Rechtssache C‑670/21

BA

gegen

Finanzamt X

(Vorabentscheidungsersuchen des Finanzgerichts Köln)

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 12. Oktober 2023

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Freier Kapitalverkehr – Art. 63 bis 65 AEUV – Erbschaftsteuer – Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten und Drittländern – In einem Drittland belegene Grundstücke – Günstigere steuerliche Behandlung der in einem Mitgliedstaat oder einem Staat, der Partei des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraums ist, belegenen Grundstücke – Beschränkung – Rechtfertigung – Wohnungspolitik – Wirksamkeit der steuerlichen Überwachung“

  1. Freier Kapital- und Zahlungsverkehr – Bestimmungen des Vertrags – Anwendungsbereich – Erbschaftsteuer – Einbeziehung – Ausnahme – Fall, in dem kein wesentliches Element des Sachverhalts über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist – Erhebung von Erbschaftsteuer auf außerhalb des Hoheitsgebiets des betreffenden Mitgliedstaats belegene Nachlassgüter – Nachlassgüter, die einer Person gehörten, die zum Zeitpunkt ihres Todes in dem betreffenden Mitgliedstaat lebte, und die einem ebenfalls gebietsansässigen Erben zufallen – Sachverhalt mit Auslandsbezug

    (Art. 63 Abs. 1 AEUV)

    (vgl. Rn. 36, 38, 39)

  2. Freier Kapital- und Zahlungsverkehr – Beschränkungen – Steuerrecht – Erbschaftsteuer – Festsetzung der Erbschaftsteuer – Zum Privatvermögen gehörendes bebautes und zu Wohnzwecken vermietetes Grundstück, das in einem Drittland belegen ist, das nicht Partei des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum ist – Nationale Regelung, nach der bei der Festsetzung der Erbschaftsteuer bei der Bewertung des Grundstücks der volle gemeine Wert zugrunde zu legen ist – Nationale Regelung, nach der ein gleichartiges Grundstück, das im Inland belegen ist, bei der Festsetzung der Erbschaftsteuer mit 90 % seines Wertes anzusetzen ist – Unzulässigkeit – Rechtfertigung – Fehlen

    (Art. 63, 64 und 65 AEUV)

    (vgl. Rn. 41, 42, 44-46, 51, 55, 59, 62-67, 70-80, 83-85 und Tenor)

Zusammenfassung

A, der 2016 verstarb und seinen Wohnsitz in Deutschland hatte, hatte seinem Sohn, BA, der seinen Wohnsitz ebenfalls in Deutschland hat, 2013 einen Teil eines zu Wohnzwecken vermieteten Grundstücks in Kanada vermacht.

Im Juli 2017 setzte das zuständige Finanzamt die von BA in Deutschland zu entrichtende Erbschaftsteuer fest. Dabei wurde das Grundstück in Kanada mit seinem vollen gemeinen Wert angesetzt. Im März 2018 beantragte BA, das Grundstück in Kanada, wie es das deutsche Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz vorsehe, mit 90 % seines Wertes anzusetzen und die Erbschaftsteuer entsprechend herabzusetzen. BA machte geltend, dass deutsche Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz den freien Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten und Drittländern, wie er in Art. 63 AEUV garantiert sei, beeinträchtige. Die Steuervergünstigung des Ansatzes des Wertes mit 90 % setze nach dem Gesetz nämlich voraus, dass das betreffende Grundstück im Inland, in einem anderen Mitgliedstaat oder in einem Staat, der Partei des EWR-Abkommens ( 1 ) sei, belegen sei. Das Finanzamt lehnte den Änderungsantrag von BA ab und wies dessen Einspruch zurück. Es vertrat die Auffassung, dass die unterschiedliche Behandlung von Grundstücken, je nachdem, ob sie in einem Drittstaat, der nicht Partei des EWR-Abkommens sei, oder im Inland, in einem anderen Mitgliedstaat oder in einem Staat, der Partei des EWR-Abkommens sei, belegen seien, nicht gegen Art. 63 AEUV verstoße.

