URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

4. Mai 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 273 – Fehlende Ausstellung eines Fiskalkassenbelegs – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Kumulierung von Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur für ein und dieselbe Tat – Art. 49 Abs. 3 – Verhältnismäßigkeit der Strafen – Art. 47 – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Umfang der richterlichen Kontrolle in Bezug auf die vorläufige Vollstreckung einer Sanktion“

In der Rechtssache C‑97/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad – Blagoevgrad (Verwaltungsgericht Blagoevgrad, Bulgarien) mit Entscheidung vom 12. Februar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Februar 2021, in dem Verfahren

MV – 98

gegen

Nachalnik na otdel „Operativni deynosti“ – Sofia v Glavna direktsia „Fiskalen kontrol“ pri Tsentralno upravlenie na Natsionalna agentsia za prihodite

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter P. G. Xuereb, T. von Danwitz (Berichterstatter) und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der bulgarischen Regierung, vertreten durch M. Georgieva und L. Zaharieva als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Drambozova, C. Giolito und J. Jokubauskaitė als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie von Art. 47, Art. 49 Abs. 3 und Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen MV – 98 und dem Nachalnik na otdel „Operativni deynosti“ – Sofia v Glavna direktsia „Fiskalen kontrol“ pri Tsentralno upravlenie na Natsionalna agentsia za prihodite (Leiter der Abteilung „Operative Tätigkeiten“ – Stadt Sofia für die Generaldirektion „Steueraufsicht“ der Zentralverwaltung der Nationalen Agentur für Einnahmen, Bulgarien) wegen der Versiegelung eines Geschäftsraums, in dem MV – 98 eine Zigarettenpackung verkauft hatte, ohne einen Fiskalkassenbeleg auszustellen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie unterliegen Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt, der Mehrwertsteuer.

4

Art. 273 dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.

Die Möglichkeit nach Absatz 1 darf nicht dazu genutzt werden, zusätzlich zu den in Kapitel 3 genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen.“

Bulgarisches Recht

Mehrwertsteuergesetz

5

Art. 118 Abs. 1 des Zakon za danak varhu dobavenata stoynost (Mehrwertsteuergesetz) vom 21. Juli 2006 (DV Nr. 63 vom 4. August 2006, S. 8) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) bestimmt:

„Jede nach diesem Gesetz registrierte oder nicht registrierte Person ist verpflichtet, die von ihr in Geschäftsräumen getätigten Lieferungen/Verkäufe zu registrieren und aufzuzeichnen, indem sie einen Fiskalkassenbeleg mittels eines fiskalischen Aufzeichnungsgeräts (Fiskalbon) oder einen Kassenbeleg, der von einem integrierten automatischen Geschäftsverwaltungssystem erstellt wird (Systembon), ausstellt. Der Empfänger muss den Fiskalbon oder den Systembon erhalten und so lange aufbewahren, bis er den Geschäftsraum verlassen hat.“

6

Art. 185 Abs. 1 und 2 dieses Gesetzes sieht vor:

„(1)   Gegen eine Person, die keinen Beleg nach Art. 118 Abs. 1 ausstellt, wird, wenn sie eine natürliche Person und nicht Gewerbetreibender ist, eine Geldbuße in Höhe von 100 bis 500 Lev [(BGN)], oder, wenn sie eine juristische Person oder ein Einzelkaufmann ist, eine Vermögenssanktion in Höhe von 500 bis 2000 [BGN] verhängt.

(2)   Mit Ausnahme der Fälle nach Abs. 1 wird gegen eine Person, die eine Zuwiderhandlung gegen Art. 118 oder eine Vorschrift zu dessen Durchführung begeht oder duldet, wenn sie eine natürliche Person und nicht Gewerbetreibender ist, eine Geldbuße in Höhe von 300 bis 1000 [BGN], oder, wenn sie eine juristische Person oder ein Einzelkaufmann ist, eine Vermögenssanktion in Höhe von 3000 bis 10 0000 [BGN] verhängt.

Führt die Zuwiderhandlung nicht zur Nichtangabe von Einnahmen, werden die Sanktionen nach Abs. 1 verhängt.“

7

Art. 186 des Gesetzes bestimmt:

„(1)   Die Verwaltungszwangsmaßnahme der Versiegelung von Geschäftsräumen für eine Dauer bis zu 30 Tagen wird unabhängig von den vorgesehenen Geldbußen und Vermögenssanktionen gegen eine Person angeordnet, die

1. das Verfahren oder die Art und Weise in Bezug auf Folgendes nicht beachtet:

a) die Ausstellung eines entsprechenden Verkaufsbelegs nach den festgelegten Formalitäten für Lieferungen/Verkäufe;

(3)   Die Verwaltungszwangsmaßnahme nach Abs. 1 wird durch eine mit Gründen versehene Anordnung der Finanzbehörde oder durch einen von dieser Behörde ermächtigten Beamten angeordnet.

