URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

21. Dezember 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 267 AEUV – Begriff ‚Gericht‘ – Kriterien – Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) – Vorabentscheidungsersuchen eines Spruchkörpers, der kein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ist – Unzulässigkeit“

In der Rechtssache C‑718/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Najwyższy (Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych) (Oberstes Gericht [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten], Polen) mit Entscheidung vom 20. Oktober 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 26. November 2021, in dem Verfahren

L. G.

gegen

Krajowa Rada Sądownictwa

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal (Berichterstatterin) und K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos und Z. Csehi und der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei sowie der Richter M. Ilešič, S. Rodin, I. Jarukaitis, A. Kumin, N. Jääskinen und D. Gratsias, der Richterin M. L. Arastey Sahún und des Richters M. Gavalec,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. November 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von L. G.,

der Krajowa Rada Sądownictwa, vertreten durch A. Dalkowska, J. Kołodziej-Michałowicz, D. Pawełczyk-Woicka und P. Styrna,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und S. Żyrek als Bevollmächtigte,

der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet, M. Jacobs, L. van den Broeck und M. van Regemorter als Bevollmächtigte,

der dänischen Regierung, vertreten durch V. Pasternak Jørgensen und M. Søndahl Wolff als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und P. P. Huurnink als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. März 2023

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV.

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen L. G. und der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen) (im Folgenden: KRS) über eine Entscheidung, mit der das Verfahren betreffend den Antrag von L. G., sein Richteramt nach Erreichen des Regelruhestandsalters weiter ausüben zu dürfen, eingestellt wurde.

Rechtlicher Rahmen

Verfassung

3

Art. 10 der Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej (Verfassung der Republik Polen, im Folgenden: Verfassung) bestimmt:

„(1)   Die Ordnung der Republik Polen stützt sich auf die Trennung und das Gleichgewicht der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt.

(2)   Die gesetzgebende Gewalt üben Sejm [(Erste Kammer des Parlaments, Polen)] und Senat [(Zweite Kammer des Parlaments, Polen)], die vollziehende Gewalt der Präsident der Republik Polen und der Ministerrat, die rechtsprechende Gewalt Gerichte und Gerichtshöfe aus.“

4

Art. 45 Abs. 1 der Verfassung sieht vor:

„Jedermann hat das Recht auf gerechte und öffentliche Verhandlung der Sache ohne unbegründete Verzögerung vor dem zuständigen, unabhängigen, unparteiischen Gericht.“

5

Art. 60 der Verfassung lautet:

„Polnische Staatsangehörige, die die vollen bürgerlichen Rechte genießen, haben das Recht auf gleichen Zugang zum öffentlichen Dienst.“

6

Art. 77 Abs. 2 der Verfassung bestimmt:

„Das Gesetz darf es niemandem unmöglich machen, verletzte Freiheiten oder Rechte auf dem Gerichtsweg geltend zu machen.“

7

Art. 179 der Verfassung sieht vor:

„Die Richter werden vom Präsidenten der Republik Polen auf Vorschlag [der KRS] auf unbestimmte Zeit berufen.“

8

Art. 186 Abs. 1 der Verfassung lautet:

„Die [KRS] schützt die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter.“

9

Art. 187 der Verfassung bestimmt:

„(1)   Die [KRS] besteht aus:

1.

dem Ersten Präsidenten des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht, Polen)], dem Justizminister, dem Präsidenten des Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht, Polen)] und einer vom Präsidenten der Republik ernannten Person,

2.

15 Mitgliedern, die aus der Mitte der Richter des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)], der ordentlichen Gerichte, der Verwaltungs- und der Militärgerichte gewählt worden sind,

3.

vier Mitgliedern, die vom Sejm [(Erste Kammer des Parlaments)] aus der Mitte der Abgeordneten gewählt worden sind, und zwei Mitgliedern, die vom Senat [(Zweite Kammer des Parlaments)] aus der Mitte der Senatoren gewählt worden sind.

(3)   Die Amtszeit der gewählten Mitglieder [der KRS] beträgt vier Jahre.

(4)   Die Ordnung, den Umfang der Tätigkeit und die Arbeitsweise [der KRS] sowie die Wahl [ihrer] Mitglieder regelt ein Gesetz.“

Gesetz über das Oberste Gericht

10

Die Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Position 5) trat am 3. April 2018 in Kraft. Dieses Gesetz wurde später mehrfach geändert.

11

Mit dem Gesetz über das Oberste Gericht wurden am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) u. a. zwei neue Kammern mit den Bezeichnungen Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten) bzw. Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) eingerichtet.

12

Art. 26 Abs. 1 des Gesetzes über das Oberste Gericht bestimmt:

„Die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten ist zuständig für außerordentliche Rechtsbehelfe, Streitigkeiten über Wahlen und Anfechtungen der Gültigkeit eines nationalen Referendums oder eines Verfassungsreferendums, für die Feststellung der Gültigkeit von Wahlen und Referenden und andere öffentlich-rechtliche Rechtssachen, einschließlich Streitigkeiten über den Schutz des Wettbewerbs, die Regulierung der Energie- und Telekommunikationswirtschaft und des Eisenbahnverkehrs sowie für Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen des Przewodniczacy Krajowej Rady Radiofonii i Telewizji [(Vorsitzender des Nationalen Rundfunkrats, Polen)] oder Anfechtungen der überlangen Verfahrensdauer bei ordentlichen und Militärgerichten sowie vor dem Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)].“

Gesetz über die KRS

13

In Art. 9a der Ustawa o Krajowej Radzie Sądownictwa (Gesetz über den Landesjustizrat) vom 12. Mai 2011 (Dz. U. 2011, Position 714) in der durch die am 17. Januar 2018 in Kraft getretene Ustawa o zmianie ustawy o Krajowej Radzie Sądownictwa oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und einiger anderer Gesetze) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Position 3) und die am 27. Juli 2018 in Kraft getretene Ustawa o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und einiger anderer Gesetze) vom 20. Juli 2018 (Dz. U. 2018, Position 1443) geänderten Fassung (im Folgenden: KRS-Gesetz) heißt es:

„(1)   Der Sejm [(Erste Kammer des Parlaments)] wählt aus den Reihen der Richter am Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)], an den ordentlichen Gerichten, an den Verwaltungsgerichten und an den Militärgerichten 15 Mitglieder [der KRS] für eine gemeinsame Amtszeit von vier Jahren.

