URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

16. Februar 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen – Verordnung (EG) Nr. 805/2004 – Europäischer Vollstreckungstitel für unbestrittene Forderungen – Art. 23 Buchst. c – Aussetzung der Vollstreckung einer als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigten Entscheidung – Außergewöhnliche Umstände – Begriff“

In der Rechtssache C‑393/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberstes Gericht Litauens) mit Entscheidung vom 23. Juni 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Juni 2021, in dem Verfahren

Lufthansa Technik AERO Alzey GmbH,

Beteiligte:

Arik Air Limited,

Asset Management Corporation of Nigeria (AMCON),

antstolis Marekas Petrovskis,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin L. S. Rossi, der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin O. Spineanu-Matei (Berichterstatterin),

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. September 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Lufthansa Technik AERO Alzey GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt F. Heemann und A. Juškys, Advokatas,

der Arik Air Limited, vertreten durch L. Augytė-Kamarauskienė, Advokatė,

der Asset Management Corporation of Nigeria (AMCON), vertreten durch A. Banys, A. Ivanauskaitė und K. Švirinas, Advokatai,

der litauischen Regierung, vertreten durch K. Dieninis, V. Kazlauskaitė-Švenčionienė und E. Kurelaitytė als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch S. L. Kalėda und S. Noë als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Oktober 2022

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 23 der Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen (ABl. 2004, L 143, S. 15) sowie von Art. 36 Abs. 1 und Art. 44 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Fluggesellschaft Arik Air Limited und der Lufthansa Technik AERO Alzey GmbH (im Folgenden: Lufthansa) wegen eines Antrags auf Aussetzung des Vollstreckungsverfahrens, das gegen Arik Air auf der Grundlage eines von einem deutschen Gericht zugunsten von Lufthansa ausgestellten Europäischen Vollstreckungstitels eingeleitet wurde.

Rechtlicher Rahmen

Verordnung Nr. 805/2004

3

In den Erwägungsgründen 8, 18 und 20 der Verordnung Nr. 805/2004 heißt es:

„(8)

Der Europäische Rat hat in seinen Schlussfolgerungen von Tampere die Auffassung vertreten, dass der Zugang zur Vollstreckung einer Entscheidung in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Entscheidung ergangen ist, durch den Verzicht auf die dort als Voraussetzung einer Vollstreckung erforderlichen Zwischenmaßnahmen beschleunigt und vereinfacht werden sollte. Eine Entscheidung, die vom Gericht des Ursprungsmitgliedstaats als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigt worden ist, sollte im Hinblick auf die Vollstreckung so behandelt werden, als wäre sie im Vollstreckungsmitgliedstaat ergangen. …

(18)

Gegenseitiges Vertrauen in die ordnungsgemäße Rechtspflege in den Mitgliedstaaten rechtfertigt es, dass das Gericht nur eines Mitgliedstaats beurteilt, ob alle Voraussetzungen für die Bestätigung der Entscheidung als Europäischer Vollstreckungstitel vorliegen, so dass die Vollstreckung der Entscheidung in allen anderen Mitgliedstaaten möglich ist, ohne dass im Vollstreckungsmitgliedstaat zusätzlich von einem Gericht nachgeprüft werden muss, ob die prozessualen Mindestvorschriften eingehalten worden sind.

(20)

Dem Gläubiger sollte es freistehen, eine Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel für unbestrittene Forderungen zu beantragen oder sich für das Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahren nach der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 [des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1)] oder für andere Gemeinschaftsrechtsakte zu entscheiden.“

4

Art. 1 („Gegenstand“) der Verordnung Nr. 805/2004 lautet:

„Mit dieser Verordnung wird ein Europäischer Vollstreckungstitel für unbestrittene Forderungen eingeführt, um durch die Festlegung von Mindestvorschriften den freien Verkehr von Entscheidungen, gerichtlichen Vergleichen und öffentlichen Urkunden in allen Mitgliedstaaten zu ermöglichen, ohne dass im Vollstreckungsmitgliedstaat ein Zwischenverfahren vor der Anerkennung und Vollstreckung angestrengt werden muss.“

5

In Art. 5 („Abschaffung des Vollstreckbarerklärungsverfahrens“) der Verordnung Nr. 805/2004 heißt es:

„Eine Entscheidung, die im Ursprungsmitgliedstaat als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigt worden ist, wird in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt und vollstreckt, ohne dass es einer Vollstreckbarerklärung bedarf und ohne dass die Anerkennung angefochten werden kann.“

6

Art. 6 („Voraussetzungen für die Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel“) der Verordnung Nr. 805/2004 bestimmt in Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2:

„(1)   Eine in einem Mitgliedstaat über eine unbestrittene Forderung ergangene Entscheidung wird auf jederzeitigen Antrag an das Ursprungsgericht als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigt, wenn

a)

die Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat vollstreckbar ist, und

(2)   Ist eine als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigte Entscheidung nicht mehr vollstreckbar oder wurde ihre Vollstreckbarkeit ausgesetzt oder eingeschränkt, so wird auf jederzeitigen Antrag an das Ursprungsgericht unter Verwendung des Formblatts in Anhang IV eine Bestätigung der Nichtvollstreckbarkeit bzw. der Beschränkung der Vollstreckbarkeit ausgestellt.“

7

Art. 10 („Berichtigung oder Widerruf der Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel“) der Verordnung Nr. 805/2004 sieht in den Abs. 1 und 2 vor:

„(1)   Die Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel wird auf Antrag an das Ursprungsgericht

a)

berichtigt, wenn die Entscheidung und die Bestätigung aufgrund eines materiellen Fehlers voneinander abweichen;

b)

widerrufen, wenn sie hinsichtlich der in dieser Verordnung festgelegten Voraussetzungen eindeutig zu Unrecht erteilt wurde.

