URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

28. April 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Geistiges Eigentum – Richtlinie 2004/48/EG – Art. 9 Abs. 1 – Europäisches Patent – Einstweilige Maßnahmen – Befugnis der nationalen Gerichte, eine einstweilige Maßnahme anzuordnen, um eine drohende Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums zu verhindern – Nationale Rechtsprechung, wonach der Erlass einstweiliger Maßnahmen verweigert wird, wenn das in Rede stehende Patent nicht zumindest ein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat – Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung“

In der Rechtssache C‑44/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht München I (Deutschland) mit Entscheidung vom 19. Januar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Januar 2021, in dem Verfahren

Phoenix Contact GmbH & Co. KG

gegen

HARTING Deutschland GmbH & Co. KG,

Harting Electric GmbH & Co. KG

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin I. Ziemele (Berichterstatterin) sowie der Richter P. G. Xuereb und A. Kumin,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Phoenix Contact GmbH & Co. KG, vertreten durch die Rechtsanwälte H. Jacobsen und P. Szynka,

der HARTING Deutschland GmbH & Co. KG und der Harting Electric GmbH & Co. KG, vertreten durch Rechtsanwalt T. Müller,

der Europäischen Kommission, vertreten durch T. Scharf und S. L. Kalėda als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums (ABl. 2004, L 157, S. 45, berichtigt in ABl. 2004, L 195, S. 16).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, den die Phoenix Contact GmbH & Co. KG gegen die HARTING Deutschland GmbH & Co. KG und die Harting Electric GmbH & Co. KG führt und in dem sie die Verletzung eines europäischen Patents rügt, dessen Inhaberin sie ist.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 10, 17 und 22 der Richtlinie 2004/48 heißt es:

„(10)

Mit dieser Richtlinie sollen [die] Rechtsvorschriften [der Mitgliedstaaten] einander angenähert werden, um ein hohes, gleichwertiges und homogenes Schutzniveau für geistiges Eigentum im Binnenmarkt zu gewährleisten.

(17)

Die in dieser Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe sollten in jedem Einzelfall so bestimmt werden, dass den spezifischen Merkmalen dieses Falles, einschließlich der Sonderaspekte jedes Rechts an geistigem Eigentum und gegebenenfalls des vorsätzlichen oder nicht vorsätzlichen Charakters der Rechtsverletzung gebührend Rechnung getragen wird.

(22)

Ferner sind einstweilige Maßnahmen unabdingbar, die unter Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und der Verhältnismäßigkeit der einstweiligen Maßnahme mit Blick auf die besonderen Umstände des Einzelfalles, sowie vorbehaltlich der Sicherheiten, die erforderlich sind, um dem Antragsgegner im Falle eines ungerechtfertigten Antrags den entstandenen Schaden und etwaige Unkosten zu ersetzen, die unverzügliche Beendigung der Verletzung ermöglichen, ohne dass eine Entscheidung in der Sache abgewartet werden muss. Diese Maßnahmen sind vor allem dann gerechtfertigt, wenn jegliche Verzögerung nachweislich einen nicht wiedergutzumachenden Schaden für den Inhaber eines Rechts des geistigen Eigentums mit sich bringen würde.“

4

Art. 2 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2004/48 sieht in Abs. 1 vor:

„Unbeschadet etwaiger Instrumente in den Rechtsvorschriften der [Union] oder der Mitgliedstaaten, die für die Rechtsinhaber günstiger sind, finden die in dieser Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe gemäß Artikel 3 auf jede Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums, die im [Unionsrecht] und/oder im innerstaatlichen Recht des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehen sind, Anwendung.“

5

Kapitel II („Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe“) der Richtlinie 2004/48 enthält u. a. ihren Art. 3 („Allgemeine Verpflichtung“), der lautet:

„(1)   Die Mitgliedstaaten sehen die Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe vor, die zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums, auf die diese Richtlinie abstellt, erforderlich sind. Diese Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe müssen fair und gerecht sein, außerdem dürfen sie nicht unnötig kompliziert oder kostspielig sein und keine unangemessenen Fristen oder ungerechtfertigten Verzögerungen mit sich bringen.

