Rechtssache C‑688/21

Confédération paysanne u. a.

gegen

Premier ministre
und
Ministre de l’Agriculture et de l’Alimentation

(Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d’État [Staatsrat, Frankreich])

Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 7. Februar 2023

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen – Richtlinie 2001/18/EG – Art. 3 Abs. 1 – Anhang I B Nr. 1 – Anwendungsbereich – Ausnahmen – Verfahren/Methoden der genetischen Veränderung, die herkömmlich angewandt wurden und seit Langem als sicher gelten – In-vitro-Zufallsmutagenese“

  1. Zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen – Beschleunigtes Vorabentscheidungsverfahren – Voraussetzungen – Umstände, die eine rasche Erledigung rechtfertigen – Fehlen

    (Satzung des Gerichtshofs, Art. 23a; Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Art. 105 Abs. 1)

    (vgl. Rn. 26-28)

  2. Angleichung der Rechtsvorschriften – Absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen – Richtlinie 2001/18 – Anwendungsbereich – Organismen, die durch Verfahren/Methoden der Mutagenese gewonnen wurden, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit Langem als sicher gelten – Ausschluss – Enge Auslegung – Organismen, die durch ein Verfahren oder eine Methode der Mutagenese gewonnen wurden, das bzw. die zwar auf den gleichen Modalitäten der Veränderung des genetischen Materials beruht wie ein herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandtes und seit Langem als sicher geltendes Verfahren, das bzw. die jedoch andere Merkmale aufweist – Einbeziehung – Voraussetzungen

    (Richtlinie 2001/18 des Europäischen Parlaments und des Rates, 17. Erwägungsgrund, Art. 3 Abs. 1 und Anhang I B Nr. 1)

    (vgl. Rn. 47-49, 51-56, 64 und Tenor)

  3. Angleichung der Rechtsvorschriften – Absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen – Richtlinie 2001/18 – Anwendungsbereich – Ausnahme – Organismen, die durch die In-vitro-Anwendung eines Verfahrens oder einer Methode der Mutagenese gewonnen werden, das bzw. die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen in vivo angewandt wurde und seit Langem als sicher gilt – Mit In-vitro-Kulturen einhergehende Wirkungen – Keine Auswirkungen des Ausschlusses dieser Organismen von der Ausnahme

    (Richtlinie 2001/18 des Europäischen Parlaments und des Rates, 17. Erwägungsgrund, Art. 3 Abs. 1 und Anhang I B Nr. 1)

    (vgl. Rn. 58-60, 63, 64 und Tenor)

Zusammenfassung

Im Jahr 2015 erhoben die Confédération paysanne, ein französischer Landwirtschaftsverband, und acht Vereinigungen, deren Zweck der Umweltschutz und die Verbreitung von Informationen über die Gefahren genetisch veränderter Organismen (im Folgenden: GVO) ist, beim Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) eine Klage. Ihr Gegenstand war der Ausschluss bestimmter Verfahren/Methoden der Mutagenese ( 1 ) vom Anwendungsbereich der französischen Regelung, mit der die Richtlinie 2001/18 ( 2 ) über die absichtliche Freisetzung von GVO in die Umwelt umgesetzt werden sollte. In diesem Kontext richtete der Conseil d’État (Staatsrat) ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof, das zu dem im Jahr 2018 verkündeten Urteil Confédération paysanne u. a. (C‑528/16) ( 3 ) führte.

Die vorliegende Rechtssache stellt eine Weiterführung dieses Urteils dar, in dem der Gerichtshof entschied, dass nur die mit Verfahren/Methoden der Mutagenese, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit Langem als sicher gelten, gewonnenen Organismen vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2001/18 ausgeschlossen sind. Nach Auffassung des Conseil d’État (Staatsrat) ergab sich aus diesem Urteil, dass mit Verfahren/Methoden der Mutagenese, die nach dem Erlass der Richtlinie entstanden sind oder sich hauptsächlich entwickelt haben, gewonnene Organismen, insbesondere durch die Verfahren der „In-vitro-Zufallsmutagenese“ ( 4 ) gewonnene Organismen, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2001/18 einzubeziehen seien. Daher erließ der Conseil d’État (Staatsrat) eine Anordnung. Um die Durchführung dieser Anordnung sicherzustellen, erarbeitete die französische Regierung u. a. einen Entwurf eines Dekrets zur Änderung des Verzeichnisses der Verfahren zur Erlangung von GVO, die herkömmlich verwendet werden sowie für die öffentliche Gesundheit und die Umwelt unbedenklich sind. Nach diesem Dekretentwurf sollte davon auszugehen sein, dass die Zufallsmutagenese, mit Ausnahme der In-vitro-Zufallsmutagenese, eine solche Verwendung darstellt.