(2)   Für die Berichtigung oder den Widerruf der Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel ist das Recht des Ursprungsmitgliedstaats maßgebend.“

8

Art. 11 („Wirkungen der Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel“) der Verordnung Nr. 805/2004 lautet:

„Die Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel entfaltet Wirkung nur im Rahmen der Vollstreckbarkeit der Entscheidung.“

9

In Art. 18 („Heilung der Nichteinhaltung von Mindestvorschriften“) der Verordnung Nr. 805/2004 heißt es:

„(1)   Genügte das Verfahren im Ursprungsmitgliedstaat nicht den in den Artikeln 13 bis 17 festgelegten verfahrensrechtlichen Erfordernissen, so sind eine Heilung der Verfahrensmängel und eine Bestätigung der Entscheidung als Europäischer Vollstreckungstitel möglich, wenn

a)

die Entscheidung dem Schuldner unter Einhaltung der verfahrensrechtlichen Erfordernisse nach Artikel 13 oder Artikel 14 zugestellt worden ist, und

b)

der Schuldner die Möglichkeit hatte, einen eine uneingeschränkte Überprüfung umfassenden Rechtsbehelf gegen die Entscheidung einzulegen, und er in oder zusammen mit der Entscheidung ordnungsgemäß über die verfahrensrechtlichen Erfordernisse für die Einlegung eines solchen Rechtsbehelfs, einschließlich der Bezeichnung und der Anschrift der Stelle, bei der der Rechtsbehelf einzulegen ist, und gegebenenfalls der Frist unterrichtet wurde, und

c)

der Schuldner es versäumt hat, einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung gemäß den einschlägigen verfahrensrechtlichen Erfordernissen einzulegen.

(2)   Genügte das Verfahren im Ursprungsmitgliedstaat nicht den verfahrensrechtlichen Erfordernissen nach Artikel 13 oder Artikel 14, so ist eine Heilung dieser Verfahrensmängel möglich, wenn durch das Verhalten des Schuldners im gerichtlichen Verfahren nachgewiesen ist, dass er das zuzustellende Schriftstück so rechtzeitig persönlich bekommen hat, dass er Vorkehrungen für seine Verteidigung treffen konnte.“

10

Art. 20 („Vollstreckungsverfahren“) der Verordnung Nr. 805/2004 bestimmt in Abs. 1:

„Unbeschadet der Bestimmungen dieses Kapitels gilt für das Vollstreckungsverfahren das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats.

Eine als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigte Entscheidung wird unter den gleichen Bedingungen vollstreckt wie eine im Vollstreckungsmitgliedstaat ergangene Entscheidung.“

11

Art. 21 („Verweigerung der Vollstreckung“) der Verordnung Nr. 805/2004 sieht vor:

„(1)   Auf Antrag des Schuldners wird die Vollstreckung vom zuständigen Gericht im Vollstreckungsmitgliedstaat verweigert, wenn die als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigte Entscheidung mit einer früheren Entscheidung unvereinbar ist, die in einem Mitgliedstaat oder einem Drittland ergangen ist, sofern

a)

die frühere Entscheidung zwischen denselben Parteien wegen desselben Streitgegenstands ergangen ist und

b)

die frühere Entscheidung im Vollstreckungsmitgliedstaat ergangen ist oder die notwendigen Voraussetzungen für ihre Anerkennung im Vollstreckungsmitgliedstaat erfüllt und

c)

die Unvereinbarkeit im gerichtlichen Verfahren des Ursprungsmitgliedstaats nicht geltend gemacht worden ist und nicht geltend gemacht werden konnte.

(2)   Weder die Entscheidung noch ihre Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel dürfen im Vollstreckungsmitgliedstaat in der Sache selbst nachgeprüft werden.“

12

In Art. 23 („Aussetzung oder Beschränkung der Vollstreckung“) der Verordnung Nr. 805/2004 heißt es:

„Hat der Schuldner

einen Rechtsbehelf gegen eine als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigte Entscheidung eingelegt, wozu auch ein Antrag auf Überprüfung im Sinne des Artikels 19 gehört, oder

die Berichtigung oder den Widerruf einer Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel gemäß Artikel 10 beantragt,

so kann das zuständige Gericht oder die befugte Stelle im Vollstreckungsmitgliedstaat auf Antrag des Schuldners

a)

das Vollstreckungsverfahren auf Sicherungsmaßnahmen beschränken oder

b)

die Vollstreckung von der Leistung einer von dem Gericht oder der befugten Stelle zu bestimmenden Sicherheit abhängig machen oder

c)

unter außergewöhnlichen Umständen das Vollstreckungsverfahren aussetzen.“

Verordnung Nr. 1215/2012

13

Art. 36 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt:

„Die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen werden in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf.“

14

Art. 44 dieser Verordnung sieht vor:

„(1)   Wurde eine Versagung der Vollstreckung einer Entscheidung gemäß Abschnitt 3 Unterabschnitt 2 beantragt, so kann das Gericht im ersuchten Mitgliedstaat auf Antrag des Schuldners

a)

das Vollstreckungsverfahren auf Sicherungsmaßnahmen beschränken,

b)

die Vollstreckung von der Leistung einer vom Gericht zu bestimmenden Sicherheit abhängig machen oder

c)

das Vollstreckungsverfahren insgesamt oder teilweise aussetzen.