(2)   Diese Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe müssen darüber hinaus wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein und so angewendet werden, dass die Einrichtung von Schranken für den rechtmäßigen Handel vermieden wird und die Gewähr gegen ihren Missbrauch gegeben ist.“

6

Art. 9 („Einstweilige Maßnahmen und Sicherungsmaßnahmen“) der Richtlinie 2004/48 bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die zuständigen Gerichte die Möglichkeit haben, auf Antrag des Antragstellers

a)

gegen den angeblichen Verletzer eine einstweilige Maßnahme anzuordnen, um eine drohende Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums zu verhindern oder einstweilig und, sofern die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften dies vorsehen, in geeigneten Fällen unter Verhängung von Zwangsgeldern die Fortsetzung angeblicher Verletzungen dieses Rechts zu untersagen oder die Fortsetzung an die Stellung von Sicherheiten zu knüpfen, die die Entschädigung des Rechtsinhabers sicherstellen sollen; eine einstweilige Maßnahme kann unter den gleichen Voraussetzungen auch gegen eine Mittelsperson angeordnet werden, deren Dienste von einem Dritten zwecks Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums in Anspruch genommen werden; …

b)

die Beschlagnahme oder Herausgabe der Waren, bei denen der Verdacht auf Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums besteht, anzuordnen, um deren Inverkehrbringen und Umlauf auf den Vertriebswegen zu verhindern.

(5)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die einstweiligen Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 2 auf Antrag des Antragsgegners aufgehoben oder auf andere Weise außer Kraft gesetzt werden, wenn der Antragsteller nicht innerhalb einer angemessenen Frist – die entweder von dem die Maßnahmen anordnenden Gericht festgelegt wird, sofern dies nach dem Recht des Mitgliedstaats zulässig ist, oder, wenn es nicht zu einer solchen Festlegung kommt, 20 Arbeitstage oder 31 Kalendertage, wobei der längere der beiden Zeiträume gilt, nicht überschreitet – bei dem zuständigen Gericht das Verfahren einleitet, das zu einer Sachentscheidung führt.

(6)   Die zuständigen Gerichte können die einstweiligen Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 2 an die Stellung einer angemessenen Kaution oder die Leistung einer entsprechenden Sicherheit durch den Antragsteller knüpfen, um eine etwaige Entschädigung des Antragsgegners gemäß Absatz 7 sicherzustellen.

(7)   Werden einstweilige Maßnahmen aufgehoben oder werden sie auf Grund einer Handlung oder Unterlassung des Antragstellers hinfällig … oder wird in der Folge festgestellt, dass keine Verletzung oder drohende Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums vorlag, so sind die Gerichte befugt, auf Antrag des Antragsgegners anzuordnen, dass der Antragsteller dem Antragsgegner angemessenen Ersatz für durch diese Maßnahmen entstandenen Schaden zu leisten hat.“

Deutsches Recht

7

§ 58 Abs. 1 des Patentgesetzes bestimmt in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung:

„Die Erteilung des Patents wird im Patentblatt veröffentlicht. Gleichzeitig wird die Patentschrift veröffentlicht. Mit der Veröffentlichung im Patentblatt treten die gesetzlichen Wirkungen des Patents ein.“

8

§ 139 Abs. 1 des Patentgesetzes sieht vor:

„Wer entgegen den §§ 9 bis 13 eine patentierte Erfindung benutzt, kann von dem Verletzten bei Wiederholungsgefahr auf Unterlassung in Anspruch genommen werden. Der Anspruch besteht auch dann, wenn eine Zuwiderhandlung erstmalig droht.“

9

§ 935 der Zivilprozessordnung lautet in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung:

„Einstweilige Verfügungen in Bezug auf den Streitgegenstand sind zulässig, wenn zu besorgen ist, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts einer Partei vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte.“

10

§ 940 der Zivilprozessordnung bestimmt:

„Einstweilige Verfügungen sind auch zum Zwecke der Regelung eines einstweiligen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, sofern diese Regelung, insbesondere bei dauernden Rechtsverhältnissen zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint.“

Verfahren vor dem Gerichtshof

11

Das vorlegende Gericht hat beantragt, die vorliegende Rechtssache dem beschleunigten Verfahren gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.

