URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

6. Oktober 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Direkte Besteuerung – Niederlassungsfreiheit – Körperschaftsteuer – Regelung über die Verhinderung von Steuervermeidung durch Mantelgesellschaften – Festsetzung des steuerpflichtigen Einkommens auf der Grundlage eines vermuteten Mindesteinkommens – Ausschluss der an den regulierten nationalen Märkten notierten Gesellschaften und Einheiten vom Geltungsbereich dieser steuerrechtlichen Regelung“

In den verbundenen Rechtssachen C‑433/21 und C‑434/21

betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) mit Entscheidungen vom 8. Juli 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Juli 2021, in den Verfahren

Agenzia delle Entrate

gegen

Contship Italia SpA

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Jääskinen (Berichterstatter) sowie der Richter M. Safjan und N. Piçarra,

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Contship Italia SpA, vertreten durch F. d’Ayala Valva, Avvocato,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte, im Beistand von G. De Bellis, D. G. Pintus und F. Urbani Neri, Avvocati dello Stato,

der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Roels und P. Rossi als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 18 AEUV in Verbindung mit dem in Art. 49 AEUV verankerten Grundsatz der Niederlassungsfreiheit.

2

Sie ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zwischen der Contship Italia SpA (im Folgenden: Contship), übernehmende Gesellschaft und Rechtsnachfolgerin der Borgo Supermercati Srl, und der Agenzia delle Entrate (Finanzverwaltung, Italien) wegen der Anwendung der Regelung über die Verhinderung von Steuervermeidung durch Mantelgesellschaften. Die Sachverhalte sind mit Ausnahme der betroffenen Steuerjahre, 2005 in der Rechtssache C‑433/21 und 2004 in C‑434/21, identisch.

Rechtlicher Rahmen

3

Art. 30 Abs. 1 der Legge n. 724 – Misure di razionalizzazione della finanza pubblica (Gesetz Nr. 724 über Maßnahmen zur Rationalisierung der öffentlichen Finanzen) vom 23. Dezember 1994 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 304 vom 30. Dezember 1994) in seiner auf die Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 724/1994) lautete:

„Aktiengesellschaften, Kommanditgesellschaften auf Aktien, Gesellschaften mit beschränkter Haftung, offene Handelsgesellschaften und Kommanditgesellschaften sowie gebietsfremde Gesellschaften und Einheiten aller Art mit einer Betriebsstätte im nationalen Hoheitsgebiet werden vorbehaltlich des Gegenbeweises als nicht operativ angesehen, wenn das Gesamtaufkommen der Erträge, der Zuwächse der Bestände und der Einnahmen (mit Ausnahme der außerordentlichen), die sich aus der Ertragsrechnung, wo diese vorgeschrieben ist, ergeben, unter der Summe der Beträge liegt, die sich bei Anwendung folgender Prozentsätze ergeben: a) 1 % des Wertes der in Art. 53 Abs. 1 Buchst. c des Decreto del Presidente della Repubblica n. 917 – Approvazione del testo unico delle imposte sui redditi (Dekret Nr. 917 des Präsidenten der Republik zur Verabschiedung des Einheitstextes über die Einkommensteuer) vom 22. Dezember 1986 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 302 vom 31. Dezember 1986) genannten Vermögenswerte, selbst wenn es sich um Finanzanlagen handelt, zuzüglich des Wertes der Guthaben; b) 4 % des Wertes der Finanzanlagen bestehend aus Immobilien und den in Art. 8bis Abs. 1 Buchst. a des Decreto del Presidente della Repubblica n. 633 – Istituzione e disciplina dell’imposta sul valore aggiunto (Dekret Nr. 633 des Präsidenten der Republik über die Einführung und Regelung der Mehrwertsteuer) vom 26. Oktober 1972 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 292 vom 11. November 1972, S. 2) in geänderter Fassung genannten beweglichen Vermögenswerte, auch wenn sie geleast sind; c) 15 % des Wertes der sonstigen Finanzanlagen, auch wenn sie geleast sind.