(4)   Gegen die Anordnung nach Abs. 3 kann ein Rechtsbehelf nach dem in der Verwaltungsprozessordnung vorgesehenen Verfahren eingelegt werden.“

8

In Art. 187 Abs. 1 und 4 des Gesetzes heißt es:

„(1)   Im Fall der Anordnung der Verwaltungszwangsmaßnahme nach Art. 186 Abs. 1 wird auch der Zutritt zu dem Geschäftsraum oder den Geschäftsräumen der Person verboten und die in diesen Räumlichkeiten und den dazugehörigen Lagern befindlichen Vermögensgegenstände werden von der Person oder ihrem Bevollmächtigten entfernt. Die Maßnahme gilt für den Geschäftsraum oder die Geschäftsräume, in denen die Zuwiderhandlungen festgestellt wurden, auch im Fall der Verwaltung des Raumes oder der Räumlichkeiten durch einen Dritten zum Zeitpunkt der Versiegelung, wenn diesem Dritten bekannt ist, dass der Raum versiegelt wird. Die Nationale Agentur für Einnahmen veröffentlicht auf ihrer Internetseite die Listen der zu versiegelnden Geschäftsräume und deren Standorte. Es wird davon ausgegangen, dass der Person die Versiegelung des Geschäftsraums bekannt ist, wenn an dem Raum dauerhaft ein Hinweis auf die Versiegelung angebracht ist oder wenn auf der Internetseite der Finanzverwaltung die Information über den zu versiegelnden Geschäftsraum und dessen Standort veröffentlicht wird.

(4)   Auf Antrag des Zuwiderhandelnden und unter der Voraussetzung, dass er die Zahlung der gesamten Geldbuße bzw. Vermögenssanktion nachweist, hebt die Behörde die von ihr verhängte Verwaltungszwangsmaßnahme auf. Die Entfernung der Siegel setzt eine Mitwirkungspflicht des Zuwiderhandelnden voraus. Bei wiederholter Zuwiderhandlung ist die Entfernung der Siegel des Geschäftsraums aus dem Raum nicht vor Ablauf eines Monats nach seiner Versiegelung zulässig.“

9

Art. 188 des Mehrwertsteuergesetzes sieht vor:

„Die Verwaltungszwangsmaßnahme nach Art. 186 Abs. 1 ist unter den Bedingungen der Verwaltungsprozessordnung vorläufig vollstreckbar.“

10

Art. 193 dieses Gesetzes bestimmt:

(1)   Die Feststellung von Zuwiderhandlungen gegen dieses Gesetz und die zu seiner Durchführung erlassenen Rechtsakte, der Erlass und die Vollstreckung von Entscheidungen, mit denen Verwaltungssanktionen verhängt werden, sowie die gegen diese Entscheidungen statthaften Rechtsbehelfe richten sich nach dem Gesetz über verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen und Verwaltungssanktionen.

(2)   Die Feststellungen von Zuwiderhandlungen werden von den Finanzbehörden getroffen, und Entscheidungen über die Verhängung von Verwaltungssanktionen werden vom Exekutivdirektor der Nationalen Agentur für Einnahmen oder von dem Beamten, den er zu diesem Zweck ermächtigt hat, getroffen.“

Verwaltungsprozessordnung

11

Nach Art. 6 Abs. 5 des Administrativnoprotsetsualen kodeks (Verwaltungsprozessordnung) (DV Nr. 30 vom 11. April 2006) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung haben die Verwaltungsbehörden Handlungen und Verhaltensweisen zu unterlassen, die geeignet sind, Schäden zu verursachen, die in einem offensichtlichen Missverhältnis zu dem verfolgten Ziel stehen.

12

Art. 60 dieses Gesetzes bestimmt:

„(1)   Der Verwaltungsakt umfasst eine Verfügung betreffend seine vorläufige Vollstreckung, wenn das Leben oder die Gesundheit der Bürger es erfordern, zum Schutz besonders wichtiger Interessen des Staates oder der Öffentlichkeit, wenn die Gefahr besteht, dass die Vollstreckung der Entscheidung vereitelt oder erheblich erschwert werden könnte, wenn die Verzögerung der Vollstreckung zu einem schweren oder nur schwer wiedergutzumachenden Schaden zu führen droht oder auf Antrag eines Beteiligten, um eines seiner besonders wichtigen Interessen zu schützen. Im letztgenannten Fall verlangt die Verwaltungsbehörde eine entsprechende Sicherheit.

(2)   Die Verfügung betreffend die vorläufige Vollstreckung ist mit Gründen zu versehen.

(5)   Gegen die Verfügung, mit der die vorläufige Vollstreckung gestattet oder abgelehnt wird, kann innerhalb von drei Tagen nach ihrer Bekanntgabe über die Verwaltungsbehörde bei Gericht Klage erhoben werden, unabhängig davon, ob der Verwaltungsakt angefochten worden ist.

(6)   Die Klage wird so bald wie möglich in nicht öffentlicher Sitzung geprüft, ohne dass den Parteien Abschriften der Klageschrift zugestellt werden. Die Klage hat keine aufschiebende Wirkung hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckung, jedoch kann das Gericht die vorläufige Vollstreckung bis zur endgültigen Entscheidung über die Klage aussetzen.

(7)   Hebt das Gericht die angefochtene Verfügung auf, so entscheidet es in der Sache. Wird die vorläufige Vollstreckung aufgehoben, so stellt die Verwaltungsbehörde den vor der Vollstreckung bestehenden Zustand wieder her.

(8)   Gegen die Entscheidung des Gerichts kann ein Rechtsmittel eingelegt werden.“

13

Nach Art. 128 Abs. 1 Nr. 1 der Verwaltungsprozessordnung sind die Verwaltungsgerichte für Verfahren zuständig, die u. a. auf Abänderung oder Aufhebung von Verwaltungsakten gerichtet sind.

