URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

17. November 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Einwanderungspolitik – Richtlinie 2003/86/EG – Art. 2. Buchst. f – Art. 10 Abs. 3 Buchst. a – Begriff „unbegleiteter Minderjähriger“ – Recht auf Familienzusammenführung – Im Zeitpunkt seiner Ankunft im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verheirateter minderjähriger Flüchtling – In diesem Mitgliedstaat nicht anerkannte Kinderehe – Zusammenleben mit dem Ehegatten, der sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhält“

In der Rechtssache C‑230/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) mit Entscheidung vom 6. April 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 9. April 2021, in dem Verfahren

X, handelnd in eigenem Namen und in ihrer Eigenschaft als gesetzliche Vertreterin ihrer minderjährigen Kinder Y und Z,

gegen

Belgische Staat

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter M. Safjan, N. Piçarra, N. Jääskinen (Berichterstatter) und M. Gavalec,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 31. März 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von X, handelnd in eigenem Namen und in ihrer Eigenschaft als gesetzliche Vertreterin ihrer minderjährigen Kinder Y und Z, vertreten durch J. Schellemans, K. Verhaegen und K. Verstrepen, Advocaten,

der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, C. Pochet und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte im Beistand von D. Matray, S. Matray, Avocats, und von S. Van Rompaey, Advocaat,

der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und S. Noë als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Juni 2022

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. f. und Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen X, handelnd in eigenem Namen und in ihrer Eigenschaft als gesetzliche Vertreterin ihrer minderjährigen Kinder Y und Z, und dem Belgische Staat (Belgischer Staat) wegen der Ablehnung ihres Antrags auf ein Visum zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihrer Tochter sowie der Ablehnung ihrer Anträge auf humanitäre Visa für Y und Z.

Rechtlicher Rahmen

Richtlinie 2003/86

3

In den Erwägungsgründen 2 und 8 der Richtlinie 2003/86 heißt es:

„(2)

Maßnahmen zur Familienzusammenführung sollten in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden, die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert ist. Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die Grundsätze, die insbesondere in Artikel 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden.

(8)

Der Lage von Flüchtlingen sollte wegen der Gründe, die sie zur Flucht gezwungen haben und sie daran hindern, ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Deshalb sollten günstigere Bedingungen für die Ausübung ihres Rechts auf Familienzusammenführung vorgesehen werden.“

4

Art. 1 dieser Richtlinie lautet:

„Ziel dieser Richtlinie ist die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten.“

5

Nach Art. 2 Buchst. f der Richtlinie bezeichnet der Ausdruck „unbegleiteter Minderjähriger“

„einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut einer solchen Person befindet, oder Minderjährige, die ohne Begleitung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgelassen werden, nachdem sie in diesen Mitgliedstaat eingereist sind.“

6

Art. 4 Abs. 1, 2 und 5 der Richtlinie bestimmt:

„(1)   Vorbehaltlich der in Kapitel IV sowie in Artikel 16 genannten Bedingungen gestatten die Mitgliedstaaten gemäß dieser Richtlinie folgenden Familienangehörigen die Einreise und den Aufenthalt:

a)

dem Ehegatten des Zusammenführenden;

b)

den minderjährigen Kindern des Zusammenführenden und seines Ehegatten, einschließlich der Kinder, die gemäß einem Beschluss der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats oder einem aufgrund der internationalen Verpflichtungen dieses Mitgliedstaats automatisch vollstreckbaren oder anzuerkennenden Beschluss adoptiert wurden;

c)

den minderjährigen Kindern, einschließlich der adoptierten Kinder des Zusammenführenden, wenn der Zusammenführende das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt der Kinder aufkommt. Die Mitgliedstaaten können die Zusammenführung in Bezug auf Kinder gestatten, für die ein geteiltes Sorgerecht besteht, sofern der andere Elternteil seine Zustimmung erteilt;

d)

den minderjährigen Kindern, einschließlich der adoptierten Kinder des Ehegatten, wenn der Ehegatte das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt der Kinder aufkommt. Die Mitgliedstaaten können die Zusammenführung in Bezug auf Kinder gestatten, für die ein geteiltes Sorgerecht besteht, sofern der andere Elternteil seine Zustimmung erteilt.