Die vorstehenden Bestimmungen gelten nicht: …

5. für Gesellschaften und Einheiten, deren Anteile auf geregelten italienischen Märkten gehandelt werden …“

4

Durch Art. 1 Abs. 109 der Legge n. 296 – Disposizioni per la formazione del bilancio annuale e pluriennale dello Stato (legge finanziaria 2007) (Gesetz Nr. 296 mit Bestimmungen über die Aufstellung des Jahres- und Mehrjahreshaushalts des Staates [Haushaltsgesetz 2007]) vom 27. Dezember 2006 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 299 vom 27. Dezember 2006) in der auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Fassung (im Folgenden Gesetz Nr. 296/2006) wurde der Geltungsbereich des in Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 vorgesehenen Ausschlusses mit Wirkung von dem am 4. Juli 2006 laufenden Steuerjahr ausgedehnt auf „Gesellschaften und Einheiten, die Gesellschaften und Einheiten kontrollieren, deren Anteile auf regulierten italienischen und ausländischen Märkten gehandelt werden, sowie auf notierte Gesellschaften und Einheiten und von diesen – auch indirekt – kontrollierte Gesellschaften“.

Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen

5

Borgo Supermercati war eine nach italienischem Recht gegründete Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die zu 100 % von der in Deutschland börsennotierten Eurokai KGaA gehalten wurde. In den Steuerjahren 2004 und 2005 war Borgo Supermercati eine „reine Holding“, da ihre Tätigkeit ausschließlich in der Verwaltung ihrer Beteiligung am Kapital der Mika Srl bestand, deren einzige Anteilseignerin sie war.

6

Die Finanzverwaltung vertrat in zwei Steuerbescheiden – für die Steuerjahre 2004 und 2005 – die Auffassung, dass Borgo Supermercati nach Art. 30 des Gesetzes Nr. 724/1994 die Kriterien erfülle, um als Mantelgesellschaft angesehen zu werden, und setzte gemäß diesem Artikel deren steuerpflichtiges Einkommen für die Zwecke der Zahlung der IRES (imposta sul reddito delle società [Körperschaftsteuer]) unter Berücksichtigung des Wertes ihres einzigen Vermögenswerts fest, nämlich ihrer 100 %-igen Beteiligung am Kapital von Mika.

7

Borgo Supermercati erhob gegen die beiden Steuerbescheide bei der Commissione tributaria provinciale di Genova (Finanzgericht der Provinz Genua, Italien) Klagen, die jeweils in vollem Umfang abgewiesen wurden.

8

Gegen diese abweisenden Entscheidungen legte Borgo Supermercati bei der Commissione tributaria regionale della Liguria (Finanzgericht der Region Ligurien, Italien) Berufungen ein, die teilweise Erfolg hatten.

9

Dieses Gericht stellte fest, dass der Umstand, dass Borgo Supermercati im betreffenden Steuerjahr von einer in Deutschland börsennotierten Gesellschaft gehalten worden sei, es erlaube, den in Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 vorgesehenen Grund für den Ausschluss von der Anwendung der Regelung über die Verhinderung von Steuervermeidung durch Mantelgesellschaften, dessen Geltungsbereich zum für die Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitpunkt auf unmittelbar am regulierten italienischen Markt notierte Gesellschaften beschränkt gewesen sei, auf Borgo Supermercati zu erstrecken. Diese weite Auslegung sei wegen des Grundsatzes geboten, wonach es vernünftig und angebracht sei, den die Börsennotierung betreffenden Ausschlussgrund im Einklang mit Diskriminierungsverbot auszulegen, obwohl der Gesetzgeber eine solche Ausdehnung des Geltungsbereichs von Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 erst mit der Reform durch das Gesetz Nr. 296/2006 vorgesehen habe.

10

Die Finanzverwaltung und Contship, die inzwischen Borgo Supermercati übernommen hatte, legten gegen die Entscheidungen der Commissione tributaria regionale della Liguria (Finanzgericht der Region Ligurien) beim vorlegenden Gericht, der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien), Kassationsbeschwerden ein.

