URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

9. März 2023 ( *1 )

„Rechtsmittel – Energie – Verordnung (EG) Nr. 714/2009 – Art. 17 – Antrag auf Gewährung einer Ausnahme für eine Elektrizitätsverbindungsleitung – Ablehnende Entscheidung der Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER) – Verordnung (EG) Nr. 713/2009 – Art. 19 – Beschwerdeausschuss von ACER – Intensität der Kontrolle“

In der Rechtssache C‑46/21 P

betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 27. Januar 2021,

Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER), vertreten durch P. Martinet und E. Tremmel als Bevollmächtigte im Beistand von B. Creve, Advokat,

Rechtsmittelführerin,

andere Partei des Verfahrens:

Aquind Ltd mit Sitz in Wallsend (Vereinigtes Königreich), vertreten durch J. Bille, C. Davis, S. Goldberg und E. White, Solicitors,

Klägerin im ersten Rechtszug,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter D. Gratsias, M. Ilešič (Berichterstatter), I. Jarukaitis und Z. Csehi,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. September 2022

folgendes

Urteil

1

Mit ihrem Rechtsmittel begehrt die Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER) die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 18. November 2020, Aquind/ACER (T‑735/18, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2020:542), mit dem das Gericht die Entscheidung A‑001‑2018 des Beschwerdeausschusses von ACER (im Folgenden: Beschwerdeausschuss) vom 17. Oktober 2018 (im Folgenden: streitige Entscheidung) aufgehoben hat, mit der die Entscheidung Nr. 05/2018 von ACER vom 19. Juni 2018 bestätigt wurde, mit der ein Antrag auf Gewährung einer Ausnahme für eine Elektrizitätsverbindungsleitung zwischen dem britischen und dem französischen Elektrizitätsübertragungsnetz abgelehnt wurde (im Folgenden: Entscheidung Nr. 05/2018).

2

Mit ihrem Anschlussrechtsmittel begehrt die Aquind Ltd die Bestätigung des angefochtenen Urteils.

Rechtlicher Rahmen

3

Der 19. Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 713/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 zur Gründung einer Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ABl. 2009, L 211, S. 1), die bis zum 3. Juli 2019 in Kraft war, lautete:

„In Bezug auf die Entscheidungsbefugnisse der [ACER] sollten die Betroffenen im Interesse eines reibungslosen Verfahrensablaufs das Recht erhalten, einen Beschwerdeausschuss anzurufen, der Teil der [ACER] sein sollte, aber von der Verwaltungs- und Regulierungsstruktur der [ACER] unabhängig sein sollte. Im Interesse der Kontinuität sollte der Beschwerdeausschuss bei einer Ernennung von Mitgliedern bzw. der Verlängerung ihres Mandats auch teilweise neu besetzt werden können. Die Entscheidungen des Beschwerdeausschusses sollten vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften anfechtbar sein.“

4

Art. 3 („Zusammensetzung“) der Verordnung Nr. 713/2009 bestimmte:

„Die [ACER] besteht aus

d) einem Beschwerdeausschuss, der die in Artikel 19 vorgesehenen Aufgaben wahrnimmt.“

5

Art. 18 („Beschwerdeausschuss“) Abs. 1 dieser Verordnung sah vor:

„Der Beschwerdeausschuss besteht aus sechs Mitgliedern und sechs stellvertretenden Mitgliedern, die aus dem Kreis der derzeitigen oder früheren leitenden Mitarbeiter der nationalen Regulierungsbehörden, Wettbewerbsbehörden oder anderer nationaler oder gemeinschaftlicher Einrichtungen mit einschlägiger Erfahrung im Energiesektor ausgewählt werden. Der Beschwerdeausschuss ernennt seinen Vorsitzenden. Die Beschlüsse des Beschwerdeausschusses werden mit einer qualifizierten Mehrheit von mindestens vier von sechs Mitgliedern gefasst. Der Beschwerdeausschuss wird bei Bedarf einberufen.“

6

Art. 19 („Beschwerden“) der Verordnung sah vor:

„(1)   Jede natürliche oder juristische Person einschließlich der nationalen Regulierungsbehörden kann gegen gemäß den Artikeln 7, 8 oder 9 an sie gerichtete Entscheidungen sowie gegen Entscheidungen, die an eine andere Person gerichtet sind, sie aber unmittelbar und individuell betreffen, Beschwerde einlegen.

(2)   Die Beschwerde ist zusammen mit der Begründung innerhalb von zwei Monaten nach dem Tag der Bekanntgabe der Entscheidung an die betreffende Person oder, sofern eine solche Bekanntgabe nicht erfolgt ist, innerhalb von zwei Monaten ab dem Tag, an dem [ACER] ihre Entscheidung bekannt gegeben hat, schriftlich bei [ACER] einzulegen. Der Beschwerdeausschuss entscheidet über Beschwerden innerhalb von zwei Monaten nach deren Einreichung.

(4)   Ist die Beschwerde zulässig, so prüft der Beschwerdeausschuss, ob sie begründet ist. Er fordert die am Beschwerdeverfahren Beteiligten so oft wie erforderlich auf, innerhalb bestimmter Fristen eine Stellungnahme zu seinen Bescheiden oder zu den Schriftsätzen der anderen am Beschwerdeverfahren Beteiligten einzureichen. Die am Beschwerdeverfahren Beteiligten haben das Recht, mündliche Erklärungen abzugeben.

(5)   Der Beschwerdeausschuss wird entweder auf der Grundlage dieses Artikels im Rahmen der Zuständigkeit [von ACER] tätig oder verweist die Angelegenheit an die zuständige Stelle [von ACER] zurück. Diese ist an die Entscheidung des Beschwerdeausschusses gebunden.

(6)   Der Beschwerdeausschuss gibt sich eine Geschäftsordnung und veröffentlicht diese.

…“

7

Art. 20 („Klagen vor dem Gericht erster Instanz und vor dem Gerichtshof“) der Verordnung bestimmte:

„(1)   Beim Gericht erster Instanz oder dem Gerichtshof kann gemäß Artikel 230 [EG] Klage gegen eine Entscheidung des Beschwerdeausschusses oder – wenn der Beschwerdeausschuss nicht zuständig ist – [von ACER] erhoben werden.

(2)   Unterlässt es [ACER], eine Entscheidung zu treffen, so kann vor dem Gericht erster Instanz oder vor dem Gerichtshof Untätigkeitsklage nach Artikel 232 [EG] erhoben werden.