Die minderjährigen Kinder im Sinne dieses Artikels dürfen das nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats geltende Volljährigkeitsalter noch nicht erreicht haben und dürfen nicht verheiratet sein.

Abweichend davon kann ein Mitgliedstaat bei einem Kind über 12 Jahre, das unabhängig vom Rest seiner Familie ankommt, prüfen, ob es ein zum Zeitpunkt der Umsetzung dieser Richtlinie in den nationalen Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats vorgesehenes Integrationskriterium erfüllt, bevor er ihm die Einreise und den Aufenthalt gemäß dieser Richtlinie gestattet.

(2)   Vorbehaltlich der in Kapitel IV genannten Bedingungen können die Mitgliedstaaten in ihren nationalen Rechtsvorschriften folgenden Familienangehörigen die Einreise und den Aufenthalt gemäß dieser Richtlinie gestatten:

a)

den Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades des Zusammenführenden oder seines Ehegatten, wenn letztere für ihren Unterhalt aufkommen und erstere in ihrem Herkunftsland keinerlei sonstige familiäre Bindungen mehr haben;

(5)   Zur Förderung der Integration und zur Vermeidung von Zwangsehen können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass der Zusammenführende und sein Ehegatte ein Mindestalter erreicht haben müssen, das höchstens auf 21 Jahre festgesetzt werden darf, bevor der Ehegatte dem Zusammenführenden nachreisen darf.“

7

Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2003/86 sieht vor:

„Bei der Prüfung des Antrags tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass das Wohl minderjähriger Kinder gebührend berücksichtigt wird.“

8

Art. 10 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie bestimmt:

„Handelt es sich bei einem Flüchtling um einen unbegleiteten Minderjährigen, so

a)

gestatten die Mitgliedstaaten ungeachtet der in Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe a) genannten Bedingungen die Einreise und den Aufenthalt seiner Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades zum Zwecke der Familienzusammenführung“.

Dublin‑III-Verordnung

9

Art. 2 Buchst. g der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung) enthält folgende Definition:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

g)

‚Familienangehörige‘ die folgenden Mitglieder der Familie des Antragstellers, die sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat:

bei einem unverheirateten, minderjährigen Begünstigten internationalen Schutzes, der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der/die entweder nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des Mitgliedstaats, in dem sich der Begünstigte aufhält, für ihn verantwortlich ist“.

10

Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung sieht vor:

„Handelt es sich bei dem Antragsteller um einen unbegleiteten Minderjährigen, so ist der Mitgliedstaat zuständiger Mitgliedstaat, in dem sich ein Familienangehöriger oder eines der Geschwister des unbegleiteten Minderjährigen rechtmäßig aufhält, sofern es dem Wohl des Minderjährigen dient. Ist der Antragsteller ein verheirateter Minderjähriger, dessen Ehepartner sich nicht rechtmäßig im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhält, so ist der Mitgliedstaat zuständiger Mitgliedstaat, in dem sich der Vater, die Mutter, oder ein anderer Erwachsener – der entweder nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des Mitgliedstaats für den Minderjährigen zuständig ist – oder sich eines seiner Geschwister aufhält.“

11

Art. 9 der Verordnung bestimmt:

„Hat der Antragsteller einen Familienangehörigen – ungeachtet der Frage, ob die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat –, der in seiner Eigenschaft als Begünstigter internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat aufenthaltsberechtigt ist, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

12

X, die angibt, Palästinenserin zu sein, hat eine am 2. Februar 2001 geborene Tochter. Am 8. Dezember 2016 heiratete diese damals 15 Jahre alte Tochter im Libanon Y.B.

13

Am 28. August 2017 reiste die Tochter von X nach Belgien ein, um zu Y.B. zu ziehen, der in diesem Mitgliedstaat über eine gültige Aufenthaltserlaubnis verfügte.