Das vorlegende Gericht, das über eine Klage von BA zu entscheiden hat, möchte vom Gerichtshof wissen, ob eine nationale Regelung, nach der ein zu Wohnzwecken vermietetes Grundstück, das in Kanada belegen ist, von einer Steuervergünstigung ausgenommen ist, mit Art. 63 AEUV vereinbar ist. Für den Fall, dass eine solche Regelung eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs darstellen sollte, möchte das vorlegende Gericht weiter wissen, ob eine solche Beschränkung des freien Kapitalverkehrs gemäß Art. 65 AEUV ( 2 ) oder durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden kann.

Mit seinem heutigen Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass die Art. 63 bis 65 AEUV einer nationalen Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die vorsieht, dass ein zum Privatvermögen gehörendes bebautes Grundstück, das zu Wohnzwecken vermietet wird, bei der Berechnung der Erbschaftsteuer mit seinem vollen gemeinen Wert angesetzt wird, wenn es in einem Drittland, das nicht Partei des EWR-Abkommens ist, belegen ist, während es lediglich mit 90 % seines gemeinen Werts angesetzt wird, wenn es im Inland, in einem anderen Mitgliedstaat oder in einem Staat, der Partei des EWR-Abkommens ist, belegen ist.

Würdigung durch den Gerichtshof

Der Gerichtshof stellt als Erstes fest, dass die in Rede stehende Regelung, bei der die Steuervergünstigung von der Belegenheit der Güter des Nachlasses abhängt, dazu führt, dass Grundstücke, die in einem Drittstaat belegen sind, der nicht Partei des EWR-Abkommens ist, steuerlich stärker belastet werden als Grundstücke, die im Inland belegen sind, und damit dazu, dass der Wert des Nachlasses gemindert wird. Sie ist geeignet, eine natürliche Person, die in Deutschland ansässig ist, davon abzuhalten, in ein in einem Drittstaat, der nicht Partei des EWR-Abkommens ist, belegenes Grundstück, das zu Wohnzwecken vermietet wird, zu investieren, oder davon, ein solches in seinem Eigentum stehendes Grundstück zu behalten. Eine solche Regelung stellt mithin eine Beschränkung des Kapitalverkehrs im Sinne von Art. 63 Abs. 1 AEUV dar.

Als Zweites stellt Gerichtshof im Rahmen der Prüfung, ob die Beschränkung gemäß Art. 65 AEUV gerechtfertigt werden kann, zunächst fest, dass bei der Berechnung der Erbschaftsteuer nach der in Rede stehenden Regelung unmittelbar der gemeine Wert der zum Nachlass zählenden Grundstücke zugrunde gelegt wird. Hinsichtlich der betreffenden Situationen bestehen deshalb objektiv keine Unterschiede, die eine steuerliche Ungleichbehandlung in Bezug auf die Höhe der Erbschaftsteuer, je nachdem, ob ein Grundstück im Inland, in einem anderen Mitgliedstaat oder in einem Staat, der Partei des EWR-Abkommens ist, oder in einem Drittstaat, der nicht Partei des EWR-Abkommens ist, belegen ist, rechtfertigen könnten. Art. 63 Abs. 1 AEUV, der Beschränkungen des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs gerade verbietet, würde ausgehöhlt, wenn man Situationen allein deshalb für nicht vergleichbar hielte, weil das betreffende Grundstück in einem Drittstaat, der nicht Partei des EWR-Abkommens ist, belegen ist.

Da der Gerichtshof zu dem Schluss gelangt, dass die unterschiedliche Behandlung, um die es im Ausgangsverfahren geht, Situationen betrifft, die objektiv vergleichbar sind, prüft er anschließend, ob die Ungleichbehandlung dieser Situationen durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden kann.

