urteils und des Beschlusses des Sąd Rejonowy Szczecin-Prawobrzeże (Rayongericht Stettin-Prawobrzeże), deren Vollstreckung beantragt werde, und zwar am 7. August 2018 und am 16. Juli 2019. In diesem Zusammenhang bezieht es sich u. a. auf den auf der Grundlage von Art. 7 Abs. 1 EUV angenommenen begründeten Vorschlag der Europäischen Kommission zur Rechtsstaatlichkeit in Polen vom 20. Dezember 2017 (COM[2017] 835 final) sowie auf die jüngere Rechtsprechung des Gerichtshofs zu diesem Thema.

15

In diesem Kontext fragt sich das Landgericht Aachen, ob es für die Zwecke der Anerkennung und Vollstreckung der gegen M. D. in Polen verhängten Freiheitsstrafe in Deutschland selbst zu ermitteln hat, ob das Justizsystem Polens am 7. August 2018 und am 16. Juli 2019 Mängel aufwies und ob das Grundrecht des Betroffenen auf ein faires Verfahren verletzt wurde oder ob dies Aufgabe des Gerichtshofs ist, um Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten der Union zu vermeiden. In der Sache hält es das vorlegende Gericht nicht für offenkundig, dass die vom Gerichtshof in seinem Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586), zum Rahmenbeschluss 2002/584 gefundene Lösung auf den Rahmenbeschluss 2008/909 übertragbar ist, und zwar mangels einer mit dem zehnten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584 vergleichbaren Regelung im Rahmenbeschluss 2008/909 und unter Berücksichtigung der vom Gerichtshof in seinem Urteil vom 27. Mai 2019, OG und PI (Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau) (C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456), gefundenen Lösung.

16

Das Landgericht Aachen fragt sich auch, was zu tun ist, wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung(en), deren Vollstreckung beantragt wird, die Situation der Rechtsstaatlichkeit im Ausstellungsmitgliedstaat zufriedenstellend war, sich in der Folge aber negativ entwickelt hat, so dass sie es zu dem Zeitpunkt, zu dem das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats über die Anerkennung und Vollstreckung des Urteils entscheiden muss, mit dem die Sanktion verhängt wurde, nicht mehr ist.

17

Unter diesen Umständen hat das Landgericht Aachen beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Kann das zur Entscheidung über die Vollstreckbarkeitserklärung berufene Gericht des vollstreckenden Mitgliedstaats gestützt auf Art. 3 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta die Anerkennung des Urteils eines anderen Mitgliedstaats und die Vollstreckung der durch dieses Urteil verhängten Sanktion gemäß Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909 ablehnen, wenn Anhaltspunkte bestehen, dass die Verhältnisse in diesem Mitgliedstaat im Zeitpunkt des Erlasses der zu vollstreckenden Entscheidung bzw. der sie betreffenden Folgeentscheidungen unvereinbar mit dem Grundrecht auf ein faires Verfahren sind, weil in diesem Mitgliedstaat das Justizsystem selbst nicht mehr im Einklang mit dem in Art. 2 EUV verankerten Rechtsstaatsprinzip steht?

2.

Kann das zur Entscheidung über die Vollstreckbarkeitserklärung berufene Gericht des vollstreckenden Mitgliedstaats gestützt auf Art. 3 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 in Verbindung mit dem in Art. 2 EUV verankerten Rechtsstaatsprinzip die Anerkennung des Urteils eines anderen Mitgliedstaats und die Vollstreckung der durch dieses Urteil verhängten Sanktion gemäß Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909 ablehnen, wenn Anhaltspunkte bestehen, dass das Justizsystem in diesem Mitgliedstaat im Zeitpunkt der Entscheidung über die Vollstreckbarkeitserklärung nicht mehr im Einklang mit dem in Art. 2 EUV verankerten Rechtsstaatsprinzip steht?

3.

Soweit Frage 1 bejaht wird:

Ist, bevor die Anerkennung eines Urteils eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats und die Vollstreckung der durch dieses Urteil verhängten Sanktion unter Verweis auf Art. 3 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta abgelehnt wird, weil Anhaltspunkte bestehen, dass die Verhältnisse in diesem Mitgliedstaat unvereinbar mit dem Grundrecht auf ein faires Verfahren sind, weil in diesem Mitgliedstaat das Justizsystem selbst nicht mehr im Einklang mit dem Rechtsstaatsprinzip steht, in einem zweiten Schritt zu überprüfen, ob sich die mit dem Grundrecht auf ein faires Verfahren unvereinbaren Verhältnisse in dem betreffenden Verfahren konkret zulasten des Verurteilten/der Verurteilten ausgewirkt haben?