(3)   [ACER] ergreift die Maßnahmen, die sich aus dem Urteil des Gerichts erster Instanz oder des Gerichtshofs ergeben.“

8

Die Verordnung Nr. 713/2009 wurde durch die Verordnung (EU) 2019/942 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019 zur Gründung einer Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ABl. 2019, L 158, S. 22) aufgehoben. Nach Art. 28 Abs. 2 der Verordnung 2019/942 entscheidet der Beschwerdeausschuss über Beschwerden innerhalb von vier Monaten nach deren Einreichung.

Vorgeschichte des Rechtsstreits

9

Das Gericht hat die Vorgeschichte des Rechtsstreits in den Rn. 1 bis 13 des angefochtenen Urteils dargelegt, die sich für die Zwecke des vorliegenden Verfahrens wie folgt zusammenfassen lässt.

10

Am 17. Mai 2017 beantragte Aquind, die Projektträgerin für eine Verbindungsleitung für Elektrizität zwischen dem britischen und dem französischen Elektrizitätsübertragungsnetz war, eine Ausnahme für diese Verbindungsleitung gemäß Art. 17 der Verordnung (EG) Nr. 714/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über die Netzzugangsbedingungen für den grenzüberschreitenden Stromhandel und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1228/2003 (ABl. 2009, L 211, S. 15).

11

Dieser Antrag wurde bei den Regulierungsbehörden Frankreichs und des Vereinigten Königreichs, nämlich der Commission de régulation de l’énergie (CRE) und dem Office of Gas and Electricity Markets Authority (OFGEM), eingereicht, die den Antrag, da sie sich in Bezug auf ihn nicht einigen konnten, gemäß Art. 17 Abs. 5 der Verordnung Nr. 714/2009 zur Entscheidung an ACER übermittelten.

12

Mit der Entscheidung Nr. 05/2018 lehnte ACER den Antrag von Aquind mit der Begründung ab, dass eine der für die Gewährung einer solchen Ausnahme erforderlichen Voraussetzungen nicht erfüllt sei, nämlich die des Art. 17 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung, wonach das mit der Investition verbundene Risiko so hoch sein müsse, dass die Investition ohne die Gewährung einer Ausnahme nicht getätigt würde.

13

Am 17. August 2018 legte Aquind Beschwerde gegen diese Entscheidung beim Beschwerdeausschuss ein, der sie mit der streitigen Entscheidung bestätigte.

Klage vor dem Gericht und angefochtenes Urteil

14

Mit Klageschrift, die am 14. Dezember 2018 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob Aquind Klage auf Aufhebung der streitigen Entscheidung und begründete diese Klage u. a. damit, dass der Beschwerdeausschuss zu Unrecht die Auffassung vertreten habe, dass er seine Kontrolle auf offensichtliche Beurteilungsfehler beschränken könne und dass Aquind verpflichtet gewesen sei, zunächst gemäß Art. 12 der Verordnung (EU) Nr. 347/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2013 zu Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur und zur Aufhebung der Entscheidung Nr. 1364/2006/EG und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 713/2009, (EG) Nr. 714/2009 und (EG) Nr. 715/2009 (ABl. 2013, L 115, S. 39) eine Entscheidung zur grenzüberschreitenden Kostenaufteilung zu beantragen und diese zu erhalten, bevor eine Entscheidung nach Art. 17 der Verordnung Nr. 714/2009 erlassen werden könne.

15

Mit dem angefochtenen Urteil hat das Gericht die Entscheidung des Beschwerdeausschusses aufgehoben, nachdem es dem neunten Klagegrund der Klage von Aquind, mit dem geltend gemacht wurde, dass der Beschwerdeausschuss die Entscheidung Nr. 05/2018 unzureichend geprüft habe, und ergänzend dem vierten Klagegrund, mit dem eine fehlerhafte Auslegung des Verhältnisses zwischen Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 714/2009 und Art. 12 der Verordnung Nr. 347/2013 gerügt wurde, stattgegeben hatte. Das Gericht hat folglich die streitige Entscheidung aufgehoben und die Klage im Übrigen abgewiesen.

16

Zur Stützung ihres neunten Klagegrundes warf Aquind dem Beschwerdeausschuss im Wesentlichen vor, seine Kontrolle bei der Prüfung ihrer Beschwerde auf die Prüfung dessen beschränkt zu haben, ob ACER beim Erlass der Entscheidung Nr. 05/2018 bei der Beurteilung ein offensichtlicher Fehler unterlaufen sei. Eine derartige eingeschränkte Kontrolle verstoße nämlich gegen Art. 19 Abs. 5 der Verordnung Nr. 713/2009.

17

Aufgrund einer in vier gesonderte Teile gegliederten Begründung hat das Gericht in den Rn. 50 bis 71 des angefochtenen Urteils entschieden, dass es, wie Aquind mit ihrem neunten Klagegrund geltend machte, rechtsfehlerhaft gewesen sei, dass der Beschwerdeausschuss die Entscheidung von ACER über einen Antrag auf Gewährung einer Ausnahme nach Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 714/2009 mit beschränkter Prüfungsintensität kontrolliert habe.

18

Als Erstes hat das Gericht in Rn. 51 des angefochtenen Urteils im Wesentlichen ausgeführt, dass die Schaffung des Beschwerdeausschusses dem Willen des Gesetzgebers der Europäischen Union entsprochen habe, einen Beschwerdemechanismus auf der Ebene der Agenturen der Union vorzusehen, wenn diesen Agenturen eine bedeutende Entscheidungsbefugnis über komplexe technische oder wissenschaftliche Fragen übertragen worden sei, die die rechtliche Lage der betroffenen Parteien unmittelbar berühre. Das System der Rechtsbehelfsinstanz stelle ein geeignetes Mittel dar, um das Recht der betroffenen Parteien in einem Zusammenhang zu schützen, in dem sich die Kontrolle durch die Unionsgerichte auf die Prüfung beschränken müsse, ob die Ausübung des weiten Ermessens der Agenturen bei der Beurteilung komplexer wissenschaftlicher, technischer und wirtschaftlicher tatsächlicher Umstände nicht offensichtlich fehlerhaft sei oder einen Ermessensmissbrauch darstelle.

19

Als Zweites hat das Gericht in den Rn. 52 bis 58 des angefochtenen Urteils die Vorschriften über die Organisation und die Befugnisse des Beschwerdeausschusses geprüft, um am Ende dieser Prüfung festzustellen, dass diese Beschwerdeinstanz nicht geschaffen worden sei, um sich auf eine eingeschränkte Kontrolle komplexer technischer und wirtschaftlicher Beurteilungen zu beschränken.