(2)   Die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats setzt das Vollstreckungsverfahren auf Antrag des Schuldners aus, wenn die Vollstreckbarkeit der Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat ausgesetzt ist.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

15

Das Amtsgericht Hünfeld (Deutschland) erließ am 14. Juni 2019 gegen Arik Air einen Mahnbescheid zur Beitreibung einer Forderung in Höhe von 2292993,32 Euro zugunsten von Lufthansa. Auf der Grundlage des Mahnbescheids stellte dieses Gericht am 24. Oktober 2019 einen Europäischen Vollstreckungstitel und am 2. Dezember 2019 eine Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel aus.

16

Ein in Litauen tätiger Gerichtsvollzieher (im Folgenden: Gerichtsvollzieher) wurde von Lufthansa mit der Vollstreckung des Vollstreckungstitels gemäß dieser Bestätigung beauftragt.

17

Arik Air beantragte beim Landgericht Frankfurt am Main (Deutschland) nach Art. 10 der Verordnung Nr. 805/2004 den Widerruf der Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel und die Einstellung der Zwangsbeitreibung der Forderung, weil ihr die Verfahrensunterlagen vom Amtsgericht Hünfeld nicht ordnungsgemäß zugestellt worden seien, so dass die ihr zur Einlegung eines Widerspruchs gegen den Mahnbescheid dieses Gerichts zur Verfügung stehende Frist versäumt worden sei.

18

Arik Air beantragte ferner in Litauen beim Gerichtsvollzieher die Aussetzung des Vollstreckungsverfahrens bis zur rechtskräftigen Entscheidung des im Übrigen hierzu angerufenen deutschen Gerichts über den Antrag auf Widerruf der Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel und auf Einstellung der Zwangsbeitreibung. Der Gerichtsvollzieher lehnte den Aussetzungsantrag ab, da die maßgebliche nationale Regelung nicht die Möglichkeit vorsehe, eine Aussetzung zu beantragen, die wie im vorliegenden Fall darauf gestützt werde, dass beim Gericht des Ursprungsmitgliedstaats ein Rechtsbehelf gegen die zu vollstreckende Entscheidung eingelegt worden sei.

19

Mit Beschluss vom 9. April 2020 machte das Landgericht Frankfurt am Main die Aussetzung der Vollstreckung des Europäischen Vollstreckungstitels vom 24. Oktober 2019 davon abhängig, dass Arik Air eine Sicherheit in Höhe von 2000000 Euro leistet. Das Gericht führte aus, wenn die Sicherheit nicht gezahlt werde, könne dem Antrag auf Aussetzung des Titels nicht stattgegeben werden, da Arik Air weder nachgewiesen habe, dass der Titel rechtswidrig ausgestellt worden sei, noch, dass die Widerspruchsfristen ohne ihr Verschulden versäumt worden seien.

20

Arik Air erhob beim Kauno apylinkės teismas (Bezirksgericht Kaunas, Litauen) Klage gegen die die Aussetzung des Vollstreckungsverfahrens ablehnende Entscheidung des Gerichtsvollziehers. Mit Beschluss vom 11. Juni 2020 wies dieses Gericht die Klage ab.

21

Mit Beschluss vom 25. September 2020 hob das Kauno apygardos teismas (Regionalgericht Kaunas, Litauen) auf die von Arik Air eingelegte Berufung hin den Beschluss des Kauno apylinkės teismas (Bezirksgericht Kaunas) vom 11. Juni 2020 auf und entschied, das in Rede stehende Vollstreckungsverfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung des deutschen Gerichts über die Anträge von Arik Air auszusetzen. Das Kauno apygardos teismas (Regionalgericht Kaunas) führte aus, dass die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel bei einem Gericht des Ursprungsmitgliedstaats angesichts der Gefahr eines unverhältnismäßig großen Schadens, der im Rahmen des gegen Arik Air eingeleiteten Vollstreckungsverfahrens entstehen könne, einen hinreichenden Grund für die Aussetzung dieses Verfahrens darstelle. Im Gegensatz zum Kauno apylinkės teismas (Bezirksgericht Kaunas) vertrat es auch die Auffassung, da Informationen fehlten, die bestätigten, dass die vom deutschen Gericht festgelegte Sicherheit in diesem Verfahrensstadium gezahlt worden sei, bestehe kein Grund für die Annahme, dass es dem deutschen Gericht obliege, über die Begründetheit des Antrags auf Aussetzung der Vollstreckungsmaßnahmen zu entscheiden.

22

Lufthansa legte gegen den Beschluss des Kauno apygardos teismas (Regionalgericht Kaunas) vom 25. September 2020 beim Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberster Gerichtshof Litauens), dem vorlegenden Gericht, Kassationsbeschwerde ein.

23

Dieses Gericht fragt zunächst nach der Tragweite, den Anwendungsvoraussetzungen und dem Umfang der Kontrolle durch die zuständigen Gerichte oder die befugten Stellen des Vollstreckungsmitgliedstaats nach Art. 23 Buchst. c der Verordnung Nr. 805/2004.

24

Insoweit ergebe sich bereits aus dem Wortlaut dieses Artikels, dass das zuständige Gericht oder die befugte Stelle des Vollstreckungsmitgliedstaats über einen Spielraum hinsichtlich der Möglichkeit verfüge, die Aussetzung des Vollstreckungsverfahrens anzuordnen. Es stelle sich die Frage, wie weit dieser Spielraum sei. Zum einen implizierten die Ausdrücke „einen Rechtsbehelf … eingelegt“ und „wozu auch … gehört“ in Art. 23 der Verordnung Nr. 805/2004, dass alle Rechtsbehelfe im Ursprungsmitgliedstaat erfasst seien, eine Voraussetzung, die im vorliegenden Fall erfüllt zu sein scheine, und zum anderen müsse die Bedeutung des Begriffs „außergewöhnliche Umstände“ in den Mitgliedstaaten einheitlich ausgelegt werden.