14

Art. 166 („Aussetzung der Vollstreckung des Verwaltungsakts“) Abs. 1 und 2 dieses Gesetzes sieht vor:

„(1)   Durch die Klage wird die Vollstreckung des Verwaltungsakts ausgesetzt.

(2)   Das Gericht kann in jedem Stadium des Verfahrens bis zu dem Zeitpunkt, zu dem das Urteil rechtskräftig wird, auf Antrag des Klägers die durch eine bestandskräftige Verfügung der den Verwaltungsakt nach Art. 60 Abs. 1 erlassenden Behörde gestattete vorläufige Vollstreckung aussetzen, wenn dem Kläger durch die vorläufige Vollstreckung ein schwerer oder nur schwer wiedergutzumachender Schaden entstehen könnte. …“

Gesetz über verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen und Verwaltungssanktionen

15

Nach Art. 22 des Zakon za administrativnite narushenia i nakazania (Gesetz über verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen und Verwaltungssanktionen) (DV Nr. 92 vom 28. November 1969) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung können verwaltungsrechtliche Zwangsmaßnahmen angewandt werden, um Verwaltungsübertretungen zu vermeiden oder zu beenden sowie um deren nachteilige Folgen zu vermeiden bzw. zu beseitigen.

16

Art. 27 Abs. 1, 2, 4 und 5 dieses Gesetzes bestimmt:

„(1)   Die Verwaltungssanktion wird gemäß den Bestimmungen dieses Gesetzes innerhalb der für die begangene Zuwiderhandlung vorgesehenen Grenzen festgesetzt.

(2)   Bei der Bestimmung der Sanktion werden die Schwere und die Gründe der Zuwiderhandlung sowie andere mildernde und erschwerende Umstände sowie die Vermögensverhältnisse des Zuwiderhandelnden berücksichtigt.

(4)   Außer in den in Art. 15 Abs. 2 vorgesehenen Fällen dürfen die Sanktionen, mit denen die Zuwiderhandlungen belegt sind, nicht durch mildere Sanktionen ersetzt werden.

(5)   Ebenso wenig ist es zulässig, eine Sanktion unterhalb der vorgesehenen Mindestsanktion festzusetzen, gleichviel, ob es sich um eine Geldbuße oder einen zeitlich begrenzten Entzug des Rechts zur Ausübung eines bestimmten Berufs oder einer bestimmten Tätigkeit handelt.“

17

Nach Art. 59 dieses Gesetzes kann die Entscheidung über die Verhängung einer Verwaltungssanktion innerhalb einer Woche nach ihrer Zustellung beim Rayonen sad (Rayongericht) angefochten werden.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

18

MV – 98, deren Haupttätigkeit im Kauf und Verkauf von Waren wie Zigaretten besteht, betreibt zu diesem Zweck einen Geschäftsraum in Gotse Delchev (Bulgarien).

19

Am 9. Oktober 2019 stellte die bulgarische Steuerverwaltung bei einer in diesem Geschäftsraum durchgeführten Prüfung fest, dass MV – 98 es unterlassen habe, den Verkauf einer Zigarettenpackung im Wert von 5,20 BGN (etwa 2,60 Euro) zu registrieren und den diesem Verkauf zugehörigen Fiskalkassenbeleg auszustellen. Hierauf erging ein Bescheid zur Feststellung einer verwaltungsrechtlichen Zuwiderhandlung nach Art. 118 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes.

20

Die Steuerverwaltung verhängte zum einen eine Vermögenssanktion gemäß Art. 185 des Mehrwertsteuergesetzes gegen MV – 98 und ordnete zum anderen gemäß Art. 186 dieses Gesetzes die Verwaltungszwangsmaßnahme der Versiegelung des betreffenden Geschäftsraums für die Dauer von 14 Tagen an. Die letztgenannte Maßnahme war mit einer Gestattung der vorläufigen Vollstreckung durch eine Verfügung nach Art. 60 der Verwaltungsprozessordnung verbunden, da die Verwaltung die vorläufige Vollstreckung zum Schutz der Interessen des Staates und insbesondere der Staatskasse für zwingend erforderlich hielt.

21

MV – 98 erhob beim vorlegenden Gericht Klage gegen die Versiegelung und machte geltend, dass diese Maßnahme angesichts des geringen Wertes des beanstandeten Verkaufs und des Umstands, dass er erstmals gegen Art. 118 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes verstoßen habe, unverhältnismäßig sei.

22

Das vorlegende Gericht führt zunächst aus, dass mit dem Mehrwertsteuergesetz die Vorschriften der Mehrwertsteuerrichtlinie umgesetzt würden und die Anwendung dieses Gesetzes eine Durchführung des Unionsrechts darstelle, und wirft sodann die Frage auf, ob die mit den Art. 185 und 186 dieses Gesetzes eingeführte Regelung mit Art. 50 der Charta vereinbar ist.