20

Erstens hat das Gericht in Rn. 53 des angefochtenen Urteils in Bezug auf die Zusammensetzung des Beschwerdeausschusses darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeausschuss nach Art. 18 Abs. 1 der Verordnung Nr. 713/2009 aus sechs Mitgliedern und sechs stellvertretenden Mitgliedern bestehe, die aus dem Kreis der derzeitigen oder früheren leitenden Mitarbeiter der nationalen Regulierungsbehörden, Wettbewerbsbehörden oder anderer nationaler oder Unionseinrichtungen „mit einschlägiger Erfahrung im Energiesektor“ ausgewählt würden. Der Unionsgesetzgeber habe somit den Beschwerdeausschuss mit der notwendigen Erfahrung ausstatten wollen, um es ihm zu ermöglichen, selbst Beurteilungen komplexer technischer und wirtschaftlicher tatsächlicher Umstände vorzunehmen, die im Zusammenhang mit Energie stünden. Das Gericht hat darauf hingewiesen, dass dieses Ziel ebenfalls bei der Schaffung anderer Agenturen der Union, wie etwa der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA) oder auch der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA), verfolgt worden sei, deren Beschwerde- bzw. Widerspruchskammern aus Sachverständigen mit Qualifikationen bestünden, die die Besonderheiten der betreffenden Gebiete widerspiegelten.

21

Zweitens hat das Gericht in Rn. 54 des angefochtenen Urteils in Bezug auf die dem Beschwerdeausschuss übertragenen Befugnisse entschieden, dass diese in Art. 19 Abs. 5 der Verordnung Nr. 713/2009 beschriebenen Befugnisse auch im Sinne einer Kontrolle komplexer tatsächlicher und wirtschaftlicher Gesichtspunkte zu verstehen seien, da der Beschwerdeausschuss nach dieser Vorschrift entweder die gleichen Befugnisse wie ACER ausüben oder die Angelegenheit an die zuständige Stelle dieser Agentur zurückverweisen könne, die dann an die Entscheidung des Beschwerdeausschusses gebunden sei. Diese Vorschrift verleihe dem Beschwerdeausschuss daher ein Ermessen, bei dessen Ausübung er prüfen müsse, ob es ihm die nach der Prüfung der Beschwerde vorliegenden Informationen gestatteten, seine eigene Entscheidung zu erlassen.

22

In Rn. 55 des angefochtenen Urteils hat das Gericht daraus geschlossen, dass der Beschwerdeausschuss nicht nur über alle ACER selbst übertragenen Befugnisse verfüge, sondern dass er, wenn er beschließe, die Sache zurückzuverweisen, in der Lage sei, die von dieser Agentur getroffenen Entscheidungen zu lenken, da Letztere an die Begründung des Beschwerdeausschusses gebunden sei.

23

Zudem ergebe sich aus Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 713/2009, dass der Beschwerdeausschuss anders als das Unionsgericht im Rahmen einer Zweckmäßigkeitskontrolle befugt sei, Entscheidungen von ACER allein aufgrund technischer und wirtschaftlicher Erwägungen aufzuheben oder zu ersetzen.

24

Drittens hat das Gericht in den Rn. 57 und 58 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass, was Anträge auf Gewährung einer Ausnahme nach Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 714/2009 betreffe, nur die gemäß Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 713/2009 und gemäß Art. 17 Abs. 5 der Verordnung Nr. 714/2009 erlassenen Entscheidungen des Beschwerdeausschusses Gegenstand einer Klage vor dem Gericht sein könnten. Wenn der Beschwerdeausschuss die in der Entscheidung von ACER enthaltenen komplexen technischen und wirtschaftlichen Beurteilungen nur eingeschränkt kontrollieren könnte, würde dies bedeuten, dass das Gericht eine eingeschränkte Kontrolle hinsichtlich einer Entscheidung durchführen würde, die selbst das Resultat einer eingeschränkten Kontrolle wäre.

25

Ein solches System biete indessen nicht die Garantien eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, der den Unternehmen zustehen müsse, denen die Gewährung einer solchen Ausnahme verweigert worden sei.

26

Als Drittes hat das Gericht in den Rn. 59 und 60 des angefochtenen Urteils entschieden, dass die von ACER nach Art. 19 Abs. 6 der Verordnung Nr. 713/2009 erlassenen Organisations- und Verfahrensvorschriften dem Beschwerdeausschuss die Aufgabe übertrügen, es bei der Kontrolle der Entscheidung von ACER nicht bei einer in ihrer Intensität eingeschränkten Kontrolle zu belassen.

27

So hat das Gericht in Rn. 60 des angefochtenen Urteils betont, dass der Beschluss Nr. 1‑2011 des Beschwerdeausschusses vom 1. Dezember 2011 zur Festlegung der Vorschriften über die Organisation und das Verfahren des Beschwerdeausschusses am 5. Oktober 2019 Gegenstand einer Änderung gewesen sei, mit der der Beschwerdeausschuss seine Befugnisse eingeschränkt habe. In der zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Entscheidung geltenden Fassung sei aus Art. 20 („Zuständigkeit“) dieses Beschlusses aber ausdrücklich hervorgegangen, dass der Beschwerdeausschuss alle in die Zuständigkeit von ACER fallenden Befugnisse ausüben könnte. Mit dem Erlass dieser Vorschrift habe der Beschwerdeausschuss somit die ihm durch Art. 19 Abs. 5 der Verordnung Nr. 713/2009 verliehene Kontrollbefugnis in seine eigenen internen Organisations- und Verfahrensvorschriften übernommen, und die Änderung dieser Vorschrift, mit der der Beschwerdeausschuss seine Befugnis eingeschränkt habe, sei zu dem Zeitpunkt, als die streitige Entscheidung erlassen worden sei, noch nicht anwendbar gewesen.