25

Im vorliegenden Fall seien zwar vor den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats gerichtliche Verfahren anhängig, die Parteien des Ausgangsverfahrens seien sich jedoch über den Sinn, die Tragweite und die Erfolgsaussichten dieser Verfahren uneinig. So mache Arik Air zwar geltend, dass sie ein Recht zur Einlegung eines Rechtsbehelfs ausübe, Lufthansa bestreite aber, dass diese Partei über ein solches Recht verfüge, und behaupte, dass diese nur versuche, das Vollstreckungsverfahren zu verzögern. Daher fragt das vorlegende Gericht nach dem Umfang der Kontrolle des im Ursprungsmitgliedstaat stattfindenden Verfahrens, die es gegebenenfalls durchzuführen haben soll.

26

Ferner möchte das vorlegende Gericht angesichts der Verwendung der Konjunktion „oder“ zwischen den verschiedenen in Art. 23 der Verordnung Nr. 805/2004 vorgesehenen Maßnahmen, die das zuständige Gericht oder die befugte Stelle im Vollstreckungsmitgliedstaat zur Aussetzung oder Beschränkung der Vollstreckung erlassen kann, wissen, ob die gleichzeitige Anwendung mehrerer dieser Maßnahmen möglich ist.

27

Schließlich weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass nach der Verordnung Nr. 1215/2012 eine im Ursprungsmitgliedstaat erlassene Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckbarkeit gemäß der in Art. 36 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehenen allgemeinen Verpflichtung zur Anerkennung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen im Vollstreckungsmitgliedstaat Wirkung entfalten müsse. Eine gesonderte Verpflichtung zur Aussetzung des Vollstreckungsverfahrens werde jedoch auch in Art. 44 Abs. 2 dieser Verordnung erwähnt. In der Verordnung Nr. 805/2004 sei dagegen nicht festgelegt, ob bei Aussetzung der Vollstreckbarkeit einer gerichtlichen Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat die Vollstreckung dieser Entscheidung in einem anderen Mitgliedstaat automatisch ausgesetzt werden sollte oder ob insoweit eine Entscheidung der befugten Stellen des Vollstreckungsmitgliedstaats erforderlich sei. Daher stelle sich die Frage, ob eine ähnliche Regelung wie die in der Verordnung Nr. 1215/2012 im Rahmen der Verordnung Nr. 805/2004 anzuwenden sei.

28

Unter diesen Umständen hat der Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberster Gerichtshof Litauens) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Wie ist der Begriff „außergewöhnliche Umstände“ in Art. 23 Buchst. c der Verordnung Nr. 805/2004 unter Berücksichtigung der Ziele der Verordnung Nr. 805/2004, u. a. des Ziels der Beschleunigung und Vereinfachung der Vollstreckung mitgliedstaatlicher Entscheidungen und der effektiven Wahrung des Rechts auf ein faires Verfahren, auszulegen? Welchen Beurteilungsspielraum haben die befugten Stellen des Vollstreckungsmitgliedstaats bei der Auslegung dieses Begriffs?

2.

Sind Umstände, die, wie im vorliegenden Fall, mit einem Gerichtsverfahren in dem Ursprungsstaat zusammenhängen, in dem über eine Frage der Aufhebung einer gerichtlichen Entscheidung entschieden wird, auf deren Grundlage ein Europäischer Vollstreckungstitel erteilt wurde, bei der Entscheidung über die Anwendung von Art. 23 Buchst. c der Verordnung Nr. 805/2004 als relevant anzusehen? Nach welchen Kriterien ist das Rechtsbehelfsverfahren im Ursprungsmitgliedstaat zu beurteilen und wie umfassend muss die von den befugten Stellen des Vollstreckungsmitgliedstaats vorgenommene Beurteilung des im Ursprungsmitgliedstaat stattfindenden Verfahrens sein?

3.

Was ist Gegenstand der Beurteilung bei der Entscheidung über die Anwendung des Begriffs „außergewöhnliche Umstände“ in Art. 23 der Verordnung Nr. 805/2004: Müssen die Auswirkungen der jeweiligen Umstände des Rechtsstreits beurteilt werden, wenn gegen die gerichtliche Entscheidung des Ursprungsstaats im Ursprungsstaat ein Rechtsbehelf eingelegt wird, muss der potenzielle Nutzen oder Schaden der jeweiligen in Art. 23 der Verordnung genannten Maßnahme geprüft werden oder müssen die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Schuldners, die Entscheidung umzusetzen, oder andere Umstände untersucht werden?

4.

Ist nach Art. 23 der Verordnung Nr. 805/2004 die gleichzeitige Anwendung mehrerer in diesem Artikel genannter Maßnahmen möglich? Falls diese Frage zu bejahen ist: Auf welche Kriterien müssen sich die befugten Stellen des Vollstreckungsstaats stützen, wenn sie über die Rechtfertigung und Verhältnismäßigkeit der Anwendung mehrerer solcher Maßnahmen entscheiden?

5.

Ist die rechtliche Regelung in Art. 36 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 auf eine gerichtliche Entscheidung des Ursprungsstaats über die Aussetzung (oder Aufhebung) der Vollstreckbarkeit anzuwenden oder ist eine ähnliche rechtliche Regelung wie die in Art. 44 Abs. 2 dieser Verordnung anwendbar?

