Rechtssache C‑588/21 P

Public.Resource.Org Inc.
und
Right to Know CLG

gegen

Europäische Kommission u. a.

Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 5. März 2024

„Rechtsmittel – Zugang zu Dokumenten der Organe der Europäischen Union – Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 – Art. 4 Abs. 2 – Ausnahmen – Verweigerung des Zugangs zu einem Dokument, durch dessen Verbreitung der Schutz der geschäftlichen Interessen einer natürlichen oder juristischen Person, einschließlich des geistigen Eigentums, beeinträchtigt würde – Überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung – Vom Europäischen Komitee für Normung (CEN) angenommene harmonisierte Normen – Urheberrechtlicher Schutz – Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit – Grundsatz der Transparenz – Grundsatz der Offenheit – Grundsatz des guten Regierens“

  1. Gerichtliches Verfahren – Mündliches Verfahren – Wiedereröffnung – Pflicht, das mündliche Verfahren wiederzueröffnen, um den Parteien Gelegenheit zu geben, zu rechtlichen Punkten, die in den Schlussanträgen des Generalanwalts angesprochen werden, Stellung zu nehmen – Fehlen

    (Art. 252 Abs. 2 AEUV; Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Art. 83)

    (vgl. Rn. 47, 48)

  2. Organe der Europäischen Union – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001 – Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu Dokumenten – Schutz der geschäftlichen Interessen einer bestimmten Person – Überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung von Dokumenten – Zum Unionsrecht gehörende harmonisierte Normen – Aus den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und der Transparenz folgender freier Zugang zu diesen Normen

    (Art. 15 Abs. 3 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 42; Verordnungen des Europäischen Parlaments und des Rates Nr. 1049/2001, Art. 4 Abs. 2, Nr. 1907/2006 und Nr. 1025/2012; Richtlinie 2009/48 des Europäischen Parlaments und des Rates)

    (vgl. Rn. 66-69, 72-74, 83, 85)

Zusammenfassung

Der Gerichtshof (Große Kammer) gibt dem Rechtsmittel der Rechtsmittelführerinnen Public.Resource.Org Inc. und Right to Know CLG gegen das Urteil des Gerichts in der Rechtssache Public.Resource.Org und Right to Know/Kommission ( 1 ) statt und äußert sich erstmals zum Bestehen eines überwiegenden öffentlichen Interesses an der Verbreitung von vom Europäischen Komitee für Normung (CEN) angenommenen harmonisierten Normen.

Die Rechtsmittelführerinnen sind gemeinnützige Organisationen, deren vorrangige Aufgabe darin besteht, allen Bürgern das Recht frei zugänglich zu machen. Am 25. September 2018 stellten sie bei der Europäischen Kommission einen Antrag auf Zugang zu vier vom CEN angenommenen harmonisierten Normen, von denen drei die Sicherheit von Spielzeug und eine den maximalen Nickelgehalt in bestimmten Produkten betrafen ( 2 ).

Die Kommission lehnte den Antrag auf Zugang auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 2 erster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1049/2001 ( 3 ) ab, wonach der Zugang zu einem Dokument, durch dessen Verbreitung der Schutz der geschäftlichen Interessen einer natürlichen oder juristischen Person, einschließlich des geistigen Eigentums, beeinträchtigt würde, zu verweigern ist, es sei denn, es besteht ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung.

Die von den Rechtsmittelführerinnen gegen den Beschluss der Kommission erhobene Klage wurde vom Gericht in vollem Umfang abgewiesen. Diese legten daraufhin ein Rechtsmittel beim Gerichtshof ein und machten geltend, das Gericht habe zu Unrecht festgestellt, dass kein überwiegendes öffentliches Interesse bestehe, das einen freien Zugang zu den angeforderten harmonisierten Normen rechtfertigen könne.

Würdigung durch den Gerichtshof

Der Gerichtshof weist zunächst auf den weiten Umfang des Rechts auf Zugang zu Dokumenten der Organe der Europäischen Union hin ( 4 ). Die Organe können sich jedoch auf eine Ausnahme zum Schutz der geschäftlichen Interessen einer natürlichen oder juristischen Person berufen, um den Zugang zu einem Dokument zu verweigern, falls seine Verbreitung den Schutz dieser Interessen, einschließlich des geistigen Eigentums, beeinträchtigen würde. Diese Ausnahme gilt jedoch nicht, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung des betreffenden Dokuments besteht.

Hierzu stellt der Gerichtshof erstens fest, dass das Verfahren zur Ausarbeitung harmonisierter Normen durch die Verordnung Nr. 1025/2012 ( 5 ) festgelegt wurde, nach der die Kommission im europäischen Normungssystem eine zentrale Rolle spielt. So wird zwar mit der Ausarbeitung dieser Normen eine privatrechtliche Einrichtung betraut, aber nur die Kommission ist befugt, den Auftrag zu erteilen, eine harmonisierte Norm zur Umsetzung einer Richtlinie oder einer Verordnung auszuarbeiten. In diesem Rahmen legt sie die Anforderungen an den Inhalt des in Auftrag gegebenen Dokuments und einen Termin für dessen Annahme fest, überwacht ihre Ausarbeitung, stellt Finanzmittel bereit und trifft die Entscheidung über die Veröffentlichung der Fundstellen der betreffenden harmonisierten Norm im Amtsblatt der Europäischen Union.