28

Als Viertes hat das Gericht in den Rn. 61 bis 68 des angefochtenen Urteils im Wesentlichen die Auffassung vertreten, dass der Grundsatz der eingeschränkten Kontrolle durch die Unionsgerichte im Hinblick auf komplexe technische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Beurteilungen nicht auf die Kontrolle anwendbar sei, die von den Rechtsbehelfsinstanzen der Agenturen der Union wahrgenommen werde. So sei in Bezug auf die Widerspruchskammer der ECHA bereits entschieden worden, dass die Kontrolle dieser Widerspruchskammer bei wissenschaftlichen Beurteilungen, die in einer Entscheidung der ECHA enthalten seien, nicht auf offensichtliche Fehler beschränkt sei, sondern dass diese Kammer vielmehr auf der Grundlage des juristischen und wissenschaftlichen Sachverstands ihrer Mitglieder zu prüfen habe, ob der Widerspruchsführer es vermocht habe, darzutun, dass die Erwägungen, auf die die Entscheidung der ECHA gestützt worden sei, fehlerhaft gewesen seien.

29

Das Gericht hat in den Rn. 62 bis 68 des angefochtenen Urteils entschieden, dass diese Rechtsprechung in vollem Umfang auf den Beschwerdeausschuss übertragbar sei. Die Zusammensetzung und die Befugnisse der Widerspruchskammer der ECHA seien nämlich mit jenen des Beschwerdeausschusses vergleichbar.

30

In Ansehung all dieser Gründe hat das Gericht in den Rn. 69 bis 71 des angefochtenen Urteils entschieden, dass die vom Beschwerdeausschuss vorgenommene Kontrolle von komplexen technischen und wirtschaftlichen Beurteilungen, die in einer Entscheidung von ACER über einen Antrag auf Gewährung einer Ausnahme nach Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 714/2009 enthalten seien, nicht auf die eingeschränkte Kontrolle eines offensichtlichen Beurteilungsfehlers beschränkt werden dürfe. Dem Beschwerdeausschuss sei daher ein Rechtsfehler unterlaufen, als er in Rn. 52 der streitigen Entscheidung die Auffassung vertreten habe, dass er bei Beurteilungen technischer oder komplexer Art eine eingeschränkte Kontrolle ausüben und sich somit darauf beschränken könne, festzustellen, ob ACER einen offensichtlichen Fehler bei der Beurteilung der in Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 714/2009 genannten Voraussetzungen begangen habe.

31

Nachdem das Gericht in den Rn. 72 bis 89 des angefochtenen Urteils die verschiedenen Argumente von ACER zur Stützung ihrer gegenteiligen Auffassung geprüft und zurückgewiesen hatte, hat es in Rn. 90 des angefochtenen Urteils dem neunten Klagegrund der Aufhebungsklage von Aquind stattgegeben.

32

Schließlich hat das Gericht in den Rn. 92 bis 113 des angefochtenen Urteils den vierten Klagegrund geprüft und für begründet erklärt, mit dem ein Fehler bei der Auslegung des Verhältnisses zwischen Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 714/2009 und Art. 12 der Verordnung Nr. 347/2013 sowie dementsprechend der Möglichkeit, dass das Verbindungsleitungsvorhaben für ein Verfahren der grenzüberschreitenden Kostenaufteilung in Betracht komme, gerügt wurde und mit dem ferner beanstandet wurde, dass die mit einem solchen Verfahren zusammenhängenden Risiken nicht berücksichtigt worden seien.

33

In Rn. 91 des angefochtenen Urteils hat das Gericht jedoch klargestellt, dass diese Prüfung allein aus Gründen, die mit einer geordneten Rechtspflege zusammenhingen, erfolgt sei.

Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Parteien des Rechtsmittelverfahrens

34

Mit ihrem Rechtsmittel beantragt ACER,

das angefochtene Urteil ganz oder teilweise aufzuheben;

falls der Gerichtshof die Sache für entscheidungsreif hält, die Klage im ersten Rechtszug als unbegründet abzuweisen;

hilfsweise, die Sache zur Entscheidung nach Maßgabe des Urteils des Gerichtshofs an das Gericht zurückzuverweisen;

Aquind die Kosten sowohl des Rechtsmittelverfahrens als auch des Verfahrens vor dem Gericht aufzuerlegen.

35

Aquind beantragt,

das Rechtsmittel zurückzuweisen;

falls der Gerichtshof eines der Argumente von ACER für begründet erachtet, das Rechtsmittel aus den anderen von Aquind geltend gemachten Gründen, einschließlich gegebenenfalls der vom Gericht zurückgewiesenen Gründe, zurückzuweisen;

falls der Gerichtshof das angefochtene Urteil nicht bestätigt, die streitige Entscheidung selbst aufgrund der anderen von Aquind vor dem Gericht geltend gemachten Gründe aufzuheben;

ACER die Kosten aufzuerlegen.

36

Mit ihrem Anschlussrechtsmittel beantragt Aquind für den Fall, dass der Gerichtshof dem Rechtsmittel stattgeben sollte,

die Feststellung der Unzulässigkeit des dritten und vierten Klagegrundes von Aquind durch das Gericht aufzuheben;

die Zurückweisung des ersten, fünften und sechsten bis achten Klagegrundes von Aquind durch das Gericht aufzuheben;

das Vorbringen zu berücksichtigen, das Aquind im vorliegenden Rechtsmittelverfahren zur Begründung ihres Antrags auf Bestätigung des angefochtenen Urteils geltend macht;

folglich die streitige Entscheidung aufgrund der in der Klage von Aquind vor dem Gericht geltend gemachten Gründe aufzuheben.

37

In ihrer Rechtsmittelbeantwortung beantragt ACER,

das Anschlussrechtsmittel in vollem Umfang zurückzuweisen;

Aquind ihre eigenen sowie die ACER im Rahmen des Anschlussrechtsmittels entstandenen Kosten aufzuerlegen.

Zum Rechtsmittel

38

Die Rechtsmittelführerin stützt ihr Rechtsmittel auf zwei Gründe. Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund macht sie geltend, dem Gericht sei ein Rechtsfehler in Bezug auf die Intensität der Kontrolle unterlaufen, die der Beschwerdeausschuss im Hinblick auf die komplexen technischen und wirtschaftlichen Beurteilungen ausüben müsse, die ACER im Rahmen ihrer Prüfung eines Antrags auf Gewährung einer Ausnahme nach Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 714/2009 vorgenommen habe.

39

Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund macht ACER geltend, dem Gericht sei bei der Auslegung von Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 714/2009 hinsichtlich des Verhältnisses zwischen der Ausnahmeregelung und dem regulierten System ein Rechtsfehler unterlaufen.