(3)   Die gemeinsame Amtszeit der aus den Reihen der Richter gewählten neuen Mitglieder [der KRS] beginnt an dem auf ihre Wahl folgenden Tag. Die für die vorherigen Amtszeiten ernannten Mitglieder [der KRS] üben ihre Tätigkeit bis zu dem Tag aus, an dem die gemeinsame Amtszeit der neuen Mitglieder [der KRS] beginnt.“

14

Art. 37 Abs. 1 des KRS-Gesetzes bestimmt:

„Hat sich mehr als ein Kandidat um eine Stelle als Richter beworben, prüft und bewertet [die KRS] alle eingereichten Bewerbungen gemeinsam. In diesem Fall verabschiedet [die KRS] eine Entschließung, die ihre Entscheidungen über die Einreichung eines Vorschlags zur Ernennung auf eine Richterstelle für alle Kandidaten enthält.“

15

Art. 43 Abs. 2 des KRS-Gesetzes sieht vor:

„Wird die in Art. 37 Abs. 1 genannte Entschließung nicht von allen Verfahrensteilnehmern angefochten, so wird sie vorbehaltlich von Art. 44 Abs. 1b für den Teil bestandskräftig, der die Entscheidung enthält, die Teilnehmer, die keinen Rechtsbehelf eingelegt haben, nicht zur Ernennung zum Richter vorzuschlagen.“

16

Die Übergangsvorschrift in Art. 6 des Gesetzes vom 8. Dezember 2017 zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und einiger anderer Gesetze hat folgenden Wortlaut:

„Die Amtszeit der in Art. 187 Abs. 1 Nr. 2 der [Verfassung] genannten Mitglieder [der KRS], die nach den bisherigen Bestimmungen gewählt wurden, dauert bis zu dem Tag, der dem Beginn der Amtszeit der neuen Mitglieder [der KRS] vorausgeht, jedoch nicht länger als 90 Tage ab dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes, sofern sie nicht wegen des Ablaufs der Amtszeit früher endet.“

17

In Art. 44 des KRS-Gesetzes hieß es:

„(1)   Ein Teilnehmer an dem Verfahren kann gegen die Entschließung [der KRS] einen Rechtsbehelf beim Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] mit der Begründung einlegen, dass diese rechtswidrig sei, soweit nicht besondere Bestimmungen etwas anderes vorsehen. …

(1a)   In Individualsachen, die eine Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] betreffen, kann ein Rechtsbehelf beim Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht)] eingelegt werden. In diesen Sachen kann kein Rechtsbehelf beim Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] eingelegt werden. Der Rechtsbehelf zum Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht)] kann nicht damit begründet werden, dass nicht zutreffend beurteilt worden sei, ob die Kandidaten die Kriterien erfüllen, die bei der Entscheidung über die Einreichung des Vorschlags für die Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] berücksichtigt werden.

(1b)   Haben in Individualsachen, die eine Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] betreffen, nicht alle Teilnehmer an dem Verfahren die in Art. 37 Abs. 1 genannte Entschließung angefochten, so wird sie insoweit bestandskräftig, als sie die Entscheidung über die Einreichung eines Vorschlags für die Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] und die Entscheidung enthält, die Teilnehmer, die keinen Rechtsbehelf eingelegt haben, nicht zur Ernennung zum Richter an diesem Gericht vorzuschlagen.

(4)   In Individualsachen, die eine Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] betreffen, kommt die Aufhebung der Entschließung [der KRS], keine Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] vorzuschlagen, durch den Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht)] der Zulassung der Bewerbung des Verfahrensteilnehmers, der den Rechtsbehelf eingelegt hat, um eine freie Richterstelle am Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] gleich, und zwar für die Stelle, für die das Verfahren vor der KRS zum Zeitpunkt der Verkündung des Urteils des Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht)] noch nicht abgeschlossen ist, oder, mangels eines solchen Verfahrens, für die nächste freie Richterstelle am Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)], die ausgeschrieben wird.“

18

Abs. 1a von Art. 44 des KRS-Gesetzes wurde durch das Gesetz vom 8. Dezember 2017 zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und einiger anderer Gesetze und die Abs. 1b und 4 wurden durch das Gesetz vom 20. Juli 2018 zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und einiger anderer Gesetze in diesen Artikel aufgenommen. Vor der Einführung dieser Änderungen wurden die in Abs. 1a genannten Rechtsbehelfe gemäß Art. 44 Abs. 1 des KRS-Gesetzes beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) eingelegt.

19

Mit Urteil vom 25. März 2019 erklärte das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof, Polen) Art. 44 Abs. 1a des KRS-Gesetzes für unvereinbar mit der Verfassung. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass die dem Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) durch Abs. 1a übertragene Zuständigkeit weder durch die Art der betroffenen Fälle noch durch die organisatorischen Merkmale dieses Gerichts oder durch das von ihm angewandte Verfahren gerechtfertigt sei. Außerdem habe die Feststellung der Verfassungswidrigkeit „zwangsläufig die Einstellung aller auf der Grundlage der aufgehobenen Bestimmung geführten Gerichtsverfahren zur Folge“.

20

In der Folge wurde Art. 44 des KRS-Gesetzes durch die am 23. Mai 2019 in Kraft getretene Ustawa o zmianie ustawy o Krajowej Radzie Sądownictwa oraz ustawy – Prawo o ustroju sądów administracyjnych (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und des Gesetzes über die Organisation der Verwaltungsgerichte) vom 26. April 2019 (Dz. U. 2019, Position 914) geändert. Art. 44 Abs. 1 lautet seitdem:

„Ein Teilnehmer an dem Verfahren kann gegen die Entschließung [der KRS] einen Rechtsbehelf beim Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] mit der Begründung einlegen, dass diese rechtswidrig sei, soweit nicht besondere Bestimmungen etwas anderes vorsehen. In Individualverfahren, die die Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] betreffen, kann kein Rechtsbehelf eingelegt werden.“

21

Darüber hinaus sah Art. 3 dieses Gesetzes vom 26. April 2019 vor, dass „Verfahren über Rechtsbehelfe gegen die Entschließungen [der KRS] in Individualverfahren, die die Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] betreffen, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eingeleitet und nicht entschieden wurden, … von Rechts wegen eingestellt [werden]“.

Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit

22

Art. 69 der Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit) vom 27. Juli 2001 (Dz. U. Nr. 98, Position 1070) in der im entscheidungserheblichen Zeitraum geltenden Fassung bestimmt:

„§ 1.   Ein Richter wird mit Vollendung des 65. Lebensjahrs in den Ruhestand versetzt, es sei denn, er gibt gegenüber der [KRS] frühestens zwölf und spätestens sechs Monate vor Erreichen dieses Alters eine Erklärung ab, sein Amt weiter ausüben zu wollen, und legt eine Bescheinigung über seine gesundheitliche Befähigung zur Ausübung des Richteramts vor, die nach den für Bewerber um eine Richterstelle geltenden Grundsätzen erteilt wird.