14

Am 29. August 2017 sah der Vormundschaftsdienst des FOD Justitie (Föderaler Öffentlicher Dienst Justiz, Belgien) die Tochter von X als unbegleitete ausländische Minderjährige an und bestellte ihr einen Vormund.

15

Am 20. September 2017 stellte die Tochter von X bei den belgischen Behörden einen Antrag auf internationalen Schutz.

16

Am selben Tag lehnte der Dienst Vreemdelingenzaken (Ausländeramt, Belgien) die Anerkennung der Heiratsurkunde der Tochter von X mit der Begründung ab, dass es sich um eine Kinderehe handele, die nach den einschlägigen Artikeln des belgischen Gesetzbuchs über das internationale Privatrecht als mit der öffentlichen Ordnung unvereinbar angesehen werde.

17

Am 26. September 2018 wurde die Tochter von X als Flüchtling anerkannt.

18

Am 18. Dezember 2018 beantragte X bei der belgischen Botschaft im Libanon ein Visum zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihrer Tochter sowie humanitäre Visa für ihre minderjährigen Söhne Y und Z.

19

Mit drei Bescheiden vom 21. Juni 2019 lehnte der Beauftragte des Minister van Sociale Zaken en Volksgezondheid, en van Asiel en Migratie (Minister für Soziale Angelegenheiten, Volksgesundheit, Asyl und Einwanderung, Belgien) (im Folgenden: Minister) die von X am 18. Dezember 2018 gestellten Visumanträge ab. Diese Bescheide wurden vom vorlegenden Gericht mit Urteil vom 7. November 2019 aufgehoben.

20

Nach dieser Aufhebung erließ der Minister am 17. März 2020 drei neue Bescheide über die Ablehnung der in Rede stehenden Visa. In diesen Bescheiden vertrat er im Wesentlichen die Auffassung, dass nach dem belgischen Ausländerrecht, in dem bestimmte Regelungen die Richtlinie 2003/86 umsetzten, die Kernfamilie aus Ehegatten und unverheirateten minderjährigen Kindern bestehe. Folglich gehöre die Tochter von X nach dem Eingehen einer im Land der Eheschließung gültigen Ehe nicht mehr zur Kernfamilie ihrer Eltern.

21

Am 10. August 2020 erhob X gegen die Bescheide Klage beim vorlegenden Gericht.

22

Zur Begründung ihrer Klage macht X geltend, weder das belgische Ausländergesetz noch die Richtlinie 2003/86 schrieben vor, dass ein Flüchtling unverheiratet sein müsse, damit das Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern entstehe. Außerdem sei die Heiratsurkunde ihrer Tochter in Belgien nicht anerkannt worden, weshalb sie in diesem Mitgliedstaat keine Rechtswirkungen entfalte. Ihre Tochter müsse nur zwei Voraussetzungen erfüllen, damit sie das Recht auf Familienzusammenführung mit ihren Eltern ausüben könne. Diese seien erfüllt, da ihre Tochter minderjährig und unbegleitet im Sinne von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 sei.

23

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts scheint die Situation der Tochter von X im Anwendungsbereich des Ausdrucks „unbegleiteter Minderjähriger“ im Sinne von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a in Verbindung mit Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 zu liegen. Insoweit weist es darauf hin, dass diese Richtlinie keine Angaben zum Familienstand des unbegleiteten Minderjährigen enthalte. Es sei jedoch auch Art. 9 der Dublin‑III-Verordnung zu berücksichtigen, wonach der minderjährige Flüchtling unverheiratet sein müsse, damit der Mitgliedstaat, in dem er sich aufhalte, für die Bearbeitung des Antrags seiner Eltern auf internationalen Schutz zuständig sei.

24

Vor diesem Hintergrund hat der Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen; Belgien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist das Unionsrecht, insbesondere Art. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86, dahin auszulegen, dass ein „unbegleiteter [m]inderjähriger“ Flüchtling, der sich in einem Mitgliedstaat aufhält, nach seinem nationalen Recht unverheiratet sein muss, damit ein Recht auf Familienzusammenführung mit Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades entsteht?