Zum ersten Rechtsmittelgrund

Vorbringen der Parteien

40

Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund macht ACER geltend, dem Gericht sei ein Rechtsfehler unterlaufen, indem es entschieden habe, dass sich – entgegen der vom Beschwerdeausschuss in den Rn. 51 und 52 der streitigen Entscheidung vertretenen Auffassung – die von diesem Ausschuss ausgeübte Kontrolle der komplexen technischen und wirtschaftlichen Beurteilungen hinsichtlich eines Antrags auf Gewährung einer Ausnahme nach Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 714/2009 nicht auf die Prüfung beschränken dürfe, ob ACER ein offensichtlicher Beurteilungsfehler unterlaufen sei. Dieser Agentur sei nämlich bei der Entscheidung über die Gewährung einer Ausnahme ein gewisser Ermessensspielraum einzuräumen. Mithin habe das Gericht das Ziel verkannt, das der Unionsgesetzgeber mit der Einrichtung des Beschwerdeausschusses verfolgt habe, und verkannt, in welchem Zusammenhang die vom Ausschuss ausgeübte Kontrolle erfolge.

41

Hilfsweise macht ACER geltend, dass es der Beschwerdeausschuss im vorliegenden Fall jedenfalls nicht versäumt habe, komplexe technische und wirtschaftliche Beurteilungen zu überprüfen, die die Agentur im Rahmen ihrer Prüfung, die zum Erlass der Entscheidung Nr. 05/2018 geführt habe, vorgenommen habe.

42

Nicht alle unabhängigen Beschwerdeinstanzen der verschiedenen Agenturen der Union müssten komplexe technische und wirtschaftliche Beurteilungen einer ebenso intensiven Kontrolle unterziehen wie die Agentur, der sie angehörten. Somit stehe es dem Beschwerdeausschuss frei, die Angelegenheit nicht mit der gleichen Detailtiefe zu prüfen, wie es ACER tue.

43

Insbesondere bei Beurteilungen komplexer wirtschaftlicher und technischer Fragen übe der Beschwerdeausschuss eine Kontrolle aus, die sich, auch wenn sie beträchtlich sei, auf offensichtliche Fehler beschränke, die ACER unterlaufen seien. In diesem Rahmen prüfe der Beschwerdeausschuss nicht nur die sachliche Richtigkeit, die Zuverlässigkeit und die Kohärenz der angeführten Beweise, sondern auch, ob diese Beweise alle relevanten Daten darstellten, die bei der Beurteilung einer komplexen Situation heranzuziehen seien, und ob sie die von ACER aus ihnen gezogenen Schlüsse zu stützen vermöchten.

44

Da die Verordnung Nr. 713/2009 keine ausdrückliche Beschreibung dessen enthalte, welches Niveau an Intensität bei der Kontrolle, die der Beschwerdeausschuss auszuüben habe, geboten sei, seien zur Bestimmung des Intensitätsniveaus das mit dem Beschwerdeverfahren verfolgte Ziel und der Zusammenhang, in dem die Kontrolle stattfinde, zu berücksichtigen.

45

Was das mit der Schaffung des Beschwerdeausschusses verfolgte Ziel angehe, so habe das Gericht in Rn. 53 des angefochtenen Urteils zu Unrecht festgestellt, dass sich aus Art. 18 Abs. 1 der Verordnung Nr. 713/2009 ergebe, dass der Unionsgesetzgeber den Beschwerdeausschuss mit derjenigen Erfahrung habe ausstatten wollen, die notwendig sei, damit er ebenso wie die Widerspruchskammer der ECHA in ihrem Zuständigkeitsbereich Beurteilungen komplexer technischer und wirtschaftlicher tatsächlicher Umstände, die im Zusammenhang mit Energie stünden, selbst vornehmen könne. Aus dem 19. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 713/2009 ergebe sich vielmehr, dass dieses Ziel darin bestehe, dass die Betroffenen ihr Beschwerderecht sehr schnell und reibungslos vor dem Beschwerdeausschuss wahrnehmen könnten. Diese Zielsetzung werde dadurch untermauert, dass der Beschwerdeausschuss verpflichtet sei, innerhalb von zwei Monaten nach seiner Anrufung eine Entscheidung zu treffen.

46

Zum Zusammenhang, in dem die Kontrolle stattfindet, macht ACER geltend, dem Gericht sei in den Rn. 52 bis 82 des angefochtenen Urteils ein Rechtsfehler unterlaufen, als es entschieden habe, dass die Vorschriften über die Organisation und die Befugnisse des Beschwerdeausschusses die Schlussfolgerung stützten, dass sich die Intensität seiner Kontrolle der komplexen technischen und wirtschaftlichen Beurteilungen nicht auf einen offensichtlichen Beurteilungsfehler beschränken dürfe. Die Organisation des Beschwerdeausschusses, insbesondere die Auswahl seiner Mitglieder, die entgegen den Ausführungen des Gerichts in den Rn. 53, 65 und 69 des angefochtenen Urteils im Gegensatz zu den Mitgliedern der Widerspruchskammer der ECHA nicht unbedingt über die Erfahrung verfügen müssten, die notwendig sei, um komplexe technische Beurteilungen selbst vorzunehmen, die äußerst kurze Dauer des Beschwerdeverfahrens von zwei Monaten, die begrenzten Mittel, über die diese Mitglieder verfügten, und das Ziel des reibungslosen Ablaufs des Beschwerdeverfahrens seien allesamt Elemente, die zum gegenteiligen Schluss führen müssten. Von den Mitgliedern des Beschwerdeausschusses könne nicht erwartet werden, dass sie innerhalb der ihnen zur Verfügung stehenden äußerst kurzen Frist von zwei Monaten allein und ohne jegliche Unterstützung technische und wirtschaftliche Beurteilungen vornähmen.

47

Zu den Befugnissen des Beschwerdeausschusses führt ACER aus, dass sich das Gericht in den Rn. 54, 55, 59 und 60 des angefochtenen Urteils zu Unrecht auf Art. 19 Abs. 5 der Verordnung Nr. 713/2009 gestützt habe, wonach der Beschwerdeausschuss „entweder … im Rahmen der Zuständigkeit [von ACER] tätig [wird] oder … die Angelegenheit an die zuständige Stelle [von ACER] zurück[verweist, wobei die Agentur] … an die Entscheidung des Beschwerdeausschusses gebunden [ist]“, um zu entscheiden, dass der Beschwerdeausschuss alle Fehler der komplexen technischen und wirtschaftlichen Beurteilungen in der Entscheidung von ACER vollständig überprüfen müsse. Wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichts ergebe, könne eine solche Vorschrift nämlich nicht dahin ausgelegt werden, dass sie die Intensität der vom Beschwerdeausschuss auszuübenden Kontrolle festlege.