§ 1b.   Die [KRS] kann einem Richter ihre Zustimmung dazu erteilen, sein Amt weiter auszuüben, wenn der Verbleib im Amt dem Interesse der Rechtspflege oder einem wichtigen gesellschaftlichen Interesse entspricht; zu berücksichtigen sind hierbei ein rationeller Einsatz der Bediensteten der ordentlichen Gerichte und der sich aus der Arbeitsbelastung der einzelnen Gerichte ergebende Bedarf. …

…“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

23

Mit Schreiben vom 30. Dezember 2020 teilte L. G., Richter am Sąd Okręgowy w K. (Regionalgericht K., Polen), der KRS mit, dass er sein Amt nach dem 12. Juni 2021, dem Tag seines 65. Geburtstags, weiter ausüben wolle.

24

Mit Entschließung vom 18. Februar 2021 stellte die KRS das Verfahren betreffend den Antrag von L. G. ein, nachdem sie festgestellt hatte, dass dieser nach Ablauf der in Art. 69 § 1 des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit genannten Ausschlussfrist eingereicht worden war.

25

L. G. legte beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) einen Rechtsbehelf gegen diese Entschließung ein.

26

Unter diesen Umständen hat der Sąd Najwyższy (Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych) (Oberstes Gericht [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten]) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Steht Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV einer nationalen Rechtsvorschrift wie Art. 69 § 1b Satz 1 des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit entgegen, mit der die Wirksamkeit der Erklärung eines Richters, das Richteramt nach Erreichen des Ruhestandsalters weiter ausüben zu wollen, von der Zustimmung eines anderen Organs abhängig gemacht wird?

2.

Steht Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV einer Auslegung einer nationalen Vorschrift entgegen, nach der die verspätete Erklärung eines Richters, das Richteramt nach Erreichen des Ruhestandsalters weiter ausüben zu wollen, unabhängig von den Umständen der Fristversäumnis und deren Bedeutung für das Verfahren zur Erteilung der Zustimmung zur weiteren Ausübung des Richteramts unwirksam ist?

Verfahren vor dem Gerichtshof

27

Da die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen Zweifel daran geäußert hatte, ob der Spruchkörper der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), der das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen eingereicht hat, als „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV anzusehen ist, hat der Gerichtshof sämtliche Verfahrensbeteiligten aufgefordert, diesen Aspekt in der mündlichen Verhandlung zu erörtern.

28

Mit Beschluss vom 3. November 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 4. November 2022, hat die vorlegende Stelle verschiedene Gesichtspunkte angeführt, die ihrer Ansicht nach geeignet sind, zu bestätigen, dass sie diese Eigenschaft besitzt. Ähnliche Gesichtspunkte sind im Übrigen auch von der KRS und der polnischen Regierung vorgetragen und in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof erörtert worden.

29

Schließlich ist den Beteiligten nach der mündlichen Verhandlung die Möglichkeit eingeräumt worden, schriftlich zusätzliche Anmerkungen zu den im Beschluss der vorlegenden Stelle vom 3. November 2022 enthaltenen Gesichtspunkten zu machen. L. G., die KRS, die belgische und die niederländische Regierung sowie die Kommission haben von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.

Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

30

Die Kommission hat Zweifel daran geäußert, ob die vorlegende Stelle, im vorliegenden Fall ein aus drei Richtern der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) (im Folgenden: Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten) bestehender Spruchkörper dieser Kammer, die sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebenden Anforderungen erfüllt, insbesondere die Anforderung im Zusammenhang mit einem zuvor durch Gesetz errichteten Gericht, die für eine vorlegende Stelle gelten, wenn sie als „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV angesehen werden soll.

31

Aus den schriftlichen Erklärungen der Kommission geht hervor, dass sich ihre Bedenken im Einzelnen zum einen auf den Umstand beziehen, dass die Ernennung der drei betreffenden Mitglieder der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten durch den Präsidenten der Republik Polen vom 10. Oktober 2018 auf der Grundlage von Vorschlägen in der am 28. August 2018 von der KRS, d. h. einer Einrichtung, deren Unabhängigkeit wiederholt in Frage gestellt worden sei, u. a. in mehreren jüngeren Urteilen des Gerichtshofs, angenommenen Entschließung Nr. 331/2018 (im Folgenden: Entschließung Nr. 331/2018) erfolgt ist. Zum anderen stehe fest, dass diese Entschließung, wie sich u. a. aus dem Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, im Folgenden: Urteil W.Ż., EU:C:2021:798), ergebe, zum Zeitpunkt der Ernennungen Gegenstand eines Rechtsbehelfs beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) gewesen sei, der die Vollstreckbarkeit der Entschließung mit Beschluss vom 27. September 2018 ausgesetzt habe.

32

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) habe im Urteil vom 8. November 2021, Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen (CE:ECHR:2021:1108JUD004986819) (im Folgenden: Urteil Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen) insoweit festgestellt, dass das Verfahren, das auf der Grundlage der Entschließung Nr. 331/2018 zur Ernennung der Mitglieder zweier Spruchkörper mit drei Richtern der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten geführt habe, gegen das in Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) genannte Erfordernis eines „auf Gesetz beruhenden Gerichts“ verstoße. Zudem gehöre einem dieser Spruchkörper ein Richter der Stelle an, die das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen eingereicht habe.

33

Darüber hinaus sei die Entschließung Nr. 331/2018 infolge des Urteils des Gerichtshofs vom 2. März 2021, A. B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf) (C‑824/18, im Folgenden: Urteil A. B. u. a., EU:C:2021:153), vom Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) mit Urteil vom 21. September 2021 für nichtig erklärt worden.

34

L. G. sowie die belgische und die niederländische Regierung teilen im Wesentlichen die von der Kommission geäußerten Zweifel.