23

Insoweit weist es darauf hin, dass das Mehrwertsteuergesetz für den Fall einer Zuwiderhandlung gegen seinen Art. 118 Abs. 1 nicht nur in seinem Art. 185 die Verhängung einer Vermögenssanktion, sondern in seinem Art. 186 auch die Verpflichtung vorsehe, wegen derselben Tat eine Zwangsmaßnahme der Versiegelung des betreffenden Raumes zu verhängen. Sowohl die Vermögenssanktion als auch die Versiegelung hätten strafrechtlichen Charakter im Sinne von Art. 50 der Charta und der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere des Urteils vom 5. Juni 2012, Bonda (C‑489/10, EU:C:2012:319). Im Übrigen habe auch der Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien) der Versiegelung einen repressiven Charakter zuerkannt.

24

Die Vermögenssanktion und die Versiegelung würden jedoch nach unterschiedlichen und eigenständigen Verfahren verhängt bzw. angeordnet. Außerdem könnten diese beiden Maßnahmen zwar angefochten werden, fielen jedoch in die Zuständigkeit unterschiedlicher Gerichte, nämlich im Fall der Vermögenssanktion in die des Rayongerichts und im Fall der Versiegelung in die des Verwaltungsgerichts. Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass die bulgarischen Verfahrensvorschriften nicht die Möglichkeit vorsähen, das eine Verfahren bis zum Abschluss des anderen Verfahrens auszusetzen, so dass es keinen Koordinierungsmechanismus gebe, der die Beachtung des Erfordernisses der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die Schwere der begangenen Zuwiderhandlung gewährleisten könnte. Somit erfülle die in den Art. 185 und 186 des Mehrwertsteuergesetzes vorgesehene Regelung nicht die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere im Urteil vom 20. März 2018, Menci (C‑524/15, EU:C:2018:197), aufgestellten Kriterien.

25

Schließlich fragt sich das vorlegende Gericht, ob die richterliche Kontrolle, der die Verfügung betreffend die vorläufige Vollstreckung einer Versiegelungsmaßnahme unterworfen werden kann, den Anforderungen von Art. 47 der Charta genügt. Das mit einer Klage gegen eine solche Verfügung befasste Gericht könne den Sachverhalt nicht erneut prüfen, da dieser als erwiesen gelte, wenn er in dem von der Steuerverwaltung erstellten Protokoll über die in dem Geschäftsraum durchgeführte Prüfung enthalten sei. So könne das angerufene Gericht nur eine Abwägung zwischen dem Schutz der Interessen des Staates und der Gefahr eines schweren oder schwer wiedergutzumachenden Schadens für die betroffene Person vornehmen.

26

Unter diesen Umständen hat der Administrativen sad – Blagoevgrad (Verwaltungsgericht Blagoevgrad, Bulgarien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sind Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und Art. 50 der Charta dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegenstehen, wonach ein Verwaltungsverfahren zur Anordnung einer Verwaltungszwangsmaßnahme und ein Verwaltungsstrafverfahren zur Verhängung einer Vermögenssanktion wegen einer Tat, die darin besteht, den Verkauf von Waren nicht registriert und nicht mittels Ausstellung eines Belegs über den Verkauf aufgezeichnet zu haben, gegen dieselbe Person kumuliert werden dürfen?

Falls diese Frage bejaht wird, sind Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und Art. 52 Abs. 1 der Charta dann dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, wonach ein Verwaltungsverfahren zur Anordnung einer Verwaltungszwangsmaßnahme und ein Verwaltungsstrafverfahren zur Verhängung einer Vermögenssanktion wegen einer Tat, die darin besteht, den Verkauf von Waren nicht registriert und nicht mittels Ausstellung eines Belegs über den Verkauf aufgezeichnet zu haben, gegen dieselbe Person kumuliert werden dürfen, wenn man berücksichtigt, dass diese Regelung den Behörden, die für die Durchführung beider Verfahren zuständig sind, und den Gerichten nicht gleichzeitig die Verpflichtung auferlegt, die wirksame Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Hinblick auf die Gesamtschwere aller kumulierten Maßnahmen im Verhältnis zur Schwere der konkreten Zuwiderhandlung sicherzustellen?

2.

Falls die Anwendbarkeit von Art. 50 und Art. 52 Abs. 1 der Charta im vorliegenden Fall nicht bejaht wird, sind Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und Art. 49 Abs. 3 der Charta dann dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie Art. 186 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes entgegenstehen, die wegen einer Tat, die darin besteht, den Verkauf von Waren nicht registriert und nicht mittels Ausstellung eines Belegs über den Verkauf aufgezeichnet zu haben, gegen dieselbe Person neben der Verhängung einer Vermögenssanktion nach Art. 185 Abs. 2 dieses Gesetzes die Anordnung der Verwaltungszwangsmaßnahme „Versiegelung von Geschäftsräumen“ für eine Dauer bis zu 30 Tagen vorsieht?

3.

Ist Art. 47 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass er vom nationalen Gesetzgeber zur Gewährleistung des Interesses nach Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie eingeführten Maßnahmen wie der vorläufigen Vollstreckung der Verwaltungszwangsmaßnahme „Versiegelung von Geschäftsräumen“ für eine Dauer bis zu 30 Tagen zum Schutz eines vermuteten öffentlichen Interesses nicht entgegensteht, wenn sich der gerichtliche Rechtsschutz dagegen auf die Beurteilung eines entgegengesetzten vergleichbaren privaten Interesses beschränkt?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

27

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und Art. 50 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der gegen einen Steuerpflichtigen wegen ein und derselben Zuwiderhandlung gegen eine steuerliche Verpflichtung nach unterschiedlichen und eigenständigen Verfahren eine Maßnahme einer Vermögenssanktion und eine Maßnahme der Versiegelung eines Geschäftsraums verhängt werden können, wobei gegen diese Maßnahmen vor unterschiedlichen Gerichten Klagen erhoben werden können.