48

Dem Gericht sei ebenfalls in Rn. 56 des angefochtenen Urteils ein Rechtsfehler unterlaufen, als es die Auffassung vertreten habe, dass sich aus Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 713/2009 ergebe, dass der Beschwerdeausschuss anders als das Unionsgericht im Rahmen einer Zweckmäßigkeitskontrolle befugt sei, Entscheidungen von ACER allein aufgrund technischer und wirtschaftlicher Erwägungen aufzuheben oder zu ersetzen. Diese Vorschrift rechtfertige keineswegs die Ausübung einer vollständigen Kontrolle durch den Beschwerdeausschuss, sondern sehe nur die Möglichkeit vor, die Entscheidungen von ACER aufzuheben und durch eine Entscheidung des Beschwerdeausschusses zu ersetzen oder die Angelegenheit an ACER zurückzuverweisen; indessen treffe sie keine Aussage über die Intensität der vom Beschwerdeausschuss auszuübenden Kontrolle.

49

Zudem sei dem Gericht in Rn. 56 des angefochtenen Urteils insofern ein weiterer Rechtsfehler unterlaufen, als es auf Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 713/2009 verwiesen habe, der die Personen bestimme, die eine Beschwerde beim Beschwerdeausschuss einlegen könnten, während auch dieser Artikel nicht die Intensität der Kontrolle betreffe. Entgegen den Ausführungen des Gerichts in den Rn. 57, 58 und 70 des angefochtenen Urteils könne ebenso wenig aus Art. 20 der Verordnung Nr. 713/2009 abgeleitet werden, dass der Beschwerdeausschuss eine vollständige Kontrolle der komplexen technischen und wirtschaftlichen Beurteilungen vornehmen müsse. Das Gericht könne nämlich die Entscheidungen des Beschwerdeausschusses stets in vollem Umfang kontrollieren, selbst wenn diese Entscheidungen auf einer eingeschränkten Kontrolle durch den Beschwerdeausschuss beruhten.

50

Im Ergebnis habe das Gericht das verfolgte Ziel und den Zusammenhang des Beschwerdeverfahrens vor dem Beschwerdeausschuss, wie sie in der Verordnung Nr. 713/2009 geregelt worden seien, rechtswidrig außer Acht gelassen und damit gegen die Grundsätze der Gewaltenteilung in Bezug auf Entscheidungen verstoßen, die der Unionsgesetzgeber in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber und Haushaltsbehörde getroffen habe. Darüber hinaus sei auch der vom Gericht angestellte Vergleich mit der Widerspruchskammer der ECHA rechtsfehlerhaft.

51

Hilfsweise macht ACER geltend, dass das Gericht, selbst wenn der Beschwerdeausschuss eine vollständige Kontrolle der Entscheidungen dieser Agentur auch insoweit ausüben müsse, als diese komplexe technische und wirtschaftliche Beurteilungen enthielten, jedenfalls in den Rn. 83 bis 90 des angefochtenen Urteils zu Unrecht festgestellt habe, dass der Beschwerdeausschuss im vorliegenden Fall keine solche vollständige Kontrolle vorgenommen habe.

52

Aquind ist der Ansicht, dass der erste Rechtsmittelgrund zurückzuweisen sei und das Gericht zu Recht entschieden habe, dass der Beschwerdeausschuss verpflichtet gewesen sei, eine vollständige, nicht auf offensichtliche Beurteilungsfehler beschränkte Kontrolle der Entscheidung Nr. 05/2018 vorzunehmen.

Würdigung durch den Gerichtshof

53

Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund macht ACER im Wesentlichen geltend, dem Gericht sei ein Rechtsfehler hinsichtlich der Intensität der Kontrolle unterlaufen, die der Beschwerdeausschuss gemäß den Vorschriften der Verordnung Nr. 713/2009 zur Festlegung der Befugnisse des Beschwerdeausschusses über die Entscheidungen von ACER auszuüben habe.

54

Nach ständiger Rechtsprechung ist bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut zu berücksichtigen, sondern sind auch ihr Kontext und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, zu berücksichtigen (Urteil vom 8. September 2022, Ministerstvo životního prostředí [Papageienart Hyazinth-Ara], C‑659/20, EU:C:2022:642, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55

Erstens geht aus dem Wortlaut der die Zusammensetzung, die Organisation und die Befugnisse des Beschwerdeausschusses betreffenden Art. 18 und 19 der Verordnung Nr. 713/2009 nicht ausdrücklich hervor, dass sich dessen Kontrolle der Entscheidungen von ACER, die Beurteilungen komplexer wirtschaftlicher und technischer Fragen beinhalten, zwangsläufig auf offensichtliche Beurteilungsfehler beschränkt.

56

Zweitens ist zu den mit der Schaffung des Beschwerdeausschusses verfolgten Zielen in Übereinstimmung mit den Ausführungen des Generalanwalts in Nr. 44 seiner Schlussanträge festzustellen, dass diese Schaffung Teil eines umfassenden Ansatzes des Unionsgesetzgebers ist, der darauf abzielt, die Agenturen der Union mit Beschwerdeinstanzen auszustatten, wenn ihnen eine Entscheidungsbefugnis über komplexe technische oder wissenschaftliche Fragen übertragen wurde, die die rechtliche Lage der betroffenen Parteien unmittelbar berühren kann.

57

Wie das Gericht in Rn. 51 des angefochtenen Urteils ebenfalls zutreffend ausgeführt hat, stellen diese Beschwerdeinstanzen somit ein geeignetes Mittel dar, um die Rechte der betroffenen Parteien in einem Zusammenhang zu schützen, in dem sich die Kontrolle durch den Unionsrichter nach ständiger Rechtsprechung deshalb, weil die Unionsbehörden über ein weites Ermessen insbesondere in Bezug auf die hochkomplexen wissenschaftlichen und technischen tatsächlichen Umstände bei der Festlegung von Art und Umfang der Maßnahmen verfügen, die sie erlassen, auf die Prüfung beschränken muss, ob die Ausübung dieses Ermessens nicht offensichtlich fehlerhaft ist oder einen Ermessensmissbrauch darstellt oder ob diese Behörden die Grenzen ihres Ermessens offensichtlich überschritten haben (Beschluss vom 4. September 2014, Rütgers Germany u. a./ECHA, C‑290/13 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2174, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

58

Drittens gibt es bei diesen verschiedenen Beschwerdeinstanzen, wie der Generalanwalt in Nr. 41 seiner Schlussanträge im Kern ausgeführt hat, zwar einige Unterschiede in Bezug auf ihre Struktur, ihre Funktionsweise und ihre Befugnisse, sie weisen jedoch einige gemeinsame Merkmale auf.