Zu den Vorlagefragen

Zu den Fragen 1 bis 3

29

Mit seinen Fragen 1 bis 3, die zusammen zu prüfen sind, ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen um Auslegung des Begriffs „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 23 Buchst. c der Verordnung Nr. 805/2004 und möchte insbesondere wissen, ob und inwieweit Umstände, die mit dem Gerichtsverfahren zusammenhängen, das im Ursprungsmitgliedstaat gegen die als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigte Entscheidung oder gegen die Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel gerichtet ist, für die Bestimmung der Tragweite dieses Begriffs relevant sind.

30

Nach Art. 23 Buchst. c der Verordnung Nr. 805/2004 kann das zuständige Gericht oder die befugte Stelle des Vollstreckungsmitgliedstaats, wenn der Schuldner einen Rechtsbehelf gegen eine als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigte Entscheidung eingelegt hat, wozu auch ein Antrag auf Überprüfung im Sinne des Art. 19 dieser Verordnung gehört, oder die Berichtigung oder den Widerruf einer Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel gemäß Art. 10 der Verordnung beantragt hat, auf Antrag des Schuldners unter außergewöhnlichen Umständen das Vollstreckungsverfahren aussetzen.

31

Diese Bestimmung verweist im Hinblick auf den Sinn und die Tragweite, die dem Begriff „außergewöhnliche Umstände“ beizumessen sind, nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten, so dass dieser Begriff unter Berücksichtigung der Erfordernisse sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes als autonomer Begriff des Unionsrechts anzusehen und im Gebiet der Union einheitlich auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Januar 2022, Zinātnes parks, C‑347/20, EU:C:2022:59, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Der Umstand, dass Art. 20 Abs. 1 der Verordnung Nr. 805/2004 hinsichtlich der Vollstreckungsverfahren auf das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats verweist, kann diese Feststellung nicht entkräften. Wie der Generalanwalt in Nr. 15 seiner Schlussanträge ausführt, gilt dieser Verweis nur unbeschadet der Bestimmungen des Kapitels IV dieser Verordnung, u. a. ihres Art. 23, der die Voraussetzungen einer Beschränkung oder einer Aussetzung des Vollstreckungsverfahrens für den Fall festlegt, dass vom Schuldner im Ursprungsmitgliedstaat ein Rechtsbehelf eingelegt oder ein Antrag gestellt wurde.

33

Demnach sind, wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, bei der Auslegung des Begriffs „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 23 Buchst. c der Verordnung Nr. 805/2004 nicht nur der Wortlaut dieser Bestimmung, sondern auch der Zusammenhang, in den sie sich einfügt, und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Oktober 2019, BGL BNP Paribas, C‑548/18, EU:C:2019:848, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34

Was erstens den Wortlaut von Art. 23 Buchst. c der Verordnung Nr. 805/2004 betrifft, geht schon aus der Formulierung dieser Bestimmung, insbesondere aus der Verwendung des Verbs „können“ und des Adjektivs „außergewöhnliche“, hervor, dass der Unionsgesetzgeber den Gerichten oder Stellen des Vollstreckungsmitgliedstaats zwar einen Spielraum bei der Beurteilung eingeräumt hat, ob die Aussetzung der Vollstreckung einer als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigten Entscheidung erforderlich ist, diese Befugnis aber durch die Feststellung, dass von ihm als „außergewöhnlich“ bezeichnete Umstände vorliegen, einschränken wollte, so dass die Bestimmung eng auszulegen ist (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Oktober 2015, Thomas Cook Belgium, C‑245/14, EU:C:2015:715, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35

Aus der Verwendung des Begriffs „außergewöhnliche Umstände“ durch den Unionsgesetzgeber ist allerdings zu schließen, dass er die Tragweite von Art. 23 Buchst. c der Verordnung Nr. 805/2004 nicht nur auf Fälle höherer Gewalt beschränken wollte, die sich in der Regel aus unvorhersehbaren und unabwendbaren Ereignissen ergeben, die auf eine nicht in der Sphäre des Schuldners liegende Ursache zurückzuführen sind.

36

In Anbetracht dieser Wortlautargumente ist davon auszugehen, dass die Befugnis zur Aussetzung der Vollstreckung einer als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigten Entscheidung den Fällen vorbehalten bleiben muss, in denen die Fortsetzung der Vollstreckung den Schuldner der tatsächlichen Gefahr eines besonders schweren Schadens aussetzen würde, der nicht oder äußerst schwer wiedergutzumachen wäre, falls dem Rechtsbehelf oder dem Antrag, den er im Ursprungsmitgliedstaat eingelegt bzw. gestellt hat, stattgegeben wird.

37

Außerdem ergibt sich aus Art. 23 Buchst. c der Verordnung Nr. 805/2004, dass ein gerichtliches Verfahren, das vom Schuldner im Ursprungsmitgliedstaat eingeleitet wurde, um entweder einen Rechtsbehelf gegen eine als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigte Entscheidung einzulegen oder um die Berichtigung oder den Widerruf einer Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel zu beantragen, eine Voraussetzung dafür ist, dass das zuständige Gericht oder die befugte Stelle des Vollstreckungsmitgliedstaats prüft, ob außergewöhnliche Umstände vorliegen, um die Vollstreckung dieses Titels gegebenenfalls auszusetzen.