35

Die vorlegende Stelle hat in ihrem in Rn. 28 des vorliegenden Urteils erwähnten Beschluss vom 3. November 2022 ihrerseits darauf hingewiesen, dass der Beschluss des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) vom 27. September 2018, mit dem die Vollstreckbarkeit der Entschließung Nr. 331/2018 ausgesetzt worden sei, weder dem Präsidenten der Republik Polen mitgeteilt noch den Personen zugestellt worden sei, deren Ernennung auf eine Richterstelle in der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten in dieser Entschließung vorgeschlagen worden sei, da die Betroffenen nämlich keine Parteien des bei diesem Gericht anhängigen Rechtsstreits gewesen seien. Im Übrigen sei am 28. September 2018 nur der Tenor dieses Beschlusses des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) veröffentlicht worden, in dem es heiße, dass die Vollstreckbarkeit der Entschließung Nr. 331/2018 „hinsichtlich ihres angefochtenen Teils“ ausgesetzt werde, während die Begründung des Beschlusses erst am 19. Oktober 2018, also neun Tage nach der Ernennung der Betroffenen, veröffentlicht worden sei.

36

In Anbetracht der nationalen Vorschriften, die zum Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsbehelfs gegen die Entschließung Nr. 331/2018 beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) in Kraft gewesen seien, habe es keinen Anlass zu der Annahme gegeben, dass ein solcher Rechtsbehelf zu einer Infragestellung der Vorschläge zur Ernennung der von der KRS in dieser Entschließung ausgewählten Kandidaten habe führen und damit deren Ernennung durch den Präsidenten der Republik Polen habe entgegenstehen können. Denn gemäß Art. 44 Abs. 1b des KRS-Gesetzes in der damals geltenden Fassung sei eine solche Entschließung, wenn sie nicht von sämtlichen Verfahrensbeteiligten angefochten worden sei, hinsichtlich ihres Teils, der die Vorschläge für die Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) enthalten habe, bestandskräftig und damit vollstreckbar geworden. Zudem sei zum Zeitpunkt der Ernennung der Richter der vorlegenden Stelle noch kein Verfahren zur Feststellung einer etwaigen Unvereinbarkeit dieser nationalen Vorschrift mit dem Unionsrecht anhängig gewesen, da dem Gerichtshof erst am 22. November 2018 in der Rechtssache C‑824/18, A. B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf), diesbezügliche Vorabentscheidungsfragen vorgelegt worden seien.

37

Was das Urteil des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) vom 21. September 2021 betreffe, so werde darin ausdrücklich klargestellt, dass sich seine Wirkungen nicht auf die Gültigkeit und Wirksamkeit der Präsidialakte zur Ernennung auf die betreffenden Richterstellen bezögen, da solche Akte keiner gerichtlichen Überprüfung unterlägen.

38

Was schließlich den Umstand angehe, dass die betreffenden Richter auf der Grundlage einer Entschließung der KRS in ihrer sich aus der Umsetzung von Art. 9a des KRS-Gesetzes ergebenden neuen Zusammensetzung in die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten berufen worden seien, so reiche dieser Umstand nicht aus, um den Richtern oder dem Spruchkörper, dem sie angehörten, mangelnde Unabhängigkeit vorzuwerfen, wie sowohl aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs als auch aus der Rechtsprechung des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) hervorgehe.

39

Die polnische Regierung und die KRS teilen im Wesentlichen die von der vorlegenden Stelle dargelegten Positionen.

40

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs stellt dieser bei der Beurteilung der rein unionsrechtlichen Frage, ob es sich bei der jeweils vorlegenden Einrichtung um ein „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV handelt, und somit für die Frage, ob das Vorabentscheidungsersuchen zulässig ist, auf eine Reihe von Merkmalen ab, wie z. B. u. a. die gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ihr ständiger Charakter, die obligatorische Gerichtsbarkeit, das streitige Verfahren, die Anwendung von Rechtsnormen durch die betreffende Einrichtung sowie ihre Unabhängigkeit (Urteil vom 29. März 2022, Getin Noble Bank, C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) als solcher diese Anforderungen erfüllt, und insoweit klargestellt, dass, sofern ein Vorabentscheidungsersuchen von einem nationalen Gericht stammt, davon auszugehen ist, dass dieses die Anforderungen unabhängig von seiner konkreten Zusammensetzung erfüllt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. März 2022, Getin Noble Bank, C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 68 und 69).

42

In einem Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV ist der Gerichtshof nach der Verteilung der Aufgaben zwischen ihm und den nationalen Gerichten nach seiner ständigen Rechtsprechung nämlich nicht befugt, nachzuprüfen, ob die Vorlageentscheidung den nationalen Vorschriften über die Gerichtsorganisation und das gerichtliche Verfahren entspricht. Er ist daher an die von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassene Vorlageentscheidung gebunden, solange diese nicht aufgrund eines im nationalen Recht eventuell vorgesehenen Rechtsbehelfs aufgehoben worden ist (Urteil vom 29. März 2022, Getin Noble Bank, C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43

Der Gerichtshof berücksichtigt in diesem Zusammenhang auch, dass das Schlüsselelement des von den Verträgen geschaffenen Gerichtssystems in dem in Art. 267 AEUV vorgesehenen Vorabentscheidungsverfahren besteht, das durch die Einführung eines Dialogs von Gericht zu Gericht zwischen dem Gerichtshof und den Gerichten der Mitgliedstaaten die einheitliche Auslegung des Unionsrechts gewährleisten soll und damit die Sicherstellung seiner Kohärenz, seiner vollen Geltung und seiner Autonomie sowie letztlich des eigenen Charakters des durch die Verträge geschaffenen Rechts ermöglicht (Urteil vom 29. März 2022, Getin Noble Bank, C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44

In Bezug auf einen einzelrichterlichen Spruchkörper hat der Gerichtshof darüber hinaus jedoch klargestellt, dass die in Rn. 41 des vorliegenden Urteils erwähnte Vermutung widerlegt werden kann, wenn eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung eines Gerichts eines Mitgliedstaats oder eines internationalen Gerichts zu der Annahme führen würde, dass der Richter, aus dem das vorlegende Gericht besteht, nicht die Eigenschaft eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) hat (Urteil vom 29. März 2022, Getin Noble Bank, C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 72).

45

Hierzu ist zunächst festzustellen, dass das Urteil Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen des EGMR sowie das Urteil des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) vom 21. September 2021, auf die sich die Kommission beruft, von einem internationalen Gericht bzw. einem Gericht eines Mitgliedstaats stammen und beide endgültigen Charakter haben. Außerdem beziehen sich diese Urteile speziell auf die Umstände, unter denen Richter der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten auf der Grundlage der Entschließung Nr. 331/2018 ernannt worden sind.