Nachdem dieser Dekretentwurf notifiziert ( 5 ) worden war, gab die Europäische Kommission eine ausführliche Stellungnahme ab. Darin wies sie darauf hin, dass es mit Blick auf das Unionsrecht und auf wissenschaftliche Fortschritte nicht gerechtfertigt sei, zwischen der In-vivo-Zufallsmutagenese und der In-vitro-Zufallsmutagenese zu unterscheiden. Da die französischen Behörden den Dekretentwurf nicht verabschiedeten, riefen die Confédération paysanne und die Umweltschutzvereinigungen erneut den Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) an, um die Durchführung der erlassenen Anordnung zu erreichen.

Das oberste Verwaltungsgericht war der Ansicht, dass es nähere Angaben zur Tragweite des Urteils Confédération paysanne u. a. benötige, um festzustellen, ob davon auszugehen ist, dass das Verfahren oder die Methode der In-vitro-Zufallsmutagenese in Anbetracht ihrer Merkmale und ihrer Verwendungen unter die Richtlinie 2001/18 fällt. Es hat den Gerichtshof daher um eine Vorabentscheidung ersucht.

In seinem Urteil stellt der Gerichtshof (Große Kammer) die Bedingungen klar, unter denen Organismen, die durch die Anwendung eines Verfahrens oder einer Methode der Mutagenese gewonnen werden, das bzw. die auf den gleichen Modalitäten der Veränderung des genetischen Materials durch ein Mutagen beruht wie ein Verfahren oder eine Methode der Mutagenese, das bzw. die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurde und seit Langem als sicher gilt, sich jedoch von dem zweiten Verfahren oder von der zweiten Methode der Mutagenese durch andere Merkmale einschließlich der Verwendung von In-vitro-Kulturen unterscheidet, von der in der Richtlinie 2001/18 vorgesehenen Ausnahme ( 6 ) grundsätzlich ausgeschlossen sind.

Würdigung durch den Gerichtshof

Zunächst weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Beschränkung des Umfangs der Ausnahme gemäß der Richtlinie 2001/18 betreffend ihre Anwendbarkeit auf Verfahren oder Methoden der Mutagenese durch die Bezugnahme auf die beiden Kriterien, nämlich zum einen herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt worden zu sein und zum anderen seit Langem als sicher zu gelten ( 7 ), eng mit dem Ziel der Richtlinie ( 8 ) zusammenhängt, nämlich dem Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt im Einklang mit dem Vorsorgeprinzip. Die Anwendung dieser beiden Kriterien ermöglicht somit, aufgrund des Alters sowie der Vielfalt der Anwendungen eines Verfahrens oder einer Methode der Mutagenese und der verfügbaren Informationen über seine bzw. ihre Sicherheit sicherzustellen, dass die mit diesem Verfahren oder mit dieser Methode gewonnenen Organismen in die Umwelt freigesetzt oder innerhalb der Europäischen Union in Verkehr gebracht werden können, ohne dass es zur Vermeidung schädlicher Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt unabdingbar erscheint, diese Organismen den Risikobewertungsverfahren zu unterziehen ( 9 ).

In diesem Kontext stellt der Gerichtshof fest, dass eine allgemeine Ausweitung des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2001/18 auf Organismen, die durch die Anwendung eines Verfahrens oder einer Methode der Mutagenese gewonnen werden, das bzw. die auf den gleichen Modalitäten der Veränderung des genetischen Materials des betreffenden Organismus durch ein Mutagen beruht wie ein Verfahren oder eine Methode der Mutagenese, das bzw. die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurde und seit Langem als sicher gilt, jedoch diese Modalitäten mit anderen Merkmalen verknüpft, die sich von diesem zweiten Verfahren oder dieser zweiten Methode der Mutagenese unterscheiden, nicht dem Willen des Unionsgesetzgebers entsprechen würde.

Die ohne Durchführung eines Risikobewertungsverfahrens erfolgte Freisetzung in die Umwelt oder das Inverkehrbringen von Organismen, die durch ein solches Verfahren oder eine solche Methode der Mutagenese gewonnen wurden, kann in bestimmten Fällen schädliche, gegebenenfalls unumkehrbare Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt mit sich bringen, die mehrere Mitgliedstaaten betreffen, selbst wenn diese Merkmale nicht auf die Modalitäten der Veränderung des genetischen Materials des betreffenden Organismus durch das Mutagen zurückzuführen sind.

Dennoch würde die Ansicht, wonach Organismen, die durch die Anwendung eines Verfahrens oder einer Methode der Mutagenese gewonnen werden, das bzw. die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit Langem als sicher gilt, notwendigerweise in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2001/18 fallen, wenn dieses Verfahren oder diese Methode in irgendeiner Weise eine Veränderung erfahren hat, der in dieser Richtlinie vorgesehenen Ausnahme weitgehend ihre praktische Wirksamkeit nehmen. Eine solche Auslegung könnte nämlich jede Form der Anpassung des Verfahrens oder der Methode der Mutagenese außergewöhnlich erschweren, obwohl diese Auslegung nicht erforderlich ist, um das mit dieser Richtlinie verfolgte Ziel des Schutzes der Umwelt und der menschlichen Gesundheit gemäß dem Vorsorgeprinzip zu erreichen.