Zur Zulässigkeit

28

Die Kommission macht geltend, die erste Frage sei unzulässig, da das Vorabentscheidungsersuchen nicht den Anforderungen von Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs genüge, weil das vorlegende Gericht in Bezug auf die gegen die Klägerin des Ausgangsverfahrens verhängte Vermögenssanktion den rechtlichen und tatsächlichen Rahmen des Ausgangsrechtsstreits nicht hinreichend genau festlege.

29

Nach Art. 94 Buchst. a und b der Verfahrensordnung muss ein Vorabentscheidungsersuchen „eine kurze Darstellung des Streitgegenstands und des maßgeblichen Sachverhalts, wie er vom vorlegenden Gericht festgestellt worden ist, oder zumindest eine Darstellung der tatsächlichen Umstände, auf denen die Fragen beruhen“ und „den Wortlaut der möglicherweise auf den Fall anwendbaren nationalen Vorschriften und gegebenenfalls die einschlägige nationale Rechtsprechung“ enthalten.

30

Die in den Vorlageentscheidungen gemachten Angaben dienen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur dazu, diesem zweckdienliche Antworten zu ermöglichen, sondern sollen auch die Regierungen der Mitgliedstaaten sowie die sonstigen Betroffenen in die Lage versetzen, gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union Erklärungen abzugeben. Es ist dafür zu sorgen, dass diese Möglichkeit erhalten bleibt, wobei zu berücksichtigen ist, dass den Beteiligten aufgrund dieses Artikels nur die Vorlageentscheidungen zugestellt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juli 2016, Ognyanov, C‑614/14, EU:C:2016:514, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31

Im vorliegenden Fall enthält das Vorabentscheidungsersuchen eine Darstellung des Gegenstands des Ausgangsrechtsstreits und des maßgeblichen Sachverhalts sowie eine Darstellung der einschlägigen nationalen Vorschriften einschließlich derjenigen über die Vermögenssanktion, die bei einem Verstoß gegen Art. 118 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes verhängt wird.

32

Außerdem ergibt sich aus den Erklärungen der Regierungen der Mitgliedstaaten, die sich an dem Vorabentscheidungsverfahren beteiligt haben, dass die im Vorabentscheidungsersuchen enthaltenen Angaben es ihnen ermöglicht haben, zu der Vorlagefrage zweckdienlich Stellung zu nehmen.

33

Die erste Frage ist daher zulässig.

Zur Begründetheit

34

Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass von den nationalen Steuerbehörden im Bereich der Mehrwertsteuer verhängte Verwaltungssanktionen nach ständiger Rechtsprechung als Durchführung der Art. 2 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und somit als Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen sind. Sie müssen folglich das in Art. 50 der Charta verbürgte Grundrecht wahren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, BV, C‑570/20, EU:C:2022:348, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35

Art. 50 der Charta bestimmt, dass „[n]iemand … wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden [darf]“. Der Grundsatz ne bis in idem verbietet somit eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36

Im vorliegenden Fall steht fest, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahmen gegen ein und dasselbe Unternehmen, nämlich die Klägerin des Ausgangsverfahrens, und wegen ein und derselben Tat, nämlich eines Verkaufs von Zigaretten, der nicht registriert und nicht durch Ausstellung eines Fiskalkassenbelegs aufgezeichnet wurde, verhängt wurden. Außerdem geht aus den Angaben sowohl des vorlegenden Gerichts als auch der bulgarischen Regierung hervor, dass diese Maßnahmen nach unterschiedlichen und eigenständigen Verfahren angeordnet wurden.

37

In diesem Zusammenhang ist zur Feststellung der Anwendbarkeit von Art. 50 der Charta außerdem zu prüfen, ob die betreffenden Maßnahmen, d. h. die nach Art. 185 des Mehrwertsteuergesetzes verhängte Vermögenssanktion und die Versiegelung des Geschäftsraums der Klägerin des Ausgangsverfahrens nach Art. 186 dieses Gesetzes, als „Sanktionen strafrechtlicher Natur“ eingestuft werden können.

– Zur strafrechtlichen Natur der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahmen

38

Für die Beurteilung der strafrechtlichen Natur der in Rede stehenden Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen sind nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs drei Kriterien maßgebend: erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39

Zwar ist es Sache des vorlegenden Gerichts, anhand der genannten Kriterien zu beurteilen, ob die betreffenden verwaltungsrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen im Sinne von Art. 50 der Charta strafrechtlicher Natur sind, doch kann der Gerichtshof in seiner Vorabentscheidung Klarstellungen vornehmen, um diesem Gericht eine Richtschnur für seine Auslegung zu geben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40

Im vorliegenden Fall ergibt sich hinsichtlich des ersten Kriteriums aus den Angaben des vorlegenden Gerichts, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfahren und Maßnahmen im innerstaatlichen Recht als verwaltungsrechtliche Verfahren und Maßnahmen eingestuft werden.