46

Daher ist im vorliegenden Fall zu prüfen, ob die vom EGMR im Urteil Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 EMRK vorgenommenen Feststellungen und Beurteilungen in Verbindung mit den vom Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) in seinem Urteil vom 21. September 2021 vorgenommenen Feststellungen und Beurteilungen geeignet sind, den Gerichtshof, dem allein die Auslegung des Unionsrechts obliegt, im Licht seiner eigenen Rechtsprechung davon zu überzeugen, dass der Spruchkörper der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, der ihn in der vorliegenden Rechtssache um Vorabentscheidung ersucht hat, nicht die Eigenschaft eines unabhängigen und unparteiischen, zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta hat und folglich nicht die in Rn. 40 des vorliegenden Urteils in Erinnerung gerufenen Anforderungen erfüllt, um als „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV eingestuft werden zu können.

47

Was als Erstes das Urteil Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen betrifft, so hat der EGMR in den §§ 272 bis 280 dieses Urteils zunächst auf seine Rechtsprechung hingewiesen, wonach der Begriff des „auf Gesetz beruhenden“ Gerichts im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK, dessen Ziel u. a. darin bestehe, die Judikative vor jedem unzulässigen äußeren Einfluss insbesondere seitens der Exekutive, aber auch der Legislative oder sogar der Judikative selbst zu schützen, die Einhaltung der nationalen Vorschriften über die Ernennung von Richtern umfasse, welche in einem unmissverständlichen Wortlaut formuliert sein müssten. Er hat auch daran erinnert, dass dieser Begriff, wie sich aus der erwähnten Rechtsprechung ergebe, in sehr engem Zusammenhang mit den Garantien der „Unabhängigkeit“ und „Unparteilichkeit“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK stehe. Diesen Anforderungen sei nämlich gemeinsam, dass sie auf die Einhaltung der grundlegenden Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung abzielten, so dass bei einer Prüfung unter dem Gesichtspunkt des Erfordernisses eines „auf Gesetz beruhenden Gerichts“ systematisch untersucht werden müsse, ob die in einem bestimmten Fall behauptete Unregelmäßigkeit so schwerwiegend sei, dass sie diese Prinzipien beeinträchtigt und die Unabhängigkeit des fraglichen Gerichts gefährdet habe.

48

Zur Stützung seiner Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK in jenem Fall hat der EGMR in den §§ 281 bis 338 des Urteils Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen im Wesentlichen darauf hingewiesen, dass die Ernennungen der Mitglieder der betreffenden Spruchkörper der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten unter offensichtlicher Verletzung grundlegender nationaler Vorschriften über das Verfahren zur Ernennung von Richtern erfolgt seien. Dies ergebe sich u. a. aus verschiedenen Entscheidungen des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), nämlich einem Urteil der Kammer für Arbeit und Sozialversicherung vom 5. Dezember 2019 und einer gemeinsamen Entschließung der Zivilkammer, der Strafkammer und der Kammer für Arbeit und Sozialversicherung vom 23. Januar 2020, die beide infolge des Urteils des Gerichtshofs vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982), ergangen seien, sowie dem Beschluss vom 21. Mai 2019, mit dem dasselbe nationale Gericht den Gerichtshof in der Rechtssache, in der das Urteil W.Ż ergangen sei, mit einem Vorabentscheidungsersuchen befasst habe.

49

Wie aus den §§ 309 bis 312 und 320 des Urteils Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen hervorgeht, hat der EGMR insoweit zum einen das Fehlen ausreichender Garantien für die Unabhängigkeit der KRS in ihrer aus der Umsetzung von Art. 9a des KRS-Gesetzes hervorgegangen neuen Zusammensetzung von der Legislative und der Exekutive festgestellt. Er hat daraus abgeleitet, dass die Ernennung der betreffenden Richter zur Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten auf der Grundlage der Entschließung Nr. 331/2018 unter Verstoß gegen Verfassungsgrundsätze erfolgt sei, die für die Arbeitsweise der KRS gelten, wie beispielsweise die Grundsätze der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit der Justiz, so dass diese Richter nicht als unabhängig und unparteiisch angesehen werden könnten.

50

Zum anderen hat der EGMR in den §§ 321 bis 338 des Urteils Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen auf den Umstand verwiesen, dass der Präsident der Republik Polen die Richter ernannt habe, obwohl die Vollstreckbarkeit der Entschließung Nr. 331/2018 mit den Vorschlägen zur Ernennung der Betroffenen auf die in der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten zu besetzenden Stellen durch den Beschluss des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) vom 27. September 2018 ausgesetzt worden sei.

51

In Bezug auf den letzten Punkt hat der EGMR, wie aus dem Urteil Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen, insbesondere aus dessen §§ 330 und 338, hervorgeht, u. a. die Auffassung vertreten, dass Ernennungen, die unter solchen Umständen erfolgten, eine tiefgreifende Verleugnung der Autorität, der Unabhängigkeit und der Rolle der Justiz seitens der Exekutive widerspiegelten und bewusst darauf abzielten, den wirksamen Lauf der Justiz zu behindern, so dass sie als eklatanter Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK anzusehen und offensichtlich mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit unvereinbar seien.

52

In den §§ 331 bis 333 desselben Urteils hat der EGMR außerdem betont, dass dieser Verstoß angesichts der grundlegenden Bedeutung und des sensiblen Charakters der Befugnisse, mit denen die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten ausgestattet sei, in jenem Fall umso schwerer wiege.

53

Auch wenn von den sechs Richtern der Spruchkörper der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, die in den Rechtssachen in Rede standen, in denen das Urteil Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen ergangen ist, nur einer dem Spruchkörper dieser Kammer angehört, der das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen eingereicht hat, geht aus der Begründung jenes Urteils klar hervor, dass die Beurteilungen des EGMR unterschiedslos für sämtliche Richter gelten, die unter ähnlichen Umständen und insbesondere auf der Grundlage der Entschließung Nr. 331/2018 in die besagte Kammer berufen worden sind.

54

Als Zweites ist festzustellen, dass der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) mit seinem Urteil vom 21. September 2021, das infolge des Urteils A. B. u. a. ergangen ist, die Entschließung Nr. 331/2018 – auch hinsichtlich ihres Teils, in dem die in der vorstehenden Randnummer genannten Richter zur Ernennung vorgeschlagen worden sind – für nichtig erklärt und sich dabei u. a. auf Feststellungen und Beurteilungen gestützt hat, die sich weitgehend mit den Feststellungen und Beurteilungen im Urteil Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen sowie in den in Rn. 48 des vorliegenden Urteils erwähnten Entscheidungen des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) decken.