4.

Soweit Frage 1 und/oder Frage 2 dahin gehend verneint werden, dass die Entscheidung, ob die Verhältnisse in einem Mitgliedstaat unvereinbar mit dem Grundrecht auf ein faires Verfahren sind, weil in diesem Mitgliedstaat das Justizsystem selbst nicht mehr im Einklang mit dem Rechtsstaatsprinzip steht, nicht den mitgliedstaatlichen Gerichten, sondern dem Gerichtshof der Europäischen Union obliegt:

Stand das Justizsystem in der Republik Polen am 7. August 2018 und/oder 16. Juli 2019 beziehungsweise steht das Justizsystem in der Republik Polen derzeit im Einklang mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 2 EUV?

Zu den Vorlagefragen

Zu den Fragen 1 bis 3

18

Mit seinen Fragen 1 bis 3, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 4 und Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen sind, dass das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats es von sich aus ablehnen kann, die von einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats ausgesprochene Verurteilung zu einer strafrechtlichen Sanktion anzuerkennen und zu vollstrecken, wenn es über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass in diesem Mitgliedstaat systemische oder allgemeine Mängel in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren und in einem weiteren Sinne das Funktionieren des Justizsystems und die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit bestehen. Für den Fall, dass dies bejaht wird, fragt das vorlegende Gericht, auf welchen Zeitpunkt bei der Beurteilung des Vorliegens solcher systemischer oder allgemeiner Mängel abzustellen ist und ob es sich auch vergewissern muss, dass sich diese konkret auf die Situation des Verurteilten ausgewirkt haben.

19

Wie der Rahmenbeschluss 2002/584 konkretisiert der Rahmenbeschluss 2008/909 im Strafrechtsbereich die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung, die, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat verlangen, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. November 2016, Poltorak, C‑452/16 PPU, EU:C:2016:858, Rn. 26, und vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 40). Wie in seinem fünften Erwägungsgrund hervorgehoben wird, entwickelt der Rahmenbeschluss 2008/909 die justizielle Zusammenarbeit im Bereich der Anerkennung und Vollstreckung von Strafurteilen in Fällen, in denen gegen Unionsbürger in einem anderen Mitgliedstaat eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wurde, weiter, um ihre soziale Wiedereingliederung zu erleichtern.

20

Zu diesem Zweck sieht Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909 vor, dass die Vollstreckungsbehörde grundsätzlich verpflichtet ist, dem ihr gemäß den Art. 4 und 5 dieses Rahmenbeschlusses übermittelten Antrag auf Anerkennung eines in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Urteils und auf Vollstreckung einer dort ausgesprochenen Verurteilung zu einer freiheitsentziehenden Strafe oder Maßnahme stattzugeben. Sie darf es grundsätzlich nur aus den in Art. 9 dieses Rahmenbeschlusses abschließend aufgeführten Gründen für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung ablehnen, einem solchen Antrag Folge zu leisten.

21

Gleichwohl hat der Gerichtshof anerkannt, dass unter außergewöhnlichen Umständen zusätzliche Beschränkungen der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens möglich sind (Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22

So verhält es sich unter bestimmten Bedingungen im vom Rahmenbeschluss 2002/584 geregelten Bereich, wenn für eine Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl erlassen wurde, die echte Gefahr besteht, im Fall der Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erleiden. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, hat der Gerichtshof sich zum einen auf Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584, nach dem dieser nicht die Pflicht berührt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 6 EUV niedergelegt sind, zu achten, und zum anderen auf den absoluten Charakter des durch Art. 4 der Charta verbürgten Grundrechts gestützt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 83 und 84).

23

Der Gerichtshof hat des Weiteren entschieden, dass die vollstreckende Justizbehörde ausnahmsweise davon absehen kann, einem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten, wenn die Übergabe der gesuchten Person diese der echten Gefahr eines Verstoßes gegen ihr in Art. 47 Abs. 2 der Charta genanntes Recht auf ein faires Verfahren aussetzen kann, dem für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Werts der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 48 und 59, und vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 45 und 46).