2.

Falls ja: Kann ein minderjähriger Flüchtling, dessen im Ausland eingegangene Ehe aus Gründen der öffentlichen Ordnung nicht anerkannt wird, als „unbegleiteter Minderjähriger“ im Sinne von Art. 2 Buchst. f und Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie 2003/86 angesehen werden?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

25

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 10 Abs. 3 Buchst. a in Verbindung mit Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, der sich in einem Mitgliedstaat aufhält, unverheiratet sein muss, um zum Zweck der Familienzusammenführung mit seinen Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades die Rechtsstellung eines Zusammenführenden zu erlangen.

26

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele der Regelung, zu der sie gehört, zu berücksichtigen sind (Urteile vom 17. November 1983, Merck, 292/82, EU:C:1983:335, Rn. 12, und vom 20. Juni 2022, London Steam-Ship Owners’ Mutual Insurance Association, C‑700/20, EU:C:2022:488, Rn. 55).

27

Erstens ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86, dass, wenn es sich bei dem Flüchtling um einen unbegleiteten Minderjährigen im Sinne von Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie handelt, die Mitgliedstaaten „ungeachtet der in Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe a) genannten Bedingungen die Einreise und den Aufenthalt seiner Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades zum Zwecke der Familienzusammenführung“ gestatten.

28

Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 erlegt folglich den Mitgliedstaaten die präzise positive Verpflichtung auf, in dem in dieser Bestimmung festgelegten Fall die Familienzusammenführung der Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades des Zusammenführenden zu gestatten. Das unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen auf diese Weise zuerkannte Recht auf Familienzusammenführung ist weder in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt noch unterliegt es den in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. April 2018, A und S, C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 34).

29

Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 sieht nicht ausdrücklich vor, dass der minderjährige Flüchtling unverheiratet sein muss, damit die Einreise und der Aufenthalt seiner Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades zum Zweck der Familienzusammenführung gestattet werden.

30

Zudem bezeichnet der Ausdruck „unbegleiteter Minderjähriger“ im Sinne von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 einen „Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut einer solchen Person befindet, oder Minderjährige, die ohne Begleitung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgelassen werden, nachdem sie in diesen Mitgliedstaat eingereist sind.“

31

Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass diese Definition zwei Voraussetzungen vorsieht, nämlich, dass der Betroffene „Minderjähriger“ ist und dass er „unbegleitet“ ist (Urteil vom 12. April 2018, A und S, C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 37).

32

Wie der Generalanwalt in Nr. 28 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, bezieht sich diese Definition in keiner Weise auf den Familienstand des Minderjährigen und setzt nicht voraus, dass der Minderjährige ledig ist, um als unbegleiteter Minderjähriger angesehen werden zu können.

33

Was zweitens den Zusammenhang betrifft, in dem Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 steht, ist darauf hinzuweisen, dass diese Richtlinie Bestimmungen enthält, die ausdrücklich Situationen betreffen, in denen der Familienstand des Minderjährigen berücksichtigt wird.

34

Dies gilt insbesondere für Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie, der festlegt, welche Familienangehörigen des Zusammenführenden ein Recht auf Familienzusammenführung ausüben können, und wonach „[d]ie minderjährigen Kinder im Sinne dieses Artikels … nicht verheiratet sein [dürfen]“. Folglich dürfen nach dem Wortlaut dieser Bestimmung die minderjährigen Kinder des zusammenführenden Elternteils nur dann auf der Grundlage der Familienzusammenführung in die Europäische Union einreisen und sich dort aufhalten, wenn sie nicht verheiratet sind.

35

Der Umstand, dass der Unionsgesetzgeber eine solche Voraussetzung in Bezug auf den Familienstand der minderjährigen Kinder eines zusammenführenden Elternteils vorgesehen hat, nicht aber für den zusammenführenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtling, lässt wohl auf seinen Willen schließen, die Anwendung von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 nicht nur auf unverheiratete unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zu beschränken.