41

Die Anwendung von Art. 50 der Charta beschränkt sich jedoch nicht allein auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die im nationalen Recht als „strafrechtlich“ eingestuft werden, sondern erstreckt sich – unabhängig von einer solchen innerstaatlichen Einordnung – auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die nach den beiden anderen in Rn. 38 des vorliegenden Urteils angeführten Kriterien strafrechtlicher Natur sind. Ein solcher Charakter kann sich nämlich aus der Art der Zuwiderhandlung und dem Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 30, und vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 88).

42

Das zweite Kriterium, das sich auf die Art der Zuwiderhandlung bezieht, erfordert die Prüfung, ob mit der fraglichen Sanktion u. a. eine repressive Zielsetzung verfolgt wird, ohne dass der bloße Umstand, dass mit ihr auch eine präventive Zielsetzung verfolgt wird, ihr ihre Einstufung als strafrechtliche Sanktion nehmen kann. Es liegt nämlich in der Natur strafrechtlicher Sanktionen, dass sie sowohl auf die Repression als auch auf die Prävention rechtswidriger Verhaltensweisen abzielen. Dagegen ist eine Maßnahme, die nur den durch die Zuwiderhandlung entstandenen Schaden ersetzen soll, nicht strafrechtlicher Natur (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 89 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43

Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass mit beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahmen Ziele der Abschreckung und der Ahndung von Zuwiderhandlungen im Bereich der Mehrwertsteuer verfolgt werden.

44

Zwar haben die bulgarische und die polnische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen geltend gemacht, dass der Zweck der Versiegelungsmaßnahme die Vorbeugung und nicht die Ahndung gewesen sei, doch ist darauf hinzuweisen, dass diese Maßnahme nach den Angaben des vorlegenden Gerichts weder die Beitreibung von Steuerforderungen oder die Erhebung von Beweisen ermöglichen noch deren Verschleierung verhindern soll. Wie Art. 22 des Gesetzes über verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen und Verwaltungssanktionen zeigt, zielt diese Maßnahme darauf ab, Verwaltungsübertretungen abzustellen und neue Zuwiderhandlungen zu verhindern, indem der betreffende Gewerbetreibende daran gehindert wird, seinen Geschäftsraum zu betreiben. Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass die Versiegelungsmaßnahme sowohl einen präventiven als auch einen repressiven Zweck verfolge, da sie auch darauf abziele, die betroffenen Personen von einem Verstoß gegen die Verpflichtung aus Art. 118 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes abzuhalten.

45

Zum dritten Kriterium, nämlich dem Schweregrad der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahmen, ist festzustellen, dass diese Maßnahmen, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, jeweils einen hohen Schweregrad aufzuweisen scheinen.

46

Insoweit ist klarzustellen, dass der Schweregrad nach Maßgabe der in den einschlägigen Bestimmungen vorgesehenen Höchststrafe beurteilt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil des EGMR vom 9. Oktober 2003, Ezeh und Connors/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2003:1009JUD003966598, § 120).

47

Die Versiegelung während eines Zeitraums von bis zu 30 Tagen könnte aber, insbesondere für einen Einzelhändler, der nur über einen einzigen Geschäftsraum verfügt, als schwerwiegend eingestuft werden, insbesondere da sie ihn an der Ausübung seiner Tätigkeit hindert und ihm somit seine Einkünfte entzieht.

48

Was die Vermögenssanktion betrifft, so zeugen der Umstand, dass ihr Betrag für eine erste Zuwiderhandlung nicht weniger als 500 BGN (etwa 250 Euro) betragen darf und bis 2000 BGN (ca. 1000 Euro) betragen kann, sowie das Verhältnis zwischen der beim Verkauf der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zigarettenpackung hinterzogenen Mehrwertsteuer, d. h. einem Betrag von weniger als 1 BGN (etwa 0,50 Euro), und der verhängten Sanktion, die sich nach den Angaben der bulgarischen Regierung auf 500 BGN (etwa 250 Euro) belaufen soll, vom schwerwiegenden Charakter dieser Sanktion.

49

In diesem Zusammenhang wäre, wenn, wie aus den Angaben des vorlegenden Gerichts hervorgeht, die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahmen als Sanktionen mit strafrechtlichem Charakter einzustufen sind, davon auszugehen, dass die Kumulierung dieser Sanktionen zu einer Einschränkung des in Art. 50 der Charta garantierten Grundrechts führt.

– Zu einer etwaigen Rechtfertigung der Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundrechts

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Nach ständiger Rechtsprechung kann eine Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundrechts auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

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Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

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Im vorliegenden Fall ist erstens die Voraussetzung, dass jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein muss, erfüllt, da das Mehrwertsteuergesetz für den Fall einer Zuwiderhandlung gegen seinen Art. 118 Abs. 1 ausdrücklich die kumulative Anwendung einer Vermögenssanktion und einer Versiegelung des betreffenden Geschäftsraums vorsieht.

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Was zweitens die Achtung des Wesensgehalts des in Art. 50 der Charta garantierten Grundrechts betrifft, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass eine solche Kumulierung grundsätzlich abschließend festgelegten Voraussetzungen unterliegen muss, wodurch sichergestellt wird, dass das in Art. 50 der Charta verbürgte Recht als solches nicht in Frage gestellt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 43).

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Hierzu ist festzustellen, dass bei einer automatischen Kumulierung, die keiner abschließend festgelegten Voraussetzung unterliegt, nicht davon ausgegangen werden kann, dass sie den Wesensgehalt dieses Rechts achtet.