11

Contship macht zur Begründung ihrer Rechtsmittel im Wesentlichen geltend, dass die Gesellschaft deutschen Rechts, die 100 % der Anteile von Borgo Supermercati halte, nach einer kohärenten Auslegung des Regelwerks den „Gesellschaften und Einheiten, deren Anteile auf regulierten italienischen und ausländischen Märkten gehandelt werden“ im Sinne von Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 in seiner auf den Sachverhalt der Ausgangsverfahren zeitlich anwendbaren Fassung hätte gleichgestellt werden müssen, so dass die Regelung über die Verhinderung von Steuervermeidung durch Mantelgesellschaften ex lege nicht auf ihre Tochtergesellschaft anwendbar gewesen wäre. Eine nicht diesem Ansatz folgende Auslegung von Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 in seiner vor dem Gesetz Nr. 296/2006 geltenden Fassung führe zu einer Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit der kontrollierenden Einheit und verletze die Niederlassungsfreiheit sowie die wirtschaftliche und unternehmerische Freiheit innerhalb der Europäischen Union.

12

Contship sieht ihre Auslegung dadurch bestätigt, dass Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 durch das Gesetz Nr. 296/2006 geändert und die betreffende nationale Regelung gewissermaßen mit den Grundsätzen der Unionsrechtsordnung in Einklang gebracht worden sei.

13

Das vorlegende Gericht führt zunächst aus, dass die in Art. 30 des Gesetzes Nr. 724/1994 vorgesehene Regelung über die Verhinderung von Steuervermeidung durch Mantelgesellschaften verhindern solle, dass auf eine bestimmte Rechtsform zu Zwecken zurückgegriffen werde, die nicht der Belebung der normalen Dynamik kollektiver Unternehmenseinheiten dienten. Diese steuerrechtliche Regelung sei ausschließlich auf Handelsgesellschaften mit Gewinnerzielungsabsicht anwendbar, zu denen auch Betriebsstätten ausländischer Gesellschaften und sogenannte „Offshore“-Gesellschaften gehörten.

14

Die Ermittlung der unter diese steuerrechtliche Regelung fallenden Gesellschaften erfolge anhand eines sogenannten „Operativitätstests“, der auf einer Bewertung der Produktivität der von diesen Gesellschaften gehaltenen Vermögenswerte beruhe, die sich auf gesetzlich vorgegebene Parameter für das Mindesteinkommen stütze. Gebe eine Gesellschaft für das betreffende Steuerjahr ein Einkommen an, das unter dem Betrag liege, der sich aus der Anwendung dieser Parameter ergebe, werde sie als „nicht operativ“ angesehen und das steuerpflichtige Einkommen auf der Grundlage des gesetzlich vermuteten Mindesteinkommens festgesetzt.

15

Art. 30 des Gesetzes Nr. 724/1994 sehe auch Gründe für den Ausschluss der Anwendung dieser steuerrechtlichen Regelung vor. Hierzu gehöre der Ausschlussgrund gemäß Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994, der in seiner auf den Sachverhalt der Ausgangsverfahren zeitlich anwendbaren Fassung vorgesehen habe, dass die Regelung über die Verhinderung von Steuervermeidung durch Mantelgesellschaften auf „Gesellschaften und Einheiten, deren Anteile auf regulierten italienischen Märkten gehandelt werden“ keine Anwendung finde.

16

Der Geltungsbereich von Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 sei durch das Gesetz Nr. 296/2006 mit Wirkung von dem am 4. Juli 2006 laufenden Steuerjahr ausgedehnt worden auf „Gesellschaften und Einheiten, die Gesellschaften und Einheiten kontrollieren, deren Anteile auf regulierten italienischen und ausländischen Märkten gehandelt werden, sowie auf notierte Gesellschaften und Einheiten und von diesen – auch indirekt – kontrollierte Gesellschaften“. Diese Änderung sei jedoch zeitlich nicht auf den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sachverhalt anwendbar, und der Wortlaut der vor dieser Änderung geltenden Fassung von Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 lasse keine Auslegung zu, nach der der Geltungsbereich dieses Ausschlussgrundes bereits zum maßgeblichen Zeitpunkt auf Tochtergesellschaften der in Italien oder im Ausland notierten Gesellschaften hätte ausgedehnt werden können.

17

In diesem Zusammenhang stellt sich dem vorlegenden Gericht die Frage, ob Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 in seiner auf den Sachverhalt der Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung mit dem in Art. 18 AEUV verankerten Diskriminierungsverbot in Verbindung mit dem in Art. 49 AEUV verankerten Grundsatz der Niederlassungsfreiheit vereinbar ist.