55

In den Abschnitten 7.1 bis 7.6 seines Urteils vom 21. September 2021 hat der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) ferner zum einen festgestellt, dass die Änderungen von Art. 44 des KRS-Gesetzes durch die in Rn. 18 des vorliegenden Urteils erwähnten Gesetze vom 8. Dezember 2017 und vom 20. Juli 2018 den bis dahin eröffneten Rechtsbehelfen gegen Entschließungen der KRS, in denen Kandidaten für die Ernennung zu Richtern am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vorgeschlagen worden seien, in einem ersten Schritt jegliche Wirksamkeit genommen hätten. Zum anderen hat er darauf hingewiesen, dass dieser Art. 44, obwohl bei ihm mehrere derartige Rechtsbehelfe anhängig gewesen seien, durch das in den Rn. 20 und 21 des vorliegenden Urteils erwähnte Gesetz vom 26. April 2019 in einem zweiten Schritt erneut geändert worden sei, wodurch ausgeschlossen worden sei, dass solche Rechtsbehelfe in Zukunft noch eingelegt werden könnten, und die bei ihm anhängigen Verfahren über Rechtsbehelfe nach dem letztgenannten Gesetz von Rechts wegen eingestellt worden seien.

56

In Bezug auf die vorstehend angeführten Gesetzesänderungen hat der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) die Auffassung vertreten, dass diese – in ihrem tatsächlichen und rechtlichen Kontext betrachtet – offensichtlich darauf abgezielt hätten, zu verhindern, dass ein Gericht prüfen könne, inwieweit das Zusammenwirken verschiedener Faktoren zur Folge gehabt haben könnte, dass die kürzlich auf Vorschlag der KRS in ihrer neuen Zusammensetzung an den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) berufenen Richter nicht die sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebenden Anforderungen erfüllten, und – was die mit dem Gesetz vom 26. April 2019 eingeführten Gesetzesänderungen betrifft – zu verhindern, dass der Gerichtshof dazu Stellung nehmen könne. Ferner könnten solche Umstände dazu beitragen, bei den Rechtsunterworfenen systemische Zweifel hinsichtlich der Frage zu wecken, ob auf diese Weise ernannte Richter die Anforderungen erfüllten.

57

Was die Elemente betrifft, die den in der vorstehenden Randnummer erwähnten rechtlichen und tatsächlichen Kontext bilden, in dessen Rahmen die genannten Gesetzesänderungen erfolgt sind, so hat der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht), wie aus den Abschnitten 7.5 und 7.6 seines Urteils vom 21. September 2021 hervorgeht, auf eine Reihe von Faktoren abgestellt. Er hat insoweit erstens darauf hingewiesen, dass die Amtszeit der damaligen Mitglieder der KRS durch das Gesetz vom 8. Dezember 2017 verkürzt und die Zusammensetzung dieser Einrichtung geändert worden sei, wodurch der Einfluss der Legislative und der Exekutive innerhalb der Einrichtung erheblich zugenommen habe. Zweitens sei die Änderung in der Zusammensetzung der KRS zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem die kurzfristige Besetzung einer sehr großen Anzahl von Stellen am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vorgesehen gewesen sei. Drittens bestünden Zweifel und fehle es an Transparenz hinsichtlich der Voraussetzungen, unter denen das Verfahren zur Ernennung der Mitglieder der neuen KRS abgelaufen sei; in Anbetracht sowohl der konkreten Zusammensetzung als auch der tatsächlich entfalteten Tätigkeit der Einrichtung sei diese nicht mehr von der Legislative und der Exekutive unabhängig gewesen. Viertens hätten die in Rn. 55 des vorliegenden Urteils erwähnten Gesetzesänderungen nur Entschließungen der KRS betroffen, mit denen Kandidaten für die Ernennung auf Richterstellen am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vorgeschlagen worden seien, nicht aber solche, mit denen Kandidaten für die Ernennung auf Richterstellen an anderen nationalen Gerichten vorgeschlagen worden seien.

58

Im Licht der eigenen Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta führen die Feststellungen und Beurteilungen, die vom EGMR im Urteil Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen sowie vom Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) in seinem Urteil vom 21. September 2021 vorgenommen und in den Rn. 47 bis 57 des vorliegenden Urteils beschrieben worden sind, zu der Annahme, dass der Spruchkörper der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, der das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen eingebracht hat, aufgrund der Modalitäten, die der Ernennung der Richter zugrunde gelegen haben, aus denen er besteht, nicht die Eigenschaft eines unabhängigen und unparteiischen, zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne der genannten Bestimmungen des Unionsrechts hat, so dass dieser Spruchkörper kein „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV darstellt.

59

Insoweit ist auf den untrennbaren Zusammenhang hinzuweisen, der schon nach dem Wortlaut von Art. 47 Abs. 2 der Charta bei dem Grundrecht auf ein faires Verfahren im Sinne dieser Bestimmung zwischen den Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter sowie des Zugangs zu einem zuvor durch Gesetz geschaffenen Gericht besteht (Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 55).

60

Zum Verfahren zur Ernennung von Richtern hat der Gerichtshof festgestellt, dass dieses Verfahren in Anbetracht seiner grundlegenden Bedeutung für das ordnungsgemäße Funktionieren und die Legitimität der Justiz in einem demokratischen Rechtsstaat zwangsläufig eng mit dem Begriff des zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne von Art. 47 der Charta verbunden ist und dass die Unabhängigkeit eines Gerichts im Sinne dieser Bestimmung u. a. an der Art und Weise der Ernennung seiner Mitglieder gemessen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61

Nach ständiger Rechtsprechung setzen die nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in Bezug auf die zur Auslegung und Anwendung dieses Rechts berufenen Gerichte nämlich voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung und die Ernennung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteil W.Ż., Rn. 109 und 128 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Anforderung der Unabhängigkeit der Gerichte, die dem Auftrag des Richters inhärent ist, gehört zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).

62

Insoweit ist zunächst daran zu erinnern, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, wie der Gerichtshof im Urteil W.Ż. im Zusammenhang mit einer Rechtssache festgestellt hat, in der es um eine von der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten in Einzelrichterbesetzung erlassene Entscheidung ging, dahin auszulegen ist, dass eine solche Besetzung nicht als unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann, wenn sich aus der Gesamtheit der Bedingungen und Umstände, unter denen das Verfahren zur Ernennung dieses Einzelrichters stattgefunden hat, ergibt, dass die Ernennung unter offensichtlicher Verletzung der Grundregeln erfolgt ist, die Bestandteil der Errichtung und der Funktionsfähigkeit des betroffenen Justizsystems sind, und dass die Integrität des Ergebnisses dieses Ernennungsverfahrens dadurch gefährdet ist, dass bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des betreffenden Richters geweckt werden.