12

Es stützt diesen Antrag im Wesentlichen darauf, dass es aufgrund der Art des Ausgangsverfahrens rasch zu entscheiden habe. Außerdem entstünden Phoenix Contact ohne schnelles gerichtliches Eingreifen erhebliche wirtschaftliche Nachteile durch die weitere Herstellung und den weiteren Vertrieb patentverletzender Produkte. Bei einer etwaigen Verletzung des Patents würden nämlich insbesondere die Marktanteile von Phoenix Contact gefährdet, und ihr gingen als Inhaberin des in Rede stehenden Patents unwiederbringlich Vertriebschancen verloren, was durch die eventuelle spätere Zuerkennung von Schadensersatz kaum ausgeglichen werden könnte.

13

Nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.

14

Ein solches beschleunigtes Verfahren ist ein Verfahrensinstrument, mit dem auf eine außerordentliche Dringlichkeitssituation reagiert werden soll (Urteil vom 10. März 2022, Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs [Umfassender Krankenversicherungsschutz], C‑247/20, EU:C:2022:177, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

15

Darüber hinaus können nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die wirtschaftliche Sensibilität einer Rechtssache oder wirtschaftliche Interessen, einschließlich solcher, die möglicherweise Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen haben – so bedeutend und legitim sie auch sein mögen –, für sich genommen die Anwendung des beschleunigten Verfahrens nicht rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 18. Oktober 2017, Weiss u. a., C‑493/17, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:792, Rn. 10 und die dort angeführte Rechtsprechung).

16

Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich ferner, dass das bloße – wenn auch legitime – Interesse der Rechtsuchenden daran, den Umfang der ihnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte möglichst schnell zu klären, nicht geeignet ist, das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstands im Sinne von Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung zu belegen (Urteil vom 3. März 2022, Presidenza del Consiglio dei Ministri u. a. [Ärzte in Weiterbildung zum Facharzt], C‑590/20, EU:C:2022:150, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

17

In Bezug auf den Umstand, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen im Rahmen eines einen Antrag auf einstweilige Anordnung betreffenden innerstaatlichen Verfahrens ergangen ist, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Tatsache, dass ein Vorabentscheidungsersuchen im Rahmen eines innerstaatlichen Verfahrens ergeht, in dem einstweilige Maßnahmen erlassen werden können, weder für sich genommen noch in Verbindung mit den oben in Rn. 15 angeführten Umständen zu belegen vermag, dass die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 18. Oktober 2017, Weiss u. a., C‑493/17, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:792, Rn. 12 und die dort angeführte Rechtsprechung).

18

In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen hat der Präsident des Gerichtshofs am 11. Februar 2021 nach Anhörung der Berichterstatterin und des Generalanwalts entschieden, den Antrag auf Durchführung eines beschleunigten Verfahrens zurückzuweisen.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

19

Am 5. März 2013 meldete Phoenix Contact ein Patent für einen „Steckverbinder umfassend eine Schutzleiterbrücke“ an. Im Rahmen des der Patenterteilung vorausgegangenen Verfahrens machte Harting Electric Einwendungen gegen die Patentierbarkeit des genannten Produkts geltend.

20

Am 26. November 2020 wurde Phoenix Contact das angemeldete Patent u. a. für Deutschland erteilt.

21

Am 14. Dezember 2020 beantragte Phoenix Contact beim vorlegenden Gericht den Erlass einer einstweiligen Verfügung, mit der HARTING Deutschland und Harting Electric untersagt werden soll, das in Rede stehende Patent zu verletzen.

22

Der Hinweis auf die Erteilung des Patents wurde am 23. Dezember 2020 im Europäischen Patentblatt veröffentlicht.

23

Am 15. Januar 2021 legte Harting Electric beim Europäischen Patentamt (EPA) Einspruch gegen die Erteilung des Patents ein.

24

Das vorlegende Gericht führt aus, es sei zu der vorläufigen Schlussfolgerung gelangt, dass das in Rede stehende Patent rechtsbeständig und verletzt sei. Der Bestand des Patents sei nicht gefährdet.

25

Es sehe sich jedoch durch die bindende Rechtsprechung des Oberlandesgerichts München (Deutschland), wonach es für den Erlass einer einstweiligen Maßnahme im Fall einer Patentverletzung nicht ausreiche, dass das betreffende Patent von der Erteilungsbehörde, hier dem EPA, nach eingehender Prüfung seiner Patentierbarkeit erteilt worden sei und die Frage seines Rechtsbestands auch im Rahmen der Entscheidung über einen Verfügungsantrag einer gerichtlichen Prüfung unterzogen werde, am Erlass einer einstweiligen Verfügung gehindert.