18

Zum einen könne Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 zu einer Diskriminierung im eigentlichen Sinne zwischen den Gesellschaften, die Anteile auf den regulierten italienischen Märkten ausgäben, und den an ausländischen Märkten notierten Gesellschaften führen. Zum anderen könne es zu einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit kommen, wenn dieser potenziell mit einem Steuervorteil verbundene Ausschlussgrund nicht auf an regulierten italienischen und ausländischen Märkten notierte Gesellschaften ausgedehnt würde. Dies hätte eine abschreckende Wirkung für Gesellschaften, die zwar weder einen Sitz noch eine Betriebsstätte in Italien hätten, aber gleichwohl beabsichtigten, dort durch die Kontrolle von gebietsansässigen Gesellschaften die Freiheit der Zweitniederlassung auszuüben.

19

Unter diesen Umständen hat die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) beschlossen, die Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof sowohl in der Rechtssache C‑433/21 als auch in der Rechtssache C‑434/21 folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Stehen die Art. 18 (vormals Art. 12 EG) und 49 (vormals Art. 43 EG) AEUV einer nationalen Regelung entgegen, die, wie Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 in seiner zeitlich vor den Änderungen durch das Gesetz Nr. 296/2006 anwendbaren Fassung, von der Regelung über die Verhinderung von Steuervermeidung durch Mantelgesellschaften – die auf der Festlegung von mit dem Wert bestimmter Betriebsgüter korrelierender Mindeststandards für Erträge und Einnahmen beruht, deren Nichterreichen ein symptomatisches Indiz für den nicht operativen Charakter der Gesellschaft darstellt und zur Festsetzung eines vermuteten steuerpflichtigen Einkommens führt – nur Gesellschaften und Einheiten, deren Anteile auf regulierten italienischen Märkten gehandelt werden, nicht aber Gesellschaften und Einheiten, deren Anteile auf regulierten ausländischen Märkten gehandelt werden, sowie Gesellschaften, die diese notierten Gesellschaften und Einheiten kontrollieren oder – auch indirekt – von ihnen kontrolliert werden, ausnimmt?

20

Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 3. September 2021 sind die vorliegenden Rechtssachen zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung des Gerichtshofs verbunden worden.

Zur Zulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen

21

Die italienische Regierung hält die Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig, weil die in den verbundenen Rechtssachen jeweils gestellte Frage rein hypothetisch sei.

22

Der Grund für den Ausschluss der Anwendung der in Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 vorgesehenen Regelung über die Verhinderung von Steuervermeidung durch Mantelgesellschaften sei zu dem für den Sachverhalt der Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitpunkt nur auf Gesellschaften und Einheiten anwendbar gewesen, deren Anteile auf den regulierten italienischen Märkten gehandelt würden, so dass sich Contship, da sie niemals Anteile auf dem italienischen oder einem ausländischen Markt ausgegeben habe, nicht darauf berufen könne, dass sie durch die in den Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung diskriminiert werde.

23

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es ausschließlich Sache der mit dem Rechtsstreit befassten und die Verantwortung für die abschließende richterliche Entscheidung tragenden nationalen Gerichte ist, unter Berücksichtigung der jeweiligen Einzelheiten des Rechtsstreits sowohl die Notwendigkeit einer Vorabentscheidung für die abschließende Entscheidung als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Folglich ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteile vom 18. Oktober 1990, Dzodzi, C‑297/88 und C‑197/89, EU:C:1990:360, Rn. 34 und 35, vom 13. November 2018, Levola Hengelo, C‑310/17, EU:C:2018:899, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 28. April 2022, Caruter, C‑642/20, EU:C:2022:308, Rn. 28).

24

Nach ständiger Rechtsprechung spricht nämlich eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof darf die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteile vom 5. Dezember 2006, Cipolla u. a., C‑94/04 und C‑202/04, EU:C:2006:758, Rn. 25, vom 13. November 2018, Levola Hengelo, C‑310/17, EU:C:2018:899, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 28. April 2022, Caruter, C‑642/20, EU:C:2022:308, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25

Hier geht aus den Vorlageentscheidungen hervor, dass Contship zwar nie Anteile auf dem italienischen oder einem ausländischen Markt ausgegeben hat, dass der in Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 vorgesehene Ausschlussgrund aber deshalb diskriminierend sein könnte, weil Tochtergesellschaften von Gesellschaften, deren Anteile auf den regulierten italienischen Märkten gehandelt werden, und Tochtergesellschaften von Gesellschaften, deren Anteile auf regulierten ausländischen Märkten gehandelt werden, ungleich behandelt werden.