Daher rechtfertigt der Umstand, dass sich ein Verfahren oder eine Methode der Mutagenese in einem Merkmal oder in mehreren Merkmalen von einem Verfahren oder einer Methode der Mutagenese unterscheidet, das bzw. die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurde und seit Langem als sicher gilt, es nur dann, die in der Richtlinie vorgesehene Ausnahme auszuschließen, wenn feststeht, dass diese Merkmale geeignet sind, zu Veränderungen des genetischen Materials des betreffenden Organismus zu führen, die sich in ihrer Art oder in dem Tempo, in dem sie auftreten, von denjenigen unterscheiden, die durch die Anwendung dieses zweiten Verfahrens oder dieser zweiten Methode der Mutagenese gewonnen werden.

Im letzten Teil seiner Analyse befasst sich der Gerichtshof mit der Unterscheidung zwischen den Verfahren der In-vivo- und der In-vitro-Zufallsmutagenese, die im Mittelpunkt des Ausgangsrechtsstreits stehen. Nach einer Prüfung der Regelungen, die nach der Richtlinie 2001/18 für Verfahren/Methoden betreffend In-vitro-Kulturen gelten, stellt der Gerichtshof hierzu fest, dass die Auffassung, wonach ein Organismus, der durch die In-vitro-Anwendung eines Verfahrens oder einer Methode der Mutagenese gewonnen wurde, das bzw. die ursprünglich in vivo verwendet wurde, wegen der mit In-vitro-Kulturen einhergehenden Wirkungen von der in der Richtlinie 2001/18 vorgesehenen Ausnahme ausgenommen sei, verkennen würde, dass der Unionsgesetzgeber die damit einhergehenden Wirkungen für die Definition des Anwendungsbereichs der Richtlinie nicht für maßgeblich gehalten hat. Der Gerichtshof weist insbesondere darauf hin, dass nach der Richtlinie 2001/18 mehrere Verfahren der genetischen Veränderung, bei denen auf In-vitro-Kulturen zurückgegriffen wird, von der in der Richtlinie 2001/18 vorgesehenen Kontrollregelung ausgeschlossen sind.


( 1 ) Verfahren, das ermöglicht, mit Hilfe chemischer oder physikalischer Faktoren künstlich Veränderungen in viel höherer Geschwindigkeit (1 000- bis 10 000-fach) als bei spontanen Mutationen herbeizuführen.

( 2 ) Richtlinie 2001/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. März 2001 über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt und zur Aufhebung der Richtlinie 90/220/EWG des Rates (ABl. 2001, L 106, S. 1).

( 3 ) Urteil vom 25. Juli 2018, Confédération paysanne u. a. (C‑528/16, EU:C:2018:583).

( 4 ) Die Zufallsmutagenese bezeichnet ein Verfahren, in dessen Verlauf mit Hilfe chemischer oder physikalischer Faktoren künstlich Veränderungen in viel höherer Geschwindigkeit als bei spontanen Mutationen herbeigeführt werden und dann die Mutationen auf zufällige Weise in die Organismen eingebracht werden. Bei der In-vitro-Zufallsmutagenese handelt es sich um ein Verfahren, bei dem in vitro kultivierte Pflanzenzellen chemischen oder physikalischen Mutagenen ausgesetzt werden, im Gegensatz zur In-vivo-Zufallsmutagenese, die auf ganze Pflanzen oder auf Pflanzenteile angewandt wird.

( 5 ) Gemäß der Richtlinie (EU) 2015/1535 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. September 2015 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft (ABl. 2015, L 241, S. 1.).

( 6 ) Ausnahme gemäß Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I B Nr. 1 der Richtlinie 2001/18. Nach dieser Bestimmung gilt die Richtlinie nicht für Organismen, bei denen eine genetische Veränderung durch den Einsatz der in Anhang I B der Richtlinie aufgeführten Verfahren, zu denen die Mutagenese gehört, herbeigeführt wurde.

( 7 ) Diese beiden Kriterien hat der Gerichtshof im Urteil Confédération paysanne u. a. (C‑528/16) aufgestellt.

( 8 ) Das Ziel der Richtlinie 2001/18 besteht nach ihrem Art. 1 darin, entsprechend dem Vorsorgeprinzip bei der absichtlichen Freisetzung von GVO in die Umwelt zu anderen Zwecken als dem Inverkehrbringen in der Union sowie bei ihrem Inverkehrbringen als Produkt oder in Produkten in der Union die menschliche Gesundheit und die Umwelt zu schützen.

( 9 ) Gemäß Teil B und Teil C der Richtlinie 2001/18.