36

Im Übrigen führt diese Auslegung des Zusammenhangs, in dem Art. 10 Abs. 3 Buchst. a in Verbindung mit Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 steht, entgegen dem Vorbringen der belgischen Regierung nicht zu einer Ungleichbehandlung zwischen der Situation eines verheirateten Minderjährigen, der die Familienzusammenführung mit seinem zusammenführenden Verwandten in aufsteigender Linie im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 beantragt, und der Situation eines zusammenführenden verheirateten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings, dessen Verwandter in gerader aufsteigender Linie ersten Grades die Familienzusammenführung im Sinne von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie beantragt, da diese beiden Situationen nicht vergleichbar sind.

37

Ein unbegleiteter Minderjähriger, der sich allein im Hoheitsgebiet eines anderen Staats als dem seines Herkunftsstaats aufhält, befindet sich nämlich in einer besonders schutzbedürftigen Lage, die es rechtfertigt, dass die Familienzusammenführung mit seinen Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades, die sich außerhalb der Union aufhalten, begünstigt wird. Diese unterschiedliche Sachlage rechtfertigt es, dass sein Recht auf Familienzusammenführung nicht den Voraussetzungen von Art. 4 Abs. 2 Buchst. a unterliegt, sondern den Voraussetzungen von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86, durch den im Speziellen ein stärkerer Schutz der Flüchtlinge, die unbegleitete Minderjährige sind, gewährleistet werden soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. April 2018, A und S, C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 44).

38

Dieser Schutz ist umso notwendiger, als die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 5 dieser Richtlinie im Rahmen der Familienzusammenführung von Ehegatten für den Zusammenführenden und seinen Ehegatten ein Mindestalter voraussetzen können, bevor der Ehegatte dem Zusammenführenden nachreisen darf. In einem solchen Fall würde eine Auslegung von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie, wonach die Zusammenführung mit Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades abgelehnt würde, wenn der zusammenführende unbegleitete minderjährige Flüchtling verheiratet ist, diesen Minderjährigen in eine Situation besonderer Schutzbedürftigkeit versetzen, da ihm ohne seinen Ehegatten und seine Verwandten in aufsteigender Linie in dem Mitgliedstaat, in dem er sich aufhält, jegliches familiäre Netzwerk entzogen wäre.

39

Die belgische Regierung macht geltend, die Art. 9 und Art. 2 Buchst. g letzter Gedankenstrich der Dublin‑III-Verordnung verlangten, dass der minderjährige Flüchtling nicht verheiratet sei und dass die Familie bereits im Herkunftsland bestanden habe, damit der Mitgliedstaat, in dem sich dieser Flüchtling aufhalte, für die Bearbeitung des Antrags seiner Mutter oder seines Vaters auf internationalen Schutz zuständig sei. Jedoch betrifft diese Verordnung nicht die Voraussetzungen für das Recht auf Familienzusammenführung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge, sondern die Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist. Die Dublin‑III-Verordnung ist daher für das Ausgangsverfahren nicht relevant.

40

Drittens ist darauf hinzuweisen, dass es nach Art. 1 der Richtlinie 2003/86 Ziel dieser Richtlinie ist, die Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige festzulegen, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten.

41

Hierzu ergibt sich aus dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie, dass diese für Flüchtlinge günstigere Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung vorsieht, weil ihrer Lage wegen der Gründe, die sie zur Flucht gezwungen haben und sie daran hindern, ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Entsprechend diesem Ziel soll die Richtlinie die Familienzusammenführung eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings mit seinen Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades erleichtern.

42

Nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 steht die Gestattung einer solchen Familienzusammenführung nämlich grundsätzlich im Ermessen der einzelnen Mitgliedstaaten und hängt u. a. davon ab, dass der Zusammenführende für den Unterhalt der Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades aufkommt und dass sie in ihrem Herkunftsland keinerlei sonstige familiäre Bindungen mehr haben. Dagegen weicht Art. 10 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie, wie in Rn. 28 des vorliegenden Urteils ausgeführt, von diesem Grundsatz ab.