26

Darüber hinaus möchte das vorlegende Gericht auch wissen, ob die in den Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung eine abschreckende Wirkung auf die an regulierten ausländischen Märkten notierten Gesellschaften haben könnte, wenn diese zwar weder einen Sitz noch eine Betriebsstätte in Italien haben, dort aber durch die Kontrolle von gebietsansässigen Gesellschaften ihre Freiheit der Zweitniederlassung ausüben wollen.

27

Somit ist nicht offensichtlich, dass die erbetene Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand der Ausgangsrechtsstreitigkeiten stünde.

28

Nach alledem ist festzustellen, dass die Vorabentscheidungsersuchen zulässig sind.

Zu den Vorlagefragen

Vorbemerkungen

29

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Art. 18 AEUV als eigenständige Grundlage nach ständiger Rechtsprechung nur auf unionsrechtlich geregelte Fallgestaltungen angewendet werden kann, für die der AEU-Vertrag keine besonderen Diskriminierungsverbote vorsieht. Im Bereich der Niederlassungsfreiheit ist das Diskriminierungsverbot aber durch Art. 49 AEUV umgesetzt worden (Urteile vom 29. Februar 1996, Skanavi und Chryssanthakopoulos, C‑193/94, EU:C:1996:70, Rn. 20 und 21, sowie vom 5. Februar 2014, Hervis Sport- és Divatkereskedelmi, C‑385/12, EU:C:2014:47, Rn. 25, und Beschluss 22. Oktober 2021, O u. a., C‑691/20, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:895, Rn. 20 und 21).

30

Da die tatsächlichen Umstände der Ausgangsverfahren eine durch eine Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat kontrollierte italienische Gesellschaft betreffen, ist die Vereinbarkeit der betreffenden nationalen Regelung mit dem Unionsrecht daher anhand von Art. 49 AEUV zu beurteilen (vgl. entsprechend Urteile vom 13. November 2012, Test Claimants in the FII Group Litigation, C‑35/11, EU:C:2012:707, Rn. 91, und vom 3. März 2020, Tesco-Global Áruházak, C‑323/18, EU:C:2020:140, Rn. 52).

31

Demnach ist nicht Art. 18 AEUV, sondern nur Art. 49 AEUV auszulegen.

Zur Niederlassungsfreiheit

32

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die in Art. 49 AEUV verankerte Niederlassungsfreiheit einer Regelung wie Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 in seiner auf den Sachverhalt der Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung entgegensteht, wonach der Grund für den Ausschluss von der Anwendung der Regelung über die Verhinderung von Steuervermeidung durch Mantelgesellschaften nur Gesellschaften erfasst, deren Anteile auf den regulierten nationalen Märkten gehandelt werden, wohingegen andere – nationale oder ausländische – Gesellschaften, deren Anteile nicht auf den regulierten nationalen Märkten gehandelt werden, die aber von an regulierten ausländischen Märkten notierten Gesellschaften und Einheiten kontrolliert werden, vom Geltungsbereich dieses Ausschlussgrundes ausgenommen sind.

33

Erstens ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 49 AEUV Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu beseitigen sind. Mit dieser Freiheit ist gemäß Art. 54 AEUV für die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung in der Union haben, das Recht verbunden, ihre Tätigkeit in anderen Mitgliedstaaten durch eine Tochtergesellschaft, Zweigniederlassung oder Agentur auszuüben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. September 1999, Saint-Gobain ZN, C‑307/97, EU:C:1999:438, Rn. 35, und vom 20. Januar 2021, Lexel, C‑484/19, EU:C:2021:34, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34

Die Niederlassungsfreiheit soll die Inländerbehandlung der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten und der in Art. 54 AEUV genannten Gesellschaften im Aufnahmemitgliedstaat sicherstellen und verbietet bei Gesellschaften jede Diskriminierung aufgrund des Sitzes (Urteile vom 12. Dezember 2006, Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation, C‑374/04, EU:C:2006:773, Rn. 43, und vom 3. März 2020, Tesco-Global Áruházak, C‑323/18, EU:C:2020:140, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35