24

Das vorlegende Gericht fragt sich, ob diese Lösung auf den Fall eines Antrags übertragbar ist, der nicht auf die Übergabe einer Person, gegen die auf der Grundlage des Rahmenbeschlusses 2002/584 ein Europäischer Haftbefehl erlassen wurde, an die ausstellenden Justizbehörden, sondern darauf gerichtet ist, dass im Vollstreckungsmitgliedstaat ein in einem anderen Mitgliedstaat ergangenes Urteil anerkannt wird und eine dort verhängte strafrechtliche Sanktion vollstreckt wird, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Verhältnisse in diesem anderen Mitgliedstaat zum Zeitpunkt des Erlasses der zu vollstreckenden Entscheidung oder der diese betreffenden späteren Entscheidungen mit dem in Art. 47 Abs. 2 der Charta genannten Grundrecht auf ein faires Verfahren unvereinbar sind.

25

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Art. 3 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 bestimmt, dass dieser nicht die Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze gemäß Art. 6 EUV berührt.

26

Des Weiteren heißt es im 13. Erwägungsgrund dieses Rahmenbeschlusses, dass dieser „die Grundrechte [achtet] und ... die in Artikel 6 [EUV] anerkannten Grundsätze [wahrt], die auch in der Charta …, insbesondere in deren Kapitel VI, zum Ausdruck kommen“ und zu denen das in ihrem Art. 47 Abs. 2 niedergelegte Recht auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht gehört. In diesem Erwägungsgrund heißt es insbesondere, dass „[d]ie Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses … nicht so ausgelegt werden [dürfen], als untersagten sie es, die Vollstreckung einer Entscheidung abzulehnen, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Sanktion zum Zwecke der Bestrafung einer Person aus Gründen ihres Geschlechts, ihrer Rasse, Religion, ethnischen Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache, politischen Überzeugung oder sexuellen Ausrichtung verhängt wurde oder dass die Stellung dieser Person aus einem dieser Gründe beeinträchtigt werden kann“.

27

Daraus folgt, dass der Rahmenbeschluss 2008/909 wie der Rahmenbeschluss 2002/584 dahin auszulegen ist, dass die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats unter außergewöhnlichen Umständen die Anerkennung und Vollstreckung einer im Ausstellungsmitgliedstaat erfolgten strafrechtlichen Verurteilung verweigern darf, wenn sie über Anhaltspunkte für systemische oder allgemeine Mängel verfügt, die geeignet sind, die Unabhängigkeit der Justiz in diesem Mitgliedstaat zu beeinträchtigen und so den Wesensgehalt des Grundrechts der betroffenen Person auf ein faires Verfahren anzutasten.

28

Konkret ist als Antwort auf die Fragen des vorlegenden Gerichts zu den Voraussetzungen, unter denen im Fall von systemischen oder allgemeinen Verstößen gegen das Recht auf ein faires Verfahren im Ausstellungsmitgliedstaat die Vollstreckung eines auf der Grundlage des Rahmenbeschlusses 2008/909 gestellten Antrags verweigert werden kann, klarzustellen, dass die Möglichkeit, die Anerkennung eines Urteils und die Vollstreckung einer strafrechtlichen Sanktion auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 wegen der Gefahr eines Verstoßes gegen das Grundrecht auf ein faires Verfahren abzulehnen, seitens der zuständigen Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats verlangt, eine zweistufige Prüfung durchzuführen.

29

In einem ersten Schritt muss diese Behörde feststellen, ob es objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Anhaltspunkte dafür gibt, dass im Ausstellungsmitgliedstaat wegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit seiner Justiz eine echte Gefahr der Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verbürgten Grundrechts auf ein faires Verfahren besteht (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30

Wenn dies der Fall ist, muss die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats in einem zweiten Schritt konkret und genau untersuchen, inwieweit sich die im ersten Prüfungsschritt festgestellten Mängel auf das Funktionieren der für die Verfahren gegen die betroffene Person zuständigen Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats auswirken konnten und ob es in Anbetracht der persönlichen Situation dieser Person, der Art der Straftat, derentwegen sie verurteilt wurde, und des der Verurteilung, deren Anerkennung und Vollstreckung beantragt wird, zugrunde liegenden Sachverhalts sowie der von diesem Mitgliedstaat eventuell gemäß diesem Rahmenbeschlusses übermittelten zusätzlichen Informationen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass im vorliegenden Fall eine solche Gefahr tatsächlich eingetreten ist (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31

Dass es im Rahmenbeschluss 2008/909 keine Regelung gibt, die dem zehnten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584 entspricht – danach darf die Anwendung des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 6 Abs. 1 EUV enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat der Europäischen Union gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV festgestellt wird –, der die Möglichkeit betrifft, die Anwendung des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls gegenüber einem Mitgliedstaat allgemein auszusetzen, kann nicht in Frage stellen, dass die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats im Einzelfall die in der vorstehenden Randnummer beschriebenen Überprüfungen vornehmen muss.