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Im vorliegenden Fall geht aus den Angaben des vorlegenden Gerichts und der bulgarischen Regierung hervor, dass die Kumulierung der beiden in Art. 185 bzw. Art. 186 des Mehrwertsteuergesetzes vorgesehenen Maßnahmen offenbar automatisch erfolgt, da die Steuerverwaltung bei ein und derselben Zuwiderhandlung gegen Art. 118 Abs. 1 dieses Gesetzes in jedem Fall verpflichtet ist, beide Maßnahmen anzuwenden. Diese Kumulierung scheint daher nicht abschließend festgelegten Voraussetzungen im Sinne der in Rn. 53 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung zu unterliegen, so dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung nicht den erforderlichen Rahmen zu enthalten scheint, um die Achtung des Wesensgehalts des in Art. 50 der Charta vorgesehenen Rechts zu gewährleisten.

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Drittens ist zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit festzustellen, dass nach diesem Grundsatz die in einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen vorgesehene Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nicht die Grenzen dessen überschreiten darf, was zur Erreichung der mit dieser Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist; stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen, und die durch sie bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (Urteil vom 5. Mai 2022, BV, C‑570/20, EU:C:2022:348, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

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Insoweit hat der Gerichtshof klargestellt, dass eine solche nationale Regelung klare und präzise Regeln aufstellen muss, die es erstens den Bürgern ermöglichen, vorherzusehen, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, zweitens eine Koordinierung der Verfahren gewährleisten, um die mit einer Kumulierung von Verfahren strafrechtlicher Natur, die unabhängig voneinander durchgeführt werden, verbundene zusätzliche Belastung auf das zwingend Erforderliche zu beschränken, und drittens gewährleisten können, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen der Schwere der betreffenden Straftat entspricht (Urteil vom 5. Mai 2022, BV, C‑570/20, EU:C:2022:348, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

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Im vorliegenden Fall steht zwar fest, dass Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherstellen und Steuerhinterziehung verhindern sollen, wobei es sich um dem Gemeinwohl dienende Ziele im Sinne von Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie handelt, dass die betreffenden Bestimmungen des Mehrwertsteuergesetzes zur Erreichung dieser Ziele geeignet und dass sie sowohl hinreichend klar als auch präzise sind. Das vorlegende Gericht wird jedoch zu prüfen haben, ob diese Bestimmungen eine Koordinierung der Verfahren gewährleisten, die es ermöglicht, die mit der Kumulierung der verhängten Maßnahmen verbundene zusätzliche Belastung auf das absolut Notwendige zu reduzieren und sicherzustellen, dass die Schwere aller dieser Maßnahmen zusammen der Schwere der betreffenden Zuwiderhandlung entspricht.

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Bezüglich der Koordinierung der Verfahren ist nämlich festzustellen, dass die Steuerverwaltung zwar nach Art. 6 Abs. 5 der Verwaltungsprozessordnung bzw. Art. 27 Abs. 2 des Gesetzes über verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen und Verwaltungssanktionen verpflichtet ist, bei der Anwendung der in den Art. 185 und 186 des Mehrwertsteuergesetzes genannten Sanktionen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung sie jedoch weder dazu berechtigt, sich der Verpflichtung zur Verhängung beider Sanktionen zu entziehen, da die in Rn. 55 des vorliegenden Urteils dargestellte Kumulierung automatischen Charakter hat, noch dazu, eines dieser Verfahren bis zum Abschluss des anderen Verfahrens auszusetzen. Aus den Angaben des vorlegenden Gerichts geht hervor, dass diese Regelung es der Steuerverwaltung auch nicht erlaubt, eine Gesamtwürdigung der Verhältnismäßigkeit der kumulierten Sanktionen vorzunehmen.

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Außerdem ermöglicht es Art. 187 Abs. 4 des Mehrwertsteuergesetzes dem Zuwiderhandelnden zwar, die Versiegelungsmaßnahme vorzeitig zu beenden, indem er freiwillig den als Vermögenssanktion geforderten Betrag entrichtet, doch ist die Steuerverwaltung nicht verpflichtet, diese Sanktion während der Durchführung der Versiegelung zu verhängen. Vorliegend wurde die Vermögenssanktion im Ausgangsverfahren erst mehrere Monate nach der Durchführung der Versiegelung verhängt, so dass diese in der Zwischenzeit ihre volle Wirkung entfalten konnte.

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Schließlich kann gegen die in Art. 185 bzw. Art. 186 des Mehrwertsteuergesetzes genannten Maßnahmen zwar Klage erhoben werden, jedoch sind die Klagen bei unterschiedlichen Gerichten zu erheben, nämlich hinsichtlich der Vermögenssanktion beim Rayongericht und hinsichtlich der Versiegelung beim Verwaltungsgericht. Das vorlegende Gericht führt im Wesentlichen aus, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung kein Verfahren vorsehe, das die erforderliche Koordinierung zwischen diesen Klagen oder zwischen diesen Gerichten sicherstellen würde, und dass diese Gerichte jeweils eine eigenständige Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der ihnen unterbreiteten Maßnahmen vorzunehmen hätten.