38

Was zweitens den Zusammenhang betrifft, in den sich Art. 23 Buchst. c der Verordnung Nr. 805/2004 einfügt, beruht die Abschaffung des Vollstreckbarerklärungsverfahrens in Art. 5 dieser Verordnung nach deren Systematik auf einer klaren Zuständigkeitsverteilung zwischen den Gerichten und Behörden des Ursprungsmitgliedstaats und denen des Vollstreckungsmitgliedstaats, verbunden mit Erfordernissen, die sowohl im Rahmen des zum Erlass einer Entscheidung über eine unbestrittene Forderung führenden Verfahrens als auch bei der Vollstreckung dieser Entscheidung zu beachten sind. Diese Zuständigkeitsverteilung ergibt sich daraus, dass sich die Forderung und der Europäische Vollstreckungstitel, mit dem sie festgestellt wird, nach dem Recht des Ursprungsmitgliedstaats richten, während für das Vollstreckungsverfahren gemäß Art. 20 der Verordnung Nr. 805/2004 das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats gilt.

39

Somit unterliegt im Ursprungsmitgliedstaat die Bestätigung einer Entscheidung über eine unbestrittene Forderung als Europäischer Vollstreckungstitel der Einhaltung der Mindestvorschriften in Kapitel III der Verordnung Nr. 805/2004. Die Nichteinhaltung dieser Vorschriften kann gemäß Art. 18 der Verordnung nur vor den Gerichten oder Stellen dieses Staates geheilt werden.

40

Die zuständigen Gerichte oder die befugten Stellen des Vollstreckungsmitgliedstaats sind ihrerseits im Rahmen der ihnen durch Art. 20 der Verordnung Nr. 805/2004 übertragenen Zuständigkeit befugt, zu prüfen, ob Umstände vorliegen, die die Verweigerung der Vollstreckung nach Art. 21 Abs. 1 dieser Verordnung oder die Beschränkung oder die Aussetzung der Vollstreckung nach Art. 23 der Verordnung rechtfertigen.

41

Diesen Gerichten oder Stellen kann jedoch kein Rechtsbehelf, der sich auf die im Ursprungsmitgliedstaat ergangene Entscheidung oder ihre Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel bezieht, zur Beurteilung vorgelegt werden. Wie sich nämlich aus Art. 21 Abs. 2 der Verordnung Nr. 805/2004 im Licht ihres 18. Erwägungsgrundes ergibt, muss gegenseitiges Vertrauen zwischen Mitgliedstaaten in die ordnungsgemäße Rechtspflege in jedem von ihnen dazu führen, dass ein Gericht nur eines Mitgliedstaats beurteilt, ob alle Voraussetzungen für die Bestätigung der Entscheidung als Europäischer Vollstreckungstitel vorliegen, so dass die Entscheidung über eine unbestrittene Forderung oder ihre Bestätigung im Vollstreckungsmitgliedstaat in der Sache selbst nicht nachgeprüft werden darf.

42

Aus der Systematik der Verordnung Nr. 805/2004 ergibt sich somit, dass die zuständigen Gerichte oder die befugten Stellen des Vollstreckungsmitgliedstaats weder unmittelbar noch mittelbar im Rahmen eines Antrags auf Aussetzung des Vollstreckungsverfahrens zur Prüfung einer solchen im Ursprungsmitgliedstaat ergangenen Entscheidung oder ihrer Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel befugt sind.

43

Unter Berücksichtigung dieser Zuständigkeitsverteilung in der Verordnung Nr. 805/2004 zwischen den Gerichten und Stellen des Ursprungsmitgliedstaats und denen des Vollstreckungsmitgliedstaats verfügen die Gerichte oder Stellen des Vollstreckungsmitgliedstaats über einen begrenzten Spielraum bei der Beurteilung der Umstände, unter denen einem Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung stattgegeben werden kann. Bei der Prüfung eines solchen Antrags und zur Feststellung des außergewöhnlichen Charakters der Umstände, auf die der Schuldner den Antrag stützt, müssen sich diese Gerichte oder Stellen nach der Feststellung, dass im Ursprungsmitgliedstaat ein Rechtsbehelf oder Antrag im Sinne von Art. 23 der Verordnung Nr. 805/2004 vorliegt, daher darauf beschränken, die bestehenden Interessen, d. h. das Interesse des Gläubigers an einer sofortigen Vollstreckung der Entscheidung über seine Forderung und das Interesse des Schuldners, besonders schwere und nicht oder schwer wiedergutzumachende Schäden zu verhindern, abzuwägen, um den mit diesem Artikel angestrebten gerechten Ausgleich zu bestimmen. Bei dieser Prüfung ist es, wie der Generalanwalt in Nr. 30 seiner Schlussanträge ausführt, ausgeschlossen, dass die betreffenden Gerichte oder Stellen – sei es auch nur prima facie – die Begründetheit des Rechtsbehelfs oder des Antrags beurteilen, der vom Schuldner im Ursprungsmitgliedstaat eingelegt bzw. gestellt wurde.

44

Drittens wird das Erfordernis einer engen Auslegung des Begriffs „außergewöhnliche Umstände“ durch die teleologische Auslegung von Art. 23 Buchst. c der Verordnung Nr. 805/2004 gestützt.

45

Wie sich aus Art. 1 in Verbindung mit dem achten Erwägungsgrund dieser Verordnung ergibt, soll sie nämlich den freien Verkehr insbesondere von Entscheidungen über unbestrittene Forderungen ermöglichen sowie ihre Vollstreckung in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Entscheidung ergangen ist, beschleunigen und vereinfachen. Unter Berücksichtigung dieses Ziels ist auch die enge Auslegung der in den Art. 21 und 23 der Verordnung Nr. 805/2004 genannten Umstände, die der sofortigen Vollstreckung dieser Entscheidungen entgegenstehen, geboten.