In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof zum einen darauf hin, dass Erfordernisse im Zusammenhang mit der sozialen Wohnungspolitik eines Mitgliedstaats und ihrer Finanzierbarkeit grundsätzlich zwingende Gründe des Allgemeininteresses darstellen können und dass, da die Union eine wirtschaftliche und eine soziale Zielrichtung hat, die sich aus den Bestimmungen des AEU‑Vertrags über den freien Kapitalverkehr ergebenden Rechte gegen die mit der Sozialpolitik verfolgten Ziele abgewogen werden müssen, zu denen ein angemessener sozialer Schutz zählt. Was das EWR-Abkommen angeht, so ist eines von dessen Hauptzielen, nämlich die Ausweitung des innerhalb des Unionsgebiets verwirklichten Binnenmarkts auf die Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA), im Licht der privilegierten Beziehungen zwischen der Union und den EFTA-Staaten zu verstehen. Ein Ziel der Sozialpolitik wie die Förderung und Schaffung von bezahlbarem Wohnraum in den Mitgliedstaaten und den Staaten, die Parteien des EWR-Abkommens sind, kommt daher grundsätzlich als zwingender Grund des Allgemeininteresses in Betracht, der Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs rechtfertigen kann. Eine Regelung wie die, um die es im Ausgangsverfahren geht, dürfte jedoch nicht geeignet sein, die Erreichung dieses Ziels in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten. Sie gilt nämlich nicht speziell für Orte mit einer besonders großen Wohnungsnot, wie sie etwa in deutschen Großstädten herrscht, sondern ganz allgemein. Und bei der Berechnung der Erbschaftsteuer können alle Kategorien von zu Wohnzwecken vermieteten Grundstücken – vom einfachsten bis zum luxuriösesten – mit 90 % ihres gemeinen Werts angesetzt werden. Im Übrigen ist nicht ersichtlich, dass die Erben nach der Regelung, um die es im Ausgangsverfahren geht, verpflichtet wären, ihre Wohnung während eines bestimmten Zeitraums zu behalten und zu Wohnzwecken zu vermieten. Sie können sie also, nachdem sie in den Genuss der in Rede stehenden Steuervergünstigung gelangt sind, verkaufen oder als Zweitwohnung nutzen. Bei der in Rede stehenden Steuervergünstigung kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass sie durch das Ziel der Förderung und Schaffung von bezahlbarem Wohnraum in den Mitgliedstaaten und den Staaten, die Parteien des EWR-Abkommens sind, gerechtfertigt wäre.

Zum anderen stellt der Gerichtshof fest, dass der zwingende Grund des Allgemeininteresses der Notwendigkeit, die Wirksamkeit der Steueraufsicht zu gewährleisten, die durch die in Rede stehende nationale Regelung bedingte Beschränkung des freien Kapitalverkehrs nicht zu rechtfertigen vermag. Er geht insoweit auf die einschlägigen Bestimmungen des Steuerabkommens zwischen Deutschland und Kanada ( 3 ) ein und gelangt zu dem Schluss, dass die deutschen Behörden von den kanadischen Behörden die erforderlichen Informationen erlangen können, um bei einem in Kanada belegenen Grundstück im Hinblick auf die Gewährung der genannten Steuervergünstigung prüfen zu können, ob die Voraussetzungen der in Rede stehenden Regelung erfüllt sind.


( 1 ) Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3, im Folgenden: EWR-Abkommen).

( 2 ) Art. 65 AEUV bestimmt:

„(1) Artikel 63 berührt nicht das Recht der Mitgliedstaaten,

a) die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln,

b) die unerlässlichen Maßnahmen zu treffen, um Zuwiderhandlungen gegen innerstaatliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften, insbesondere auf dem Gebiet des Steuerrechts und der Aufsicht über Finanzinstitute, zu verhindern, sowie Meldeverfahren für den Kapitalverkehr zwecks administrativer oder statistischer Information vorzusehen oder Maßnahmen zu ergreifen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit gerechtfertigt sind.

(2) Dieses Kapitel berührt nicht die Anwendbarkeit von Beschränkungen des Niederlassungsrechts, die mit den Verträgen vereinbar sind. …“

( 3 ) In Berlin am 19. April 2001 unterzeichnetes Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Kanada zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und bestimmter anderer Steuern, zur Verhinderung der Steuerverkürzung und zur Amtshilfe in Steuersachen (BGBl. 2002 II S. 670).