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Zu der Frage, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmungen gewährleisten können, dass die Schwere aller verhängten Maßnahmen zusammen der Schwere der betreffenden Zuwiderhandlung entspricht, ist darauf hinzuweisen, dass im vorliegenden Fall jede der gegen die Klägerin des Ausgangsverfahrens verhängten Maßnahmen ihrem Wesen nach einen hohen Schweregrad aufweist, wie sich aus den Rn. 47 und 48 des vorliegenden Urteils ergibt. Folglich erscheint es möglich, dass die kumulierte Wirkung dieser Maßnahmen über die Schwere der von der Klägerin des Ausgangsverfahrens begangenen Zuwiderhandlung hinausgeht und gegen die in den Rn. 56 und 57 des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit verstößt, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

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Somit ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und Art. 50 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung, nach der gegen einen Steuerpflichtigen wegen ein und derselben Zuwiderhandlung gegen eine steuerliche Verpflichtung nach unterschiedlichen und eigenständigen Verfahren eine Maßnahme einer Vermögenssanktion und eine Maßnahme der Versiegelung eines Geschäftsraums verhängt werden können, wobei gegen diese Maßnahmen vor unterschiedlichen Gerichten Klagen erhoben werden können, entgegenstehen, sofern diese Regelung keine Koordinierung der Verfahren, die es ermöglichen würde, die mit der Kumulierung der verhängten Maßnahmen verbundene zusätzliche Belastung auf das absolut Notwendige zu reduzieren, gewährleistet und es nicht ermöglicht, sicherzustellen, dass die Schwere aller dieser Maßnahmen zusammen der Schwere der betreffenden Zuwiderhandlung entspricht.

Zur zweiten Frage

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In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage braucht über die zweite Frage nicht entschieden zu werden.

Zur dritten Frage

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Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 47 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung zur Umsetzung von Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie entgegensteht, nach der das mit einer Klage gegen die Gestattung der vorläufigen Vollstreckung einer Maßnahme der Versiegelung eines Geschäftsraums befasste Gericht nur befugt ist, zu prüfen, ob für den betreffenden Steuerpflichtigen die Gefahr eines schweren oder schwer wiedergutzumachenden Schadens besteht, ohne den von der Steuerverwaltung festgestellten, den Erlass einer solchen Maßnahme rechtfertigenden Sachverhalt überprüfen zu können.

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Um sicherzustellen, dass ein Vorabentscheidungsersuchen dem inhärenten Bedürfnis nach einer tatsächlichen Entscheidung eines das Unionsrecht betreffenden Rechtsstreits entspricht, muss der Inhalt eines solchen Ersuchens den in Art. 94 der Verfahrensordnung ausdrücklich aufgeführten Anforderungen genügen, von denen das vorlegende Gericht im Rahmen der in Art. 267 AEUV vorgesehenen Zusammenarbeit Kenntnis haben sollte und die es sorgfältig zu beachten hat (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 22. Juni 2021, Mitliv Exim, C‑81/20, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:510, Rn. 29 und 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

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Im vorliegenden Fall äußert die Kommission Zweifel, dass das vorlegende Gericht mit einer Klage gegen die Gestattung der vorläufigen Vollstreckung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Versiegelung befasst sei.

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Insoweit ergibt sich aus Art. 60 Abs. 5 der Verwaltungsprozessordnung, dass die Verfügung, mit dem die vorläufige Vollstreckung einer Versiegelungsmaßnahme gestattet wird, mit einem anderen Rechtsbehelf als dem angefochten werden muss, der gegen diese Maßnahme statthaft ist.

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Das Vorabentscheidungsersuchen enthält jedoch keinen Hinweis darauf, dass das vorlegende Gericht mit einem solchen gesonderten Rechtsbehelf befasst wäre, und führt auch keine Argumente an, die die Parteien des Ausgangsverfahrens in einem solchen Zusammenhang hätten geltend machen können, insbesondere in Bezug auf die angebliche Notwendigkeit einer Abwägung zwischen den Interessen des Staates einerseits und der Gefahr eines schweren oder schwer wiedergutzumachenden Schadens für die Klägerin des Ausgangsverfahrens andererseits. Der Ausgangsrechtsstreit scheint sich somit nur auf die Rechtmäßigkeit der Versiegelung zu beziehen, nicht aber auf die Gestattung ihrer vorläufigen Vollstreckung.

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Folglich genügt die dritte Frage nicht den Anforderungen von Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung, da das vorlegende Gericht in seiner Begründung dazu nicht erläutert, welchen Zusammenhang es zwischen Art. 47 Abs. 1 der Charta und dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits herzustellen versucht.

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Die dritte Frage ist daher unzulässig.

Kosten

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Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem und Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung, nach der gegen einen Steuerpflichtigen wegen ein und derselben Zuwiderhandlung gegen eine steuerliche Verpflichtung nach unterschiedlichen und eigenständigen Verfahren eine Maßnahme einer Vermögenssanktion und eine Maßnahme der Versiegelung eines Geschäftsraums verhängt werden können, wobei gegen diese Maßnahmen vor unterschiedlichen Gerichten Klagen erhoben werden können, entgegenstehen, sofern diese Regelung keine Koordinierung der Verfahren, die es ermöglichen würde, die mit der Kumulierung der verhängten Maßnahmen verbundene zusätzliche Belastung auf das absolut Notwendige zu reduzieren, gewährleistet und es nicht ermöglicht, sicherzustellen, dass die Schwere aller dieser Maßnahmen zusammen der Schwere der betreffenden Zuwiderhandlung entspricht.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Bulgarisch.