63

Im vorliegenden Fall ist jedoch erstens festzustellen, dass zu solchen Bedingungen und Umständen, wie sich aus Rn. 146 des Urteils W.Ż. in Übereinstimmung mit den in den Rn. 49 bzw. 57 des vorliegenden Urteils erwähnten Beurteilungen des EGMR und des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) ergibt, die Tatsache gehört, dass die Richter, die den vorlegenden Spruchkörper der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten bilden, der den Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache befragt hat, auf Vorschlag der KRS in ihrer sich aus der Umsetzung von Art. 9a des KRS-Gesetzes ergebenden neuen Zusammensetzung in diese Kammer berufen worden sind. In besagter Rn. 146 hat der Gerichtshof – wie auch die beiden anderen Gerichte – insoweit insbesondere auf die Tatsache, dass die Amtszeit für einige vorherige Mitglieder der KRS, die im Einklang mit Art. 187 Abs. 3 der Verfassung vier Jahre betragen sollte, verkürzt worden war, sowie auf den Umstand verwiesen, dass gemäß diesem Art. 9a die 15 Mitglieder der KRS aus der Richterschaft, die zuvor von ihren Kollegen gewählt worden waren, im Fall der neuen KRS vom Sejm (Erste Kammer des Parlaments) gewählt wurden, so dass 23 der 25 Mitglieder dieser Einrichtung von der polnischen Exekutive und Legislative ausgewählt wurden oder diesen angehören.

64

Zwar kann, wie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgeht, der Umstand, dass eine Einrichtung wie ein Landesjustizrat, der in das Verfahren zur Ernennung von Richtern eingebunden ist, überwiegend aus Mitgliedern besteht, die von der Legislative ausgewählt werden, für sich genommen nicht zu Zweifeln an der Eigenschaft eines zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts und an der Unabhängigkeit der am Ende dieses Verfahrens ernannten Richter führen. Etwas anderes gilt nach dieser Rechtsprechung jedoch, wenn derselbe Umstand in Verbindung mit anderen relevanten Gesichtspunkten und den Bedingungen, unter denen diese Entscheidungen getroffen wurden, zu solchen Zweifeln führt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 74 und 75 und die dort angeführte Rechtsprechung).

65

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits mehrfach hervorgehoben, dass die in Rn. 63 des vorliegenden Urteils erwähnten Gesetzesänderungen gleichzeitig mit der Verabschiedung einer umfassenden Reform des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) durch das Gesetz vom 8. Dezember 2017 erfolgt sind, die u. a. die Schaffung von zwei neuen Kammern in diesem Gericht, nämlich der Disziplinarkammer und der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, sowie die Herabsetzung des Ruhestandsalters der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vorsah. Wie auch der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) in seinem Urteil vom 21. September 2021 festgestellt hat, sind diese Änderungen somit zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem in Kürze zahlreiche für unbesetzt erklärte oder neu geschaffene Richterstellen am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zu besetzen sein würden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 106 und 107 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie W.Ż., Rn. 150).

66

Zweitens ist auch zu berücksichtigen, dass der ex nihilo am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) geschaffenen Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, in der sämtliche Richter auf Vorschlag der KRS in ihrer neuen Zusammensetzung ernannt worden sind, Zuständigkeiten in besonders sensiblen Bereichen wie Streitigkeiten über Wahlen und im Zusammenhang mit der Durchführung von Referenden sowie für andere öffentlich-rechtliche Rechtssachen, u. a. die in dieser Bestimmung aufgeführten, oder aber für außerordentliche Rechtsbehelfe, mit denen die Nichtigerklärung rechtskräftiger Entscheidungen ordentlicher Gerichte oder anderer Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) erwirkt werden kann, zugewiesen worden sind, wie aus Art. 26 Abs. 1 des Gesetzes über das Oberste Gericht hervorgeht und auch der EGMR im Urteil Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen festgestellt hat.

67

Drittens sind parallel zu den in Rn. 63 des vorliegenden Urteils erwähnten Gesetzesänderungen die in Art. 44 des KRS-Gesetzes enthaltenen Vorschriften über eröffnete gerichtliche Rechtsbehelfe gegen Entschließungen der KRS mit Vorschlägen von Kandidaten für die Ernennung auf Richterstellen am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in einem ersten Schritt wesentlich geändert worden, wie aus den Rn. 17 und 18 dieses Urteils hervorgeht.

68

In der Befassung mit derartigen Änderungen hat der Gerichtshof die problematische Natur von Bestimmungen hervorgehoben, mit denen die Wirksamkeit bis dahin bestehender gerichtlicher Rechtsbehelfe dieser Art beseitigt wird, und zwar insbesondere dann, wenn der Erlass solcher Bestimmungen in Verbindung mit weiteren maßgeblichen Umständen, die ein Verfahren zur Besetzung von Stellen an einem obersten nationalen Gericht in einem gegebenen nationalen rechtlichen und tatsächlichen Kontext kennzeichnen, geeignet erscheint, bei den Rechtsunterworfenen systemische Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der am Ende dieses Verfahrens ernannten Richter zu wecken (vgl. in diesem Sinne Urteil A. B. u. a., Rn. 156).

69

Zunächst hat der Gerichtshof – in Übereinstimmung mit dem Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) in seinem Urteil vom 21. September 2021 – insoweit bemerkt, dass ein Rechtsbehelf wie der in Art. 44 Abs. 1a bis 4 des KRS-Gesetzes in der Fassung der Gesetze vom 8. Dezember 2017 und vom 20. Juli 2018 vorgesehene keinerlei echte Wirksamkeit hat und somit nur den Anschein eines gerichtlichen Rechtsbehelfs bietet. Sodann hat er darauf hingewiesen, dass die durch die letztgenannten Gesetze eingeführten Beschränkungen nur Rechtsbehelfe betreffen, die sich gegen Entschließungen der KRS über Vorschläge von Bewerbungen um Richterstellen am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) richten, während Entschließungen der KRS über Vorschläge zu Bewerbungen um Richterstellen an den anderen nationalen Gerichten weiterhin der zuvor geltenden allgemeinen Regelung für die gerichtliche Kontrolle unterliegen. Schließlich hat er festgestellt, dass die genannten Gesetzesänderungen, wie bereits in Rn. 65 des vorliegenden Urteils bemerkt worden ist, erfolgt sind, kurz bevor die KRS in ihrer neuen Zusammensetzung über die Bewerbungen zu entscheiden hatte, die eingereicht worden waren, um zahlreiche Richterstellen am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zu besetzen, die für unbesetzt erklärt oder neu geschaffen worden waren (vgl. in diesem Sinne Urteil A. B. u. a., Rn. 157, 162 und 164).