59

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es sich um für die Kontrolle auf dem Verwaltungsweg zuständige, agenturinterne Instanzen handelt. Sie verfügen über eine gewisse Unabhängigkeit, üben in kontradiktorischen Verfahren quasigerichtliche Funktionen aus und setzen sich sowohl aus Juristen als auch aus technischen Sachverständigen zusammen, was sie in größerem Maße dazu befähigt, über Beschwerden gegen Entscheidungen zu befinden, die oft eine stark technische Komponente aufweisen. Sodann können bei diesen Beschwerdeinstanzen die Adressaten der Entscheidungen der Agenturen, zu denen diese Instanzen gehören, sowie natürliche und juristische Personen, die von diesen Entscheidungen unmittelbar und individuell betroffen sind, Beschwerde einlegen. Darüber hinaus kontrollieren diese Instanzen Entscheidungen, die sich auf Dritte auswirken und für die sie nach den Vorschriften des abgeleiteten Rechts, mit denen sie geschaffen werden, zuständig sind. Schließlich stellen sie einen schnellen, zugänglichen, spezialisierten und kostengünstigen Mechanismus zum Schutz der Rechte der Adressaten und der von den genannten Entscheidungen betroffenen Personen dar.

60

Viertens ist festzustellen, dass das Verfahren vor dem Beschwerdeausschuss keiner anderen Regelung unterliegt als Art. 19 der Verordnung Nr. 713/2009, dessen Abs. 1 vorsieht, dass jede natürliche oder juristische Person einschließlich der nationalen Regulierungsbehörden gegen gemäß den Art. 7 bis 9 der Verordnung an sie gerichtete Entscheidungen sowie gegen Entscheidungen, die sie unmittelbar oder individuell betreffen, Beschwerde einlegen kann. Wie das Gericht in Rn. 56 des angefochtenen Urteils zu Recht festgestellt hat, ergibt sich aus Art. 19 dieser Verordnung nicht, dass die beim Ausschuss eingelegte Beschwerde anderen Zulässigkeitsvoraussetzungen unterliegt.

61

Diese Erwägung wird durch den Wortlaut von Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 713/2009 untermauert, wonach die Beschwerde eine Begründung enthalten muss, ohne dass bei dieser Begründung zur Stützung der Beschwerde zwischen rechtlichen und tatsächlichen Gründen unterschieden wird.

62

Fünftens ist darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeausschuss nach Art. 18 Abs. 1 der Verordnung Nr. 713/2009 aus sechs Mitgliedern und sechs stellvertretenden Mitgliedern besteht, die aus dem Kreis der derzeitigen oder früheren leitenden Mitarbeiter der nationalen Regulierungsbehörden, Wettbewerbsbehörden oder anderer nationaler oder Unionseinrichtungen mit einschlägiger Erfahrung im Energiesektor ausgewählt werden.

63

Die Zusammensetzung des Beschwerdeausschusses erfüllt somit die Voraussetzungen, die für eine vollständige Kontrolle der Entscheidungen von ACER erforderlich sind. Wenn von den Mitgliedern des Ausschusses eine Vorerfahrung im Energiesektor verlangt wird, so geschieht dies deswegen, weil sie über die notwendigen technischen Kenntnisse verfügen oder verfügen müssen, um Beschwerden einer gründlichen Prüfung zu unterziehen.

64

Wie das Gericht in Rn. 53 des angefochtenen Urteils zu Recht ausgeführt hat, wollte der Unionsgesetzgeber folglich den Beschwerdeausschuss mit der notwendigen Erfahrung ausstatten, um es ihm zu ermöglichen, selbst Beurteilungen komplexer technischer und wirtschaftlicher tatsächlicher Umstände vorzunehmen, die im Zusammenhang mit Energie stehen. Dieses Ziel ist vom Unionsgesetzgeber ebenfalls bei der Schaffung anderer Agenturen der Union wie etwa der EASA oder der ECHA verfolgt worden, deren Beschwerde- bzw. Widerspruchskammern aus Sachverständigen mit Qualifikationen bestehen, die die Besonderheiten der betreffenden Gebiete widerspiegeln.

65

Somit hat das Gericht in Rn. 52 des angefochtenen Urteils zu Recht festgestellt, dass sich aus den Vorschriften über die Organisation und die Befugnisse des Beschwerdeausschusses ergebe, dass dieser nicht geschaffen worden sei, um sich auf eine eingeschränkte Kontrolle komplexer technischer und wirtschaftlicher Beurteilungen zu beschränken.

66

Sechstens hat das Gericht in Rn. 61 des angefochtenen Urteils ebenfalls zu Recht darauf hingewiesen, dass die Rechtsprechung zur eingeschränkten Kontrolle der komplexen technischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Beurteilungen durch die Unionsgerichte nicht auf die Beschwerdeinstanzen der Agenturen der Union übertragbar sei.

67

Wenn die vom Beschwerdeausschuss durchgeführte Kontrolle in Bezug auf die komplexen technischen und wirtschaftlichen Beurteilungen in den Entscheidungen von ACER nur eingeschränkt erfolgen dürfte, würde dies nämlich bedeuten, wie das Gericht in Rn. 58 des angefochtenen Urteils ausgeführt hat, dass die Unionsgerichte eine eingeschränkte Kontrolle hinsichtlich einer Entscheidung durchführen würden, die selbst das Resultat einer eingeschränkten Kontrolle wäre. Das Gericht hat daraus daher zu Recht den Schluss gezogen, dass ein solches System nicht die Garantien eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes biete, der den Unternehmen zustehen müsse, deren Antrag auf Gewährung einer Ausnahme nach Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 714/2009 abgelehnt worden sei.

68

Siebtens macht ACER, um die Erwägungen in den Rn. 61 bis 68 des angefochtenen Urteils zu beanstanden, zur Stützung ihres ersten Rechtsmittelgrundes vergeblich geltend, dass zwischen dem Beschwerdeausschuss und der Widerspruchskammer der ECHA Unterschiede bei den Zielen, dem Verfahren, den Fristen und der Regelung der personellen Besetzung bestünden.