26

Nach dieser Rechtsprechung setze der Erlass einstweiliger Maßnahmen darüber hinaus das Vorliegen einer Entscheidung im Einspruchs‑/Beschwerdeverfahren vor dem EPA oder des Bundespatentgerichts (Deutschland) im Nichtigkeitsverfahren voraus, mit der bestätigt werde, dass das betreffende Patent für das in Rede stehende Produkt Schutz entfalte.

27

Da das vorlegende Gericht diese Rechtsprechung für unvereinbar mit dem Unionsrecht, insbesondere mit Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/48, hält, hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist es mit Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/48 vereinbar, dass im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes letztinstanzlich zuständige Oberlandesgerichte den Erlass einstweiliger Maßnahmen wegen der Verletzung von Patenten grundsätzlich verweigern, wenn das Streitpatent kein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat?

Zur Vorlagefrage

28

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/48 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, wonach der Erlass einstweiliger Maßnahmen wegen der Verletzung von Patenten grundsätzlich verweigert wird, wenn das betreffende Patent nicht zumindest ein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat.

29

Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Oktober 2021, Magistrat der Stadt Wien, [Feldhamster – II], C‑357/20, EU:C:2021:881, Rn. 20).

30

Erstens müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/48 sicherstellen, dass die zuständigen Gerichte die Möglichkeit haben, auf Antrag des Antragstellers gegen den angeblichen Verletzer eine einstweilige Maßnahme anzuordnen, um eine drohende Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums zu verhindern.

31

Nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit den Erwägungsgründen 17 und 22 der Richtlinie 2004/48 haben die Mitgliedstaaten in ihrem nationalen Recht die Möglichkeit für die zuständigen nationalen Gerichte vorzusehen, nach einer Prüfung der besonderen Umstände des Einzelfalls und unter Beachtung der in Art. 9 vorgesehenen Voraussetzungen eine einstweilige Maßnahme zu erlassen.

32

Zweitens sollen nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/48 in Verbindung mit ihrem 22. Erwägungsgrund die im nationalen Recht vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen die unverzügliche Beendigung der Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums ermöglichen, ohne dass eine Entscheidung in der Sache abgewartet werden muss. Diese Maßnahmen sind vor allem dann gerechtfertigt, wenn jegliche Verzögerung nachweislich einen nicht wiedergutzumachenden Schaden für den Inhaber eines solchen Rechts mit sich bringen würde. Somit kommt dem Zeitfaktor besondere Bedeutung für die wirksame Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums zu.

33

Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass das in Rede stehende Patent rechtsbeständig und verletzt sei, so dass dem Antrag von Phoenix Contact auf Erlass einer einstweiligen Maßnahme stattzugeben sei. Dieses Gericht ist jedoch an eine nationale Rechtsprechung gebunden, wonach das betreffende Patent nur dann vorläufigen Rechtsschutz genießen kann, wenn es ein erstinstanzliches Rechtsbestandsverfahren überstanden hat.

34

Mit einer solchen Rechtsprechung wird ein Erfordernis aufgestellt, das Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/48 jede praktische Wirksamkeit nimmt, da es dem nationalen Richter verwehrt ist, im Einklang mit dieser Bestimmung eine einstweilige Maßnahme anzuordnen, um die Verletzung des in Rede stehenden, von ihm als rechtsbeständig und verletzt erachteten Patents unverzüglich zu beenden.

35

Wie Phoenix Contact in ihren schriftlichen Erklärungen ausführt, könnte ein solches Erfordernis dazu führen, dass potenziell patentverletzende Wettbewerber des Inhabers des in Rede stehenden Patents bewusst von einem Angriff auf dessen Rechtsbestand absehen, um zu verhindern, dass das Patent in den Genuss wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes kommt, so dass der in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/48 vorgesehene Mechanismus des vorläufigen Schutzes seiner Substanz beraubt würde.

36

Drittens bestätigen die mit der Richtlinie 2004/48 verfolgten Ziele, dass eine nationale Rechtsprechung wie die oben in Rn. 33 angeführte nicht mit ihr im Einklang steht.