46

Nach alledem ist auf die Fragen 1 bis 3 zu antworten, dass Art. 23 Buchst. c der Verordnung Nr. 805/2004 dahin auszulegen ist, dass der darin enthaltene Begriff „außergewöhnliche Umstände“ eine Situation erfasst, in der die Fortsetzung des Verfahrens zur Vollstreckung einer als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigten Entscheidung, wenn der Schuldner im Ursprungsmitgliedstaat einen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung eingelegt oder einen Antrag auf Berichtigung oder auf Widerruf der Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel gestellt hat, den Schuldner der tatsächlichen Gefahr eines besonders schweren Schadens aussetzen würde, der nicht oder äußerst schwer wiedergutzumachen wäre, falls die genannte Entscheidung aufgehoben wird oder die Bestätigung als Vollstreckungstitel berichtigt oder widerrufen wird. Der Begriff verweist nicht auf Umstände, die mit dem Gerichtsverfahren zusammenhängen, das im Ursprungsmitgliedstaat gegen die als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigte Entscheidung oder gegen die Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel gerichtet ist.

Zur vierten Frage

47

Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 23 der Verordnung Nr. 805/2004 dahin auszulegen ist, dass er die gleichzeitige Anwendung der in seinen Buchst. a, b und c genannten Maßnahmen der Beschränkung, der Leistung einer Sicherheit oder der Aussetzung der Vollstreckung ermöglicht.

48

Hierzu ist festzustellen, dass Art. 23 („Aussetzung oder Beschränkung der Vollstreckung“) der Verordnung Nr. 805/2004 die Maßnahmen aufführt, die von dem zuständigen Gericht oder der befugten Stelle des Vollstreckungsmitgliedstaats auf Antrag des Schuldners angeordnet werden können, nämlich die Beschränkung des Vollstreckungsverfahrens auf Sicherungsmaßnahmen, die Verknüpfung der Vollstreckung mit der Leistung einer Sicherheit oder die Aussetzung der Vollstreckung unter außergewöhnlichen Umständen.

49

Nach dem Wortlaut dieses Artikels sind die darin vorgesehenen Maßnahmen durch die Konjunktion „oder“ verbunden, die in einigen Sprachfassungen sowohl alternative als auch kumulative Bedeutung haben kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Januar 2020, Autoservizi Giordano, C‑513/18, EU:C:2020:59, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Verwendung dieser Konjunktion lässt daher die Absicht des Unionsgesetzgebers hinsichtlich der Möglichkeit einer gleichzeitigen Anwendung der in Art. 23 der Verordnung Nr. 805/2004 genannten Maßnahmen nicht erkennen.

50

Dagegen lassen die Systematik dieses Artikels und die Tragweite der darin genannten Maßnahmen die Annahme zu, dass die gleichzeitige Anwendung der Maßnahme der Aussetzung des Vollstreckungsverfahrens nach Art. 23 Buchst. c der Verordnung Nr. 805/2004 einerseits und der Maßnahme der Beschränkung dieses Verfahrens nach Art. 23 Buchst. a der Verordnung oder der Maßnahme nach Art. 23 Buchst. b der Verordnung, die darin besteht, den Gläubiger zur Leistung einer Sicherheit zu verpflichten, andererseits nicht möglich ist.

51

Die auf Antrag des Schuldners gemäß Art. 23 Buchst. c der Verordnung Nr. 805/2004 angeordnete Aussetzung des Vollstreckungsverfahrens steht nämlich angesichts ihrer unmittelbaren Auswirkungen auf die Fortsetzung dieses Verfahrens der Möglichkeit entgegen, dieses auf Sicherungsmaßnahmen im Sinne von Art. 23 Buchst. a der Verordnung zu beschränken. Die Verpflichtung des Gläubigers gemäß Art. 23 Buchst. b der Verordnung, eine Sicherheit zu leisten, ist ihrerseits vorgesehen, um die in Rede stehende Forderung sofort vollstrecken zu können, was logischerweise die gleichzeitige Anwendung der Maßnahme der Aussetzung der Vollstreckung ausschließt.

52

Wie der Generalanwalt in Nr. 52 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, ist es jedoch nicht ausgeschlossen, dass das zuständige Gericht oder die befugte Stelle des Vollstreckungsmitgliedstaats dem Gläubiger aufgeben kann, als Voraussetzung für die Durchführung von ausschließlich der Sicherung dienenden Vollstreckungsmaßnahmen eine Sicherheit zu leisten.

53

Demnach ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 23 der Verordnung Nr. 805/2004 dahin auszulegen ist, dass er die gleichzeitige Anwendung der in seinen Buchst. a und b genannten Maßnahmen der Beschränkung und der Leistung einer Sicherheit ermöglicht, nicht aber die gleichzeitige Anwendung einer dieser beiden Maßnahmen mit der in seinem Buchst. c vorgesehenen Aussetzung des Vollstreckungsverfahrens.

Zur fünften Frage

54

Die fünfte Frage zur Auslegung von Art. 36 Abs. 1 und Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 betrifft die Auswirkungen einer im Ursprungsmitgliedstaat ergangenen Entscheidung, mit der die Aussetzung der Vollstreckbarkeit einer als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigten Entscheidung über eine unbestrittene Forderung angeordnet wird, auf das im Vollstreckungsmitgliedstaat eingeleitete Verfahren zur Vollstreckung dieser letztgenannten Entscheidung.