Obwohl die Einhaltung harmonisierter Normen nicht zwingend ist, wird außerdem für Produkte, die diese Normen einhalten, die Konformität mit den wesentlichen Anforderungen hinsichtlich jener Produkte vermutet, die in den einschlägigen Rechtsvorschriften der Union zur Harmonisierung festgelegt sind ( 6 ). Die von diesen Vorschriften verliehene Rechtswirkung stellt eines der wesentlichen Merkmale dieser Normen dar und macht sie zu einem Werkzeug, das für die Wirtschaftsteilnehmer im Hinblick auf die Ausübung des Rechts auf freien Verkehr von Waren oder Dienstleistungen auf dem Unionsmarkt von wesentlicher Bedeutung ist.

Der Gerichtshof stellt fest, dass im vorliegenden Fall drei der vier angeforderten harmonisierten Normen, die die Sicherheit von Spielzeug betreffen, auf die Richtlinie 2009/48 ( 7 ) Bezug nehmen und ihre Fundstellen im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurden. Gemäß Art. 13 dieser Richtlinie wird für Spielzeug, das unter Einhaltung dieser Normen hergestellt wurde, die Konformität mit den Anforderungen vermutet, die von den betreffenden Normen abgedeckt sind. Die vierte Norm, die den Höchstgehalt an Nickel betrifft, nimmt auf die Verordnung Nr. 1907/2006 ( 8 ) Bezug und ist im vorliegenden Fall offensichtlich zwingend, da Nr. 27 Abs. 3 der Tabelle in Anhang XVII dieser Verordnung in Bezug auf Nickel vorsieht, dass zum Nachweis der Vereinbarkeit der Erzeugnisse mit dieser Vorschrift die vom CEN verabschiedeten Normen als Testmethoden zu verwenden sind.

Der Gerichtshof ist daher der Auffassung, dass die angeforderten harmonisierten Normen Teil des Unionsrechts sind.

Zweitens hebt der Gerichtshof hervor, dass sich die Union auf den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit gründet, der einen freien Zugang zum Unionsrecht für alle natürlichen und juristischen Personen der Union sowie die Möglichkeit für den Einzelnen verlangt, seine Rechte und Pflichten eindeutig erkennen zu können ( 9 ). Dieser freie Zugang muss es jeder durch ein Gesetz geschützten Person insbesondere ermöglichen, in den Grenzen des rechtlich Zulässigen zu überprüfen, ob die Adressaten der von diesem Gesetz aufgestellten Regeln diesen tatsächlich nachkommen. Eine harmonisierte Norm kann somit durch die Wirkungen, die ihr eine Unionsvorschrift verleiht, Einzelnen eingeräumte Rechte sowie ihnen obliegende Pflichten näher bestimmen, und diese näheren Bestimmungen können erforderlich sein, damit der Einzelne prüfen kann, ob ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Dienstleistung tatsächlich die Anforderungen einer solchen Vorschrift erfüllt.

Infolgedessen stellt das Gericht fest, dass an der Verbreitung der angeforderten harmonisierten Normen ein überwiegendes öffentliches Interesse besteht.


( 1 ) Urteil vom 14. Juli 2021, Public.Resource.Org und Right to Know/Kommission (T‑185/19, EU:T:2021:445).

( 2 ) Es handelte sich um die Normen EN 71‑5:2015 „Sicherheit von Spielzeug – Teil 5: Chemisches Spielzeug (Sets) ausgenommen Experimentierkästen“, die Norm EN 71‑4:2013 „Sicherheit von Spielzeug – Teil 4: Experimentierkästen für chemische und ähnliche Versuche“, die Norm EN 71‑12:2013 „Sicherheit von Spielzeug – Teil 12: N-Nitrosamine und N-nitrosierbare Stoffe“ und die Norm EN 12472:2005+A 1:2009 „Simulierte Abrieb- und Korrosionsprüfung zum Nachweis der Nickelabgabe von mit Auflagen versehenen Gegenständen“ (im Folgenden: angeforderte harmonisierte Normen).

( 3 ) Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (ABl. 2001, L 145, S. 43).

( 4 ) Dieses Recht auf Zugang zu Dokumenten wird durch Art. 15 Abs. 3 Unterabs. 1 AEUV und Art. 42 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleistet. Es wird u. a. durch die Verordnung Nr. 1049/2001 umgesetzt.

( 5 ) Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 zur europäischen Normung, zur Änderung der Richtlinien 89/686/EWG und 93/15/EWG des Rates sowie der Richtlinien 94/9/EG, 94/25/EG, 95/16/EG, 97/23/EG, 98/34/EG, 2004/22/EG, 2007/23/EG, 2009/23/EG und 2009/105/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung des Beschlusses 87/95/EWG des Rates und des Beschlusses Nr. 1673/2006/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2012, L 316, S. 12).

( 6 ) Art. 2 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1025/2012 im Licht ihres fünften Erwägungsgrundes.

( 7 ) Richtlinie 2009/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 über die Sicherheit von Spielzeug (ABl. 2009, L 170, S. 1).

( 8 ) Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH), zur Schaffung einer Europäischen Chemikalienagentur, zur Änderung der Richtlinie 1999/45/EG und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 793/93 des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 1488/94 der Kommission, der Richtlinie 76/769/EWG des Rates sowie der Richtlinien 91/155/EWG, 93/67/EWG, 93/105/EG und 2000/21/EG der Kommission (ABl. 2006, L 396, S. 1, berichtigt in ABl. 2007, L 136, S. 3) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 552/2009 der Kommission vom 22. Juni 2009 (ABl. 2009, L 164, S. 7) geänderten Fassung.

( 9 ) Urteil vom 22. Februar 2022, Stichting Rookpreventie Jeugd u. a. (C‑160/20, EU:C:2022:101, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).