37

Insoweit geht aus dem zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie hervor, dass mit ihr die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten einander angenähert werden sollen, um ein hohes, gleichwertiges und homogenes Schutzniveau für geistiges Eigentum im Binnenmarkt zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2019, IT Development, C‑666/18, EU:C:2019:1099, Rn. 38). Die Richtlinie findet allerdings, wie sich aus ihrem Art. 2 Abs. 1 ergibt, unbeschadet etwaiger für die Rechtsinhaber günstigerer Instrumente in den Rechtsvorschriften u. a. der Mitgliedstaaten Anwendung (Urteil vom 25. Januar 2017, Stowarzyszenie Oławska Telewizja Kablowa, C‑367/15, EU:C:2017:36, Rn. 22).

38

Folglich wird mit der Richtlinie 2004/48 nur ein Mindeststandard für die Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums festgeschrieben, der die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, stärker schützende Maßnahmen vorzusehen (Urteil vom 25. Januar 2017, Stowarzyszenie Oławska Telewizja Kablowa, C‑367/15, EU:C:2017:36, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39

Ferner geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass die Bestimmungen dieser Richtlinie darauf abzielen, diejenigen Aspekte im Zusammenhang mit Rechten des geistigen Eigentums zu regeln, die zum einen eng mit ihrer Durchsetzung verbunden sind und zum anderen Verletzungen dieser Rechte betreffen, indem sie das Vorhandensein wirksamer Rechtsbehelfe vorschreiben, die dazu bestimmt sind, jede Verletzung eines bestehenden Rechts des geistigen Eigentums zu verhüten, abzustellen oder zu beheben (Urteil vom 18. Dezember 2019, IT Development, C‑666/18, EU:C:2019:1099, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40

Ein innerstaatliches Verfahren, mit dem jede Verletzung eines bestehenden Rechts des geistigen Eigentums unverzüglich beendet werden soll, wäre wirkungslos und würde somit das Ziel eines hohen Schutzniveaus für geistiges Eigentum verfehlen, wenn seine Anwendung einem Erfordernis unterläge, wie es durch die oben in Rn. 33 angeführte nationale Rechtsprechung aufgestellt wird.

41

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass für angemeldete europäische Patente ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung ihrer Erteilung eine Vermutung der Gültigkeit gilt. Ab diesem Zeitpunkt genießen sie somit in vollem Umfang den u. a. durch die Richtlinie 2004/48 gewährleisteten Schutz (vgl. entsprechend Urteil vom 30. Januar 2020, Generics [UK] u. a., C‑307/18, EU:C:2020:52, Rn. 48).

42

Überdies ist in Bezug auf die Gefahr, dass der Antragsgegner im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes durch den Erlass einstweiliger Maßnahmen einen Schaden erleidet, festzustellen, dass nach Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/48 die zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums, auf die diese Richtlinie abstellt, erforderlichen Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe so angewendet werden müssen, dass die Einrichtung von Schranken für den rechtmäßigen Handel vermieden wird und die Gewähr gegen ihren Missbrauch gegeben ist.

43

Diese Bestimmung verpflichtet somit die Mitgliedstaaten und letztlich die nationalen Gerichte, Garantien dafür zu bieten, dass insbesondere die in Art. 9 der Richtlinie 2004/48 genannten Maßnahmen und Verfahren nicht missbräuchlich verwendet werden (Urteil vom 12. September 2019, Bayer Pharma, C‑688/17, EU:C:2019:722, Rn. 68).

44

Hierzu ist festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber insbesondere Rechtsinstrumente vorgesehen hat, die es gestatten, die Gefahr, dass der Antragsgegner durch die einstweiligen Maßnahmen einen Schaden erleidet, insgesamt zu verringern und ihn damit zu schützen.

45

Zunächst stellen die Mitgliedstaaten nach Art. 9 Abs. 5 der Richtlinie 2004/48 sicher, dass u. a. die einstweiligen Maßnahmen nach Art. 9 Abs. 1 auf Antrag des Antragsgegners aufgehoben oder auf andere Weise außer Kraft gesetzt werden, wenn der Antragsteller nicht innerhalb einer angemessenen Frist – die entweder von dem die Maßnahmen anordnenden Gericht festgelegt wird, sofern dies nach dem Recht des Mitgliedstaats zulässig ist, oder, wenn es nicht zu einer solchen Festlegung kommt, 20 Arbeitstage oder 31 Kalendertage, wobei der längere der beiden Zeiträume gilt, nicht überschreitet – bei dem zuständigen Gericht das Verfahren einleitet, das zu einer Sachentscheidung führt.