55

Zunächst ist festzustellen, dass aus dem Vorabentscheidungsersuchen zwar nicht hervorgeht, dass das zuständige deutsche Gericht zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichtshofs endgültig über die Aussetzung der Vollstreckung des Europäischen Vollstreckungstitels vom 24. Oktober 2019 entschieden hätte, dass aber zu diesem Zeitpunkt ein hierzu eingeleitetes Verfahren bei diesem Gericht anhängig war, so dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass eine Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung dieses Titels ergeht. Daher ist nicht offensichtlich, dass eine Antwort auf die fünfte Frage für das vorlegende Gericht zur Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits nicht sachdienlich wäre. Die Frage ist deshalb zulässig.

56

Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht zwar formal um die Auslegung von Art. 36 Abs. 1 und Art. 44 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 ersucht, die Verordnung Nr. 805/2004, auf deren Grundlage das Vollstreckungsverfahren im Ausgangsverfahren eingeleitet wurde, in Art. 6 Abs. 2 den Fall der Aussetzung der Vollstreckbarkeit einer als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigten Entscheidung aber selbst regelt.

57

Da der Gerichtshof befugt ist, aus dem gesamten vom vorlegenden Gericht übermittelten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. April 2021, Profi Credit Slovakia, C‑485/19, EU:C:2021:313, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung), ist die fünfte Frage so zu verstehen, dass sie die Auslegung von Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 805/2004 betrifft.

58

Demnach möchte das vorlegende Gericht mit seiner fünften Frage im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 805/2004 dahin auszulegen ist, dass das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats, wenn die Vollstreckbarkeit einer als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigten Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat ausgesetzt worden ist, auf der Grundlage dieser Entscheidung das im Vollstreckungsstaat eingeleitete Vollstreckungsverfahren auszusetzen hat.

59

Hierzu ist festzustellen, dass nach Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 805/2004 die Bestätigung einer Entscheidung über eine unbestrittene Forderung als Europäischer Vollstreckungstitel von mehreren Voraussetzungen abhängt, u. a. der der Vollstreckbarkeit dieser Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat gemäß Art. 6 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung.

60

Nach Art. 11 der Verordnung entfaltet die Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel nur im Rahmen der Vollstreckbarkeit der genannten Entscheidung Wirkung.

61

Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass ein Europäischer Vollstreckungstitel keine Rechtswirkung entfalten kann, wenn die Vollstreckbarkeit der so bestätigten Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat ausgesetzt wurde.

62

In diesem Zusammenhang sieht Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 805/2004 vor, dass auf jederzeitigen Antrag an das Ursprungsgericht unter Verwendung des Formblatts in Anhang IV dieser Verordnung eine Bestätigung der Nichtvollstreckbarkeit bzw. der Beschränkung der Vollstreckbarkeit ausgestellt wird, wenn eine als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigte Entscheidung nicht mehr vollstreckbar ist oder ihre Vollstreckbarkeit ausgesetzt oder eingeschränkt wurde.

63

Daher hat das zuständige Gericht oder die befugte Stelle des Vollstreckungsmitgliedstaats, wenn die Vollstreckbarkeit der als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigten Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat ausgesetzt wurde, das im Vollstreckungsstaat eingeleitete Vollstreckungsverfahren bei Vorlage der in Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 805/2004 vorgesehenen Bestätigung auszusetzen.

64

Nach alledem ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 11 der Verordnung Nr. 805/2004 dahin auszulegen ist, dass das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats, wenn die Vollstreckbarkeit einer als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigten Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat ausgesetzt und ihm die in Art. 6 Abs. 2 der Verordnung vorgesehene Bestätigung vorgelegt wurde, auf der Grundlage dieser Entscheidung das im Vollstreckungsstaat eingeleitete Vollstreckungsverfahren auszusetzen hat.

Kosten

65

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 23 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen

ist dahin auszulegen, dass

der darin enthaltene Begriff „außergewöhnliche Umstände“ eine Situation erfasst, in der die Fortsetzung des Verfahrens zur Vollstreckung einer als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigten Entscheidung, wenn der Schuldner im Ursprungsmitgliedstaat einen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung eingelegt oder einen Antrag auf Berichtigung oder auf Widerruf der Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel gestellt hat, den Schuldner der tatsächlichen Gefahr eines besonders schweren Schadens aussetzen würde, der nicht oder äußerst schwer wiedergutzumachen wäre, falls die genannte Entscheidung aufgehoben wird oder die Bestätigung als Vollstreckungstitel berichtigt oder widerrufen wird. Der Begriff verweist nicht auf Umstände, die mit dem Gerichtsverfahren zusammenhängen, das im Ursprungsmitgliedstaat gegen die als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigte Entscheidung oder gegen die Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel gerichtet ist.

 

2.

Art. 23 der Verordnung Nr. 805/2004

ist dahin auszulegen, dass

er die gleichzeitige Anwendung der in seinen Buchst. a und b genannten Maßnahmen der Beschränkung und der Leistung einer Sicherheit ermöglicht, nicht aber die gleichzeitige Anwendung einer dieser beiden Maßnahmen mit der in seinem Buchst. c vorgesehenen Aussetzung des Vollstreckungsverfahrens.

 

3.

Art. 6 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 11 der Verordnung Nr. 805/2004

ist dahin auszulegen, dass

das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats, wenn die Vollstreckbarkeit einer als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigten Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat ausgesetzt und die in Art. 6 Abs. 2 der Verordnung vorgesehene Bestätigung diesem Gericht vorgelegt wurde, auf der Grundlage dieser Entscheidung das im Vollstreckungsstaat eingeleitete Vollstreckungsverfahren auszusetzen hat.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Litauisch.