Insoweit sind nicht nur offene Diskriminierungen aufgrund des Sitzes der Gesellschaften verboten, sondern auch alle verdeckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zum gleichen Ergebnis führen (Urteile vom 5. Februar 2014, Hervis Sport- és Divatkereskedelmi, C‑385/12, EU:C:2014:47, Rn. 30, vom 3. März 2020, Tesco-Global Áruházak, C‑323/18, EU:C:2020:140, Rn. 62, und vom 25. Februar 2021, Novo Banco, C‑712/19, EU:C:2021:137, Rn. 31).

36

Eine nationale Regelung, die für die Festsetzung des steuerpflichtigen Einkommens nach dem Ort unterscheidet, an dem die betreffenden Anteile gehandelt werden, kann unter ein solches Verbot fallen.

37

Vorliegend erfasste der Grund für die Ausnahme von der Anwendung der Regelung über die Verhinderung von Steuervermeidung durch Mantelgesellschaften gemäß Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 in seiner auf den Sachverhalt der Ausgangsverfahren zeitlich anwendbaren Fassung jedoch nur „Gesellschaften und Einheiten, deren Anteile auf regulierten italienischen Märkten gehandelt werden“.

38

Somit begründet die in den Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung angesichts des Geltungsbereichs dieser Bestimmung keine Ungleichbehandlung zwischen einer Gesellschaft, die – wie Contship – von einer in Deutschland notierten Muttergesellschaft gehalten wird, und einer Gesellschaft, die von einer in Italien notierten Gesellschaft gehalten wird. Da gemäß dieser Regelung der in Art. 30 Abs. 1 Buchst. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 vorgesehene Grund für den Ausschluss von der Anwendung der Regelung über die Verhinderung von Steuervermeidung durch Mantelgesellschaften nur Gesellschaften erfasst, die selbst am regulierten italienischen Markt notiert sind, ist es nämlich unerheblich, ob eine Gesellschaft die Tochtergesellschaft einer in Italien oder im Ausland notierten Muttergesellschaft ist.

39

Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen geht aber hervor, dass Contship nie Anteile auf dem regulierten italienischen Markt ausgegeben hatte und daher ebenso wenig wie jede andere nicht notierte italienische Gesellschaft von dem in Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 vorgesehenen Grund für den Ausschluss von der Anwendung der Regelung über die Verhinderung von Steuervermeidung durch Mantelgesellschaften erfasst wurde. Contship hätte sich also selbst dann nicht auf den in dieser Bestimmung vorgesehenen Ausschlussgrund berufen können, wenn sie statt von einer in Deutschland notierten Gesellschaft von einer in Italien notierten Gesellschaft kontrolliert worden wäre.

40

Unter diesen Umständen begründet die Anwendung von Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 keine Ungleichbehandlung zwischen einer Gesellschaft, die von einer an einem ausländischen Markt notierten Muttergesellschaft gehalten wird, und einer Gesellschaft, die von einer am italienischen Markt notierten Muttergesellschaft gehalten wird.

41

Zweitens ist ergibt sich aus ständiger Rechtsprechung, dass Art. 49 AEUV jeder nationalen Maßnahme entgegensteht, die zwar ohne Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit anwendbar, aber geeignet ist, die Ausübung der vom AEU-Vertrag garantierten Niederlassungsfreiheit durch die Unionsangehörigen zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, und dass solche Behinderungen entstehen können, wenn ein Unternehmen aufgrund nationaler Vorschriften davon abgehalten werden kann, untergeordnete Einheiten – wie etwa Betriebsstätten – in anderen Mitgliedstaaten zu gründen und seine Tätigkeiten über solche Einheiten auszuüben (Urteil vom 3. September 2020, Vivendi, C‑719/18, EU:C:2020:627, Rn. 51, und Beschluss vom 22. Oktober 2021, O u. a., C‑691/20, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:895, Rn. 23).