70

Viertens hat der Gerichtshof in den Rn. 138 und 139 des Urteils W.Ż. ferner darauf hingewiesen, dass, als das Mitglied der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, das von der Rechtssache betroffen war, in der das Urteil W.Ż. ergangen ist, auf der Grundlage der Entschließung Nr. 331/2018 ernannt wurde, der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht), bei dem eine Klage auf Nichtigerklärung dieser Entschließung anhängig war, am 27. September 2018 die Aussetzung ihrer Vollziehung angeordnet hatte. Derselbe Umstand, der auch vom EGMR im Urteil Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen hervorgehoben worden ist, liegt in Bezug auf die Ernennung der drei Mitglieder des Spruchkörpers der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten vor, der das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen eingereicht hat.

71

In diesem Zusammenhang hat die vorlegende Stelle in ihrem Beschluss vom 3. November 2022 zwar geltend gemacht, dass der Beschluss des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) vom 27. September 2018 weder den von der KRS in ihrer Entschließung Nr. 331/2018 ausgewählten Kandidaten für eine Richterstelle in der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten zugestellt noch dem Präsidenten der Republik Polen mitgeteilt worden sei, da diese in dem seinerzeit beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) anhängigen Rechtsstreit keine Parteistellung gehabt hätten. Darüber hinaus sei die Begründung des letztgenannten Beschlusses nicht sofort veröffentlicht worden.

72

Wie die dem Gerichtshof von L. G. und der Kommission erteilten Hinweise im vorliegenden Fall bestätigen und auch aus den im Urteil Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen vorgenommenen Beurteilungen des EGMR hervorgeht, konnte insbesondere dem Präsidenten der Republik Polen zum Zeitpunkt der Berufung der drei vorlegenden Richter in die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten jedoch nicht unbekannt sein, dass die Wirkungen der Entschließung durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) ausgesetzt worden waren.

73

Daher haben die fraglichen Ernennungen, die auf der Grundlage der – durch den Beschluss des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) vom 27. September 2018 allerdings ausgesetzten – Entschließung Nr. 331/2018, unter Zeitdruck und vor Kenntnisnahme der Begründung dieses Beschlusses vorgenommen worden sind, schwerwiegend gegen den für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung (vgl. in diesem Sinne Urteil W.Ż, Rn. 127) verstoßen, wie auch der EGMR im Urteil Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen entschieden hat.

74

Fünftens hat der polnische Gesetzgeber, obwohl der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) mit einer Nichtigkeitsklage gegen die Entschließung Nr. 331/2018 befasst war und das Verfahren in Erwartung des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache C‑824/18, A. B. u. a., ausgesetzt hatte, das in den Rn. 20 und 21 des vorliegenden Urteils erwähnte Gesetz vom 26. April 2019 erlassen.

75

In Bezug auf die durch dieses Gesetz eingeführten Änderungen hat der Gerichtshof in den Rn. 137 und 138 des Urteils A. B. u. a. bereits entschieden, dass solche Änderungen, insbesondere, wenn sie zusammen mit einer Reihe weiterer, in den Rn. 99 bis 105 und 130 bis 135 jenes Urteils genannter Begleitumstände betrachtet werden, nahelegen können, dass die polnische Legislative im vorliegenden Fall im spezifischen Bestreben gehandelt hat, jede Möglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle der Entschließungen der KRS, mit denen die Ernennung von Richtern am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vorgeschlagen worden ist, zu verhindern, was der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) in seinem Urteil vom 21. September 2021 inzwischen bestätigt hat, wie aus Rn. 56 des vorliegenden Urteils hervorgeht.

76

Sechstens und letztens ist zu berücksichtigen, dass die Entschließung Nr. 331/2018 vom Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) in seinem Urteil vom 21. September 2021 für nichtig erklärt worden ist, und zwar, wie aus Abschnitt 10 dieses Urteils hervorgeht, insbesondere in Anbetracht der in den Rn. 55 bis 57 des vorliegenden Urteils angeführten Feststellungen und Beurteilungen. Auch wenn sich die Wirkungen des Urteils vom 21. September 2021, wie die vorlegende Stelle in ihrem Beschluss vom 3. November 2022 hervorgehoben hat, nicht auf die Gültigkeit und Wirksamkeit der Präsidialakte zur Berufung auf die betreffenden Richterstellen beziehen, ist gleichwohl – dem EGMR in § 288 des Urteils Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen folgend – darauf hinzuweisen, dass die Handlung, mit der die KRS einen Kandidaten für die Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vorschlägt, nach Art. 179 der Verfassung eine unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass dieser Kandidat vom Präsidenten der Republik in ein solches Amt ernannt werden kann (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 101 und die dort angeführte Rechtsprechung).

77

Nach alledem ergibt sich aus einer Gesamtbetrachtung sämtlicher systemischen und umstandsbezogenen Faktoren, die in den Rn. 47 bis 57 des vorliegenden Urteils einerseits und in den Rn. 62 bis 76 dieses Urteils andererseits erwähnt worden und für die Berufung der drei Richter, die in der vorliegenden Rechtssache die vorlegende Stelle bilden, in die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten kennzeichnend gewesen sind, dass die vorlegende Stelle nicht die Eigenschaft eines unabhängigen und unparteiischen, zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta hat. Das Zusammenwirken all dieser Faktoren ist nämlich geeignet, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit der betreffenden Richter und des Spruchkörpers, dem sie angehören, für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die nationale Legislative und Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen. Sie können daher dazu führen, dass weder die Richter noch der Spruchkörper den Eindruck vermitteln, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das in einer demokratischen Gesellschaft und einem Rechtsstaat unerlässliche Vertrauen der Rechtsunterworfenen in die Justiz beeinträchtigt werden kann.

78

Unter diesen Umständen ist die in Rn. 41 des vorliegenden Urteils in Erinnerung gerufene Vermutung als widerlegt anzusehen und folglich festzustellen, dass der Spruchkörper der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, der den Gerichtshof mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen befasst hat, kein „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV darstellt, so dass das Ersuchen für unzulässig zu erklären ist.

Kosten

79

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Das mit Entscheidung vom 20. Oktober 2021 eingereichte Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Najwyższy (Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych) (Oberstes Gericht [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten], Polen) ist unzulässig.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.