43

Im Übrigen wird mit der Richtlinie 2003/86, wie in Rn. 37 des vorliegenden Urteils ausgeführt, nicht nur allgemein das Ziel verfolgt, die Familienzusammenführung zu begünstigen und Drittstaatsangehörigen, insbesondere Minderjährigen, Schutz zu gewähren, sondern es soll durch Art. 10 Abs. 3 Buchst. a im Speziellen ein stärkerer Schutz der Flüchtlinge, die unbegleitete Minderjährige sind, gewährleistet werden (Urteil vom 12. April 2018, A und S, C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44

Vor diesem Hintergrund liefe eine Auslegung von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86, die das Recht auf Familienzusammenführung mit ihren Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die nicht verheiratet sind, beschränken würde, diesem Ziel des besonderen Schutzes zuwider.

45

Wie der Generalanwalt in Nr. 46 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, hätte eine solche Auslegung nämlich zur Folge, dass ein verheirateter unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, dessen Ehegatte sich im Unionsgebiet aufhält, den ihm durch die Richtlinie 2003/86 gewährten erhöhten Schutz nicht in Anspruch nehmen könnte, obwohl die besondere Schutzbedürftigkeit von Minderjährigen durch das Bestehen einer Ehe nicht abgeschwächt wird. Vielmehr kann eine eingegangene Ehe, besonders bei minderjährigen Mädchen, darauf hindeuten, dass sie schweren Formen von Gewalt wie Kinderehen oder Zwangsehen ausgesetzt sind.

46

Außerdem kann der Familienstand eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings oftmals schwer festzustellen sein, insbesondere im Fall von Flüchtlingen aus Ländern, die nicht in der Lage sind, verlässliche amtliche Dokumente auszustellen. Somit steht die Auslegung, wonach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 die Familienzusammenführung mit Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades nicht auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge beschränkt, die nicht verheiratet sind, auch im Einklang mit den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit, da sie sicherstellt, dass das Recht auf Familienzusammenführung nicht von den Verwaltungskapazitäten des Herkunftslands der betreffenden Person abhängt.

47

Schließlich müssen die Bestimmungen der Richtlinie 2003/86 im Licht der Art. 7 und 24 Abs. 2 und 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) ausgelegt und angewandt werden, wie sich im Übrigen aus dem Wortlaut des zweiten Erwägungsgrundes und von Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie ergibt, wonach die Mitgliedstaaten die Anträge auf Familienzusammenführung unter Berücksichtigung des Wohles der betroffenen Kinder und in dem Bestreben, das Familienleben zu fördern, prüfen müssen (Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 35 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

48

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 7 der Charta das Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens anerkennt. Diese Bestimmung der Charta ist in Verbindung mit der Verpflichtung zur Berücksichtigung des durch Art. 24 Abs. 2 der Charta anerkannten Kindeswohls zu lesen, wobei Art. 24 Abs. 2 auch auf Entscheidungen anwendbar ist, die nicht notwendigerweise an den Minderjährigen gerichtet sind, aber weitreichende Folgen für ihn haben können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. März 2021, État belge [Rückkehr des Elternteils eines Minderjährigen], C‑112/20, EU:C:2021:197, Rn. 36). Außerdem ist das in Art. 24 Abs. 3 der Charta niedergelegte Erfordernis zu berücksichtigen, dass ein Kind regelmäßige persönliche Beziehungen zu seinen beiden Elternteilen unterhält (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

49

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 10 Abs. 3 Buchst. a in Verbindung mit Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, der sich in einem Mitgliedstaat aufhält, nicht unverheiratet sein muss, um zum Zweck der Familienzusammenführung mit seinen Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades die Rechtsstellung eines Zusammenführenden zu erlangen.

Zur zweiten Frage

50

In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.

Kosten

51

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 10 Abs. 3 Buchst. a in Verbindung mit Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung

 

ist dahin auszulegen, dass

 

ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, der sich in einem Mitgliedstaat aufhält, nicht unverheiratet sein muss, um zum Zweck der Familienzusammenführung mit seinen Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades die Rechtsstellung eines Zusammenführenden zu erlangen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.