32

Das vom vorlegenden Gericht angeführte Urteil vom 27. Mai 2019, OG und PI (Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau) (C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456), betraf die Frage, ob eine Staatsanwaltschaft unter den Begriff „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne des Rahmenbeschlusses 2002/584 fällt. Diese Frage steht mit der im vorliegenden Fall gestellten Frage in keinem unmittelbaren Zusammenhang. Jedenfalls kann aus jenem Urteil nicht der Schluss gezogen werden, dass systemische oder allgemeine Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz im Ausstellungsmitgliedstaat ausreichen, um den Vollstreckungsmitgliedstaat davon zu entbinden, die von den Gerichten des Ausstellungsmitgliedstaats erlassenen Urteile und verhängten strafrechtlichen Sanktionen auf der Grundlage des Rahmenbeschlusses 2008/909 anzuerkennen und zu vollstrecken (vgl. entsprechend Urteil vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie [Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde], C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033, Rn. 50).

33

Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass sich die Existenz solcher systemischer oder allgemeiner Mängel nicht zwangsläufig auf alle Entscheidungen auswirkt, die von den Gerichten dieses Mitgliedstaats in jedem Einzelfall erlassen werden (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie [Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde], C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033, Rn. 41 und 42).

34

Würde es der zuständigen Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats gestattet, aus eigener Initiative den im Rahmenbeschluss 2008/909 vorgesehenen Mechanismus dadurch auszusetzen, dass sie sämtliche Anträge auf Anerkennung von Urteilen und auf Vollstreckung strafrechtlicher Sanktionen aus dem von diesen Mängeln betroffenen Mitgliedstaat aus Prinzip ablehnt, so würden die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung, die diesem Rahmenbeschluss zugrunde liegen, in Frage gestellt (vgl. entsprechend Urteil vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie [Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde], C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033, Rn. 43).

35

Entgegen dem, was das vorlegende Gericht anregt, ist es ferner nicht Sache des Gerichtshofs, sondern dieses Gerichts, zu prüfen, ob die von der betreffenden Person vorgelegten Beweise einen Grund erkennen lassen, der es rechtfertigt, die Anerkennung und Vollstreckung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden strafrechtlichen Verurteilung zu verweigern, wobei allerdings nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Möglichkeit einer solchen Weigerung eine Ausnahme darstellt, die eng auszulegen ist (vgl. entsprechend Beschluss vom 12. Juli 2022, Minister for Justice and Equality [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht – II], C‑480/21, EU:C:2022:592 , Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36

Was den Zeitpunkt betrifft, auf den die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats abstellen muss, um diese Prüfung vorzunehmen, ist darauf hinzuweisen, dass bei einem unter den Rahmenbeschluss 2008/909 fallenden Antrag, der darauf gerichtet ist, dass in einem Mitgliedstaat eine in einem anderen Mitgliedstaat ergangene strafrechtliche Verurteilung anerkannt und vollstreckt wird, die Prüfung des Vorliegens systemischer oder allgemeiner Mängel des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats, was insbesondere die Unabhängigkeit der Gerichte betrifft, zwangsläufig anhand der Situation vorzunehmen ist, die in diesem Mitgliedstaat zum Zeitpunkt dieser Verurteilung herrschte. Bei dieser Prüfung können die Entwicklungen der Situation bis zu diesem Zeitpunkt berücksichtigt werden. Demgegenüber sind die Entwicklungen der Situation nach diesem Zeitpunkt grundsätzlich nicht zu berücksichtigen.

37

Diese Prüfung soll es nämlich der zuständigen Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats auf der Grundlage der von der betroffenen Person vorgelegten Beweise ermöglichen, zu beurteilen, ob sich solche systemischen oder allgemeinen Mängel konkret auf das Strafverfahren, das gegen diese Person geführt wurde und zu ihrer Verurteilung geführt hat, auswirken konnten (vgl. entsprechend Beschluss vom 12. Juli 2022, Minister for Justice and Equality [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht – II], C‑480/21, EU:C:2022:592, Rn. 41).