42

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es nach dem Grundsatz der Steuerautonomie der Mitgliedstaaten mangels Harmonisierungsmaßnahmen auf Unionsebene Sache der Mitgliedstaaten ist, die Besteuerung vermeintlicher Mantelgesellschaften zu regeln. Diese Zuständigkeit muss jedoch unter Beachtung des Unionsrechts und insbesondere der Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit ausgeübt werden (vgl. entsprechend Urteile vom 30. Juni 2011, Meilicke u. a., C‑262/09, EU:C:2011:438, Rn. 37 und 38, sowie vom 19. Dezember 2019, Brussels Securities, C‑389/18, EU:C:2019:1132, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43

Vorliegend geht jedoch aus der in den Ausgangsrechtsstreitigkeiten fraglichen Regelung hervor, dass eine Tochtergesellschaft, deren Muttergesellschaft am regulierten italienischen Markt notiert ist, nicht von dem in Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 vorgesehenen Grund für die Ausnahme von der Anwendung der Regelung über die Verhinderung von Steuervermeidung durch Mantelgesellschaften erfasst wird, wenn sie selbst nicht notiert ist.

44

Daraus folgt, dass keine für die Tochtergesellschaften günstige steuerliche Behandlung voraussetzt, dass die Muttergesellschaften am nationalen Markt börsennotiert sind.

45

Da die in den Ausgangsverfahren fragliche Regelung somit Gesellschaften, die von am regulierten nationalen Markt notierten Muttergesellschaften gehalten werden und den Grund für die Ausnahme von der Anwendung der Regelung über die Verhinderung von Steuervermeidung durch Mantelgesellschaften in Anspruch nehmen wollen, nicht bevorzugt, kann sich aus ihr auch keine abschreckende Wirkung für an ausländischen Märkten notierte Muttergesellschaften ergeben.

46

Im Übrigen ist mit der Europäischen Kommission darauf hinzuweisen, dass der in Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 vorgesehene Ausschlussgrund nur auf vermeintliche Mantelgesellschaften Anwendung fand, deren Anteile auf regulierten italienischen Märkten gehandelt wurden, und er damit Mantelgesellschaften ausschloss, die an ausländischen Märkten – auch denen der anderen Mitgliedstaaten – notiert sind. Diese letztere Fallgestaltung entspricht aber nicht der, die sich aus den Umständen der Ausgangsverfahren ergibt, so dass eine Antwort des Gerichtshofs auf die Frage, ob eine solche Unterscheidung als Diskriminierung in Bezug auf die Niederlassungsfreiheit anzusehen wäre, über die gestellten Fragen hinausginge und für das vorlegende Gericht zur Entscheidung der Ausgangsverfahren nicht sachdienlich wäre.

47

Folglich vermag die Beschränkung des persönlichen Geltungsbereichs des in Art. 30 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 724/1994 vorgesehenen Grundes für den Ausschluss von der Anwendung der Regelung über die Verhinderung von Steuervermeidung durch Mantelgesellschaften, wie sie in den Ausgangsverfahren in Rede steht, die Niederlassung einer an einem regulierten ausländischen Markt notierte Muttergesellschaft in Italien nicht zu behindern oder weniger attraktiv zu machen.

48

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 49 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach der Grund für den Ausschluss von der Anwendung der Regelung über die Verhinderung von Steuervermeidung durch Mantelgesellschaften nur Gesellschaften erfasst, deren Anteile auf den regulierten nationalen Märkten gehandelt werden, wohingegen andere – nationale oder ausländische – Gesellschaften, deren Anteile nicht auf den regulierten nationalen Märkten gehandelt werden, die aber von an regulierten ausländischen Märkten notierten Gesellschaften und Einheiten kontrolliert werden, vom Geltungsbereich dieses Ausschlussgrundes ausgenommen sind.

Kosten

49

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach der Grund für den Ausschluss von der Anwendung der Regelung über die Verhinderung von Steuervermeidung durch Mantelgesellschaften nur Gesellschaften erfasst, deren Anteile auf den regulierten nationalen Märkten gehandelt werden, wohingegen andere – nationale oder ausländische – Gesellschaften, deren Anteile nicht auf den regulierten nationalen Märkten gehandelt werden, die aber von an regulierten ausländischen Märkten notierten Gesellschaften und Einheiten kontrolliert werden, vom Geltungsbereich dieses Ausschlussgrundes ausgenommen sind.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.