69

Hierzu hat das Gericht in Rn. 61 des angefochtenen Urteils ausgeführt, dass in Bezug auf die Widerspruchskammer der ECHA bereits entschieden worden sei, dass die Kontrolle dieser Widerspruchskammer bei wissenschaftlichen Beurteilungen, die in einer Entscheidung der ECHA enthalten seien, nicht auf offensichtliche Fehler beschränkt sei, sondern dass die Widerspruchskammer vielmehr auf der Grundlage des juristischen und wissenschaftlichen Sachverstands ihrer Mitglieder zu prüfen habe, ob der Widerspruchsführer es vermocht habe, darzutun, dass die Erwägungen, auf die die Entscheidung der ECHA gestützt worden sei, fehlerhaft gewesen seien; der Beschwerdeausschuss kontrolliere somit intensiver als die Unionsgerichte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. September 2019, BASF Grenzach/ECHA, T‑125/17, EU:T:2019:638, Rn. 87 bis 89 und 124).

70

Wie das Gericht im Wesentlichen in den Rn. 64 bis 67 des angefochtenen Urteils zu Recht entschieden hat, sind zum einen die Zusammensetzung und die Befugnisse der Widerspruchskammer der ECHA entgegen dem Vorbringen von ACER mit jenen des Beschwerdeausschusses vergleichbar, da sich beide Instanzen aus Mitgliedern zusammensetzen, die über das nötige Fachwissen verfügen, um selbst Beurteilungen komplexer wissenschaftlicher, technischer und wirtschaftlicher tatsächlicher Umstände vornehmen zu können. Dass die Mitglieder der Widerspruchskammer der ECHA im Unterschied zu denen des Beschwerdeausschusses vollzeitbeschäftigt sind, kann zum anderen nicht von Belang für die Intensität der von ihnen auszuübenden Kontrolle sein.

71

Was das Vorbringen von ACER in Bezug auf die dem Beschwerdeausschuss in Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 713/2009 zur Entscheidung gesetzte kurze Frist von zwei Monaten betrifft, so lässt sich daraus nicht ableiten, dass der Unionsgesetzgeber die Kontrolle des Beschwerdeausschusses habe beschränken wollen, wobei diese verkürzte Frist, die im Übrigen durch Art. 28 Abs. 2 der Verordnung 2019/942 auf vier Monate verlängert wurde, eher von dem Bestreben des Unionsgesetzgebers zeugt, ein schnelles Verfahren zu gewährleisten.

72

Nach alledem hat das Gericht zu Recht festgestellt, dass dem Beschwerdeausschuss ein Rechtsfehler unterlaufen sei, als er entschieden habe, dass er bei Beurteilungen technischer oder komplexer Art eine eingeschränkte Kontrolle ausüben und sich auf die Feststellung beschränken könne, ob ACER einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen habe.

73

Hilfsweise macht ACER geltend, selbst wenn davon ausgegangen würde, dass der Beschwerdeausschuss bei Entscheidungen von ACER, die komplexe technische und wirtschaftliche Beurteilungen enthielten, eine vollständige Kontrolle vornehmen müsse, sei die Feststellung des Gerichts, dass der Beschwerdeausschuss im vorliegenden Fall keine solche Kontrolle vorgenommen habe, mit einem Rechtsfehler behaftet.

74

Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden, da aus Rn. 52 der streitigen Entscheidung ausdrücklich hervorgeht, dass der Beschwerdeausschuss seine Kontrolle der Entscheidung Nr. 05/2018 auf offensichtliche Beurteilungsfehler beschränken wollte.

75

Im Hinblick auf die vorstehenden Erwägungen ist der erste Rechtsmittelgrund von ACER zurückzuweisen.

Zum zweiten Rechtsmittelgrund

76

Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund macht ACER geltend, dem Gericht sei bei der Auslegung von Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 714/2009 hinsichtlich des Verhältnisses zwischen der Ausnahmeregelung und dem regulierten System ein Rechtsfehler unterlaufen.

77

Wie sich aus Rn. 91 des angefochtenen Urteils ergibt, hat das Gericht diese Frage, die zum vierten Klagegrund der Klage von Aquind auf Aufhebung gehört, ergänzend geprüft, nachdem es dem neunten Klagegrund dieser Klage aus den in den Rn. 43 bis 90 des angefochtenen Urteils dargelegten Gründen stattgegeben hatte, die von ACER im Rahmen ihres ersten Rechtsmittelgrundes vergeblich beanstandet worden sind.

78

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wenn einer der vom Gericht herangezogenen Gründe den Tenor des Urteils trägt, mögliche Fehler einer im betreffenden Urteil ebenfalls angeführten weiteren Begründung auf diesen Tenor jedenfalls ohne Einfluss sind, so dass der auf sie gestützte Rechtsmittelgrund nicht durchgreift und zurückzuweisen ist (Urteil vom 5. September 2019, Europäische Union/Guardian Europe und Guardian Europe/Europäische Union, C‑447/17 P und C‑479/17 P, EU:C:2019:672, Rn. 143 und die dort angeführte Rechtsprechung).

79

Der zweite Rechtsmittelgrund ist daher als ins Leere gehend zurückzuweisen.

80

Nach alledem ist das Rechtsmittel in vollem Umfang zurückzuweisen.

Zum Anschlussrechtsmittel

81

Da das Rechtsmittel zurückgewiesen wird, hat sich das Anschlussrechtsmittel erledigt.

Kosten

82

Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

83

Da der Gerichtshof im vorliegenden Fall das Rechtsmittel zurückgewiesen hat und Aquind beantragt hat, ACER die Kosten aufzuerlegen, sind ACER neben ihren eigenen im Zusammenhang mit dem Rechtsmittel stehenden Kosten die insoweit Aquind entstandenen Kosten aufzuerlegen.

84

Nach Art. 142 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, entscheidet der Gerichtshof über die Kosten nach freiem Ermessen, wenn er die Hauptsache für erledigt erklärt.

85

ACER und Aquind sind ihre eigenen im Zusammenhang mit dem Anschlussrechtsmittel stehenden Kosten aufzuerlegen.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen.

 

2.

Das Anschlussrechtsmittel hat sich erledigt.

 

3.

Die Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER) trägt neben ihren eigenen im Zusammenhang mit dem Rechtsmittel stehenden Kosten die insoweit der Aquind Ltd entstandenen Kosten.

 

4.

Die Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden und die Aquind Ltd tragen ihre eigenen im Zusammenhang mit dem Anschlussrechtsmittel stehenden Kosten.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.