38

Daraus folgt, dass das vorlegende Gericht auf den Zeitpunkt der Verurteilung abstellen muss, um sowohl das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel im Ausstellungsmitgliedstaat als auch die konkrete Auswirkung, die diese auf die Situation der verurteilen Person haben konnten, zu prüfen.

39

Dagegen stellt sich nicht die Frage, ob die Rechtsstaatlichkeit im Ausstellungsmitgliedstaat zu dem Zeitpunkt gewahrt ist, zu dem die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats über den Antrag auf Anerkennung eines im Ausstellungsmitgliedstaat ergangenen Urteils und auf Vollstreckung einer dort verhängten strafrechtlichen Sanktion zu entscheiden hat, da der Zweck dieses Verfahrens gerade darin besteht, dass die betroffene Person nicht an die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats übergeben werden muss, sondern im Vollstreckungsmitgliedstaat bleibt, um dort ihre Strafe zu verbüßen.

40

Gleiches gilt für die Situation im Ausstellungsmitgliedstaat zum Zeitpunkt des Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung, wenn er wegen des Verstoßes gegen eine objektive Auflage erfolgt, mit der die ursprüngliche Strafe gegebenenfalls versehen worden war, da ein solcher Widerruf eine bloße Vollstreckungsmaßnahme darstellt, die weder die Art noch das Maß der Strafe verändert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2023, Minister for Justice and Equality [Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung], C‑514/21 und C‑515/21, EU:C:2023:235, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Falls sich der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung aus einer neuen strafrechtlichen Verurteilung ergibt, was das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren zu prüfen hat, muss die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats hingegen die Situation beurteilen, die im Ausstellungsmitgliedstaat bis zum Zeitpunkt der neuen Verurteilung bestand, die zu diesem Widerruf geführt hat und damit den Antrag auf Anerkennung und Vollstreckung der ursprünglichen Strafe ermöglicht hat (vgl. entsprechend Urteil vom 23. März 2023, Minister for Justice and Equality [Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung], C‑514/21 und C‑515/21, EU:C:2023:235, Rn. 67 und 68).

42

Nach alledem ist auf die Fragen 1 bis 3 zu antworten, dass Art. 3 Abs. 4 und Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen sind, dass die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats es ablehnen kann, die von einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats ausgesprochene Verurteilung zu einer strafrechtlichen Sanktion anzuerkennen und zu vollstrecken, wenn sie über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass in diesem Mitgliedstaat systemische oder allgemeine Mängel in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren bestehen, insbesondere was die Unabhängigkeit der Gerichte betrifft, und ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass sich diese Mängel konkret auf das Strafverfahren gegen die betroffene Person auswirken konnten. Die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats muss die Situation beurteilen, die im Ausstellungsmitgliedstaat bis zum Zeitpunkt der strafrechtlichen Verurteilung bestand, deren Anerkennung und Vollstreckung beantragt werden, sowie gegebenenfalls bis zum Zeitpunkt der neuen Verurteilung, die zum Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung geführt hat, mit der die Strafe, deren Vollstreckung beantragt wird, ursprünglich versehen war.

Zur vierten Frage

43

Angesichts der Antwort auf die Fragen 1 bis 3 ist die vierte Frage nicht zu beantworten.

Kosten

44

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 3 Abs. 4 und Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung

 

sind dahin auszulegen, dass

 

die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats es ablehnen kann, die von einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats ausgesprochene Verurteilung zu einer strafrechtlichen Sanktion anzuerkennen und zu vollstrecken, wenn sie über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass in diesem Mitgliedstaat systemische oder allgemeine Mängel in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren bestehen, insbesondere was die Unabhängigkeit der Gerichte betrifft, und ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass sich diese Mängel konkret auf das Strafverfahren gegen die betroffene Person auswirken konnten. Die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats muss die Situation beurteilen, die im Ausstellungsmitgliedstaat bis zum Zeitpunkt der strafrechtlichen Verurteilung bestand, deren Anerkennung und Vollstreckung beantragt werden, sowie gegebenenfalls bis zum Zeitpunkt der neuen Verurteilung, die zum Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung geführt hat, mit der die Strafe, deren Vollstreckung beantragt wird, ursprünglich versehen war.

 

Lycourgos

Spineanu-Matei

Bonichot

Rodin

Rossi

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 9. November 2023.

Der Kanzler

A. Calot Escobar

Der Kammerpräsident

C. Lycourgos


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.