46

Sodann sieht Art. 9 Abs. 6 der Richtlinie 2004/48 vor, dass diese einstweiligen Maßnahmen an die Stellung einer angemessenen Kaution oder die Leistung einer entsprechenden Sicherheit durch den Antragsteller geknüpft werden können, um eine etwaige Entschädigung des Antragsgegners sicherzustellen. Dieses Schutzinstrument kann von dem zuständigen, mit dem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz befassten Gericht zum Zeitpunkt der Prüfung dieses Antrags eingesetzt werden.

47

Schließlich besteht nach Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 in den dort genannten Fällen die Möglichkeit, auf Antrag des Antragsgegners anzuordnen, dass der Antragsteller ihm angemessenen Ersatz für den durch die einstweiligen Maßnahmen entstandenen Schaden zu leisten hat.

48

Diese Rechtsinstrumente stellen Sicherheiten dar, die der Unionsgesetzgeber als Gegenstück zu den von ihm vorgesehenen schnellen und wirksamen einstweiligen Maßnahmen für erforderlich gehalten hat. Sie entsprechen somit den Garantien, die in der Richtlinie 2004/48 zugunsten des Antragsgegners als Gegenstück zum Erlass einer einstweiligen Maßnahme, die seine Interessen beeinträchtigt hat, vorgesehen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, Diageo Brands, C‑681/13, EU:C:2015:471, Rn. 74 und 75).

49

Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, ist darauf hinzuweisen, dass die mit der Auslegung des nationalen Rechts betrauten nationalen Gerichte bei dessen Anwendung sämtliche nationalen Rechtsnormen berücksichtigen und die im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethoden heranziehen müssen, um seine Auslegung so weit wie möglich am Wortlaut und am Zweck der fraglichen Richtlinie auszurichten, damit das von ihr festgelegte Ergebnis erreicht und so Art. 288 Abs. 3 AEUV nachgekommen wird (Urteil vom 19. April 2016, DI, C‑441/14, EU:C:2016:278, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50

Darüber hinaus hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts bestimmten Schranken unterliegt. So findet die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts das Unionsrecht heranzuziehen, ihre Schranken in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (Urteil vom 19. April 2016, DI, C‑441/14, EU:C:2016:278, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51

Im vorliegenden Fall enthalten, wie das vorlegende Gericht hervorhebt, die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden deutschen Rechtsvorschriften keine Bestimmung, wonach der Erlass einer einstweiligen Maßnahme zur Untersagung einer Patentverletzung eine gerichtliche Entscheidung in einem Rechtsbestandsverfahren voraussetzt, so dass diese Rechtsvorschriften mit der Richtlinie 2004/48 voll und ganz im Einklang stehen.

52

In diesem Zusammenhang ist klarzustellen, dass das Erfordernis einer unionsrechtskonformen Auslegung die Verpflichtung der nationalen Gerichte umfasst, eine gefestigte Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit den Zielen einer Richtlinie unvereinbar ist (Urteil vom 19. April 2016, DI, C‑441/14, EU:C:2016:278, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

53

Daher hat das vorlegende Gerichts für die volle Wirksamkeit von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/48 Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls eine mit dieser Bestimmung unvereinbare nationale Rechtsprechung aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt.

54

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/48 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, wonach der Erlass einstweiliger Maßnahmen wegen der Verletzung von Patenten grundsätzlich verweigert wird, wenn das in Rede stehende Patent nicht zumindest ein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat.

Kosten

55

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, wonach der Erlass einstweiliger Maßnahmen wegen der Verletzung von Patenten grundsätzlich verweigert wird, wenn das in Rede stehende Patent nicht zumindest ein erstinstanzliches Einspruchs‑ oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat.

 

Ziemele

Xuereb

Kumin

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 28. April 2022.

Der Kanzler

A. Calot Escobar

Die Präsidentin der Sechsten Kammer

I. Ziemele


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.